Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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09.11.2012 Aufrufe

äußert, dass sie diesen Abschnitt als äußerst belastend empfindet und die Familie auch aufgrund fehlender Selbstbestimmung als sehr bedürftig und Not leidend erlebt. Andere Gruppenmitglieder teilen diese Empfindung und tauschen sich über ihre Gefühle aus, finden noch andere Textstellen, in denen die Sorge und Not zum Vorschein tritt. So zitiert eine Teilnehmerin: »… ich denken, ich nicht will andere Junge kommt bei uns zusammen in meine Wohnung [...] vielleicht ist meine Kinder gehen Dusche und andere Leute auch gehen Dusche, das ist auch schwierig, verstehen Sie? Nur ein Toilet, nur eine Dusche, verstehen Sie?« und sagt, dass hier ganz expliziert Frau Seyans Ängste vor einer Öffnung der Wohnung zum Ausdruck kommen. »Ja, diese Wohnungsöffnung heißt auch, dass da ein fremder Mensch in den Familienrahmen aufgenommen werden muss, vielleicht sogar ein fremder Mann. Frau Seyan kann diese Person nicht einschätzen, hat Angst, dass von ihr Gefahr ausgehen könnte.« Ein anderer Teilnehmer assoziiert, dass Frau Seyan die Intimität und den Schutz ihrer Kinder, vor allem ihrer älteren Tochter, garantieren möchte. Dadurch würde auch die kleinere Wohnung akzeptiert: »Das ist Probleme, ich denken, ich fragen meine Mann, ich weiß, ist klein, aber unten, dass ist besser, bisschen klein aber alleine. Nachher ich kommen unten.« An dieser Stelle äußern mehrere GruppenteilnehmerInnen ihr Verständnis für die Familie. Es werden anteilnehmende, solidarische Anmerkungen gemacht und festgestellt, wie sich der Zugang zum präsentierten Material im Laufe der Werkstatt verändert hat. Ein Teilnehmer sagt: »Anfangs fand ich das Interview ja eher lustig, aber seit wir darüber sprechen, merke ich, wie ich immer ernster werde.« Eine Teilnehmerin empfindet es ähnlich und erklärt, dass mit den Assoziationen eine erdrückende Atmosphäre entstanden ist. Eine weitere Teilnehmerin knüpft an und sagt, dass sie sich überfordert fühlt, sie wisse gar nicht mehr, was sie sagen solle: »Denen geht es so beschissen, das bleibt hängen und wirkt nach – schwierig, sich dann auch noch auf die anderen Dimensionen, wie zum Beispiel den Betreuungsaspekt, einzulassen, was ja eigentlich das Leitthema des Interviews war.« Durch diesen Austausch wird deutlich, dass alle Gruppenmitglieder ähnlich auf die Interviewsequenzen reagieren, sie resümieren, dass das Material einem Hilferuf nach Struktur und Sicherheit nahe kommt und die Not der AkteurInnen praktisch zwischen allen Zeilen spürbar ist. Dabei kommt die Frage nach der Position der Interviewerin auf und die TeilnehmerInnen berichten, dass sie die Interviewerin in verschiedenen Rollen erlebt haben. Über individuelle Einwürfe deuten die TeilnehmerInnen, dass sie als Gesprächsmoderatorin, Schlichterin und auch als Schiedsrichterin zwischen den Streitparteien agierte. »Ja und dadurch, dass sie immer wieder versucht, Herrn Seyan in das Gespräch einzubeziehen und sich zum Teil auch gegen den Redeschwall seiner Ehefrau durchsetzt, zeigt sich, dass sie versucht, beiden Personen einen Rederaum zu schaffen.« Darauf reagiert ein anderer Teilnehmer, sagt, dass dieses Verhalten an dieser Textstelle nicht explizit von den InterviewpartnerInnen eingefordert wurde, aber andere Interaktionsmomente zeigen, dass gerade Frau Seyan eine deutliche Erwartung an die Inter- 140

viewerin stellt. »Hör mal, meine Mann viel krank, Du verstehen?« wäre fast so, als ob Frau Seyan einen Urteilsspruch der Interviewerin einfordern würde. Eine andere Teilnehmerin schließt sich an und sagt, dass es etwa so wäre, als ob Frau Seyan ein: »Ja, auch ich habe gesehen, dass Ihr Mann krank ist. Das stimmt!« von der Forscherin hören möchte. Ihrer Meinung nach deutet diese Szene auch noch auf weitere Rollen der Interviewerin hin: Die der Zuhörerin, der Beraterin. Andere Gruppenmitglieder ergänzen, dass die Interviewerin aber auch als Trösterin angefragt ist oder auch in der Rolle der Therapeutin. Diese Assoziationen bringen eine Teilnehmerin dazu, sich Gedanken über den Hintergrund der Forscherin zu machen: »Indem Frau Seyan die Interviewerin als Schlichterin und Betreuerin anspricht, verweist sie doch auch auf den Status, den sie der Person zuweist. Die deutsche, weiße Forscherin, die gekommen ist, um über die Betreuung im EPZ zu sprechen, kann man eventuell mit den MitarbeiterInnnen des Zentrums vergleichen.« Ein anderer ergänzt: »Ja, sie ist nicht einfach ein Gast, sondern repräsentiert durch ihr Forschungsinteresse und dadurch, wie sie das Gespräch führt, auch einen spezifischen Typ.« Ein anderer Teilnehmer bringt ein, dass im Gegensatz zu den bedrohlichen Kontakten mit den Behörden, die Interviewerin hier allerdings als eine mögliche Unterstützerin von der Familie wahrgenommen wird. Diese Annahme stärkt sich durch den Umstand, dass Frau Seyan an einer hier nicht zitierten Stelle des Interviews die Interviewerin explizit um Hilfe bei Problemen mit dem Sozialamt bittet. Nach diesem Themenfeld wird es ruhig in der Runde, scheinbar ist die Luft raus, einige wirken müde, andere einfach nur sprachlos. Nach einigen Minuten des Schweigens ergreift eine Teilnehmerin wieder das Wort und weist kichernd auf das kleine Kind hin, welches, wie im Transkript vermerkt, Kekseessend mit dem Aufnahmegerät experimentierte. Die Anwesenden stellen sich vor, wie das Kind die Kekskrümel in das Mikrophon pustet und eine entspannte, lustige Stimmung kommt auf. Auch wenn ich mitlache, kommt mir diese plötzlich sehr heitere Stimmung merkwürdig vor und ich äußere meinen Eindruck. Auf diesen Umstand angesprochen, sagt die Teilnehmerin, dass sie das bedrückende Gefühl, welches das Leid der Familie ausgelöst hatte, nicht mehr aushalten wollte; entsprechend groß wäre der Reiz gewesen, die emotionale Überforderung einfach auszublenden und sich erfreulicheren Themen zuzuwenden. Andere nicken und sagen, dass sie irgendwie überfordert sind, keine Lust mehr haben. 4. 5. Fazit In der Deutungsgruppendiskussion kristallisierten sich anhand der ausgewählten Textstellen drei Themenkomplexe heraus. Der eine kreist um den Einfluss der gesundheitlichen und der asylpolitischen Verhältnisse auf die familiären Lebensumstände. Der zweite betrifft die große Belastung, die die einzelnen Familienmitglieder jeweils aushalten müssen, und der dritte zeigt den Zusammenhang der Rahmenbedingungen und die verschiedenen Verarbeitungsmodi. 141

viewerin stellt. »Hör mal, meine Mann viel krank, Du verstehen?« wäre fast so, als<br />

ob Frau Seyan einen Urteilsspruch der Interviewerin einfordern würde. Eine andere<br />

Teilnehmerin schließt sich an und sagt, dass es etwa so wäre, als ob Frau<br />

Seyan ein: »Ja, auch ich habe gesehen, dass Ihr Mann krank ist. Das stimmt!« von<br />

der Forscherin hören möchte. Ihrer Meinung nach deutet diese Szene auch noch<br />

auf weitere Rollen der Interviewerin hin: Die der Zuhörerin, der Beraterin. Andere<br />

Gruppen<strong>mit</strong>glieder ergänzen, dass die Interviewerin aber auch als Trösterin angefragt<br />

ist oder auch in der Rolle der Therapeutin. Diese Assoziationen bringen eine<br />

Teilnehmerin dazu, sich Gedanken über den Hintergrund der Forscherin zu machen:<br />

»Indem Frau Seyan die Interviewerin als Schlichterin und Betreuerin anspricht,<br />

verweist sie doch auch auf den Status, den sie der Person zuweist. Die<br />

deutsche, weiße Forscherin, die gekommen ist, um über die Betreuung im EPZ zu<br />

sprechen, kann man eventuell <strong>mit</strong> den MitarbeiterInnnen des Zentrums vergleichen.«<br />

Ein anderer ergänzt: »Ja, sie ist nicht einfach ein Gast, sondern repräsentiert<br />

durch ihr Forschungsinteresse und dadurch, wie sie das Gespräch führt, auch<br />

einen spezifischen Typ.« Ein anderer Teilnehmer bringt ein, dass im Gegensatz zu<br />

den bedrohlichen Kontakten <strong>mit</strong> den Behörden, die Interviewerin hier allerdings<br />

als eine mögliche Unterstützerin von der Familie wahrgenommen wird. Diese Annahme<br />

stärkt sich durch den Umstand, dass Frau Seyan an einer hier nicht zitierten<br />

Stelle des Interviews die Interviewerin explizit um Hilfe bei Problemen <strong>mit</strong> dem<br />

Sozialamt bittet. Nach diesem Themenfeld wird es ruhig in der Runde, scheinbar<br />

ist die Luft raus, einige wirken müde, andere einfach nur sprachlos. Nach einigen<br />

Minuten des Schweigens ergreift eine Teilnehmerin wieder das Wort und weist kichernd<br />

auf das kleine Kind hin, welches, wie im Transkript vermerkt, Kekseessend<br />

<strong>mit</strong> dem Aufnahmegerät experimentierte. Die Anwesenden stellen sich vor,<br />

wie das Kind die Kekskrümel in das Mikrophon pustet und eine entspannte, lustige<br />

Stimmung kommt auf. Auch wenn ich <strong>mit</strong>lache, kommt mir diese plötzlich sehr<br />

heitere Stimmung merkwürdig vor und ich äußere meinen Eindruck. Auf diesen<br />

Umstand angesprochen, sagt die Teilnehmerin, dass sie das bedrückende Gefühl,<br />

welches das Leid der Familie ausgelöst hatte, nicht mehr aushalten wollte; entsprechend<br />

groß wäre der Reiz gewesen, die emotionale Überforderung einfach auszublenden<br />

und sich erfreulicheren Themen zuzuwenden. Andere nicken und sagen,<br />

dass sie irgendwie überfordert sind, keine Lust mehr haben.<br />

4. 5. Fazit<br />

In der Deutungsgruppendiskussion kristallisierten sich anhand der ausgewählten<br />

Textstellen drei Themenkomplexe heraus. Der eine kreist um den Einfluss der<br />

gesundheitlichen und der asylpolitischen Verhältnisse auf die familiären Lebensumstände.<br />

Der zweite betrifft die große Belastung, die die einzelnen Familien<strong>mit</strong>glieder<br />

jeweils aushalten müssen, und der dritte zeigt den Zusammenhang der<br />

Rahmenbedingungen und die verschiedenen Verarbeitungsmodi.<br />

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