Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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09.11.2012 Aufrufe

Zum Interviewzeitpunkt hatte die Familie seit kurzem eine eigene Wohnung bezogen. Das Interview fand in der Wohnung der GesprächspartnerInnen statt und wurde mit einem MP3-Player aufgezeichnet. Das Ehepaar Seyan sowie ihre drei Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter waren die ganze Zeit anwesend. Die praktische Deutungsarbeit wurde in einer kleineren Gruppe mit sechs TeilnehmerInnen aus dem universitären Umfeld geleistet; alle Beteiligten sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die Gruppenmitglieder kommen regelmäßig zu einem 1 1/ 2-stündigen Treffen zusammen und sind sich zumindest im Rahmen der Deutungswerkstatt bekannt. Einführend erhielten die Anwesenden die Information, dass die Familie Seyan aufgrund der Traumatisierungen des Familienvaters einige Jahre gemeinsam in einem Haus des EPZ gewohnt hatte und nun in einer eigenen Wohnung lebt. Zunächst wurde das Interviewmaterial laut gelesen, dann erfolgte eine assoziative Gruppendiskussion. Dabei zeigte sich, als erste Reaktion, dass viele TeilnehmerInnen Mühe hatten, sich auf den Text einzulassen. Ein Teilnehmer sagte, dass die Schwierigkeiten, die die Familie Seyan zum Teil mit der deutschen Sprache hat (fehlende Vokabeln und grammatikalische Fehler), die Leseerfahrung stark beeinträchtigten und er sich sehr auf den Text konzentrieren musste. Um einen einfacheren Zugang zum Material zu schaffen, aber auch, um die prozesshafte Dynamik des Interpretationsprozesses zu verdeutlichen, habe ich mich dazu entschieden, den Gesprächsausschnitt an dieser Stelle nicht en bloc, sondern in zwei kleineren Abschnitten zu präsentieren und abschnittsweise die einzelnen Schritte nachzuzeichnen. Die hier angeführten Deutungen und Interpretationswege sollen die assoziative Arbeit der Methode verdeutlichen. Sie stellen einen der vielen möglichen Zugänge dar und haben einen exemplarischen Charakter. 4.1. Gespräch mit Familie Seyan (Ausschnitt 1): I: 5 … und deshalb möchte ich auch gerne mit Ihnen sprechen… was war gut, was war schlecht in der Friedrichstrasse, was war gut mit Herrn Ammadeh, was war schlecht… ja? Frau S: Auch, ja! Also, Mr Ammadeh, Mrs Becker (klatscht in die Hände), keine Probleme, das ist sehr gut! Bei mir und meine Familie das ist sehr gut! Sehr helfen bei mir und meine Kinder und meine Mann auch … Vielleicht 2 Jahre ich bin da und Frau Becker, ihre da… ihre andere Chef … nach 1 Jahr vielleicht Herr Ammadeh kommt … Das auch sehr sehr gut! Und Ammadeh auch, das ist sehr sehr gut! Viel helfen bei mir und meine Kinder auch und meine Mann, das ist … Herr S (unterbricht): Bei mir Herr Ammadeh ist schle … 5 Die Namen aller beteiligten Personen und Aufenthaltsorte wurden geändert: Die Friedrichstrasse gilt hier als Adresse des EPZ. Herr Ammadeh und Frau Becker sind die ehemaligen Betreuer der Familie im EPZ. Alle anderen Namen erschließen sich aus dem Textzusammenhang. 134

Frau S (unterbricht lachend und abwinkend): Nee, nee, das ist nur: meine Mann krank! Verstehen? Meine Mann krank und (ruft laut und hektisch) Herr Ammadeh auch sehr helfen meine Mann … nein, nein, diese helfen mir, du Problem, Problem meine Mann! Herr Ammadeh … Herr S: Nicht gut … Frau S (unterbricht, versucht die Stimme ihres Mannes zu übertönen): Herr Ammadeh, ja, manchmal ja, aber Herr Ammadeh nichts machen, meine Mann! Du verstehen? I: Ja, ich verstehe das, aber manchmal gibt es ja auch Probleme, die … Frau S (unterbricht): Ja, manchmal, aber meine … I: Ja… Herr Seyan, was hat Ihnen nicht gefallen? Warum haben Sie… (anwesendes Kind singt neben mir vor sich hin) Frau S (wird laut und unterbricht): Hör mal, meine Mann viel krank, Du verstehen? Manchmal … Herr S (unterbricht): Du, manchmal, Du haben eine Frage, manchmal … I: Ja … (Kind isst jetzt Kekse über dem Mikro … die Stimmen werden immer schwerer verständlich) Herr S: Manchmal, ich eine Woche arbeiten … nach einer Woche du denken, sehr gut, nachher ich nicht kann gehen … besser eine Stunde machen, eine Stunde nichts … I: Ja, immer abwechselnd … aber manchmal hat Herr Ammadeh Sie nicht verstanden? Herr S: Manchmal nicht verstanden, ich immer Striche, ich immer … jetzt diese Chef … Frau S (unterbricht): Nein, nein, meine Chef … Herr S (unterbricht): Meine Chef, ich gehen, machen Vorstellen, ich nicht freu, ich bin krank … ich nicht ok, ich was machen? Geben wenig Geld, ich nicht machen. Ich sagen, habe drei Kinder, meine Bewilligung B nicht kommen, F kommen … alles bei mir egal. I: Ihnen war alles egal? Herr S: Immer nicht gut haben reste … immer schlecht sprechen bei mir. […] 4.2. Assoziationen im Gruppengespräch Im assoziativen Gruppengespräch wird zunächst die Kommunikationsstruktur der Eheleute Seyan bemerkt. Eine Teilnehmerin beschreibt, dass sie die widersprechende Art und Weise, das gegenseitige Unterbrechen, Korrigieren, Herumzanken des Paares amüsant empfunden hatte und lachen musste. Ein anderer erlebte die forsche, bestimmende Art von Frau Seyan dagegen als grenzüberschreitend. Er führt aus, dass so, wie Frau Seyan ihrem Mann nahezu in jedem Gesprächsbeitrag nahe legte, dass er krank und damit ein Problem sei (»Mann krank! Verstehen? Meine Mann krank« und »nein, nein, diese helfen mir, du Problem«), ein starkes 135

Zum Interviewzeitpunkt hatte die Familie seit kurzem eine eigene Wohnung<br />

bezogen. Das Interview fand in der Wohnung der GesprächspartnerInnen statt und<br />

wurde <strong>mit</strong> einem MP3-Player aufgezeichnet. Das Ehepaar Seyan sowie ihre drei<br />

Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter waren die ganze Zeit anwesend.<br />

Die praktische Deutungsarbeit wurde in einer kleineren Gruppe <strong>mit</strong> sechs TeilnehmerInnen<br />

aus dem universitären Umfeld geleistet; alle Beteiligten sind in<br />

Deutschland geboren und aufgewachsen. Die Gruppen<strong>mit</strong>glieder kommen regelmäßig<br />

zu einem 1 1/ 2-stündigen Treffen zusammen und sind sich zumindest im<br />

Rahmen der Deutungswerkstatt bekannt. Einführend erhielten die Anwesenden<br />

die Information, dass die Familie Seyan aufgrund der Traumatisierungen des Familienvaters<br />

einige Jahre gemeinsam in einem Haus des EPZ gewohnt hatte und<br />

nun in einer eigenen Wohnung lebt.<br />

Zunächst wurde das Interviewmaterial laut gelesen, dann erfolgte eine assoziative<br />

Gruppendiskussion. Dabei zeigte sich, als erste Reaktion, dass viele TeilnehmerInnen<br />

Mühe hatten, sich auf den Text einzulassen. Ein Teilnehmer sagte, dass<br />

die Schwierigkeiten, die die Familie Seyan zum Teil <strong>mit</strong> der deutschen Sprache<br />

hat (fehlende Vokabeln und grammatikalische Fehler), die Leseerfahrung stark<br />

beeinträchtigten und er sich sehr auf den Text konzentrieren musste. Um einen<br />

einfacheren Zugang zum Material zu schaffen, aber auch, um die prozesshafte<br />

Dynamik des Interpretationsprozesses zu verdeutlichen, habe ich mich dazu entschieden,<br />

den Gesprächsausschnitt an dieser Stelle nicht en bloc, sondern in zwei<br />

kleineren Abschnitten zu präsentieren und abschnittsweise die einzelnen Schritte<br />

nachzuzeichnen. Die hier angeführten Deutungen und Interpretationswege sollen<br />

die assoziative Arbeit der <strong>Methode</strong> verdeutlichen. Sie stellen einen der vielen<br />

möglichen Zugänge dar und haben einen exemplarischen Charakter.<br />

4.1. Gespräch <strong>mit</strong> Familie Seyan (Ausschnitt 1):<br />

I: 5 … und deshalb möchte ich auch gerne <strong>mit</strong> Ihnen sprechen… was war gut, was<br />

war schlecht in der Friedrichstrasse, was war gut <strong>mit</strong> Herrn Ammadeh, was war<br />

schlecht… ja?<br />

Frau S: Auch, ja! Also, Mr Ammadeh, Mrs Becker (klatscht in die Hände), keine<br />

Probleme, das ist sehr gut! Bei mir und meine Familie das ist sehr gut! Sehr helfen<br />

bei mir und meine Kinder und meine Mann auch … Vielleicht 2 Jahre ich bin da<br />

und Frau Becker, ihre da… ihre andere Chef … nach 1 Jahr vielleicht Herr Ammadeh<br />

kommt … Das auch sehr sehr gut! Und Ammadeh auch, das ist sehr sehr<br />

gut! Viel helfen bei mir und meine Kinder auch und meine Mann, das ist …<br />

Herr S (unterbricht): Bei mir Herr Ammadeh ist schle …<br />

5 Die Namen aller beteiligten Personen und Aufenthaltsorte wurden geändert: Die Friedrichstrasse gilt hier als<br />

Adresse des EPZ. Herr Ammadeh und Frau Becker sind die ehemaligen Betreuer der Familie im EPZ. Alle anderen<br />

Namen erschließen sich aus dem Textzusammenhang.<br />

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