Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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2. Die ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt<br />
Bei der von Nadig entwickelten ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt handelt<br />
es sich um ein Instrument, welches in assoziativen Gesprächen in einer<br />
Gruppe nicht nur den manifesten Sinngehalt eines vertextlichten Materials (Interviewtranskript,<br />
Feldforschungsnotizen etc.) ergründet, sondern auch versucht, die<br />
inhärenten unbewussten Intentionen und Bedeutungen zu erschließen. Im Gegensatz<br />
zu klassischen tiefenhermeneutischen Zugängen werden die Äußerungen<br />
hierbei nicht durch ein vorgegebenes Auswertungsschemata strukturiert (vgl.<br />
hierzu bspw. Leithäuser/Volmerg 1979 und Mader/Mields/Volmerg 2005). Die<br />
Annäherung an das Material in der ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt<br />
erfolgt spontan, individuell und subjektiv und orientiert sich in der Reihenfolge<br />
nicht an einem geregelten Einlassen auf Sinnebenen oder als Reaktion auf eine<br />
eingegebene Schlüsselfrage.<br />
Die TeilnehmerInnen der ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt lesen<br />
gemeinsam einen Textauszug und lassen ihren Assoziationen im wahrsten Sinne<br />
des Wortes »freien Lauf«. Die Zugänge der einzelnen können dabei dem herkömmlichen<br />
Verfahren, einem Text zuerst einmal auf einer rational sachlichen<br />
Ebene zu begegnen, entsprechen. Genauso gut kann es aber auch sein, dass der<br />
Einstieg in das assoziative Gespräch <strong>mit</strong> einem chaotisch anmutenden Artikulieren<br />
von Irritationen, Gefühlen oder Erinnerungen beginnt. Bedeutsam ist in jedem<br />
Fall, dass die rein textanalytische Ebene verlassen wird und einer emotionalen<br />
Teilhabe am Text weicht. Die subjektiven emotionalen Reaktionen (Identifikation,<br />
Wut, Mitgefühl, sexuelle Phantasien, Trauer, Ekel etc.) werden als Erkenntnisinstrument<br />
eingesetzt, um latente Inhalte bzw. verdrängte oder unbewusste<br />
Handlungsmuster sichtbar zu machen.<br />
In vielen Fällen lösen verbalisierte Emotionen weitere Assoziationen bei anderen<br />
Gruppen-TeilnehmerInnen aus, und Stück für Stück erscheint hinter dem gedruckten<br />
Text ein Zugang zu möglichen Strategien, Ängsten, Wünschen oder Darstellungsweisen<br />
der InterviewpartnerInnen. Ein Bruch in der Assoziationskette<br />
bedeutet keineswegs die erschöpfte Deutung des Materials, sondern kann vielmehr<br />
als Ausgangspunkt stehen, sich einer anderen Textstelle, einem anderen Widerspruch<br />
oder einer weiteren Irritation zuzuwenden. Mit dieser »Kleinstarbeit«<br />
lässt sich nach und nach die subjektive Theorie der befragten Person rekonstruieren,<br />
aber gleichfalls – und hier kommt vor allem der ethnopsychoanalytische<br />
Faktor zum Tragen – die Beziehungsdynamik zwischen dem/der ForscherIn und<br />
dem/der GesprächspartnerIn betrachten.<br />
Die Ethnopsychoanalyse geht davon aus, dass jede Forschungsperson ihre eigene<br />
Geschichte, d. h. soziale, geschlechtliche und kulturelle Merkmale ihrer<br />
Identität, in die Gesprächssituation und -dynamik einbringt und dadurch den Verlauf<br />
bewusst und unbewusst steuert. Wie Devereux es ausdrückt, »verzerrt« jede/r<br />
ForscherIn sein/ihr Material entsprechend der subjektiven Geschichte und der da-<br />
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