Folge 164 - Lutz Görner
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Sendung <strong>164</strong>:<br />
Hallo, seien Sie gegrüßt“ Dies ist die <strong>164</strong>. von 200 <strong>Folge</strong>n meiner Sendereihe „Lyrik für alle“. Eine<br />
kleine gesprochene Literaturgeschichte der abendländischen Lyrik. Aber auch der Zeit, in der sie<br />
entstanden ist. Wenn Sie Zeit hatten, die letzten neun <strong>Folge</strong>n seit der Hermann-Hesse-Sendung zu<br />
sehen, dann wissen Sie, von welcher Zeit ich Rede. Der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, in der die<br />
Praefaschisten, die Revanchisten, diejenigen, die das Ergebnis dieses Krieges rückgängig machen<br />
wollten, immer mächtiger wurden. Immer mehr Deutsche auf deren Seite rückten, weil, wie Tucholsky<br />
schrieb, die Siegermächte Deutschland einen „Vernichtungsfrieden“ aufoktroyiert hatten und dadurch<br />
„neue Nationalisten“ entstanden. Die faschistische Literatur gewann die Oberhand. Alle die anders<br />
dachten, wurden verbrannt, verbannt, ausgebürgert, mussten fliehen, wurden geschnappt, wurden<br />
getötet, oder töteten sich selbst. Die faschistischen Dichter sind heute weitgehend vergessen. Aber die<br />
Antifaschistischen auch. Nur wenige kennt man noch.<br />
Als er im Traum die Hütte betrat der verbannten<br />
Dichter, die neben der Hütte gelegen ist<br />
Wo die verbannten Lehrer wohnen (er hörte von dort<br />
Streit und Gelächter), kam ihm zum Eingang<br />
Ovid entgegen und sagte ihm halblaut:<br />
"Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht<br />
Gestorben. Wer weiß da<br />
Ob du nicht doch noch zurückkehrst?<br />
Doch, Trost in den Augen<br />
Näherte Po Chü-yi sich und sagte lächelnd: "Die Verbannung<br />
Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte."<br />
Aber irdischer stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte:<br />
"Wie viele Türen hat das Haus, wo du wohnst, um zu fliehen?"<br />
Und es nahm ihn Dante bei Seite<br />
Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: "Deine Verse<br />
Wimmeln von Fehlern, Freund, bedenk doch<br />
Wer alles gegen dich ist!" Und Voltaire rief hinüber:<br />
"Gib auf dein Geld acht, sie hungern dich aus sonst!"<br />
"Und misch Späße hinein!" schrie Heine. "Das hilft nicht"<br />
Schimpfte der Shakespeare, "als Jakob kam<br />
Durfte auch ich nicht mehr schreiben." - "Wenn's zum<br />
Prozess kommt<br />
Nimm einen Schurken zum Anwalt!" riet der Euripides<br />
"Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes." Das<br />
Gelächter<br />
Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke<br />
Kam ein Ruf: "Du, wissen sie auch<br />
Deine Verse auswendig? Und die sie wissen<br />
Werden sie der Verfolgung entrinnen?" - "Das<br />
Sind die Vergessenen", sagte Dante leise<br />
"Ihnen wurden nicht nur die Körper, ihnen wurden auch die Werke<br />
vernichtet."<br />
Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der<br />
Ankömmling<br />
War erblasst.<br />
Das war ein Gedicht von Bertolt Brecht, der sich und seine Familie retten konnte, weil Walter<br />
Mehring ihn noch rechtzeitig warnen konnte.<br />
Als ich ins Exil gejagt wurde<br />
Stand in den Zeitungen des Anstreichers<br />
Das sei, weil ich in einem Gedicht<br />
Den Soldaten des Weltkrieges verhöhnt hätte.
Tatsächlich hatte ich im vorletzten Jahr dieses Krieges<br />
Als das damalige Regime, um seine Niederlage<br />
Hinauszuschieben<br />
Auch die schon zu Krüppeln Geschossenen wieder ins<br />
Feuer schickte<br />
Neben den Greisen und den Siebzehnjährigen<br />
In einem Gedicht beschrieben, wie<br />
Der gefallene Soldat ausgegraben wurde und<br />
Unter der jubelnden Beteiligung aller Volksbetrüger<br />
Aussauger und Unterdrücker wieder<br />
Zurück ins Feld eskortiert wurde. Jetzt<br />
Wo sie einen neuen Weltkrieg vorbereiteten<br />
Entschlossen, die Untaten des letzten noch zu übertreffen<br />
Brachten sie Leute wie mich zu Zeiten um oder verjagten sie<br />
Als Verräter<br />
Ihrer Anschläge.<br />
Fast 16 Jahre lebte Brecht mit seiner Frau Helene Weigel und den beiden Kindern Stefan und Barbara<br />
im Exil. Die Stationen: 1933: Prag, Wien, Zürich, Paris. 34-38 Svendborg, Dänemark. 39 Lidingö,<br />
Schweden. 40 Marlebäk, Finnland, 41 über Moskau nach Los Angeles. Brecht lebt in Santa Monica<br />
bei Hollywood bis Ende 47. 1948: Zürich. Ende 48, nachdem seine Einreise in die Westzonen von den<br />
Alliierten abgelehnt wird, Einreise nach Ostberlin mit einem österreichischen Pass. In dieser Exilzeit<br />
sind Theaterstücke entstanden wie: Furcht und Elend des 3. Reiches, Mutter Courage und ihre Kinder,<br />
Herr Puntila und sein Knecht Matti, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Der gute Mensch von<br />
Sezuan, Schweyk im 2. Weltkrieg, Der kaukasische Kreidekreis und schließlich sein bedeutendstes<br />
Stück Das Leben des Galilei. Die Liste der Menschen, mit denen Brecht in dieser Exilzeit<br />
zusammentraf, enthält von Adorno bis Zweig wohl alle bedeutenden Künstler und Denker der<br />
damaligen Zeit.<br />
Im zweiten Jahre meiner Flucht<br />
Im zweiten Jahre meiner Flucht<br />
Las ich in einer Zeitung, in fremder Sprache<br />
Dass ich meine Staatsbürgerschaft verloren hätte.<br />
Ich war nicht traurig und nicht erfreut<br />
Als ich meinen Namen las neben vielen andern<br />
Guten und Schlechten.<br />
Das Los der Geflohenen schien mir nicht schlimmer als das<br />
Der Gebliebenen.<br />
In den Svendborger Gedichten (1934-38) befindet sich der Text:<br />
Verjagt mit gutem Grund<br />
Ich bin aufgewachsen als Sohn<br />
Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir<br />
Einen Kragen umgebunden und mich erzogen<br />
In den Gewohnheiten des Bedientwerdens<br />
Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber<br />
Als ich erwachsen war und um mich sah<br />
Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht<br />
Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden<br />
Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich<br />
Zu den geringen Leuten.<br />
So
Haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet<br />
In ihren Künsten, und er<br />
Verrät sie dem Feind.<br />
Ja, ich plaudere ihre Geheimnisse aus. Unter dem Volk<br />
Stehe ich und erkläre<br />
Wie sie betrügen, und sage voraus, was kommen wird, denn ich<br />
Bin in ihre Pläne eingeweiht.<br />
Das Lateinisch ihrer bestochenen Pfaffen<br />
Übersetze ich Wort für Wort in die gewöhnliche Sprache, da<br />
Erweist es sich als Humbug. Die Waage ihrer Gerechtigkeit<br />
Nehme ich herab und zeige<br />
Die falschen Gewichte. Und ihre Angeber berichten ihnen<br />
Dass ich mit den Bestohlenen sitze, wenn sie<br />
Den Aufstand beraten.<br />
Sie haben mich verwarnt und mir weggenommen<br />
Was ich durch meine Arbeit verdiente. Und als ich mich<br />
Nicht besserte<br />
Haben sie Jagd auf mich gemacht, aber<br />
Da waren<br />
Nur noch Schriften in meinem Haus, die ihre Anschläge<br />
Gegen das Volk aufdeckten. So<br />
Haben sie einen Steckbrief hinter mir hergesandt<br />
Der mich niedriger Gesinnung beschuldigt, das ist:<br />
Der Gesinnung der Niedrigen.<br />
Wo ich hinkomme, bin ich so gebrandmarkt<br />
Vor allen Besitzenden, aber die Besitzlosen<br />
Lesen den Steckbrief und<br />
Gewähren mir Unterschlupf. Dich, höre ich da<br />
Haben sie verjagt mit<br />
Gutem Grund.<br />
Ich hoffe, Sie haben Lust noch ein wenig beim sicherlich bedeutendsten deutschen Lyriker des 20.<br />
Jahrhunderts zu bleiben, der so viel menschliches Leid durchleben musste, um solche menschlichen<br />
Gedichte zu schreiben.<br />
Ich sage tschüss, bis zum nächsten Mal, Ihr <strong>Lutz</strong> <strong>Görner</strong>.