Aids im Operationssaal Seuche kommt mit dem Blut - Zfd-online.net
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satirisch<br />
justizhörig<br />
exper<strong>im</strong>entell<br />
wahrheitenliebend<br />
frei-volksherrschaftlich<br />
Freitag, 22.10.1993<br />
42. Kalenderwoche, 4. Jahrgang<br />
alle 14 TageT<br />
Nummer 56<br />
Einzelpreis 2,70 DM<br />
Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt, Telefon 0 6151/71 98 96<br />
offen<br />
bissig<br />
kritisch<br />
unabhängig<br />
überparteilich<br />
D 11485 D<br />
<strong>Aids</strong> <strong>im</strong> <strong>Operationssaal</strong><br />
<strong>Seuche</strong> <strong>kommt</strong> <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>Blut</strong><br />
Über die Geschäftemacherei <strong>mit</strong> <strong>Blut</strong> und<br />
die Zulassung der Behörden für das Verbreiten tödlicher Viren<br />
Gibt es in der Bundesrepublik einen<br />
<strong>Aids</strong>-Skandal, vergleichbar <strong>dem</strong> in<br />
Frankreich Wer am 6. Oktober Fernsehen<br />
sah oder tags darauf Zeitung las, war<br />
schockiert, zumindest verunsichert: Eine<br />
Liste von 373 Menschen, die sich durch<br />
<strong>Blut</strong>konserven <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> tödlichen HIV-<br />
Virus infiziert haben, war der Öffentlichkeit<br />
vorenthalten worden. Diese „Fälle“<br />
sollen <strong>dem</strong> Bundesgesundheitsamt (BGA)<br />
in Berlin schon länger bekannt gewesen<br />
sein; es gab diese Zahlen jedoch nicht weiter,<br />
sondern hielt sie in den Amtsschubladen<br />
versteckt. Dies ist zumindest die Version<br />
von Bundesgesundheitsminister<br />
Horst Seehofer (CDU). Bisherige Konsequenz<br />
dieser „Informationskrise“ – so<br />
nennt das BGA selbst den Skandal –: Präsident<br />
Dieter Großklaus und Manfred<br />
Steinbach, Leiter der Gesundheitsabteilung<br />
<strong>im</strong> Ministerium, wurden in den vor-<br />
Lückenlos würden alle <strong>Blut</strong>konserven<br />
in der Bundesrepublik auf HIV-Viren<br />
untersucht, will uns diese Broschüre<br />
der Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung weismachen. Kein Wort<br />
von der „diagnostischen Lücke“, keins<br />
über das Restrisiko. Die Stelle sollte<br />
sich besser in „Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Verklärung“ umtaufen.vro<br />
Sie lesen<br />
zeitigen Ruhestand geschickt. Das Amt<br />
soll aufgelöst werden. Keine Rede von<br />
strafrechtlichen Konsequenzen, <strong>im</strong>merhin<br />
ist <strong>mit</strong> Menschenleben zumindest fahrlässig<br />
umgegangen worden.<br />
Wer zählt zur Dunkelziffer<br />
Ansonsten herrscht auch heute, zwei<br />
Wochen nach der Veröffentlichung, weitgehende<br />
Unklarheit. Da ist die Rede mal<br />
von nur fünf, dann sieben oder zwölf Menschen,<br />
die sich nach <strong>dem</strong> 1. Oktober 1985<br />
durch <strong>Blut</strong>konserven angesteckt haben<br />
sollen. Andererseits präsentierten die<br />
Medien vermehrt Einzelfälle, die zu einem<br />
späteren Zeitpunkt infiziert wurden, und<br />
zitierten Fachleute, die von viel höheren<br />
Zahlen und einer riesigen Dunkelziffer<br />
sprechen.<br />
Seit Anfang der achtziger Jahre sind offiziell<br />
an die 2.000 <strong>Blut</strong>er <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Virus infiziert<br />
worden, 400 sind schon gestorben.<br />
Sicher scheint auch, daß weder Ärzte noch<br />
das BGA je Nachforschungen angestellt<br />
haben, wer infiziertes Spenderblut erhalten<br />
hat. Das hätte zumindest bei denjenigen<br />
getan werden können und müssen, bei<br />
denen nachträglich bekannt wurde, daß<br />
eine best<strong>im</strong>mte Charge der Konserven verseucht<br />
war. Da dies unterblieb, ist davon<br />
ausgehen, daß viele Menschen, die irgendwann<br />
einmal in den letzten zehn Jahren<br />
<strong>Blut</strong> oder <strong>Blut</strong>plasma erhalten haben,<br />
möglicherweise infiziert sind – ohne dies<br />
zu wissen. Sie werden sterben und sind<br />
eine tödliche Gefahr für ihre PartnerInnen<br />
und ihren Nachwuchs.<br />
Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf ein<br />
untätiges Amt, auf die Macht der Pharmahersteller<br />
und ihr Millionengeschäft,<br />
sowie auf eine durch nichts zu entschuldigende<br />
und tödliche Verharmlosung und<br />
Vertuschung – wider besseres Wissen.<br />
Vereinzelt war in den Medien schon vor<br />
Monaten die Rede von einem <strong>Aids</strong>-Skandal:<br />
Margarete Schreinemaker präsentierte<br />
in „Schreinemakers Live“ (SAT 1) am 21.<br />
Mai Infizierte und beschuldigte die Firma<br />
„Immuno AG“ als Verursacher. „Frontal“<br />
(ZDF) berichtete am 3. August: 2.000 <strong>Blut</strong>er<br />
– und da<strong>mit</strong> jeder Dritte – hätten sich<br />
infiziert. Bereits ein Brief an das BGA<br />
vom Dezember 92 hätte erste Warnungen<br />
über die Risikogruppe <strong>Blut</strong>er und die<br />
Ansteckungswege enthalten, ohne Reaktion<br />
der Amtsherren. 1990 habe es eine Blu-<br />
2 Sind DarmstädterInnen infiziert worden Kliniken schweigen<br />
4 Schutzgesetze für die Presse fallen<br />
5 Die Frauenbeauftragte klagt: Zu viel Arbeit<br />
6 Verfassungsschutzbericht 1992: Gewalteskalation<br />
7 ✝ 40 Opfer rechter Gewalt<br />
8 Fremdenfeindliche Bundesrepublik – eine Liste des Grauens<br />
10 Gerhard Zwerenz über die Frankfurter Buchmesse<br />
11 Freizeit für Mittelschicht: Bessunger Knabenschule<br />
14 Briefe: Vertrauensvolles zwischen ZD und HEAG<br />
<strong>Aids</strong> Mit Kondomen sollen wir uns davor schützen – daran erinnert<br />
uns die Bundesregierung täglich in der Glotze. <strong>Aids</strong>, das<br />
Schreckgespenst aller Freigeister und vor allem junger Leute,<br />
sorgt für zunehmenden Rückzug in die eigenen vier Wände: Wer<br />
will davor nicht sicher sein Dann aber <strong>kommt</strong> der Hammer: Wer<br />
ins Krankenhaus geht, sich einer Operation unterziehen mußte<br />
und muß, erfährt plötzlich: auch er kann <strong>Aids</strong> bekommen. Ärzte<br />
setzen <strong>Blut</strong>konserven ein, die angeblich ein „geringes Restrisiko“<br />
haben – doch wen interessiert die Statistik, wenn er/sie plötzlich<br />
<strong>Aids</strong> hat<br />
Nächste Ausgabe: Freitag, 5.11.93<br />
terkatastrophe in Deutschland gegeben: elf<br />
Menschen hätten sich über Produkte der<br />
Firma „Biotest“ angesteckt, der Staatsanwalt<br />
er<strong>mit</strong>tle. Sie zeigten einen Zeugen,<br />
der aussagte, von dieser Firma unter Druck<br />
gesetzt worden zu sein: Er sei der einzige,<br />
<strong>dem</strong> das passierte; er solle <strong>mit</strong> eine Abfindung<br />
von 75.000 Mark – zwei Jahre Verdienstausfall<br />
und Bestattungskosten –<br />
zufrieden sein und den Mund halten.<br />
☛ Fortsetzung Seite 2<br />
Innenminister<br />
spielt rechte<br />
Gewalt runter<br />
Offiziell heißt es stets, <strong>im</strong> vergangenen<br />
Jahr seien 17 Menschen von Rechtsextremisten<br />
umgebracht worden. Statistiken<br />
sind <strong>im</strong>mer <strong>mit</strong> Vorsicht zu<br />
genießen, präsentieren sie doch stets nur<br />
das, was <strong>im</strong> Interesse der Auftraggeber<br />
liegt. Wir wollten genauer wissen, wieviele<br />
Opfer die Welle rechter Gewalt<br />
1992 gefordert hat. So werteten wir den<br />
Verfassungsschutzbericht, den Jahresbericht<br />
des Polizeipräsidiums Darmstadt<br />
und andere Presseinformationen<br />
aus. Die offiziellen Zahlen müssen nach<br />
oben korrigiert werden: Über 40 Todesopfer<br />
berichtete die freie Presse.<br />
In Darmstadt faßt der Polizeipräsident<br />
<strong>im</strong> Jahresbericht 1992 pauschal 28<br />
Anschläge auf „Asylunterkünfte“<br />
zusammen. Die Pressestelle hat nur<br />
einen Teil dieser Anschläge <strong>im</strong> Verlauf<br />
des Jahres 92 publiziert, und aus <strong>dem</strong><br />
jetzt vorliegenden Bericht geht auch<br />
nichts genaueres hervor, beispielsweise<br />
in welchem Ort, an welchem Tag, von<br />
welchen Tätern (bekannt oder unbekannt)<br />
etc.. Der Polizeipräsident enthält<br />
so<strong>mit</strong> der Öffentlichkeit diese Entwicklung<br />
vor. Werden solche Anschläge als<br />
Bagatellen betrachtet oder ist es politische<br />
Absicht Wir haben ihn angeschrieben<br />
und um Auskunft gebeten.<br />
Siehe auch Seiten 6, 7 und 8 dieser Ausgabe.<br />
red<br />
„Der hat die Zeitung für Darmstadt<br />
doch nur gegründet, weil er der SPD<br />
eins auswischen will“ – <strong>mit</strong> diesem<br />
Satz tritt eine Stadträtin an die Öffentlichkeit.<br />
Die Sicherheit, <strong>mit</strong> der sie ihre<br />
großartige tiefenpsychologische Erkenntnis<br />
verbreitet, findet Bestätigung<br />
bei vielen anderen GenossInnen – ich<br />
höre das <strong>im</strong>mer wieder.<br />
Die Stadtratin also weiß: Wer sich noch<br />
dazu in aller Öffentlichkeit versteigt,<br />
SPDlerInnen zu kritisieren, muß persönlich<br />
etwas gegen die Partei haben,<br />
wohlgemerkt nicht gegen den oder die<br />
GenossIn; zum Handeln ihrer Freund-<br />
Innen (das Gegenstand der Kritik ist)<br />
schweigt sie.<br />
Zu dieser Erkenntnis Vieler in der Partei<br />
gesellt sich, wie könnte es anders<br />
sein, die Behauptung, „was die (in der<br />
ZD, red.) schreiben, ist sowieso<br />
falsch“. Jetzt müßten wir als Schreiber-<br />
Innen zu tiefst getroffen sein, denn<br />
einen schärferen Vorwurf als den der<br />
Falschberichterstattung gibt es nicht.<br />
Offensichtlich glauben zumindest einige<br />
von ihnen fest daran, andere wissen<br />
es besser, behaupten es dennoch. Beispiel<br />
1: Eike Ebert, er formulierte eine<br />
Strafanzeige wegen Verleumdung und<br />
übler Nachrede, die Staatsanwaltschaft<br />
aber glaubte ihm nicht und stellte die<br />
Er<strong>mit</strong>tlungen ein.<br />
Beispiel 2: Volker Schmidt fiel auch<br />
nichts Besseres ein, als er gleichlautenden<br />
Strafantrag einreichte (die Er<strong>mit</strong>tlungen<br />
laufen noch), und er hängte<br />
gleich noch zwei Privatklagen dran. Da<br />
die Juristen noch <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Fall befaßt<br />
sind, können die ParteifreundInnen<br />
heute noch glauben, was sie wissen<br />
wollen: daß die ZD falsch berichte. Im<br />
Dezember spätestens werden ihnen die<br />
Juristen auch diesen Glauben nehmen.<br />
Die ZD berichtet nicht falsch!<br />
Das ist wahrlich ein schmerzlicher<br />
Lernprozeß, den die Sozial<strong>dem</strong>okrat-<br />
Innen durchmachen müssen. Hatten sie<br />
sich erst jahrelang unter der harten<br />
Faust ihres OB Metzger absolute Parteiloyalität<br />
aneignen und das Denken<br />
abnehmen lassen müssen, fällt <strong>dem</strong>nächst<br />
der Wunsch-Glaube: Daß ihre<br />
Partei <strong>mit</strong> Filz nichts zu tun habe und<br />
daß alle Kritik von außen doch nichts<br />
weiter als der „persönliche Haß“ eines<br />
Herausgebers sei.<br />
Seit einigen Jahren scheinen die Sozial<strong>dem</strong>okratInnen<br />
die Prügelknaben der<br />
ZD zu sein. Das ist aus Sicht eines kritischen<br />
Journalismus barer Unsinn:<br />
Der Abneigung ihres früheren Oberbürgermeisters<br />
(der nur knapp der<br />
Strafjustiz entronnen ist und als Privat-<br />
Kläger mindestens einmal unterlegen<br />
war) gegenüber je<strong>dem</strong> kritischen Ton<br />
fühlten sich Darmstadts Sozis derart<br />
verpflichtet, daß sie eine undurchdringliche<br />
Front und Feindschaft gegen die<br />
ZD aufbauten: Informationen gabs nur,<br />
wenn es das Gesetz verord<strong>net</strong>e, und<br />
selbst dann oft nicht. Während viele<br />
SPD-feindlich<br />
laut ihre Hoffnung verbreiteten, das<br />
Blatt möge bald aus wirtschaftlichen<br />
Gründen wieder eingehen, sahen sie<br />
sich zunehmend getrogen: Es lebte<br />
weiter.<br />
Zeitungen leben von und <strong>mit</strong> Nachrichten,<br />
sonst taugt ein Blatt nicht viel und<br />
es geht wieder ein – soweit hatten die<br />
Sozis recht. Doch sie übersahen, daß es<br />
auch eine Opposition gab, und die war<br />
recht fleißig <strong>im</strong> Weitergeben von Informationen,<br />
wie sich das in einer funktionierenden<br />
Demokratie auch gehört.<br />
Deshalb äußerten Darmstadts SPD-<br />
LerInnen sehr bald: „Die ZD ist ein<br />
Grünen-Blatt“ und übersahen schon<br />
wieder, daß auch die CDU Nachrichten<br />
lieferte – das wiederum paßte nicht in<br />
das Feind-Bild, die ZD sollte doch in<br />
der Chaoten-Ecke stehen.<br />
Von unabhängigem Journalismus, der<br />
<strong>im</strong> Interesse der Sache und nicht gegen<br />
oder für Parteiinteressen schreibt, hatten<br />
Darmstadts Sozis offensichtlich<br />
noch nichts gehört oder gelesen – bis<br />
heute nicht, dabei ist Lesen gerade in<br />
der Politik sehr wichtig.<br />
So wurden sie zwangsläufig zu Prügelknaben<br />
in der Öffentlichkeit, denn die<br />
ZuträgerInnen der anderen Parteien<br />
gaben ja auch nur das weiter, was der<br />
SPD schaden sollte – natürlich nicht<br />
ihnen selbst. Und Darmstadts Sozis<br />
schwiegen, enthielten weiter Informationen<br />
vor, mauerten sich selbst ein,<br />
führten einen Kleinkrieg <strong>mit</strong> einer kleinen<br />
Zeitung, hofften und mußten neue<br />
Gründe finden, weshalb dieses Blatt<br />
<strong>im</strong>mer nur sie kritisierte: Also fanden<br />
sie heraus, daß der Herausgeber einen<br />
persönlichen Haß auf sie haben müsse.<br />
Die Aufgabe der Presse besteht darin,<br />
den an der Macht sitzenden Politikern<br />
zuerst auf die Finger zu sehen. Und<br />
alles, was regiert, muß sich von allem,<br />
was redigiert, gefallen lassen, unter die<br />
prüfende Lupe der Gesetzestreue<br />
genommen zu werden – dies zu verhindern,<br />
ist bekanntlich erstes und wichtigstes<br />
Ziel totalitärer, (sollte aber)<br />
nicht Ansinnen <strong>dem</strong>okratischer<br />
(SPD)PolitikerInnen sein.<br />
Als ob jemand eine Partei derart wichtig<br />
nehmen könnte, daß er, allein um<br />
ihr zu schaden, eine Zeitung aus der<br />
Taufe heben würde – welche Arroganz<br />
spiegelt sich in solch egozentrisch<br />
banaler Weltschau einer Partei. Da ich<br />
als Herausgeber selbst da<strong>mit</strong> angesprochen<br />
bin: Ihr Darmstädter SPD-<br />
Genoss-Innen könnt ganz getrost sein,<br />
nichts läge mir ferner, als irgendein<br />
Gefühl an die SPD zu verschwenden,<br />
weder <strong>im</strong> Positiven noch <strong>im</strong> Negativen.<br />
Noch <strong>im</strong>mer kommen keine Informationen<br />
– außer ihren Parte<strong>im</strong>eldungen.<br />
Wo <strong>im</strong>mer sie in Amt und Würden sitzen,<br />
enthalten sie Anzeigen vor und<br />
hoffen weiter auf das Ableben des Blattes.<br />
Doch den Gefallen tun wir ihnen<br />
nicht.<br />
In der Öffentlichkeit ist so in der Tat<br />
ein falscher Eindruck entstanden. Da<br />
die ZD <strong>im</strong> Gegensatz zu „unserem<br />
Darmstädter Echo“ Informationen<br />
ohne parteifreundliche Vorauswahl<br />
verbreitet, könnten die LeserInnen<br />
glauben, nur in der SPD wucherten<br />
Filz, Vorteilnahme und wie die häßlichen<br />
Dinge der persönlichen Bereicherung<br />
alle heißen, das ist sicher nicht der<br />
Fall: Nur Darmstadts SPD schweigt –<br />
noch, wie lange noch Vielleicht<br />
braucht sie weitere vier oder mehr Jahre,<br />
um irgendwann zu lernen: Wer<br />
Informationen vorenthält, schadet<br />
letztlich sich selbst.<br />
Wenn der erste Bericht in der ZD über<br />
die Vorteilnahmen von PolitikerInnen<br />
anderer Parteien Premiere hat, ist das<br />
Zeichen: einer oder haben mehrere in<br />
der SPD haben dazugelernt. Der neue<br />
Oberbürgermeister jedenfalls meinte,<br />
die Presse solle künftig gleich behandelt<br />
werden – doch das müssen seine<br />
ParteifreundInnen erst einmal praktizieren.<br />
Der Herausgeber
☛ Fortsetzung von Seite 1<br />
Impressum<br />
Verleger und Herausgeber:<br />
Michael Gr<strong>im</strong>m<br />
Unser Team :<br />
Uta Sch<strong>mit</strong>t<br />
Eva Bredow<br />
Sanne Borghia<br />
Nicole Schneider<br />
Peter J. Hoffmann<br />
Gerhard Kölsch<br />
Ludwig v. Sinnen<br />
und freie AutorInnen<br />
Anzeigen:<br />
verantwortlich Peter Horn,<br />
Heiner Schäfer<br />
Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 5<br />
Postanschrift:<br />
Zeitung für Darmstadt<br />
Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt<br />
Telefon 06151/719896<br />
Telefax 06151/719897<br />
Bankverbindungen:<br />
Volksbank Darmstadt<br />
BLZ 508 900 00, Konto 14 111301<br />
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Postgiroamt Frankfurt<br />
BLZ 500 100 60, Konto 56 29 29-601<br />
Druck:<br />
Caro Druck<br />
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Für namentlich gekennzeich<strong>net</strong>e Artikel oder<br />
Presseberichte von Parteien, Verbänden und<br />
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die presserechtliche Verantwortung. Sie sind kein<br />
Spiegel für die Meinung der Redaktion.<br />
Personenbezogene Daten werden<br />
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für die Verwaltung eingesetzt und nach Ende<br />
des Zeitungsbezugs umgehend gelöscht.<br />
InformantInnen bleiben gemäß gesetzlicher<br />
Grundlage auf Wunsch anonym.<br />
Text und Bild sind <strong>mit</strong> „QuarkXPress“<br />
auf Apple Macintosh gesetzt und unter Omnis 5 -<br />
Verlagverwaltung organisiert.<br />
Redaktionsschluß<br />
für die nächste Ausgabe: 30.10.93<br />
So dauerte es in der Bundesrepublik weitere<br />
drei Jahre, bis <strong>Aids</strong>-Tests bei den <strong>Blut</strong>spendern<br />
zwingend angeord<strong>net</strong> wurden –<br />
was das Risiko zwar nicht völlig ausschließt,<br />
aber doch wesentlich verringert.<br />
Drei Jahre, die vielen Menschen das Leben<br />
kosteten. 2.000 <strong>Blut</strong>er sollen in jenen Jahren<br />
infiziert worden sein, wieviele sich bei<br />
Operationen ansteckten, weiß niemand.<br />
Daß das hier keine öffentliche Empörung<br />
verursachte, liegt daran, daß <strong>Blut</strong>er keine<br />
Lobby haben. Daran, daß <strong>Aids</strong> gerade in<br />
den frühen 80er Jahren als Schwulen-<br />
Krankheit gebrandmarkt war. Aus Angst<br />
vor Öffentlichkeit prozessieren <strong>Aids</strong>kranke<br />
kaum. 1.300 wurden bisher abgefunden,<br />
viele <strong>mit</strong> nicht mehr als 30.000 Mark.<br />
Der französische <strong>Aids</strong>-Skandal<br />
Die 1.500 <strong>Blut</strong>er, denen in Frankreich wissentlich<br />
– darin besteht der Unterschied<br />
zur BRD – aidsverseuchte <strong>Blut</strong>konserven<br />
verabreicht worden waren, lagen die Verantwortlichkeiten<br />
des Skandals klarer:<br />
Dort läuft das <strong>Blut</strong>spendewesen unter<br />
staatlicher Regie, vier Männer wanderten<br />
ins Gefängnis. Die Opfer erhielten je eine<br />
Abfindung von 500.000 Mark.<br />
Seehofer hat vergangene Woche angekündigt,<br />
für die deutschen <strong>Blut</strong>opfer einen<br />
Fonds einzurichten: 10 Millionen Mark.<br />
Rechnerisch macht das nach heutigem<br />
Kenntnisstand über die Zahl an Infizierten<br />
für jeden 5.000 Mark.<br />
50 private <strong>Blut</strong>firmen<br />
Neben <strong>dem</strong> Deutschen Roten Kreuz<br />
(DRK) gibt es weitere 50 private <strong>Blut</strong>-<br />
Pharmahersteller. Doch die in Deutschland<br />
gesammelte <strong>Blut</strong>menge deckt nicht<br />
den Bedarf. Deshalb werden Konserven<br />
aus den USA und <strong>dem</strong> Ostblock <strong>im</strong>portiert.<br />
Vereinzelt heißt es, kämen auch aus<br />
Südamerika Konserven, wo es überhaupt<br />
keine Kontrollen auf <strong>Aids</strong>, Hepatitis oder<br />
sonstige Virenerkrankungen geben soll.<br />
Das gesammelte <strong>Blut</strong> wird in großen Mengen<br />
zusammengemischt und dann in<br />
500ml-Beuteln abgepackt. Da es dafür keine<br />
Poolbildungsgrenzen gibt (ein weiteres<br />
Versäumnis des BGA), werden bis zu<br />
20.000 Liter (laut „Spiegel“ sogar 70.000)<br />
in einer Charge zusammengefaßt. Ein einziger<br />
HIV-infizierter Spender genügt, um<br />
diese gesamte Menge zu verseuchen.<br />
Da das BGA nicht vorschreibt (wieder ein<br />
Versäumnis), wie die <strong>Blut</strong>konserven zu<br />
reinigen, das heißt die Viren abzutöten<br />
sind (Fachausdruck: Inaktivierungsverfahren),<br />
beschränken sich viele Hersteller auf<br />
die Kaltsterilisation. Ein unzulängliches<br />
Verfahren. Wie der „Spiegel“ schreibt,<br />
waren deshalb 1990 2.000 PPSB-Flaschen<br />
(ein <strong>Blut</strong>gerinnungsfaktor) der Firma<br />
„Biotest“ verseucht: in Bonn infizierten<br />
sich so sechs, in Frankfurt drei Menschen,<br />
in Göttingen einer. Helfen könnte auch ein<br />
zehn Stunden langes Erhitzen bei 60 Grad,<br />
was viele Unternehmen aber aus Kostengründen<br />
ablehnen.<br />
Obwohl das BGA vorschreibt, Risikogruppen<br />
– wie Fixer, Homosexuelle, Prostituierte<br />
– von den <strong>Blut</strong>spendern auszuschließen,<br />
hat etwa die Firma „Immuno“<br />
eine Spendestelle nahe <strong>dem</strong> Hamburger<br />
Hauptbahnhof, wo Fixer zu Dauerkunden<br />
zählen. Einer von ihnen ist Karlheinz<br />
Schmidt, der laut Immuno-Spenderakte<br />
insgesamt 373 Mal dabei war, weiß der<br />
„Spiegel“. Gerade diese Risikogruppen<br />
können die 30 bis 50 Mark, die pro Spende<br />
gezahlt werden, gut gebrauchen. Das BGA<br />
versäumte, solche Geschäftspraktiken<br />
unter Strafe zu stellen.<br />
<strong>Blut</strong>: ein riesiges Geschäft<br />
In Frankfurt werden allein täglich 220 bis<br />
280 <strong>Blut</strong>konserven gebraucht. Das DRK<br />
zapft jährlich 4,3 Millionen Menschen an.<br />
Auf bis zu 1 Milliarde Mark wird der Jahresumsatz<br />
der <strong>Blut</strong>branche geschätzt. Für<br />
viele Menschen ist eine <strong>Blut</strong>spende überlebenswichtig<br />
und es finden sich zu wenig<br />
Spender. Daraus läßt sich ein riesiges<br />
Geschäft machen.<br />
Die <strong>Blut</strong>firmen schrecken auch vor Bestechung<br />
nicht zurück, um ihre Plasmaprodukte<br />
an den Mann zu bringen. Einem<br />
Bonner Oberarzt waren von der Kölner<br />
Handelsfirma „Pro Plasma“ fast 2,5 Millionen<br />
Mark Schmiergeld auf ein Schweizer<br />
Nummernkonto überwiesen worden.<br />
Er wurde erwischt. Seine Strafe: 22 Monate<br />
Gefängnis auf Bewährung und 600.000<br />
Mark Geldbuße.<br />
Ein <strong>Blut</strong>er sagte (am 9.10., „Spiegel-TV“)<br />
aus: Nach<strong>dem</strong> er erfahren hatte, was seine<br />
Ärzte von den Lieferanten kassierten, habe<br />
er dieses Geschäft selbst gemacht. Er<br />
bezog das Plasma direkt vom Hersteller<br />
und erhielt in nur einem Jahr einen Fernseher,<br />
eine Videokamera und Geld.<br />
Das BGA verläßt sich noch <strong>im</strong>mer auf<br />
anonyme Meldungen von Pharmakonzernen<br />
über HIV-infizierte <strong>Blut</strong>konserven.<br />
Der Pharmakritiker Ulrich Moebius rech<strong>net</strong><br />
<strong>mit</strong> 2.800 Fällen, die deshalb nie aktenkundig<br />
geworden sein sollen. Der Siegener<br />
Rechtsanwalt Schulte-Hillen hat bisher 15<br />
Fälle von PPSB-Infektionen verfolgt.<br />
Auch er <strong>kommt</strong>, hochgerech<strong>net</strong> auf die<br />
gesamte BRD, auf Zahlen von über 2.000<br />
Menschen, die <strong>Aids</strong> durch <strong>Blut</strong>konserven<br />
bekommen haben, die aber in keiner Statistik<br />
auftauchen und um ihre Abfindung<br />
klagen müssen. Viele fordern deshalb nun<br />
eine Umkehr der Beweislast: Die Hersteller<br />
müßten beweisen, daß der HIV-Virus<br />
nicht durch ihre <strong>Blut</strong>packungen übetragen<br />
wurde.<br />
Die BGA-Vertuschungsbehörde<br />
Seit Jahren ist das BGA eine Skandalbehörde:<br />
Dioxin, Asbest, Formaldehyd,<br />
Holzschutz<strong>mit</strong>tel – <strong>im</strong>mer hat sie vertuscht,<br />
wenn überhaupt, zu spät gehandelt.<br />
Stets wog das Interesse der Industrie<br />
schwerer. Eine unheilvolle Allianz zwischen<br />
Herstellern, Ärzten und – <strong>im</strong> Fall<br />
<strong>Aids</strong> – den <strong>Blut</strong>-Pharmaproduzenten. Hat<br />
die Behörde je was gegen die Hersteller<br />
der verseuchten <strong>Blut</strong>produkte unternommen<br />
Bislang ist nichts bekannt geworden.<br />
Seehofer muß sich – wie seine Vorgänger<br />
Geißler und Süßmuth – vorwerfen lassen,<br />
auf die Mahnungen des Pharmakritikers<br />
Ulrich Moebius nicht reagiert zu haben,<br />
der schon vor zwei Jahren das BGA der<br />
Untätigkeit beschuldigt hatte. Die Auslieferung<br />
der von Biotest verseuchten <strong>Blut</strong>konserven<br />
<strong>im</strong> Jahr 1990 hätte so verhindert<br />
werden können, wenn das BGA Inaktivierungsverfahren<br />
verbindlich angeord<strong>net</strong><br />
hätte. Wegen dieses Falls ist am Dienstag<br />
(19.) ein weiterer Beamte des BGA entlassen<br />
worden. Er soll über die aidsverseuchten<br />
Konserven von einem „ernstzunehmenden<br />
Wissenschaftler“ informiert<br />
gewesen sein, gab diese Informationen<br />
jedoch nicht weiter. Moebius geht so weit,<br />
zu sagen: Mit Absicht habe das BGA seine<br />
Verdachtsfälle in Schuhkartons gesammelt<br />
und unter der Decke gehalten, um die<br />
Hersteller der verseuchten <strong>Blut</strong>proben zu<br />
schützen („Spiegel“).<br />
Welche DarmstädterInnen sind<br />
möglicherweise <strong>mit</strong> HIV-kontaminierten<br />
<strong>Blut</strong>konserven behandelt<br />
worden und können, ohne davon zu<br />
wissen, ihre Freunde, Freundinnen<br />
und Kinder möglicherweise infizieren<br />
Dies war der Grund für einen<br />
Fragenkatalog, den wir allen Darmstädter<br />
Kliniken zugestellt hatten,<br />
<strong>mit</strong> der Bitte um Antwort. Wir<br />
wollten wissen:<br />
1. Sind <strong>Blut</strong>konserven der Firmen „Behring“,<br />
„Immuno“, „Travenol“, „Cutter“,<br />
„Pro Plasma“, „Biotest“ und vom<br />
„Deutschen Roten Kreuz“ in Ihrer Klinik<br />
eingesetzt worden. Werden sie weiterhin<br />
eingesetzt<br />
2. Sind in Ihrer Klinik auch <strong>Blut</strong>konserven<br />
aus Südamerika zur Behandlung<br />
eingesetzt worden<br />
3. Wie hoch waren Provisionen und<br />
welche Werbegeschenke sind Ihrer<br />
Klinik oder behandelnden Ärzten angeboten<br />
und bezahlt worden<br />
4. Sind Ihnen Warnungen über mögliche<br />
HIV-Kontaminationen der <strong>Blut</strong>konserven<br />
zugekommen<br />
5. Wenn ja, wann sind Ihnen erste Warnungen<br />
zugegangen und von wem<br />
6. Hat die Berichterstattung über die<br />
<strong>Aids</strong>-Fälle in Frankreich in Ihrer Klinik<br />
zu irgendwelchen Konsequenzen geführt<br />
7. Nach<strong>dem</strong> Ihnen bekannt war, daß<br />
HIV-verseuchte Konserven <strong>im</strong> Umlauf<br />
waren, haben Sie Ihre damaligen und<br />
auch heutigen PatientInnen davon informiert<br />
und gegebenfalls zu einer Nachuntersuchung<br />
bestellt<br />
8. Wieviele PatientInnen sind in Ihrer<br />
Klinik <strong>mit</strong> HIV-verseuchten <strong>Blut</strong>konserven<br />
behandelt worden<br />
Da eine schnelle Beantwortung der Fragen<br />
möglicherweise <strong>dem</strong> Übertragen<br />
des HIV-Virus ehemaliger PatientInnen<br />
vorbeugen könnten, die nichts davon<br />
ahnen, daß sie <strong>im</strong> Krankenhaus infiziert<br />
worden sind, baten wir in unserem<br />
Schreiben vom 11.10. um Antwort bis<br />
zum 14.10. und kündigten bei üblichem<br />
Schweigen Anträge auf einstweilige<br />
Anordnungen des Verwaltungsgerichtes<br />
an. Zwei Kliniken reagierten (siehe<br />
unten) so, daß wir uns gezwungen<br />
sahen, die Informationen auf <strong>dem</strong><br />
Rechtsweg einzuholen. Die Schreiben<br />
an das Verwaltungsgericht gingen nach<br />
vergeblichen Versuchen, die Antworten<br />
telefonisch einzuholen, am 15.10. an<br />
das Gericht. Bis zum Druck dieser Ausgabe<br />
konnten die Antworten auch<br />
gerichtlich nicht durchgesetzt werden.<br />
In der nächsten Ausgabe der ZD hoffen<br />
wir Entwarnung geben zu können, doch<br />
das Schweigen der Kliniken st<strong>im</strong>mt<br />
bedenklich.<br />
„Wie kommen Sie dazu,<br />
so zu fragen“<br />
Die erste Reaktion kam vom Marienhospital.<br />
Eine „Schwester Liberata“<br />
meldete sich telefonisch am 14.10.,<br />
erregte sich über die „Form Ihres<br />
Anschreibens, das ist ja unglaublich“<br />
und meinte, „<strong>dem</strong> Darmstädter Echo<br />
habe ich ja schon alles gesagt“. Woraufhin<br />
wir entgeg<strong>net</strong>en: „Der wesentliche<br />
Teil unserer Fragen war aber <strong>im</strong> Echo<br />
gar nicht angesprochen: Ob möglicherweise<br />
infizierte PatientInnen informiert<br />
worden sind“. Liberata: „Wo bleibt da<br />
der Datenschutz“ Sie forderte die<br />
Gesetzesauszüge an, aufgrund derer wir<br />
unsere Fragen beantwortet wissen wollten.<br />
Und wir hakten nach: „Sind Sie<br />
denn nicht auch daran interessiert, möglichst<br />
schnell Ihre PatientInnen davon<br />
Ausgabe 56 22.10.1993 · Seite 2<br />
<strong>Aids</strong> <strong>im</strong> <strong>Operationssaal</strong> – <strong>Seuche</strong> <strong>kommt</strong> <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>Blut</strong><br />
Untaugliche <strong>Aids</strong>-Tests<br />
Hinzu gesellte sich <strong>im</strong>mer wieder Skepsis<br />
an den <strong>Aids</strong>-Tests. Der Virus hat eine<br />
Inkubationszeit von sechs Wochen bis hin<br />
zu Monaten. Ein Test allein genügt also<br />
nicht, denn er sagt nichts über eine mögliche<br />
Infektion in den letzten Wochen aus.<br />
Die Experten nennen dies „diagnostisches<br />
Fenster“. „Die Woche“ publizierte am 5.<br />
August einen Artikel unter der Überschrift:<br />
„<strong>Aids</strong>-Tests: untauglich“. Die australische<br />
Medizin-Physikerin Eleni Papadopulos-Eleopulos<br />
vom Royal Perth Hospital<br />
sammelte weltweit <strong>Aids</strong>-Test-Ergebnisse<br />
und verglich sie <strong>mit</strong>einander. Ihr<br />
Ergebnis: sie sind höchst unsicher: „1990<br />
hatten in Rußland 20.000 Menschen einen<br />
positiven Elisa-Befund (dieser Test wird<br />
in Deutschland jährlich rund sechs Millionen<br />
Mal gemacht, red.). Der als Kontrollstandard<br />
verwandte „Western Blot“<br />
bestätigte dieses Test-Ergebnis nur 112<br />
mal.“ Bei eigenen Untersuchungen fand<br />
sie angeblich HIV-Infizierte, die gesund<br />
sind, Fälle <strong>mit</strong> negativen Ergebnissen bei<br />
akut <strong>Aids</strong>kranken und sogar solche, bei<br />
denen das <strong>Blut</strong> an einem Tag HIV-positiv<br />
und am anderen Tag HIV-negativ reagiert<br />
haben soll. Auf all diese Meldungen reagierte<br />
das BGA <strong>mit</strong> Nichtstun und Verharmlosung.<br />
Seit <strong>dem</strong> 1. Oktober 1985<br />
werden alle <strong>Blut</strong>spender einem HIV-Test<br />
unterzogen, nur einem. Offiziell wurde<br />
seit<strong>dem</strong> stets verkündet, das schließe alle<br />
Risiken aus (siehe Abbildung Seite 1). Ein<br />
Irrtum, wie wir spätestens jetzt wissen und<br />
worüber wir viel früher hätten Gewißheit<br />
erlangen können, wären die vielen Warnungen<br />
ernstgenommen worden.<br />
Drei verlorene Jahre<br />
Bereits 1982 erkannte etwa die BGA-Wissenschaftlerin<br />
Johanne L’age-Stehr die<br />
Gefahr der Übertragung durch <strong>Blut</strong>konserven<br />
bei <strong>Blut</strong>ern. Doch der damalige<br />
Gesundheitsminister Heiner Geißler und<br />
seine Nachfolgerin Rita Süßmuth (beide<br />
CDU) wollten das nicht hören. Der Wissenschaftlerin<br />
wurde (laut „Spiegel“<br />
41/93) ein Maulkorb verpaßt, seit<strong>dem</strong> darf<br />
sie nicht mehr über <strong>Aids</strong> forschen, sondern<br />
muß sich um Gelbfieber kümmern – das es<br />
in Deutschland gar nicht gibt.<br />
Der Skandal, wie er vor zwei Wochen in<br />
die Öffentlichkeit gelangte, ist ziemlich in<br />
sich zusammengebrochen. Von den 373<br />
Infizierten blieben sieben übrig, die nach<br />
1985 infiziert worden sind. Diese Zahl 373<br />
war <strong>dem</strong> Gesundheitsministerium<br />
bekannt. Sie stand aber auch auf einer<br />
Extra-Computerliste aus <strong>dem</strong> „Arzne<strong>im</strong>ittelinformationssystem“.<br />
Das erfaßt alle<br />
Nebenwirkungen von Medikamenten, die<br />
Ärzte und Hersteller melden. Diese <strong>Aids</strong>-<br />
Liste ist Teil der <strong>dem</strong> BGA offiziell<br />
gemeldeten Fälle. Nur konnte dieses<br />
Mißverständnis am Mittwoch (5.) be<strong>im</strong><br />
Treff <strong>im</strong> Bundesgesundheitsministerium<br />
niemand aufklären. Das brachte das Faß<br />
zum Überlaufen, der Minister handelte<br />
endlich. Insofern hat das BGA recht, wenn<br />
es sagt, der Skandal sei lediglich eine<br />
Informationskrise.<br />
Der eigentliche Skandal<br />
Andererseits brachten diese Ereignisse ein<br />
erneutes Nachdenken und -forschen über<br />
die gängigen Praktiken der <strong>Blut</strong>spendeorganisationen.<br />
Und dort findet sich dann<br />
auch der eigentliche Skandal.<br />
Seehofers Ankündigung, eine sechsmonatige<br />
Quarantänelagerung des <strong>Blut</strong>es anzuordnen<br />
und die Spender dann nochmals zu<br />
untersuchen, ist ein Schritt in die richtige<br />
Richtung. Doch das alleine reicht nicht<br />
aus.<br />
Es müssen nun endlich strikte Regeln<br />
beschlossen und durchgesetzt werden:<br />
• Überwachung der <strong>Blut</strong>spendedienste<br />
• Verzicht auf Importe<br />
• Vorgeschriebene Inaktivierungsverfahren<br />
zur Abtötung der Viren<br />
• Sechsmonatige Quarantänepflicht der<br />
Spenden und nochmaliger <strong>Aids</strong>-Test bei<br />
den Spendern<br />
• Umkehr der Beweislast<br />
• Meldepflicht der <strong>Blut</strong>-Hersteller über<br />
verseuchte Konserven<br />
• Unverzügliche Meldung an die Krankenhäuser<br />
und Ärzte, an die die Konserven<br />
ausgeliefert wurden<br />
• Unverzügliche öffentliche Bekanntgabe<br />
der Chargen-Nummern<br />
• Abfindung aller Opfer <strong>mit</strong> mindestens<br />
500.000 Mark (oder ist ein deutsches<br />
Leben weniger wert als ein französisches)<br />
Restrisiko<br />
Noch <strong>im</strong>mer wird von offizieller Seite<br />
beteuert, das Restrisiko, sich bei einer<br />
<strong>Blut</strong>infusion <strong>mit</strong> <strong>Aids</strong> zu infizieren, liege<br />
unverändert bei 1 zu 1 Million. Das mag<br />
niemand mehr recht glauben. Allianz zwischen<br />
<strong>Blut</strong>-Konzernen und BGA und die<br />
Meldepraxis der Hersteller sprechen eindeutig<br />
dagegen. Auch der Fall, der am<br />
14.10. publik wurde: In Fulda wurden<br />
zwei Patienten infiziert, <strong>im</strong> Frankfurter<br />
Nordwestkrankenhaus einer. Die Warnungen<br />
von „UB-Plasma“ erreichte die Krankenhäuser<br />
zu spät. Dem Unternehmen war<br />
eine Infizierung auch nur deshalb aufgefallen,<br />
weil der Spender nach der Entnahme<br />
<strong>im</strong> Februar noch gesund schien, <strong>im</strong><br />
April erneut spenden wollte und damals<br />
der Befund HIV-positiv war. Gegen die<br />
Firma er<strong>mit</strong>telt nun die Staatsanwaltschaft<br />
(wegen des Verdachts auf Verstoß gegen<br />
das Arzne<strong>im</strong>ittelgesetz und gefährliche<br />
Körperverletzung).<br />
Die Geschäfte…<br />
Der jüngste <strong>Aids</strong>-Skandal veranlaßte viele<br />
Bürger, schon angesetzte Operationen zu<br />
verschieben. Wer will es ihnen verdenken<br />
Jetzt ist die Pharma-Industrie am Zug, sie<br />
muß alles tun, da<strong>mit</strong> wir wieder sicher sein<br />
können.<br />
Die Eigenblut-Spende (oder die von Familienangehörigen)<br />
ist noch <strong>im</strong>mer die<br />
Methode <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> geringsten Risiko, sie<br />
geht jedoch nicht bei Notfällen. Alle<br />
Darmstädter Kliniken bieten sie <strong>mit</strong>tlerweile<br />
an (siehe nächste Seite). Doch oft<br />
sieht es in der Praxis anders aus: Den Ärzten<br />
ist dies zu mühsam, der Patient muß bis<br />
zu sechs Mal in die Klinik, sein <strong>Blut</strong> abgelagert<br />
und konserviert werden, auch ist es<br />
teurer („FAZ“), als <strong>Blut</strong> zu kaufen, außer<strong>dem</strong><br />
gibt es dann keine Geschenke. Oft<br />
verweisen sie auf die <strong>Aids</strong>-Tests, die ein<br />
Risiko ausschließen würden. Darauf kann<br />
sich heute aber (noch) niemand verlassen.<br />
Eva Bredow<br />
Sind DarmstädterInnen<br />
infiziert worden<br />
PatientInnen zur Nachuntersuchung bestellt<br />
Die (Nicht-) Reaktionen der Kliniken<br />
auf mögliche <strong>Aids</strong>-Infizierung durch <strong>Blut</strong>konserven<br />
zu informieren, da<strong>mit</strong> sie sich untersuchen<br />
lassen können“ Schwester Liberata<br />
antwortete: „Ja, auch, aber jetzt<br />
gehen Sie aufs Inhaltliche; ich wollte<br />
nur wissen, wie Sie dazu kommen, so zu<br />
fragen.“ „Das haben wir Ihnen doch<br />
gesagt, wir möchten Ihre PatientInnen<br />
informieren und Sie wollen das auch,<br />
also können Sie die Antworten doch<br />
gleich telefonisch erteilen.“ Das aber<br />
wollte sie nicht und beendete das<br />
Gespräch.<br />
Ein zweiter Anruf von Schwester Liberata,<br />
keine 5 Minuten später: „Ich erteile<br />
Ihnen keine Genehmigung, über unser<br />
Gespräch zu berichten. Das verbiete ich<br />
Ihnen! Wenn Sie das tun… “ Darauf<br />
hingewiesen, daß die Presse auch Kontrollfunktionen<br />
ausübt, hatte sie nur den<br />
Kommentar übrig: „Davon habe ich<br />
noch nie etwas gehört“. Sie drohte <strong>mit</strong><br />
juristischen Folgen und sagte schließlich<br />
zu, sie wolle die Fragen binnen acht<br />
Tagen beantworten, allerdings müsse<br />
sie erst noch rechtlich überprüfen, ob sie<br />
dazu überhaupt verpflichtet sei.<br />
„Ein sehr geringes Risiko“<br />
Der kaufmännische Direktor, Dr.<br />
Röhrig, des Alice-Hospitals vom Deutschen<br />
Roten Kreuz gab bereitwillig<br />
Auskunft und erklärte, „in unserer Klinik<br />
werden pro Jahr nur zwischen 100<br />
bis 150 <strong>Blut</strong>konserven gebraucht, da wir<br />
keine Notfälle aufnehmen und Patient-<br />
Innen für größere Operationen weiter<br />
überweisen.“ Er bestätigt, daß „unsere<br />
Klinik ausschließlich <strong>Blut</strong>konserven<br />
des Roten Kreuzes einsetzt“. Röhrig<br />
beschreibt, daß es für die behandelnden<br />
Ärzte „keinen Ausweg zum Einsatz von<br />
<strong>Blut</strong>konserven gibt“, da noch keine<br />
Prüfmethode entwickelt worden ist.<br />
☛ Fortsetzung auf Seite 3
☛ Fortsetzung von Seite 2<br />
Sind DarmstädterInnen…<br />
„Bed-side“ (neben <strong>dem</strong> Krankenbett)<br />
prüfen, „wäre das Beste“. Die „diagnostische<br />
Lücke“, die darin besteht, daß<br />
der <strong>Blut</strong>spender sich kurz vor der Entnahme<br />
infiziert hat (der Virus ist nicht<br />
erkennbar), „könnte nur geschlossen<br />
werden, wenn derselbe Spender sechs<br />
Monate später noch einmal untersucht<br />
und das <strong>Blut</strong> solange nicht freigegeben<br />
wird“, erklärt Dr. Röhrig. „Das <strong>Blut</strong><br />
müßte für einen Test zuvor erwärmt<br />
werden, und dann wäre es nicht mehr<br />
haltbar, deshalb geht die Untersuchung<br />
nur nach Ablauf der Inkubationszeit<br />
wieder am Patienten.“ Warum dies nicht<br />
längst gemacht wird Auf die Frage antwortet<br />
der Arzt: „Wenden Sie sich an<br />
den <strong>Blut</strong>spendedienst. Ich kann nur<br />
allen Patienten empfehlen, sich das<br />
eigene <strong>Blut</strong> vorher entnehmen zu lassen.<br />
Davon wird viel zuwenig Gebrauch<br />
gemacht. Legen Sie das den Leuten<br />
ganz besonders nahe“.<br />
Schriftlich antwortete Röhrig (am<br />
18.10.) auf unsere Anfrage: „Alice-Hospital<br />
und Eleonoren-Kinderklinik beziehen<br />
ausschließlich <strong>Blut</strong>konserven vom<br />
<strong>Blut</strong>spendedienst des Deutschen Roten<br />
Kreuzes. Uns ist, wie allen anderen<br />
Krankenhäusern auch, bekannt, daß<br />
infolge der „diagnostischen Lücke“, die<br />
zwischen Infektion <strong>mit</strong> HIV und <strong>dem</strong><br />
Nachweis entstehen kann, ein, wenn<br />
auch geringes, Risiko besteht.<br />
Seit Kenntnis dieser Tatsache, etwa<br />
1985, werden die Patienten von unseren<br />
Belegärzten auf dieses Risiko und,<br />
soweit dies vom Krankheitsbild des<br />
Patienten möglich ist, auf die Eigenblutspende<br />
hingewiesen.<br />
Im übrigen ist unser Hospital als Belegkrankenhaus<br />
nur in sehr geringem<br />
Umfang auf den Einsatz von <strong>Blut</strong>konserven<br />
angewiesen. Bis heute sind uns<br />
jedenfalls keine Fälle in unserem Hause<br />
bekannt geworden, die auf eine HIV-<br />
Infektion durch <strong>Blut</strong>konserven hinweisen.“<br />
Peinliche Beschwichtigung<br />
Ein besonders blamables Beispiel für<br />
journalistische Abwiegelung gab das<br />
Echo <strong>mit</strong> seinem Bericht am Samstag<br />
(9.) „Eigenblutspende <strong>im</strong>mer beliebter“.<br />
Ebenfalls in Reaktion auf den Bonner<br />
Skandal hatte die Zeitung bei den Kliniken<br />
angefragt, die für PatientInnen interessanten<br />
Fragen geschickt vorenthalten,<br />
und wußte von der angeblich üblichen<br />
Praxis der Selbstentnahme des <strong>Blut</strong>es<br />
bei Kranken zu berichten. Die Frage, ob<br />
frühere PatientInnen von den Kliniken<br />
informiert worden sind, wegen einer<br />
Nachuntersuchung, unterblieb wohlweislich.<br />
Es soll nicht unterstellt werden,<br />
daß der Bericht absichtlich die<br />
DarmstädterInnen beschwichtigen sollte,<br />
doch die Folge ist zumindest schweigend<br />
in Kauf genommen worden.<br />
Telefonisch erreichten wir Klaus Neudenberger<br />
vom Hessischen <strong>Blut</strong>spendedienst,<br />
er ist dort Leiter der Werbeabteilung<br />
und meinte: Seit Juli 85, drei Monate<br />
vor <strong>dem</strong> Gesetz, untersuche der <strong>Blut</strong>spendedienst<br />
alle <strong>Blut</strong>konserven<br />
regelmäßig auf <strong>Aids</strong>. Zwölf Entnahmedienste<br />
zapfen 4.500 Konserven pro<br />
Woche in Hessen, 245.000 <strong>im</strong> Jahr ab.<br />
Das eingesammelte <strong>Blut</strong> werde am<br />
nächsten Morgen in Frankfurt auf <strong>Aids</strong><br />
und Hepatitis untersucht und nur das<br />
<strong>Blut</strong> von zwei Spendern zusammengemischt.<br />
Um das sogenannte „diagnostische Fenster“<br />
zu schließen, müßten zu<strong>dem</strong> alle<br />
Spender einen Fragebogen ausfüllen,<br />
der sie nach ihrer Krankheitsgeschichte,<br />
nach Medikamenten, physischem<br />
Gesundheitszustand und „nach Kontakten<br />
zu Afrikanern“, so Neudenberger,<br />
befragt. In einem weiteren Ausschlußbogen<br />
kreuzen sie an, ob sie in den letzten<br />
sechs Wochen einen risikoreichen<br />
Geschlechtsverkehr hatten und können<br />
angeben, daß ihre Spende nicht weiterverwendet<br />
werden soll. „Das sind Einzelfälle“,<br />
weiß Neudenberger, aber in<br />
solch einem Fall würde die Spende vernichtet.<br />
Diese freiwillige, durch nichts<br />
zu überprüfende Angabe kann kein<br />
Ersatz dafür sein, die Spender nach<br />
sechs Monaten nochmals zum <strong>Aids</strong>-Test<br />
zu rufen. Neudenberger: „Dem <strong>Blut</strong>spendedienst<br />
ist von keinem Fall bekannt,<br />
daß durch seine Konserven irgendjemand<br />
angesteckt wurde.“<br />
Auch der „Darmstädter <strong>Aids</strong>hilfe“ ist<br />
kein Fall von PatientInnen bekannt, die<br />
sich in einer der örtlichen Kliniken infiziert<br />
haben, sagt Inge Schwieger. „Wir<br />
fragen nicht danach, wie sich jemand<br />
angesteckt hat.“<br />
M. Gr<strong>im</strong>m<br />
„Wohnungen statt Parkplätze“ stand auf <strong>dem</strong> Transparent der BUND-Jugend am<br />
8.10. über der Einfahrt des TH-Parkhauses zu lesen. Im Verein <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> „Öko-Referat“<br />
des AStA der TH blockierten sie die Zufahrt und bauten <strong>dem</strong>onstrativ eine kleine<br />
Mauer, arrangierten Tisch, Stühle und Vorhänge – „wie eben so ein Studenten-<br />
Z<strong>im</strong>mer eingerichtet ist“, beschrieb eine der Aktionistinnen. Sie trauten sich nicht,<br />
ihren ursprünglichen Plan umzusetzen: Die Zementier-Aktion unterblieb, weil<br />
gleich vier TH-Bedienstete als Aufpasser abgestellt waren. Bastian Ripper ärgerte<br />
sich darüber: „Das Echo hat unsere Ankündigung nicht veröffentlicht, aber der<br />
Redakteur meinte, sobald eine Presse<strong>mit</strong>teilung da sei, sei sie auch schon öffentlich<br />
– das ist doch nicht fair, wenn die Presse so eine Rolle als Zuträger spielt.“ Entsprechend<br />
wenig sympathisierende ZuschauerInnen waren denn auch gekommen. Eine<br />
halbe Stunde dauerte die Demonstration „gegen Verkehr und für mehr Wohnungen“,<br />
dann packten die jungen Leute Ihre Steine und Möbel wieder ein. Und das Transparent<br />
Eigentlich wollten sie es hängen lassen, doch ein TH-Bediensteter meinte,<br />
„Wenn Ihr das hängen laßt, mach ich es ab.“<br />
Angesprochen auf die seit mehr als zwei Jahren hängenden Protest-Transparente von<br />
Professor Lauterborn (ZD Ausgabe 26) kam nur, „Ja der!“<br />
Auf die vier Geschosse der Tiefgarage <strong>mit</strong> ihren rund 300 Parkplätzen verteilten sich<br />
zu der Uhrzeit wie zumeist einige wenige Fahrzeuge, genau neun Stück. Es bleibt<br />
abzuwarten, bis wann und wie es der TH gelingen wird, den 10,7 Millionen-Bau<br />
doch noch seiner umweltschädlichen Best<strong>im</strong>mung zuzuführen und Autos hineinzubekommen.<br />
mg / Foto Heiner Schäfer<br />
Ein rechtes Wort zur rechten Zeit<br />
Es wurde Zeit, daß der Kanzler das<br />
endlich mal sagt: „Wir sind kein<br />
Freizeitpark, sondern eine Industrie-Nation“,<br />
geäußert auf <strong>dem</strong><br />
CSU-Parteitag in München. Wie<br />
konnten wir das vergessen Wie<br />
konnten wir das verwechseln: Freizeitpark,<br />
Industrienation, Freizeitindustrie<br />
und Parknation, Nationalpark<br />
und Industriefreizeit. Welch<br />
unsägliche Verwirrung der Begriffe<br />
hat unser Volk an den Rand eines<br />
Disneylands gebracht<br />
Kein Freizeitpark, eine Industrienation!<br />
Dies mußte den fröhlich durch<br />
die Kirmesstadt Oberhausen lärmenden<br />
Stahlkochern einmal<br />
gesagt werden. Denn Hand aufs<br />
Sparbuch: uns geht es zu gut.<br />
Während ein paar hundert rechtschaffene<br />
Abgeord<strong>net</strong>e nach wie<br />
vor davon träumen, ihr Hobby zum<br />
Beruf zu machen, haben Millionen<br />
ArbeitnehmerInnen ihren Beruf<br />
zum Hobby gemacht. Ein Freizeitpark,<br />
keine Industrienation!<br />
Gestern erst mußte ich wieder<br />
einen Penner in der Innenstadt<br />
sehen, der auf seinem Pappschild<br />
„obdachlos“ <strong>mit</strong> „p“ geschrieben<br />
hatte. Ist das einer Industrienation<br />
würdig Unser Volk braucht richtiges<br />
Deutsch, richtige Deutsche<br />
und den Einsatz der GSG-9 gegen<br />
falschnationale Elemente. Die<br />
Freizeiten tamilischer, kurdischer<br />
oder anderer Negerfolklore aus<br />
Steuergeldern sind vorbei; wir<br />
fackeln nicht mehr lange, jetzt wird<br />
nicht gekleckert, jetzt wird gekotzt.<br />
Wir sind eine Industrienation! Industriearbeit<br />
ist harte Arbeit. Harte<br />
Arbeit ist Männerarbeit. Die harte<br />
Männerarbeit am Aufschwung ist<br />
keine Achterbahnfahrt <strong>im</strong> Freizeitpark,<br />
die Konjunktur gleicht vielmehr<br />
einem Riesenrad, in <strong>dem</strong> die<br />
deutsche Gondel unumstößlich<br />
und fortwährend nach oben steigt.<br />
Dazu müssen wir Ballast abwerfen.<br />
Wer nicht mehr selber laufen kann,<br />
der soll zu Hause bleiben. Wer<br />
nichts leistet, braucht auch nichts<br />
zu essen. „Wir sind kein Freizeitpark,<br />
sondern eine Industrienation.“<br />
Das war ein rechtes Wort zur<br />
rechten Zeit. Boss einer Industrienation<br />
oder An<strong>im</strong>ateur <strong>im</strong> Freizeitpark<br />
– der Kanzler hat sich entschieden.<br />
P. J. Hoffmann<br />
In der Ausgabe 49 hatten wir einen offenen Brief von Philipp Benz an die<br />
Grünen veröffentlicht. Er wies daraufhin, daß unter Oberbürgermeister<br />
Engel die „Georg-Fröba-Anlage“ 1960 in „Buxbaumanlage“ umbenannt<br />
worden war. In <strong>dem</strong> heute in der He<strong>im</strong>stättensiedlung so benannten „Fröbaweg“<br />
fehlte unter <strong>dem</strong> Schild der Hinweis darauf, daß es sich bei Fröba<br />
um einen Widerstandskämpfer gehandelt hat. Die Stadtverwaltung hat<br />
reagiert und den Zusatz unter <strong>dem</strong> „Fröba-Weg“ siehe Foto angebracht.<br />
Foto Heiner Schäfer<br />
IN KÜRZE<br />
Ausgabe 56 · 22.10.1993 · Seite 3<br />
Wir schreiben nicht ab<br />
Unfall bei Röhm am 19.10. um 18.30 Uhr, meldete das Echo tags<br />
drauf. Die ZD ist wieder einmal nicht informiert worden - weder von<br />
der Feuerwehr noch von der Polizei. Wir schreiben die Behörden an<br />
und werden berichten. Bornierte Sturköpp. sb<br />
Salmonellen in Kita<br />
Bei einem Kind und einer Betreuerin des Janusz-Korczak-Hauses in<br />
Kranichstein hat das Gesundheitsamt am Mittwoch (20.) Salmonellen<br />
festgestellt.<br />
Dezernent Gerd Grünewaldt hat deshalb die Schließung dieser Kindertagesstätte<br />
für Donnerstag und Freitag (21./22) angeord<strong>net</strong>. Für<br />
diese Tage mußten die Eltern der insgesamt 99 Kinder die Betreuung<br />
selbst organisieren.<br />
Die Stadt meldete in einer Pressemeldung: „Die Schließung geschieht<br />
aus Fürsorge den Kindern und Betreuerinnen gegenüber, um eine<br />
Übertragung zu verhindern, wie die Leiterin der Sozialverwaltung,<br />
Dr. Wilma Mohr, bestätigt, da die Salmonellenvergiftung nicht in der<br />
gemeinsam benutzten Küche der Kindertagesstätte entstanden ist,<br />
wie das Gesundheitsamt bestätigt hat. Die Schließung ist bis zum<br />
Wochenende befristet. Bis dahin erhofft sich die Stadt, so Dr. Wilma<br />
Mohr, weitere Informationen über Ursache und Umfang der Vergiftung<br />
vom Gesundheitsamt.“ Die Stadt versprach, über gegebenenfalls<br />
weitere erforderliche Maßnahmen die Eltern und die Öffentlichkeit<br />
rechtzeitig zu unterrichten. Volker Rinnert, Presseamt<br />
Kongreß Jugendumweltbewegung<br />
„Überverbandliche Zusammenarbeit statt Konkurrenzdenken“ lautet<br />
das Motto des ersten Kongresses der hessischen Jugendumweltbewegung.<br />
Er findet vom 22. bis 26.Oktober in der Walldorfschule in<br />
Darmstadt-Eberstadt, Arndtstraße 6, statt.<br />
Etwa 100 Jugendliche wollen vier Tage lang verschiedenste ökologische<br />
Themen diskutieren – wie Ökopsychologie, Gentechnik,<br />
AutoFrei-Kampagne… – und sich auch <strong>mit</strong> sozialen Themen wie<br />
Politikverdrossenheit und Gewalt auseinandersetzen. Jeder ist willkommen,<br />
anmelden kann man sich be<strong>im</strong> Verein zur Förderung der<br />
Jugendumweltarbeit (718238) oder direkt am Freitag zwischen 16<br />
und 19 Uhr in der Waldorfschule. Am Montag Nach<strong>mit</strong>tag wollen die<br />
Jugendlichen eine Aktion auf <strong>dem</strong> Luisenplatz veranstalten. red.<br />
Postalisches<br />
Es muß doch außerordentlich schwierig sein, ein Paket von einer<br />
Stelle der Republik zur anderen zu befördern. Am 12.10. ging uns <strong>mit</strong><br />
mehrtägiger Verspätung ein Paket zu, das, obwohl sehr ordentlich <strong>mit</strong><br />
Absender und Adressat versehen, in Darmstadts Postamt für unendliche<br />
Verwirrung sorgte: Die Post ließ es <strong>dem</strong> „Magistrat, Stadtbauverwaltung“<br />
zustellen, als ob dieser eine Nebenstelle der „Zeitung für<br />
Darmstadt“ sei.<br />
Am gleichen Tag wieder viel Lärm um nichts. Greenpeace telefonierte<br />
hinter einem Paket her, das wir schon längst abgeholt hatten. Der<br />
Grund, die Post hatte Greenpeace einen Zettel geschickt: „Empfänger<br />
verweigert Annahme“.<br />
Wußten Sie übrigens – in den neuen „Service-Informationen“ (Stand<br />
1.9.93) steht zu lesen: „Legen Sie bitte be<strong>im</strong> Einkauf einer größeren<br />
Menge verschiedener Briefmarken eine aufgerech<strong>net</strong>e Zusammenstellung<br />
bei …“ Befürchtet der Postminister, daß seine Beamten nicht<br />
rechnen können sb<br />
46 Kandidaten für Ausländerbeirat<br />
Für die Wahl des Ausländerbeirats der Stadt Darmstadt am 7.November<br />
bewerben sich 46 Kandidaten, darunter zehn Frauen, um die 21<br />
Sitze. Stadtkämmerer Otto Blöcker loste die Reihenfolge der Liste<br />
aus: 1. Assalem (Jordanien), 2. Internationale Liste Freundschaft in<br />
Frieden und Freiheit, 3. Afghan, 4. Jadran, 5. Roja Kurdistan, 6. Islamische<br />
Gemeinschaft, 7. Kroatische Bürger der Stadt Darmstadt und<br />
8. Türk Islam Dernekleri Birligi.<br />
„Die Liste „Insieme“ (Italien) mußte wegen fehlender Unterstützungsunterschriften<br />
ebenso zurückgewiesen werden wie die Liste<br />
„Spanische Mitbürger Sin Fronteras“, die die Unterstützungsunterschriften<br />
bereit vor der Mitgliederversammlung einholte, in der der<br />
Kandidat aufgestellt wurde“. Lisette Nichtweiss, Presseamt<br />
Besserer Schutz für Gewässer<br />
„Immer wieder <strong>kommt</strong> es be<strong>im</strong> Umgang <strong>mit</strong> Öl, Benzin, Chemikalien<br />
oder sonstigen wassergefährdenden Stoffen zu Zwischenfällen, durch<br />
die Oberflächengewässer oder das Grundwasser gefährdet werden.<br />
Die seit Anfang Oktober geltende neue Anlagenverordnung des Hessischen<br />
Umweltministeriums soll durch verschärfte Sicherheitsmaßnahmen<br />
den Gewässerschutz verbessern“, schreibt das Ministerium.<br />
Die Verordnung stützt sich auf einen Musterentwurf der Länderarbeitsgemeinschaft<br />
Wasser und geht darüber hinaus. Demnach sind<br />
unterirdische Behälter <strong>mit</strong> nur einer Wand oder einwandige unterirdische<br />
Rohrleitungen nur noch ausnahmsweise erlaubt. Höhere Anforderungen<br />
gibt es auch für Anlagen oberirdischer Gewässer. Eignungsfeststellungen<br />
können nun durch die un<strong>mit</strong>telbare Einbindung<br />
von Sachverständigen beschleunigt werden. Be<strong>im</strong> Ministerium gibt<br />
es ein Merkblatt: 0611/8151022. Presseinfo Umweltministerium<br />
„Sparsam und umweltbewußt“<br />
„Ein Kompl<strong>im</strong>ent macht die Südhessische Gas und Wasser AG ihren<br />
Kunden: Sie gehen sorgsam und bewußt <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Lebens<strong>mit</strong>tel Wasser<br />
um und haben auch in jüngster Zeit ihren Wasserverbrauch eingeschränkt.<br />
Jahrelange in unzähligen Gesprächen und gezielten Veröffentlichungen<br />
geleistete Aufklärungsarbeit trugen gewiß dazu bei.<br />
Für das regionale Versorgungsunternehmen ist das ein Indiz dafür,<br />
daß es auch ohne Zwangsmaßnahmen geht, die Bürger sind mündig,<br />
ihren Wassergebrauch umweltbewußt selbst zu best<strong>im</strong>men.“ So ein<br />
PR-Bericht vom 16.10..<br />
Erst kürzlich erging eine Verfügung des Regierungspräsidenten, die<br />
das Unternehmen zu sparsamerem Umgang <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Wasser zwingt.<br />
Das Unternehmen verbreitet weiter: „Mit der seit Jahren erfolgreich<br />
betriebenen Grundwasseranreicherung <strong>mit</strong> Rheinwasser hat die Südhessische<br />
Maßstäbe auf <strong>dem</strong> Gebiet der Wasserversorgung gesetzt.<br />
Gemeinsam <strong>mit</strong> ihren Kunden, die bewiesen haben, daß sie sorgsam<br />
<strong>mit</strong> unserem Lebens<strong>mit</strong>tel Nummer Eins umzugehen wissen, trägt<br />
das Darmstädter Unternehmen also dazu bei, daß die regionalen Wasserressourcen<br />
bei voller Berücksichtigung des Umwelt- und Naturschutzes<br />
für Generationen gesichert bleiben.“<br />
Greenpeace erstellt derzeit eine umfangreiche Studie über den Wassermangel,<br />
das fallende Grundwasser und die Risiken, die <strong>mit</strong> der<br />
Rheinwasserentnahme verbunden sind. Nur unterschiedliche Interpretationen<br />
sb
Nepper, Schlepper, Bauernfänger:<br />
Auf Kundenfang <strong>mit</strong> falschen Anzeigen<br />
Beschwerde wegen „unlauteren Wettbewerbs“ und was die IHK macht<br />
Guten Tag Herr Beckers, am Montag<br />
(19.7.) las ich <strong>im</strong> „Darmstädter Echo“<br />
folgende Anzeige von „Heydorn und<br />
Hönig“.<br />
Ich rief dort telefonisch zwei Mal an,<br />
sagte genau, um welche Geschirrspülmaschine<br />
es sich handelt, fragte nach<br />
Größe und ob sie unsere alte Maschine<br />
zurücknehmen. Alles schien zu klappen.<br />
Dann fuhr ich in den Laden in der Heidelberger<br />
Straße.<br />
Dort angekommen, sagte mir ein Verkäufer,<br />
daß die Anzeige falsch sei, von<br />
Bauknecht gebe es keine Maschine für<br />
599 Mark. Auf meine Rückfrage, ob es<br />
denn eine andere Maschine zu <strong>dem</strong> Preis<br />
gebe, antwortete mir der Verkäufer,<br />
nein, es gebe nur eine für 699 Mark, ein<br />
No-Name-Fabrikat, keine Öko-<br />
Geschirrspülmaschine.<br />
Ich beschwerte mich, der Mann redete<br />
herum, das „Echo“ hätte eine falsche<br />
Anzeige geschaltet, die erst für nächsten<br />
Montag gelten sollte. Da antwortete ich,<br />
na das ist ja fein, dann kaufe ich die Bauknecht<br />
für 599 Mark eben nächsten<br />
Montag. Daraufhin druckste der Verkäufer<br />
wieder herum: Nein, nein, die<br />
Anzeige sei völlig falsch, diese Maschine<br />
gebe es auch nicht nächste Woche.<br />
Dies läßt vermuten, daß die gleiche<br />
falsche Anzeige nächsten Montag wieder<br />
<strong>im</strong> „DE“ stehen wird. Vielleicht<br />
können Sie der Sache mal nachgehen<br />
Ich fand es eine Unverschämtheit, daß<br />
mir nicht wenigstens sofort am Telefon<br />
gesagt worden war, daß das Angebot gar<br />
nicht existiert. Geschweige der vielen<br />
Ausreden dann dort <strong>im</strong> Laden. Werde<br />
ich über den Ausgang meiner Beschwerde<br />
benachrichtigt<br />
Vielen Dank und <strong>mit</strong> freundlichen<br />
Grüßen. Eva Bredow<br />
Vor diesem Brief stand ein Anruf bei<br />
der Verbraucherschutz-Beratung.<br />
Dort verwies man mich an die Industrie-<br />
und Handelskammer (IHK):<br />
Herr Beckers sei für Beschwerden<br />
wegen „unlauteren Wettbewerbs“<br />
zuständig.<br />
Eine Woche später rief seine<br />
Sekretärin bei mir an, die Firma<br />
„Heydorn und Hönig“ habe sich<br />
wegen der falschen Anzeige entschuldigt.<br />
Mehr sei in dieser Angelegenheit<br />
nicht zu machen.<br />
Am 30. August inserierte die gleiche<br />
Firma erneut. Wir starteten einen zweiten<br />
Versuch, über den wir die IHK am<br />
1.9. wiederum unterrichteten:<br />
Sehr geehrter Herr Beckers, wie Sie sich<br />
sicher erinnern können, schrieb ich<br />
Ihnen schon einmal (am 19.7.) wegen<br />
einer Anzeige der Firma „Heydorn und<br />
Hönig“ <strong>im</strong> Darmstädter Echo. Damals<br />
war ein Bauknecht Öko-Geschirrspüler<br />
für 599 Mark inseriert, den es nicht gab.<br />
Eine Ihrer Mitarbeiterinnen kümmerte<br />
sich damals um den Fall, teilte mir dann<br />
telefonisch <strong>mit</strong>, daß sich die Firma Heydorn<br />
und Hönig deshalb entschuldigt<br />
hätte, da sei ein Fehler bei der Anzeigenaufnahme<br />
be<strong>im</strong> Darmstädter Echo<br />
geschehen. Weiteres könne Sie und die<br />
IHK Darmstadt in diesem Fall nicht tun.<br />
Nun stand am Montag, 30. August 1993<br />
wiederum folgende Anzeige der oben<br />
genannten Firma <strong>im</strong> „DE“ (ebenso eine<br />
Woche vorher <strong>mit</strong> gleichlauten<strong>dem</strong><br />
Text): Öko-Geschirrspüler, Sparpreis<br />
nur 599 Mark.<br />
Unser Mitarbeiter, Herr Schäfer, suchte<br />
die Firma am Dienstag, 31. August, auf.<br />
Was sagte ihm der Verkäufer „Die<br />
Maschine haben wir nicht mehr, das war<br />
ein Sonderangebot.“ Normalerweise<br />
koste diese „Respekta“-Maschine 999<br />
Mark, sie sei derzeit aber nicht auf<br />
Lager.<br />
So ködert man wohl Kunden <strong>mit</strong><br />
falschen Anzeigen. Meiner Ansicht<br />
nach wiederholt ein eindeutiger Fall von<br />
unlauterem Wettbewerb. Wir möchten<br />
unsere LeserInnen gerne von diesem<br />
Fall unterrichten.<br />
Mit Bitte um baldige Antwort und <strong>mit</strong><br />
freundlichem Gruß Eva Bredow<br />
Doch Herr Beckers, Leiter der<br />
Rechtsabteilung bei der IHK, antwortete<br />
nicht. Sein Mitarbeiter Weber<br />
teilte zwei Wochen später telefonisch<br />
<strong>mit</strong>, er sei über den Fall nicht unterrichtet,<br />
wolle sich dessen aber annehmen.<br />
Als ihm meine Schreiben vorlagen,<br />
äußerte er: „Das ist eindeutige<br />
Irreführung. Daß die sagen, das ist<br />
nicht auf Lager, ist ja dumm. Normalerweise<br />
heißt es in solchen Fällen<br />
wenigstens: vom Laster gefallen.“ Er<br />
werde das Unternehmen anschreiben,<br />
und zur Stellungnahme auffordern.<br />
Abmahnen könne die IHK nicht,<br />
denn sie hätte eine ver<strong>mit</strong>telnde<br />
Funktion. „Heydorn und Hönig“ bezog<br />
am 14.10. Stellung gegenüber der IHK<br />
(Abdruck unverändert!):<br />
Betr.: Verbraucherbeschwerde/Unlauterer<br />
Wettbewerb<br />
Sehr geehrter Herr Weber, den Ausführungen<br />
der Beschwerdeführerin können<br />
wir nicht teilen.<br />
Bei der ersten Werbung am 19.7.93 war<br />
unserer Werbeabteilung tatsächlich ein<br />
Fehler unterlaufen. Wir möchten jedoch<br />
darauf aufmerksam machen, daß jedes<br />
Angebot (auch wenn ausverkauft) in<br />
kurzer Zeit nachbestellt werden kann.<br />
Dies wird in einem solchen Fall <strong>dem</strong><br />
Kunden auch <strong>mit</strong>geteilt. Ware, die <strong>mit</strong><br />
„solange Vorrat“ gekennzeich<strong>net</strong> ist, ist<br />
nach Ausverkauf nicht mehr bestellbar.<br />
Sollte die Beschwerdeführerin den Öko-<br />
Spüler für DM 599,- haben wollen, bitten<br />
wir um Nachricht. Wir werden diesen<br />
kurzfristig zur Abholung bereit halten.<br />
Wir hoffen Ihnen hier<strong>mit</strong> gedient zu<br />
haben.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Heydorn und Hönig hat reagiert,<br />
wenn auch <strong>mit</strong> Unwahrheiten. Kein<br />
Mal ist erklärt worden, daß die Ware<br />
in kurzer Zeit nachbestellt werden<br />
kann.<br />
Wir Kunden sind die Dummen. Was<br />
die IHK so schön als „ver<strong>mit</strong>telnde<br />
Funktion“ beschreibt, heißt <strong>im</strong> Klartext:<br />
Außer einem Briefwechsel passiert<br />
nichts. Wann wohl der nächste<br />
„Öko-Spüler“ für 599 DM <strong>im</strong> Echo<br />
inseriert wird<br />
vro<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 4<br />
Dieses Motiv ist aus einer Postkartenedition zur Plakatausstellung<br />
„Reaktion – Studenten der FH Darmstadt gegen Fremdenhaß“, die zu<br />
Beginn des Jahres <strong>im</strong> Luisencenter zu sehen war und von der wir in der<br />
ZD etliche Entwürfe abgedruckt hatten. Die Edition besteht aus 32<br />
meist mehrfarbigen Karten, Auflage: 2.000 Stück. Sie ist für 20 Mark<br />
<strong>im</strong> Praktikantenamt des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule<br />
Darmstadt, Olbrichweg 10 (geöff<strong>net</strong> montags bis freitags vor<strong>mit</strong>tags),<br />
oder in der Georg-Büchner-Buchhandlung in Darmstadt, Lauteschlägerstraße<br />
18, zu haben.<br />
In einer Mitteilung der FH heißt es: „Die Postkartenedition … hat ihr<br />
Entstehen – wie die Ausstellung selbst – der Unterstützung von Sponsoren<br />
(unter anderem auch <strong>dem</strong> „Darmstädter Echo“, das auf Ver<strong>mit</strong>tlung<br />
von Max Bach den kostenlosen Druck übernommen hat) zu verdanken.“<br />
red<br />
Wie einfach wäre es doch, könnte die<br />
Zunft der Schreiberlinge auf ihre<br />
Art <strong>mit</strong> Druckerschwärze gegen staatliche<br />
Zensur offen zu Felde ziehen und laut<br />
anklagen: „Das Ende der Pressefreiheit<br />
ist gekommen“. Eine Regierung Kohl ist<br />
gewitzter, da <strong>kommt</strong> keine Verordnung,<br />
die der freien Presse vorschreibt, dekretiert<br />
gar verbietet. Heutzutage passiert<br />
alles subtiler: Da fallen das „Rabattgesetz“<br />
und die „Zugabeverordnung“. Ein<br />
Trick, der an Hinterhältigkeit nichts zu<br />
wünschen übrig läßt, der nur machtgewachsenen,<br />
der Intrige geübten Politiker<br />
einfallen kann. Medien wie Fernsehanstalten<br />
und Rundfunksender <strong>im</strong> Verein<br />
<strong>mit</strong> den Großen unter den Zeitungen,<br />
ohnehin staatstreu, zuverlässig, ausgewogen:<br />
sie haben nichts zu befürchten. Nicht<br />
gegen sie fallen die Gesetze, heute noch<br />
für ihr Geschäft. Endlich können sie, was<br />
bislang a bisserl schamhaft verdeckt<br />
betrieben wurde, offen anpreisen: Die<br />
Verknüpfung von redaktionellem Text<br />
<strong>mit</strong> Anzeigen. Was bislang als Zugabe<br />
zum Anzeigenauftrag rechtlich unter<br />
Verdikt stand, darf nun offen betrieben<br />
werden. Für die Großen Platzvorteil sondersgleichen:<br />
Ihre Zuschauer- und LeserInnen<br />
sind sowieso schon gewohnt,<br />
beschönigende Industriehofnachrichten<br />
als Wirklichkeit verdauen zu dürfen, da<br />
ist die redaktionelle Direktwerbung nur<br />
noch ein kleiner Schritt zu kräftig wachsenden<br />
Zahlen auf Verlagskonten.<br />
Redigierstuben der Nation<br />
Nicht so bei kleinen Verlagen. Sie haben<br />
weder die Kapazitäten vom Umfang her,<br />
noch die vielen Anzeigenwerber und<br />
Redakteure, die dafür <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Schreibstift<br />
in der Hand gleichsam als Klingelbeutel<br />
die Türklinken der Industriekapitäne<br />
putzen könnten. Ganz abgesehen<br />
davon, daß die Konzerne endlich ihre gut<br />
geschulten Pressesprecher und Produktanpreiser<br />
direkt in den Dienst willfähriger<br />
Zeitungshäuser stellen können. So<br />
ver<strong>kommt</strong> der Journalismus noch weiter,<br />
wird die Schar der Ja-SchreiberInnen<br />
noch größer.<br />
Schweigende Zeitungen und die Langeweile<br />
Bonn beseitigt Schutzgesetze der Pressefreiheit<br />
Lassen wir doch die Unternehmen unsere<br />
Zeitungsartikel formulieren: Die Zeitungsredakteure<br />
als direkte Brötchennehmer<br />
der Anzeigenauftraggeber. Das<br />
ist unternehmerische „Freiheit, die wir<br />
meinen“ (CDU-Wahlslogan von anno<br />
dazumal). Hoechst, RWE, Benz und wie<br />
sie alle heißen, als Redigierstuben der<br />
Nation, als die Rotstift-Regenten über<br />
Schreiberlinge – das verbirgt sich hinter<br />
<strong>dem</strong> Fallen der Gesetze. Erinnern wir uns<br />
an die Hoechst-Unfall-Serie: Dieses Jahr<br />
noch stand durchaus Kritisches in allen<br />
Zeitungen zu lesen, künftig schickt<br />
Hoechst die eigenen Berichte verbunden<br />
<strong>mit</strong> einem Inserat und droht offen <strong>mit</strong><br />
Anzeigenentzug, wenn anderes gedruckt<br />
wird; Merck handelt schon heute so.<br />
Druck<strong>mit</strong>tel Anzeigenauftrag<br />
Kleine Verlage haben da nichts mehr zu<br />
vermelden: Entweder sie schreiben, was<br />
den Herren Anzeigenauftraggebern genehm,<br />
oder sie bekommen (wie heute<br />
schon meist der Fall) keine Anzeigenaufträge<br />
(siehe ZD-Anzeigenseiten). Der<br />
Kampf kleiner anspruchsvoller Zeitungen<br />
gegen die Forderungen der Anzeigenauftraggeber<br />
– „wenn Sie einen Artikel<br />
schreiben, den möchte ich aber vor<br />
Abdruck lesen, dann können wir auch<br />
über ein Inserat verhandeln“ – ist verloren.<br />
Demnächst werden die Journalistenschulen<br />
unisono die Ausbildung von „PR-<br />
Fachkräften für Wirtschaft oder Redaktion“<br />
offerieren, denn wozu braucht’s noch<br />
gestandener Redakteure, wenn dieses<br />
Metier von Proplagiatoren, von Bauchrutschern<br />
der Inserenten besetzt wird, die<br />
ohnehin nichts anderes zu verbreiten<br />
haben, als das, was ihnen als vorzensiert<br />
überlassen, und nur noch in wohlklingender<br />
Stilübung zu belanglosem Geschwafel<br />
gerät<br />
Betrug in freiem Wettbewerb<br />
Halten Sie es für richtig, daß Groß-Kunden<br />
niedrigere Inseraten-Preise zahlen als<br />
Privatleute, die Heirat oder Tod bekannt<br />
geben wollen Halten Sie es für richtig,<br />
daß Ihre Zeitung ein Produkt über den<br />
grünen Klee lobt, bloß weil sie dafür eine<br />
Anzeige be<strong>kommt</strong> Nüchtern besehen ist<br />
das Betrug an den LeserInnen – nach<br />
Beschluß der Bundesregierung aber heutige<br />
Wirklichkeit, unter <strong>dem</strong> Deckmantel<br />
des „freien Wettbewerbs“. Unsere Bonner<br />
Politiker tragen unter ihren hausbacken-bürgerlichen<br />
Anzügen, die stählernen<br />
Kettenhemden der Vorkämpfer<br />
wider Demokratie und Meinungsfreiheit.<br />
Zensoren kommen heute nicht mehr <strong>mit</strong><br />
<strong>dem</strong> Rotstift, nicht mehr <strong>mit</strong> der Schere,<br />
nicht mehr <strong>mit</strong> Polizeigewalt daher, es<br />
sind unsere gewählten „Volksvertreter“.<br />
Eine Behörde, einen Zensur-Beamten –<br />
das sind wenigstens offene Gegner. Und<br />
eine CDU/SPD/FDP/CSU, die unsere<br />
Gesellschaft zunehmend verarmen und<br />
unsere Grundrechte beschneiden<br />
Frühkapitalistische Erpresser<br />
Wie steht es doch, bar jeder Schnörkel, so<br />
schön fest verankert in unserer Verfassung:<br />
„Jedermann hat das Recht, seine<br />
Meinung frei und öffentlich zu äußern …<br />
und niemand darf ein Nachteil widerfahren,<br />
wenn er es ausübt“. Die solches festschrieben,<br />
wußten sehr wohl, daß dies die<br />
wesentliche Garantie für eine freiheitlich<br />
organisierte Gesellschaft <strong>im</strong> Wettbewerbs–Markt<br />
ist. Ab sofort erfährt jeder,<br />
der eben diese Freiheit in Anspruch<br />
n<strong>im</strong>mt, finanzielle Nachteile, weil die<br />
Schutzgesetze gefallen sind.<br />
Pressekodex und Gerichte wachten bislang<br />
(soweit sich ein Kläger fand) über<br />
das Ausufern frühkapitalistischer Erpressermethoden<br />
und geboten solcher Ellenbogen-Manier<br />
Einhalt durch Rabattgesetz<br />
und Zugabeverordnung. Dies soll<br />
nicht mehr sein. Objektivität, der unter<br />
Presseleuten heute wie auch <strong>im</strong>mer verstandene<br />
Wahrheitsbegriff, zugeschnitten<br />
auf die Ausgewogenheit der braven<br />
„Allen-wohl-und-niemand-wehe-Regel“,<br />
fällt als letzte Bastion journalistischen<br />
Freiheitsgrades.<br />
Kreischende Sensationen<br />
„Regulierungen abbauen“ will unsere<br />
Bonner Regierung durch die Aufhebung<br />
der Schutzgesetze und das Ändern des<br />
Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb,<br />
„um es von seinen nicht mehr<br />
gerechtfertigten Einschränkungen der<br />
unternehmerischen Gestaltungsfreiheit<br />
zu befreien“ (Bericht der Bundesregierung<br />
zur Zukunftssicherung des Standortes<br />
Deutschland, S. 75).<br />
Was sich ändern wird Die Zeitungen,<br />
die heute schon viele Seiten zählen, werden<br />
noch mehr Seiten haben. Die Headlinies,<br />
die Schlagzeilen, die Nachrichten<br />
werden auch weiterhin für kreischende<br />
Sensationen sorgen, ebenso wie unmerklich<br />
Deutsch-Nationalismen, Tennisspieler,<br />
Fußballer, Fürstenhäuser und bunte<br />
Bilder <strong>im</strong>mer mehr die vorderen Seiten<br />
<strong>mit</strong> Informationen füllen, die keine sind.<br />
Erst haben die Behörden ihre Zensur ausgebaut<br />
und in unglaublich arroganter<br />
Machtausübung unbotmäßige Presse<br />
durch Vorenthalten von Informationen<br />
und Inseraten behindert – die Stadt<br />
Darmstadt beispielsweise schaltet seit<br />
mehr als drei Jahren keine einzige Anzeige<br />
in der ZD. Und ab sofort schneidet<br />
noch die Industrie-Zensur he<strong>im</strong>lich, lautlos<br />
und unbemerkt die unerwünschten<br />
Texte weg.<br />
Die lange Langeweile<br />
Die LeserInnen sehen nur, was gedruckt<br />
ist, nicht was vorenthalten wird. Für sie<br />
ändert sich scheinbar nichts, ihre Wirklichkeit<br />
ist best<strong>im</strong>mt durch ständig zunehmende<br />
Werbung. Den Verlust an Substanz<br />
und Kritik merkt nur, wer zufällig direkt<br />
Betroffene/r ist. Zeitungen können nur<br />
nach <strong>dem</strong> beurteilt werden, was sie drukken,<br />
nicht nach <strong>dem</strong>, was sie verschweigen<br />
– wollen oder müssen.<br />
Schon heute treibt behördliche und industrielle<br />
Zensur so scharf ab, daß viele<br />
Informationen die Öffentlichkeit nicht<br />
mehr erreichen. Wer hinter den Kulissen<br />
in der Presse arbeitet, der sieht und er ist<br />
ohnmächtig. Einen kleinen Ausgleich<br />
schaffen LeserInnen, beschäftigt in Behörden<br />
oder Firmen, die ihr Wissen weitergeben,<br />
getragen von <strong>dem</strong> Mut des Kampfes<br />
für eine frei informierte und dadurch vor<br />
Willkür und Machtmißbrauch geschützte<br />
Gesellschaft. Ohne sie wird die Presse<br />
zum Hofberichterstatter wider Willen der<br />
Herren in Politik und Industrie.<br />
Der Presse entgleitet stückchenweise, mal<br />
da, mal dort, die erbetene Information.<br />
Jedes Mal die Gerichte einschalten, jedes<br />
Mal den Rechtsanwalt beauftragen, über<br />
jedes aktuelle Thema um Wochen, Monate,<br />
teils Jahre verspätet berichten Finanzierbar<br />
ist das nicht, heute aber bereits<br />
Wirklichkeit. Die von der ZD bei allen<br />
zuständigen Behörden bis zum Umweltminister<br />
angeforderten Informationen über<br />
die etwa 200 „Verdachtsflächen“ (nicht<br />
beseitigte Altdeponien) in Darmstadt, sind<br />
– obendrein gegen richterliche Anordnungen<br />
– bis heute nicht zugestellt worden;<br />
die Recherche dauert bereits mehr als drei<br />
Jahre.<br />
So schrumpft die Pressefreiheit langsam<br />
<strong>im</strong>mer mehr, wird da angenagt, dort eingeengt.<br />
Irgendwann wundern sich die Leser-<br />
Innen, warum die Blätter <strong>im</strong>mer langweiliger<br />
werden, warum <strong>im</strong>mer weniger Interessantes<br />
gedruckt steht, warum sie von den<br />
eigentlich bewegenden und wichtigen<br />
Ereignissen ihrer Zeit nichts mehr erfahren…<br />
Eine ähnliche Entwicklung, allerdings in<br />
fortgeschrittenerem faschistischem Stadium,<br />
beschrieb Carl von Ossietzky am 29.<br />
März 1932, in <strong>dem</strong> Artikel, „Das Ende der<br />
Pressefreiheit“ – Ähnlichkeiten sind den<br />
Wirklichkeiten entnommen.<br />
M. Gr<strong>im</strong>m
Seite 5<br />
„So geht das nicht weiter,<br />
das ist nicht länger<br />
machbar“<br />
Trautel Baur: Ein Jahr Frauenbeauftrage der Stadt Darmstadt<br />
Seit einem Jahr, genauer seit <strong>dem</strong> 1. Oktober 1992, ist Trautel Baur Frauenbeauftragte<br />
der Stadt Darmstadt. Was ist in diesem Jahr für Frauen passiert, was nicht<br />
Eva Bredow führte <strong>mit</strong> ihr <strong>im</strong> Frauenbüro ein Gespräch über ihre Arbeit, ihre Probleme,<br />
Aufgaben und Ziele.<br />
Ihr Resümee, klingt ernüchtert und hoffnungsvoll<br />
zugleich: „Es ist sehr viel eingerichtet<br />
worden. Auch über das An-Denken<br />
hinaus, wurden einige Projekte gestartet.<br />
Aber richtige Erfolge sind kaum da: Die<br />
Frauenkommission gibt es noch nicht,<br />
ebensowenig einen weiblichen Planungsbeirat.<br />
Es fehlt an der Umsetzung all unserer<br />
Forderungen, die ja zum Teil auch in der<br />
rot-grünen Koalitionsvereinbarung enthalten<br />
sind.“<br />
Das Frauenbüro ist in der Luisenstraße 12,<br />
<strong>im</strong> Stadthaus II, Z<strong>im</strong>mer 252, untergebracht:<br />
ein kleines Vorz<strong>im</strong>mer, ein etwas<br />
größerer Raum für Trautel Baur selbst.<br />
Unser Gespräch beginnt morgens um 7.30<br />
Uhr, ab 7 Uhr ist sie täglich da. Drei bis vier<br />
Mal die Woche arbeitet sie fünfzehn bis<br />
sechzehn Stunden, am Wochenende erledigt<br />
sie zu Hause den Papierkram. Sie klagt:<br />
„So geht das nicht weiter, das ist für mich<br />
gesundheitlich nicht länger machbar!“<br />
Den Kaffee trinken wir aufgehellt <strong>mit</strong> Milchpulver<br />
– einen Kühlschrank gibt es nicht,<br />
ebensowenig ein Faxgerät, das ihre Arbeit<br />
erheblich vereinfachen würde.<br />
Am 7. September hat Trautel Baur <strong>dem</strong><br />
Gleichstellungsausschuß des Magistrats<br />
ihren Jahresbericht vorgelegt. Auf diesen<br />
12 Seiten sind weitere Ausstattungsmängel<br />
aufgelistet: Unterstützt wird die Frauenbeauftragte<br />
– vor ein paar Jahren gab es in<br />
Darmstadt noch zwei – von einer Jahrespraktikantin,<br />
die jedoch nur vier Tage die<br />
Woche und zehn Monate <strong>im</strong> Jahr zur Verfügung<br />
steht (und eigentlich ausgebildet werden<br />
soll), sowie seit <strong>dem</strong> 1. September von<br />
einer 30-Stunden-Kraft. Den Idealzustand<br />
hat Baur auch gleich beschrieben:<br />
Mädchenbeauftragte, Fachreferentin, Jahrespraktikantin,<br />
Verwaltungsangestellte,<br />
Schreibkraft, Blockpraktikantin für vier bis<br />
sechs Wochen, sowie eine Begleitpraktikantin,<br />
vier Stunden wöchentlich.<br />
„Wenn ich diese Stellen nicht <strong>im</strong> nächsten<br />
Jahr kriege, dann werde ich öffentlich<br />
bekanntgeben, welche Teilbereiche<br />
meiner Arbeit ich künftig einstellen muß.“<br />
Auch finanziell sieht es für das Frauenbüro<br />
mager aus: 3.000 Mark für Geschäftliches,<br />
600 Mark für Dienstreisen, 20.000 Mark für<br />
Sachkosten. „Diese Zahl wird noch mal um<br />
20 Prozent gekürzt, das entspricht den<br />
Einsparungen von Haushaltsdezernent<br />
Blöcker.“ Sie fordert für diese Posten<br />
6.000, 2.500 und 50.000 Mark. „Die Vergabe<br />
von Geldern“, sagt sie, „ist eine Sache<br />
der Prioritätensetzung“, und fordert eine<br />
Umschichtung des Haushalts. Wegen des<br />
geringen Etats für Dienstreisen hat sie den<br />
an sie angetragenen Posten <strong>im</strong> Bundesvorstand<br />
der Frauenbeauftragten abgelehnt.<br />
Ihre Aufgabe als „externe“ Frauenbeauftragte<br />
ist es, die Situation der Frauen in<br />
allen Lebensbereichen zu verbessern, als<br />
„interne“ (dafür gab es früher eine zweite<br />
Beauftragte) muß sie für die Umsetzung der<br />
Dienstvereinbarung zur Frauenförderung in<br />
allen städtischen Behörden – dazu zählen<br />
auch die Städtischen Kliniken – sorgen, das<br />
heißt, alle Bewerbungen begleiten und<br />
erforderlichenfalls einschreiten, wenn Frauen<br />
diskr<strong>im</strong>iniert und zu wenige eingestellt<br />
werden.<br />
Sie ist Ansprechpartnerin für alle 77.035<br />
in Darmstadt lebende Frauen (Stand: Juli<br />
93) – und das in allen nur denkbaren Problemlagen.<br />
In ihrem Jahresbericht hat sie aufgelistet, in<br />
welchen Fällen sie beistand. Ein Auszug:<br />
Wiedereinstieg in den Beruf, Konflikte am<br />
Arbeitsplatz, sexuelle Belästigung, Teamberatung,<br />
Mutter- und Frauenarbeitsschutz,<br />
Schwangerschaftsproblematik und -beratung,<br />
Obdachlosigkeit, finanzielle Notlagen,<br />
Mißhandlung und Vergewaltigung, sexueller<br />
Mißbrauch, Probleme von Ausländerinnen,<br />
Frauen vor Gericht, Unterhaltszahlungen<br />
…<br />
Dazu kommen Veranstaltungen – wie etwa<br />
Personalversammlung <strong>mit</strong> den Schreibkräften<br />
der Stadtverwaltung, <strong>mit</strong> den Parteien,<br />
der „Sefo“, <strong>dem</strong> Aktionsbündnis „Sleep<br />
out“, Studientage Rassismus –, Zusammenarbeit<br />
<strong>mit</strong> den städtischen Ämtern –<br />
Wohnungsamt, Jugendamt … – und <strong>mit</strong><br />
Gruppen, Verbänden, Projekten – wie <strong>dem</strong><br />
„Kommunalen Präventionsrat“, <strong>dem</strong><br />
„Arbeitskreis gegen sexuellen Mißbrauch“,<br />
der „Initiative frauengerechte Stadt“, „Wildwasser“,<br />
„Pro Familia“, „Graue Panther“,<br />
Frauenkommunikationszentrum, Mädchenarbeitskreis<br />
und und und…<br />
„Jeden Tag erhalte ich unzählige Anrufe,<br />
auch von Frauen in absoluten Notsituationen<br />
– da ist es schwer, abends abzuschalten.“<br />
Oft wenden sich obdachlose Frauen an sie,<br />
aber Trautel Baur kann auch keine Wohnungen<br />
aus <strong>dem</strong> Ärmel schütteln. Sie wendet<br />
sich dann ans Wohnungsamt, legt bei<br />
Amtsleiter Binstadt ein gutes Wort ein,<br />
doch oft hilft auch das nicht. Dann ist sie<br />
machtlos. Noch allzu oft werden städtische<br />
Wohnungen bevorzugt an Mutter-Vater-<br />
Kind-Familien vergeben. „Diese Kriterien<br />
ändern sich langsam, aber noch <strong>im</strong>mer<br />
wird die Vergabe nicht offengelegt“, klagt<br />
sie. „Gerade bei der Wohnungsnot werden<br />
frauenrelevante Verletzungen deutlich.<br />
Frauen brauchen dringend Wohnungen aus<br />
anderen Gründen als Männer, denn sie<br />
müssen oft vor männlicher Gewalt die<br />
Flucht ergreifen.“<br />
Als Frauenbeauftragte ist sie direkt Oberbürgermeister<br />
Peter Benz (SPD) unterstellt:<br />
„Das ist auch gut so, sonst gäbe es strukturellen<br />
Murks.“<br />
Ihre Stelle hat viele Pflichten und wenig<br />
Rechte.<br />
In ihrem Jahresbericht fordert sie: Mitwirkung<br />
an Haushaltsberatungen und eine<br />
Beteiligung an Entscheidungsverfahren<br />
über frauenrelevante Anträge be<strong>im</strong> Magistrat.<br />
Sie will bei allen Grundsatzentscheidungen,<br />
die PolitikerInnen fällen, dabei<br />
sein, um für die Frauen Verbesserungen zu<br />
erzielen. „Ich stehe zwischen allen<br />
Stühlen“, sagt sie. Im konkreten Einzelfall –<br />
etwa wenn eine Frau dringend eine Wohnung<br />
braucht, oder wenn es um einen Fall<br />
sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geht<br />
– „zeigen sich die Dezernenten kooperativ.<br />
Aber sie wenden sich nur selten von sich<br />
aus an mich“. Sie wünscht sich eine engere,<br />
bessere institutionelle Zusammenarbeit.<br />
Laut Koalitionsvereinbarung soll es bald ein<br />
Zufluchtshaus für mißhandelte Mädchen<br />
geben. „Doch das kann nicht alles sein“,<br />
sagt sie. „Mädchenarbeit ist die Basis für<br />
Frauenarbeit.“ Deshalb fordert sie eine<br />
Mädchenbeauftragte. Ein Schritt Mädchenpolitik<br />
ist in Darmstadt <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> „Mädchenarbeitskreis“<br />
seit Mai ’92 getan. 24 Institutionen<br />
kommen dort monatlich zusammen.<br />
Im November veranstalten sie einen Fachtag.<br />
„Diese Fachfrauen müssen auch <strong>im</strong><br />
Kinder- und Jugendhilfe-Ausschuß sitzen<br />
(Foto: Heiner Schäfer)<br />
und gehört werden. Dringlichst notwendig<br />
sind auch Vertrauenslehrerinnen an allen<br />
Schulen und eine Koordinatorin.“ Darüber<br />
führt sie <strong>dem</strong>nächst ein Gespräch <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Schulamt.<br />
„Wir müssen Probleme geschlechtsspezifisch<br />
analysieren und verarbeiten. Die<br />
Frauenforschung hat gute Vorarbeit geleistet<br />
und Benachteiligungs- und Gewaltstrukturen<br />
aufgedeckt. Die Inhalte sind<br />
da, wir müssen sie nur noch nutzen.“<br />
Das ist ihre Max<strong>im</strong>e. Dafür kämpft sie,<br />
bewältigt ihr enormes Arbeitspensum.<br />
Am 26.9.91 hat die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
das „Grundsatzpapier frauengerechte<br />
Stadt“ beschlossen. Es enthält ausschließlich<br />
Soll-Best<strong>im</strong>mungen: „Kriterien<br />
zur frauen- und kindergerechten Stadtplanung<br />
sollen in … der Planung einfließen“,<br />
es soll „ … bei Ausschreibungen und Wettbewerben<br />
… eingehen“, „Expertinnen …<br />
sollen bei der Bauleitung … einbezogen<br />
werden …“. Wie allzu oft bei solchen<br />
Wischi-Waschi-Beschlüssen, hapert es an<br />
der Umsetzung, bleibt es bei bloßen Willensbekundungen.<br />
Von all den Forderungen,<br />
die in der Broschüre „Darmstadt auf<br />
<strong>dem</strong> Weg zu einer frauengerechten Stadt“<br />
benannt sind, ist bislang ein Punkt erfüllt:<br />
Hell beleuchtete Frauenparkplätze in den<br />
Tiefgaragen.<br />
Trautel Baur verlangt, „ein Forum oder<br />
einen runden Tisch, der viermal <strong>im</strong> Jahr<br />
öffentlich tagt und Arbeitsgruppen zu<br />
Grundrissen von Neubauten, Stadtteilentwicklung,<br />
Öffentlichem Nahverkehr benennt.<br />
Sie sollen <strong>dem</strong> Planungsbeirat zuarbeiten,<br />
ihre Ergebnisse gehört und beachtet<br />
werden. Seit langem schon haben Fachfrauen<br />
Kriterien erarbeitet, die die Stadt<br />
nicht nur frauen- sondern insgesamt menschenfreundlicher<br />
machen würden. Diese<br />
gilt es jetzt auch umzusetzen.“ Und sie fügt<br />
hinzu: „Was Michael Siebert in seiner Antrittsrede<br />
(als Bürgermeister, red.) zur<br />
Stadtteilentwicklung sagte (s. ZD 55, red.),<br />
über die Reaktivierung des öffentlichen<br />
Raums, der Sicherheit geben könnte. Das<br />
sind die eingeforderten Frauenkriterien, die<br />
wir in der Arbeitsgruppe Kranichstein erarbeitet<br />
haben.“<br />
Frauen sind, viel mehr als Männer, auf den<br />
Öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Schon<br />
seit längerem existiert bei der Frauenbeauftragten<br />
dazu eine Arbeitsgruppe. Die HEAG<br />
hat angekündigt, einen Fahrgastbeirat zu<br />
installieren. Baur bekräftigte in einem Brief<br />
an den Vorstand, daß dieser Beirat zu 50<br />
Prozent <strong>mit</strong> Frauen besetzt sein sollte, und<br />
benannte zwei ihrer Gruppe als Beteiligte.<br />
Eine Antwort bekam sie noch nicht.<br />
Auch wartet sie noch auf die angekündigte<br />
Frauenkommission, die auf Magistratsebene<br />
angesiedelt sein soll:<br />
„Die Frauenkommission hätte Möglichkeiten,<br />
Frauen, die politisch, aber nicht<br />
parlamentarisch tätig sind, Einfluß zu verschaffen.<br />
Dieser Transmissionsriemen<br />
zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer<br />
Arbeit ist dringend<br />
notwendig.“<br />
Trautel Baur unterstützt das Projekt von<br />
drei Frauen, die eine Ver<strong>mit</strong>tlungsstelle für<br />
Tagesmütter aufbauen wollen. „Ab 96 gibt<br />
es ein Recht auf einen Kindergartenplatz,<br />
den die Kommune nicht einlösen kann. Die<br />
Verhandlungen <strong>mit</strong> Betrieben waren wenig<br />
fruchtbar. Also ist so eine Stelle unverzichtbar.<br />
Die Stadt muß das finanziell unterstützen<br />
und auch bei der Suche nach einem<br />
Raum helfen.“<br />
Frauen als Arbeitnehmerinnen, so weiß sie,<br />
sind doppelt benachteiligt: als Frauen, und<br />
aufgrund ihrer Funktion in zumeist untergeord<strong>net</strong>en<br />
Positionen. „Als Lehrerin, Organisationsberaterin<br />
und Therapeutin, habe ich<br />
ein Modell für die Verwaltung erarbeitet,<br />
das ich Bürgermeister Benz auch schon<br />
erläutert habe. Ich will bei der anstehenden<br />
Verwaltungsreform beteiligt sein.“<br />
Vom Land Hessen gibt es finanzielle Unterstützung<br />
für ein Projekt „Frauengerechtes<br />
Wohnen“. Sie selbst ist Preisrichterin der<br />
Auslobungsjury. Bisher hat sich die Stadt<br />
an diesem Wettbewerb noch nicht beteiligt,<br />
was Baur zu ändern sucht. Die Auswahl an<br />
Grundstücken ist nicht groß, doch hofft sie,<br />
bei der Neubebauung Helfmannstraße oder<br />
in Kranichstein K 6 eine Hälfte abknapsen<br />
zu können.<br />
All dies sind konkrete Fälle, in denen die<br />
Frauenbeauftragte versucht, Einfluß zu nehmen,<br />
Veränderungen einzuleiten; bei denen<br />
sie von der bloßen Bewußtmachung des<br />
Frauenproblems den Schritt zur Umsetzung<br />
herbeiführen will.<br />
Doch wie schon festgestellt: Sie hat viele<br />
Aufgaben und wenig Rechte und so<strong>mit</strong><br />
wenig Macht bzw. Einfluß. So bleibt ihr<br />
nur, sich <strong>im</strong>mer wieder zu Wort zu melden,<br />
sich Gehör zu verschaffen, und so<br />
langsam, Schritt für Schritt zu überzeugen.<br />
Wir wünschen ihr viel Kraft!<br />
Eva Bredow<br />
Aufruf zu einem Frauenstreiktag<br />
Erster Treff <strong>im</strong> Frauenzentrum Kyritzschule: Wer macht <strong>mit</strong><br />
Liebe Frauen,<br />
auf <strong>dem</strong> Kongreß des Unabhängigen Frauenverbandes<br />
und auf anderen Veranstaltungen<br />
wurde zu einem FrauenStreikTag am 8. März<br />
1994 aufgerufen. Inzwischen hat sich ein<br />
bundesweites Streikko<strong>mit</strong>ee gebildet und in<br />
vielen Städten wurden regionale und lokale<br />
Ko<strong>mit</strong>ees ins Leben gerufen, die den Frauen-<br />
StreikTag vorbereiten.<br />
Warum ein FrauenStreikTag<br />
Der Abbau der Sozialleistungen trifft vor<br />
allem Frauen:<br />
– Alleinerziehende und Rentnerinnen<br />
rutschen unter das Existenzmin<strong>im</strong>um<br />
– Keine Würdigung von Hausarbeit und<br />
Kindererziehung<br />
– Der Arbeitsplatzabbau trifft vor allem<br />
Frauen<br />
– Staatliche und ärztliche Bevormundung<br />
jeder Frau bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs<br />
– Die Sparmaßnahmen der Stadt und des<br />
Staates gefährden Frauenprojekte, in Darmstadt<br />
müssen inzwischen alle Frauenprojekte<br />
um ihre Existenz bangen<br />
– Frauenlöhne liegen <strong>im</strong>mer noch zu dreißig<br />
Prozent unter denen der Männer<br />
Die Gewalt gegenüber Frauen n<strong>im</strong>mt zu:<br />
– Sexuelle Übergriffe erfahren Frauen täglich<br />
und hautnah<br />
– Vergewaltigung in der Ehe wird in Deutschland<br />
<strong>im</strong>mer noch nicht bestraft, etc.<br />
Wir müssen bundesweit Zeichen setzen!<br />
1975 und 1985 streikten die Isländerinnen,<br />
1981 die Niederländerinnen und 1991 die<br />
Schweizerinnen. Der Streik bedeutet nicht<br />
unbedingte Arbeitsniederlegung, sondern es<br />
sollen verschiedene Aktionen <strong>mit</strong> Phantasie<br />
und vielen Ideen durchgeführt werden.<br />
Für das Streikko<strong>mit</strong>ee werden Frauen<br />
gesucht, die die Koordinierung innerhalb<br />
Darmstadts und <strong>im</strong> Umkreis übernehmen.<br />
Deshalb wollen wir uns am 27.10.93 um 19<br />
Uhr treffen. Vorläufige Tops für die Gründungsversammlung<br />
sind:<br />
1. Begrüßung, Protokollantin, Rundlauf, weitere<br />
Tops<br />
2. Warum streiken wir Was wollen wir in<br />
Darmstadt sowie auf Landesebene erreichen<br />
3. Organisationsformen des Streikko<strong>mit</strong>ees<br />
4. Flugblatt und Presseerklärung<br />
5. Termin für ein neues Treffen<br />
Laßt Euch Aktionen für den FrauenStreikTag<br />
einfallen. Wir brauchen auch noch ein Motto<br />
für unsere Region.<br />
Wir hoffen auf zahlreiches Erscheinen und<br />
rufen alle Frauen auf, sich <strong>mit</strong> ihrer Kreativität,<br />
Vielfalt und eigenen Ideen an Aktionen<br />
und Diskussionen zu beteiligen.<br />
Christa, Eva, Susanne,<br />
Initiatorinnen des regionalen Streikko<strong>mit</strong>ees
NEOFASCHISMUS I<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 6<br />
Verfassungsschutzbericht 1992:<br />
Gewalteskalation bisher nicht gekannten Ausmaßes<br />
Aktivitäten rechter und linker Extremisten<br />
in der BRD und in Darmstadt<br />
Wer erinnert sich nicht der grauenvollen<br />
Sensationsnachrichten aus Hoyerswerda<br />
(September 1991) als <strong>dem</strong> Beginn<br />
einer Serie von Morden und Brandstiftungen,<br />
begangen durch eine zunehmend gewalttätige<br />
Rechte Wer damals hoffte, dies sei nur<br />
ein Einzelfall, eine Ausnahme, wurde bald<br />
einer schrecklicheren Wirklichkeit belehrt:<br />
Rostock (August 1992), Mölln (November<br />
1992) und in diesem Jahr der Mordanschlag<br />
von Solingen lassen darauf schließen, daß<br />
die Rechte weiter wächst und <strong>mit</strong> ihrem<br />
zunehmenden Einfluß unschuldige Menschen<br />
sterben müssen, nur weil sie fremd<br />
sind, weil sie nicht Deutsche sind, denn<br />
„Rassenmischung ist Völkermord“ („Deutsche<br />
Alternative“, Bremen). Die feige Mörderbrut<br />
sucht in fanatischem Wahn ihre<br />
Opfer unter Männern, Frauen und Kindern<br />
„…wir müssen zusammen gegen diese Brut<br />
kämpfen“ (NS-Organ „Volkstreue“, Recklinghausen).<br />
Längst sind die Gewalttaten<br />
zum Alltag geworden – wie sieht das die<br />
Bundesregierung, welche Entwicklung<br />
beschreibt der Verfassungsschutz 1992 und<br />
was wird der Staat dagegen unternehmen<br />
„Gesamtpotential<br />
nur wenig verändert“<br />
„Schuldzuweisungen und Vorwürfe über<br />
angebliche Versäumnisse in der Vergangenheit<br />
wegen des Anstiegs dieser grausamen<br />
und uns alle beschämenden Vorfälle<br />
sind überflüssig“, kommentiert Bundesinnenminister<br />
Manfred Kanther (CDU) den<br />
Verfassungsschutzbericht 1992. Und er<br />
wertet die Zahlen aus: „Das politisch-extremistische<br />
Gesamtpotential hat sich 1992<br />
gegenüber den Vorjahren nur wenig verändert.“<br />
Dies steht in krassem Gegensatz zu den<br />
Zahlen, die der Bericht und andere Quellen<br />
über Anschläge der Rechten ausweisen:<br />
1991 listet der Verfassungsschutz 3.884<br />
Straftaten auf, darunter drei Todesopfer<br />
und 1992 einen Anstieg auf 7.121, wobei<br />
die Zahlen der schweren Straftaten wie<br />
Mord-, Brandanschläge (681 auf Flüchtlingsunterkünfte)<br />
und Körperverletzungen<br />
wesentlich stärker anstiegen <strong>im</strong> Vergleich<br />
zu beispielsweise den schon früher zu<br />
beobachtenden Hitlergrüßen, Flugblatt-<br />
Aktionen u.ä.. 17 Menschen, Ausländer,<br />
Deutsche, Obdach- und Arbeitslose starben<br />
laut Verfassungsschutz bei Brandanschlägen<br />
oder nach schwersten Körperverletzungen.<br />
Die Zahlen geben die Wirklichkeit nur<br />
annähernd wieder, denn nicht alle Straftaten<br />
der Rechten sind von den Verfassungsschützern<br />
auch als solche registriert (siehe<br />
auch nächste Seite).<br />
Lückenhafter Bericht<br />
In <strong>dem</strong> Bericht fehlt eine Übersicht über die<br />
Anschläge, fehlen Einzelbeschreibungen,<br />
fehlen Auswertungen der Er<strong>mit</strong>tlungen,<br />
steht nicht verzeich<strong>net</strong>, ob und wer von der<br />
Staatsanwaltschaft angeklagt und letztlich<br />
verurteilt worden ist; ebenso fehlt die Quote<br />
der Aufklärung der erfaßten Straftaten. Der<br />
Einblick bleibt so<strong>mit</strong> bruchstückhaft, und<br />
die Auswertung läßt keine klare Aussage<br />
darüber zu, ob der Staatsapparat die erstarkende<br />
Rechte unter Kontrolle hat: den<br />
widersprüchlichen Auswertungen und der<br />
vielen Lücken halber ist eher anzunehmen,<br />
daß der Staat versagt – versagen will<br />
Lediglich, dann wenn eindeutige Hinweise<br />
auf politisch rechtsgerichtete Aktivitäten<br />
vorlagen, fanden sie Eingang in die Statistik.<br />
Eine Trennung in Straftaten, die rechten<br />
Gewalttätern sicher zugeord<strong>net</strong> werden<br />
können und solchen, bei denen es nur vermutet<br />
werden kann, fehlt ebenfalls. Dennoch<br />
weist der Verfassungsschutzbericht<br />
bereits eine Zunahme von 74 Prozent<br />
gegenüber 1991 aus, <strong>im</strong> Vergleich zu den<br />
letzten zehn Jahren vom 22fachen.<br />
Organisierte Rechte<br />
Während der Innenminister verbreiten läßt,<br />
„Eine systematische Ver<strong>net</strong>zung rechtsextremistischer<br />
Organisationen … ist nach<br />
wie vor nicht erkennbar“, wissen seine<br />
Beamten anderes zu berichten: „Es konnte<br />
festgestellt werden, daß einige Anschläge<br />
planmäßig vorbereitet wurden, was auf eine<br />
zunehmende Organisierung der Szene hindeutete.“<br />
Dies belegt der Verfassungsschutz<br />
in einer Vielzahl von Einzelbeispielen.<br />
Das fängt an <strong>mit</strong> der Orientierung vieler<br />
Neu-Organisationen in den neuen Bundesländern<br />
an <strong>dem</strong> Programm des Neofaschisten<br />
Michael Kühnen (gestorben an <strong>Aids</strong><br />
25.4.91), der das „Vierte Reich“ errichten<br />
wollte, geht über den Nachweis personeller<br />
Beziehungen unter den NS-Organisationen<br />
bis hin zu internationalen Treffen und den<br />
Einfluß der österreichisch-spanischen<br />
Faschisten in der „Circulo Español de Amigos<br />
de Europa“ (CEDADE) auf die deutsche<br />
Neofaschisten-Szene.<br />
Nur Männer von 16 bis 30<br />
Schwerpunkte sehen die Verfassungsschützer<br />
in Nordrhein-Westfalen <strong>mit</strong> 641<br />
Gewalttaten, in Relation zu den Einwohnerzahlen<br />
stehen jedoch Mecklenburg-Vorpommern<br />
und Brandenburg an der Spitze.<br />
Die Täter, soweit sie er<strong>mit</strong>telt werden konnten,<br />
sind „ausschließlich Männer <strong>im</strong> Alter<br />
von 16 bis 30 Jahren“. Der Anteil der<br />
Arbeitslosen unter den rechten Gewalttätern,<br />
bislang als besonders hoch angenommen,<br />
beträgt lediglich 9%. Insgesamt<br />
42.700 Rechtsextremisten in 82 Organisationen<br />
hat der Verfassungsschutz verzeich<strong>net</strong>,<br />
3.000 mehr als <strong>im</strong> Jahr zuvor, die<br />
25.000 Mitglieder der „Republikaner“ sind<br />
nicht eingerech<strong>net</strong>, ebenso fehlen Unorganisierte<br />
oder in den bürgerlichen Parteien<br />
verzeich<strong>net</strong>e Mitglieder. Auch erfaßt der<br />
Verfassungsschutz anonyme Geldgeber<br />
aus der Industrie und Altnazis nicht, die in<br />
Politik, Justiz oder in anderen gehobenen<br />
Stellungen tätig sind. Es ist weder in <strong>dem</strong><br />
Bericht noch in der Mitteilung des Bundesinnenministers<br />
ein Hinweis enthalten,<br />
daß die 2318 Beamten des Verfassungsschutzes<br />
und die (nach <strong>dem</strong> Ende des kalten<br />
Krieges arbeitslos gewordenen) 1.751<br />
„Bediensteten des Militärischen Abschirmdienstes“<br />
(MAD) künftig in solchen Kreisen<br />
nach „Verfassungsfeinden … zur Erhaltung<br />
unseres <strong>dem</strong>okratischen Gemeinwesens“<br />
suchen sollten.<br />
Der millionenschwere Dr. Frey<br />
Die stärkste rechtsextreme Organisation<br />
stellt laut diesem Bericht die „Deutsche<br />
Volks Union“ (DVU) <strong>mit</strong> 26.000 Mitgliedern<br />
dar. „Diese Partei konnte ihre Wahlerfolge<br />
in Bremen und Schleswig-Holstein – jeweils<br />
rund 6% der St<strong>im</strong>men – dadurch erringen,<br />
daß sie die Asylrechtsproblematik gezielt in<br />
den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt<br />
hatte“, befinden die Verfassungsschützer –<br />
wie bei CDU und CSU. „Die CDU muß für<br />
Republikaner wählbar sein“, erklärte Innenminister<br />
Kanther in der Öffentlichkeit.<br />
Einen unglaublich hohen Etat von 13 Millionen<br />
Mark pro Jahr weist Dr. Frey, Vorsitzender<br />
der DVU, aus, der zu Spenden aufruft,<br />
um den Wahlkampf 1994, „der von<br />
entscheidender Bedeutung für Deutschland<br />
und die DVU sei“, zu finanzieren. Die Hetzblätter<br />
der DVU kennt fast jede/r, allein<br />
1992 deckte Frey alle bundesdeutschen<br />
Haushalte <strong>mit</strong> drei Freiexemplaren unter<br />
Vertriebshilfe der Post ein. Eine Strafanzeige<br />
wegen Volksverhetzung vom Herausgeber<br />
der ZD wurde vom Hessischen Justizminister<br />
nach München abgegeben und<br />
dort eingestellt. Eine Beschwerde dagegen<br />
lehnte der dortige Generalstaatsanwalt ab;<br />
Frey konnte ungestört weiter Volksverhetzung<br />
betreiben. Heute erzielen die rechten<br />
Publikationen (jährlich ohne Buchverlage)<br />
ca. 65 Millionen Druckexemplare, durch die<br />
Wurfsendungen von Dr. Frey erhöht sich<br />
diese Zahl 1992 allerdings auf geschätzte<br />
200 Millionen. Frey verfügt über zwei Wochenzeitungen<br />
<strong>mit</strong> einer Auflage von rund<br />
85.000 Druckexemplaren und ist da<strong>mit</strong> der<br />
Größte in der neofaschistischen Szene.<br />
„Gefährlichste<br />
Terrororganisation“<br />
Traditionell ist der Bericht eingeleitet <strong>mit</strong><br />
„linksextremistischen Bestrebungen“. Die<br />
Bedrohung der inneren Sicherheit … durch<br />
linksextremistische Terroristen bestand<br />
auch 1992 fort, wenngleich … Anschläge<br />
der … RAF … ausgeblieben sind.“ Dennoch<br />
steht zu lesen: „Die RAF blieb … die gefährlichste<br />
Terrororganisation“ – für wen<br />
28.000 Linksextremisten, 2.000 mehr als <strong>im</strong><br />
Vorjahr, zählen die Verfassungsschützer<br />
und 1.203 Straftaten, darunter auch Delikte<br />
wie Hausfriedenbruch (131), Landfriedensbruch<br />
(160) und Widerstand gegen die<br />
Staatsgewalt (32), die interessanterweise<br />
bei der Statistik über Rechtsextremisten<br />
nicht zu finden sind. Ein Todesopfer<br />
schreibt der Verfassungsschutz den Berliner<br />
Autonomen 1992 zu: Am 4.4. ist der<br />
Funktionär der rechtsextremen „Deutschen<br />
Liga“, Gerhard Kaindl, in Berlin überfallen<br />
und getötet worden.<br />
Aufgaben unverändert<br />
Obwohl die Zahlen, so bereinigt, siebenmal<br />
mehr Straftaten von rechten Straftätern<br />
ausweisen, zieht der Innenminister sein<br />
Resümee: „1993 haben sich die Aufgabenschwerpunkte<br />
des Verfassungsschutzes<br />
nicht verändert“.<br />
Das sehen seine Beamten anders: Unter<br />
„Rechtsextremistische Bestrebungen“ berichten<br />
sie: „Die Bundesrepublik erlebte<br />
1992 eine Gewalteskalation bisher nicht gekannten<br />
Ausmaßes … National<strong>dem</strong>okraten<br />
kleiden ihre völkisch-kollektivistischen Systemvorstellungen<br />
in Begriffe wie Volksgemeinschaft<br />
und Volksganzes und agitieren<br />
gegen Ausländer. National-Freiheitliche<br />
agitieren darüber hinaus so aggressiv<br />
gegen <strong>dem</strong>okratische Institutionen, … daß<br />
sie da<strong>mit</strong> zeigen, diese in Wirklichkeit<br />
abschaffen … zu wollen.“<br />
„Neben allgemein rechtsextremistischen<br />
Straftaten (i.d.R. Schmieren von Hakenkreuzen,<br />
SS-Runen, „Heil Hitler“ etc. an Privathäusern<br />
und öffentlichen Einrichtungen),<br />
die in der Häufigkeit in etwa <strong>im</strong> Trend<br />
der Vorjahre liegen, wurde verstärkt ein<br />
Versenden/Verteilen von Flugblättern <strong>mit</strong><br />
rechtsextremistischem/ausländerfeindlichem<br />
Inhalt festgestellt. Auch Klebezettel<br />
und Schmierereien <strong>mit</strong> ausländerfeindlichen<br />
Parolen nahmen zu.<br />
Gegen die jüdische Gemeinde Darmstadt<br />
richteten sich 4 Vorkommnisse (Klebezettel,<br />
anonyme Schreiben und Anrufe <strong>mit</strong> z.T.<br />
massiven volksverhetzerischen Besch<strong>im</strong>pfungen<br />
und Beleidigungen).<br />
Asylbewerberunterkünfte waren in insgesamt<br />
28 Fällen Ziele von Straftaten. Hierbei<br />
handelte es sich in der Regel um Sachbeschädigungen<br />
(Einwerfen von Fensterscheiben,<br />
Zerstechen von Pkw-Reifen,<br />
Werfen von Steinen, Flaschen, Holzstücken<br />
gegen Unterkünfte), Rufen ausländerfeindlicher<br />
Parolen und Werfen von pyrotechnischen<br />
Gegenständen.<br />
In vier Fällen wurden schwere Straftaten<br />
verübt:<br />
Verbot für 650<br />
Rechtsextremisten<br />
In <strong>dem</strong> 264 Seiten starken Bericht, n<strong>im</strong>mt<br />
der Teil über die Rechtextremen <strong>mit</strong> 95 Seiten<br />
den stärksten Part ein, der Linken sind<br />
66 Seiten gewidmet, in den Rest teilen sich<br />
Spionageabwehr und Gewalttaten von Ausländern,<br />
die ihre nationalen Probleme in der<br />
Bundesrepublik austragen wie beispielsweise<br />
Kroaten und Serben oder ein<br />
Anschlag auf vier Kurden, die am 17.9.92 in<br />
Berlin „wahrscheinlich vor staatsterroristischem<br />
Hintergrund“ ermordet wurden.<br />
Der Bericht beinhaltet umfangreiche Listen<br />
rechter und linker Publikationen und Parteien,<br />
die Mitgliederzahlen und, soweit, bekannt<br />
die Finanzierungen. Die Verfassungsschützer<br />
haben die Zahlen zwar (unvollständig)<br />
verzeich<strong>net</strong> aber nicht ausgewertet.<br />
Der Bundesinnenminmister begeg<strong>net</strong>e der<br />
wachsenden Gewalt von rechts <strong>mit</strong> <strong>mit</strong> den<br />
Verboten der Parteien „Nationalistische<br />
Front“ (27.11.92), „Deutsche Alternative“<br />
(10.12.92) und „Nationale Offensive“<br />
(22.12.92). Deren Mitgliederzahlen betrugen<br />
laut Verfassungsschutz rund 650 – von<br />
insgesamt 42.700 aller registrierten neofaschistischen<br />
Organisationen. Wehrsportkampfgruppen,<br />
Verlage und Parteien, die<br />
offen verfassungsfeindliche Publikationen<br />
und Ziele verfolgen (vielfach zitiert <strong>im</strong><br />
Bericht) können unbehelligt weiter volksverhetzende,<br />
verfassungsfeindliche Schriften<br />
verbreiten.<br />
In einigen Bundesländern werden die<br />
Straftäter, soweit er<strong>mit</strong>telt, sehr schnell<br />
verurteilt: Darmstadt rangiert wegen der<br />
schnellen und harten Urteile an besonderer<br />
Stelle – als rühmliche Ausnahme <strong>im</strong><br />
Bericht.<br />
Gewalt von der Rechten<br />
„Wieviele Gerichtsverfahren nach §129 und<br />
129a StGB wurden seit 1.1.91 gegen<br />
rechtsextreme Akteure durchgeführt … “<br />
wollte die PDS-Abgeord<strong>net</strong>e Ulla Jelpke<br />
von der Bundesregierung am 1.7.93 wissen.<br />
Die Antwort: „Keine“. Im Verfassungsschutzbericht<br />
fehlen Zahlen über die<br />
Erfolgsquoten der Strafverfolgungsbehörden<br />
und über die Anzahl der verurteilten<br />
Rechtsextremisten. So<strong>mit</strong> gibt der Bericht<br />
29.7.92: Mehrere Molotowcocktails wurden<br />
gegen die gemauerte Außenwand einer<br />
Unterkunft in Grieshe<strong>im</strong> geworfen. Am<br />
Gebäude entstand Rußschaden, ein davor<br />
geparkter Pkw eines Bewohners wurde<br />
beschädigt.<br />
29.8.92: Auf die Container einer Asylbewerberunterkunft<br />
in Groß-Bieberau wurden<br />
mehrere Schüsse aus einer großkalibrigen<br />
Waffe abgegeben, die die Wände durchschlugen.<br />
Von den Bewohnern wurde niemand<br />
verletzt.<br />
26.9.92: Brandanschlag durch mehrere<br />
Molotowcocktails auf die Container von<br />
Asylbewerbern in Erzhausen und Anzünden<br />
eines polnischen Reisebusses in Wixhausen.<br />
Die drei Täter wurden festgenommen, Haftbefehl<br />
erlassen. Die Staatsanwaltschaft hat<br />
Anklage u.a. wegen Verdachts des versuchten<br />
Mordes und Brandstiftung erhoben.<br />
25.11.92: Die Außenfassade eines noch<br />
nicht bezogenen Neubaus für Asylbewerber<br />
in Erzhausen wurde <strong>mit</strong> Benzin übergossen<br />
und angezündet. Das Feuer erlosch von<br />
selbst. Es entstand geringer Sachschaden.<br />
auch keinen Überblick darüber, ob der Staat<br />
der vielen Rechtsextremisten Herr werden<br />
kann. In Cottbus beispielsweise wie auch in<br />
Lichtenhagen und Rostock bestand entweder<br />
ein nur eingeschränktes oder gar kein<br />
Verfolgungsinteresse: Die Anschläge wiederholten<br />
sich über Wochen und nahmen<br />
an Intensität zu ohne daß die Sicherheitsbehörden<br />
dies unterbunden haben. Erinnern<br />
wir uns an die Zeiten der Fahndung<br />
nach RAF-Mitgliedern Autobahnen wurden<br />
überwacht, <strong>mit</strong> Maschinenpistolen<br />
bewaff<strong>net</strong>e Polizisten kontrollierten serienweise<br />
Fahrzeuge. Oder Wackersdorf: Die<br />
Baustelle war noch vor Eintreffen der<br />
DemonstrantInnen von Hundertschaften<br />
hermetisch abgeriegelt. Die Zahl der Polizisten<br />
ist seit<strong>dem</strong> erhöht worden. Wo waren<br />
und sind sie heute, wenn Rechtsextremisten<br />
in teils tagelangen Angriffen Flüchtlingen<br />
nach <strong>dem</strong> Leben trachten<br />
Der Bericht untersucht nicht, wie es in vielen<br />
Orten dazu kommen konnte, daß die Polizei<br />
untätig zusah und die Rechtsextremisten<br />
gewähren ließ. Rostock war kein Einzelfall.<br />
Die neue<br />
Vergangenheitsbewältigung<br />
So zieht Kanther denn auch nur politische,<br />
keine sachbezogenen Schlüsse aus <strong>dem</strong><br />
Bericht, wenn er schärfere Gesetze und den<br />
Lauschangriff fordert – um wen zu überwachen<br />
Die Rechtsextremisten sicher nicht.<br />
Deren Publikationen und Mitglieder sind<br />
bekannt.<br />
Eine Analyse der Ursachen für die wachsende<br />
Gewalt unter der Bevölkerung, die an<br />
vielen Orten der Jagd auf AusländerInnen<br />
beifallklatschend zusah, und den Jugendlichen,<br />
die zunehmend brutaler werden (siehe<br />
nächste und übernächste Seite) leistet<br />
der Verfassungsschutz ebensowenig wie<br />
der Innenminister. Da<strong>mit</strong> ist das Jahr 1992<br />
<strong>mit</strong> 40 oder mehr Todesopfern zu den<br />
behördlichen Akten gelegt und Bestandteil<br />
neudeutscher Vergangenheit, die unter<br />
<strong>dem</strong> Blickwinkel der Vergangenheitsbewältigung<br />
Eingang in die Diskussionsrunden<br />
der besseren Gesellschaft finden wird. Zum<br />
Thema Gewalt siehe ZD Ausgabe 55.<br />
Michael Gr<strong>im</strong>m<br />
Der Bericht kann angefordert werden be<strong>im</strong><br />
Bundesminister des Innern,<br />
Graurheindorfer Straße 198, 53117 Bonn.<br />
Polizeipräsidium Darmstadt: Jahresbericht 1992<br />
Rechtsextremistische / ausländerfeindliche Straftaten<br />
Linksextremistische Straftaten:<br />
Im März wurden in <strong>dem</strong> Vorgarten eines in<br />
Darmstadt wohnenden Mitgliedes der IGfM<br />
(Intemationale Gesellschaft für Menschenrechte)<br />
5 Personen vorläufig festgenommen,<br />
die eine größere Menge Unkrautvernichtungs<strong>mit</strong>tel,<br />
zwei Äxte, etliche <strong>mit</strong> Farbe<br />
gefüllte Eier und eine vorbereitete<br />
Schriftschablone <strong>mit</strong> sich führten. Offensichtlich<br />
sollten in <strong>dem</strong> Anwesen massive<br />
Sachbeschädigungen erfolgen.<br />
Hintergrund: Mitte März fand in Benshe<strong>im</strong><br />
ein Kongreß der IGfM statt, gegen den <strong>im</strong><br />
autonomen Spektrum bereits <strong>im</strong> Vorfeld<br />
auf breiter Basis mobilisiert wurde. Die<br />
IGfM wurde in diesem Zusammenhang u.a.<br />
als faschistisch bezeich<strong>net</strong>.<br />
Im Oktober wurden unter den beiden Fahrzeugen<br />
eines Bürgers in Seehe<strong>im</strong>-Jugenhe<strong>im</strong><br />
Brandsätze gelegt, die jedoch nicht<br />
funktionierten. In Bekennerschreiben wurde<br />
der versuchte Anschlag <strong>mit</strong> der leitenden<br />
Tätigkeit des Betroffenen bei <strong>dem</strong> Bau der<br />
als „Isolationsknast“ bezeich<strong>net</strong>en Justizvollzugsanstalt<br />
Weiterstadt begründet.“<br />
Polizeipräsidium Darmstadt
NEOFASCHISMUS II<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 7<br />
40<br />
Todesopfer<br />
rechter<br />
Gewalt<br />
Unbekannt, 4. Januar, Augsburg: Ein 27 Jahre<br />
alter Flüchtling aus Nigeria stirbt nach der Einlieferung<br />
ins Krankenhaus, er war schwerverletzt<br />
in der Asylunterkunft aufgefunden worden.<br />
Vorangegangen war eine Auseinandersetzung<br />
<strong>mit</strong> Türstehern einer Diskothek – Unbekannt,<br />
11. Januar, Hannover: Der Bewohner<br />
eines Flüchtlingwohnhe<strong>im</strong>es wird von einem<br />
Bundeswehrsoldaten so schwer mißhandelt,<br />
daß er am darauffolgenden Tag stirbt. – Vater,<br />
Mutter, Kind, 31. Januar, Lamperthe<strong>im</strong>: Die<br />
Familie aus Sri Lanka stirbt bei einem Brand in<br />
einem Flüchtlingswohnhe<strong>im</strong>. – Matthias Knabe,<br />
4. März, Gifhorn: Der 23jährige stirbt an<br />
schweren Hirnverletzungen, die ihm <strong>im</strong> Mai<br />
1991 bei einem Überfall von 15 Skinheads<br />
zugefügt worden waren. – Unbekannt, 6.<br />
März, Reilingen: In einer Diskothek bei Mannhe<strong>im</strong><br />
fallen 10 Skinheads über zwei Türken her.<br />
Einer wird erstochen, sein Freund schwer verletzt.<br />
– Dragomir Christinel (18), 14. März,<br />
Saal: 25 bewaff<strong>net</strong>e Jugendliche überfallen, wie tags zuvor angekündigt, das Asylbewerberhe<strong>im</strong> nahe Rostock und prügeln den achtzehnjährigen Rumänen zu Tode. Die Polizei trifft zu spät<br />
ein, weil es „Probleme <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Telefon<strong>net</strong>z“ gegeben habe. – Gustav Schneeclaus (53), 18. März, Buxtehude: Zwei Skinheads erschlagen den Kapitän, weil er Hitler als Verbrecher<br />
bezeich<strong>net</strong> hatte. – Unbekannt, März, Brandenburg: Am 6. April wird <strong>im</strong> Wald ein bulgarischer Flüchtling gefunden, er ist erstochen worden. – Ingo Finkern, 19. März, Flensburg: Der 31<br />
Jahre alte Obdachlose wird von Skinheads zusammengeschlagen und in das Hafenbecken geworfen. Er ertrinkt. – Unbekannt, 4. April, Hörstel: Bei einem Anschlag auf ein Flüchtlingswohnhe<strong>im</strong><br />
in Nordrhein-Westfalen stirbt ein dort untergebrachter Deutscher. – Nguyen Van Tu (29), 24. April, Berlin: Vor den Augen zahlreicher Passanten wird der Vietnamese <strong>im</strong> Berliner<br />
Stadtteil Marzahn von einem 21jährigen Deutschen erstochen. – Torsten Lamprecht, 9. Mai, Magdeburg: Bei einem Überfall von 50 <strong>mit</strong> Eisenstangen bewaff<strong>net</strong>en Skinheads auf<br />
eine Punk-Gaststätte trifft ihn ein einschlägig bekannter Skinhead aus Wolfsburg am Kopf. Zwei Tage später stirbt Lamprecht an den Folgen. – Unbekannt, 25. Mai, Wünsdorf: Ein russischer<br />
Flüchtling wird auf <strong>dem</strong> Gelände der Westgruppe der ehemals sowjetischen Streitkräfte in Brandenburg <strong>mit</strong> Stichverletzungen tot aufgefunden. – Emil Wendland (50), 1. Juli, Neuruppin:<br />
Der Obdachlose wird von einer Gruppe Skinheads in Brandenburg zusammengeschlagen; ein 20jähriger ersticht ihn. – Zwei Männer, 5. Juli, Pasewalk: Von einer Gruppe illegaler<br />
Einwanderer aus Rumänien, die über die deutsch-polnische Grenze kommen, werden zwei von Schüssen tödlich getroffen; die Polizei n<strong>im</strong>mt zwei Jäger unter <strong>dem</strong> Verdacht der „fahrlässigen<br />
Tötung“ fest. – Sadri Berisha (55), 8. Juli, Ostfildern-Kemnat: Skinheads überfallen ein Arbeiterwohnhe<strong>im</strong> <strong>im</strong> Kreis Esslingen und schlagen auf zwei Jugoslawen ein. Berisha stirbt am<br />
Tatort, sein Begleiter wird <strong>mit</strong> schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht. – Unbekannt, 28. Juli, Erzhausen: In einem Wald <strong>im</strong> Kreis Darmstadt-Dieburg wird ein 23jähriger<br />
Türke erstochen aufgefunden. – Klaus Dieter Klein (49), 1. August, Bad Breisig: Zwei Skinheads stechen den Obdachlosen in Rheinland-Pfalz nieder und trampeln ihn zu Tode. – Jreneusz<br />
Szyderski (24), 3. August, Stotternhe<strong>im</strong>: Zwei Skinhead-Ordner einer Diskothek in Thüringen treten den Polen zu Tode. – Unbekannt, Berlin: In den Grünanlagen am Fernsehturm<br />
in Berlin stirbt ein Pole bei einer Auseinandersetzung <strong>mit</strong> zwei unbekannten Männern durch Messerstiche in den Bauch. – Frank Bönisch, 14. August, Koblenz: Ein 23 Jahre alter Skinhead<br />
schießt blindwütig in eine Gruppe feiernder Personen. Bönisch stirbt und vier weitere Personen werden schwer verletzt. – Günter Schwannicke (58), 29. August, Berlin: Der Obdachlose<br />
wird von zwei Skinheads in Berlin-Charlottenburg tödlich verletzt. – Unbekannt, 24. September, Berlin: Ein 27jähriger Israeli wird in Berlin-Kreuzberg in einem Hausflur niedergesto-<br />
O<br />
ffizielle Statistiken und der<br />
Verfassungsschutzbericht<br />
weisen unterschiedlich hohe<br />
Zahlen von Mordanschlägen<br />
Rechtsradikaler <strong>im</strong> Jahr 1992 aus.<br />
Die Unvollständigkeit der Zahlen<br />
läßt sich aus Presseberichten,<br />
„Spiegel“, „FAZ“, „Taz“,<br />
„Konkret“, PDS-Pressespiegel,<br />
Anfragen an die Bundesregierung<br />
und anderen Dokumenten nachvollziehen.<br />
Die Bilanz<br />
der Untaten einer völkischnationalistischen<br />
Rechtsextremen<br />
können wir nur in Auszügen<br />
wiedergeben.<br />
Auf Anfrage der PDS vom<br />
1.7.1993, „Wieso wird der am<br />
17.12.1992 in Berlin-Mitte auf<br />
offener Straße erschossene<br />
Ägypter nicht in der Statistik der<br />
rechtsextrem motivierten<br />
Straftaten/Tötungsdelikte<br />
aufgeführt“ erklärte die<br />
Bundesregierung: „Aus <strong>dem</strong><br />
Er<strong>mit</strong>tlungsverfahren ergeben<br />
sich keine Hinweise für einen<br />
politischen Hintergrund“.<br />
Geklärt wurde der Fall nicht.<br />
chen. Er stirbt trotz sofortiger Operation. –<br />
Unbekannt, 17. Oktober, Berlin: Mitten in der<br />
Stadt, nahe des Kurfürstendamms, wird ein 37-<br />
jähriger Peruaner von mehreren Männern zusammengeschlagen<br />
und erstochen. – Rolf<br />
Schulze (51), 7. November, Lehnin: Drei rechtsradikale<br />
Jugendliche mißhandeln den Obdachlosen<br />
in ihrem Auto, übergießen ihn <strong>mit</strong> Benzin<br />
und zünden ihn an. – Karl-Hans Rohn (53), 13.<br />
November, Wuppertal: Bei einer Auseinandersetzung<br />
in einer Kneipe verletzen zwei<br />
Skinheads Rohn durch Tritte lebensgefährlich,<br />
übergießen ihn <strong>mit</strong> Schnaps und zünden ihn an.<br />
Das sterbende Opfer transportieren sie <strong>im</strong><br />
Wagen des Wirts in die Niederlande, wo die Leiche<br />
am nächsten Morgen gefunden wird. – Silvio<br />
Meier (27), 21. November, Berlin: Im Stadtteil<br />
Friedrichshain wird er bei einem Streit zwischen<br />
drei Jugendlichen und fünf Rechtsradikalen<br />
erstochen. Die beiden anderen Jugendlichen<br />
überleben schwer verletzt. – Bahide Arslan<br />
(51), Ayse Yilmaz (14), Yeliz Arslan (10), 23.<br />
November, Mölln: Bei einem Brandanschlag auf<br />
zwei Wohnhäuser in Schleswig-Holstein starben<br />
die Türkin und die zwei Kinder, neun weitere<br />
Menschen wurden verletzt. – Unbekannt, 23.<br />
November, Wiesbaden: In der Toilette des<br />
Hauptbahnhofs wird ein 27jähriger Türke von<br />
einem Unbekannten niedergestochen. – Unbekannt,<br />
29. November, Köln: Der Türsteher einer<br />
Kölner Diskothek erschießt einen 24 Jahre alten<br />
Türken, der angeblich Hausverbot hatte, <strong>mit</strong><br />
einer abgesägten Schrotflinte, als er <strong>mit</strong> Freunden<br />
unschlüssig auf der Straße stand. – Akif<br />
Dogan (27), 4. Dezember, Felsberg: Der Türke<br />
aus München wird <strong>mit</strong> Messerstichen in Brust,<br />
Bauch und Rücken neben der Landstraße in<br />
Felsberg tot aufgefunden. – Unbekannt, 6.<br />
Dezember, Jänschwalde: Brand in einem Achtfamilien-Wohnhaus<br />
in Brandenburg. Ein<br />
28jähriger kroatischer Gastarbeiter stirbt in <strong>dem</strong><br />
Feuer. Die Staatsanwaltschaft Cottbus geht von<br />
einem Schwelbrand aus, der durch ein Stromkabel<br />
entstanden sein könnte. – Bruno Kappi (57),<br />
15. Dezember, Siegen: Der blinde und geistig<br />
behinderte Lagerarbeiter wird von Neofaschisten<br />
überfallen und <strong>mit</strong> Springerstiefeln zu Tode<br />
getreten. – Gamal Hegab, 17. Dezember, Berlin:<br />
Im Bezirk Mitte wird der 35jährige Ägypter<br />
auf der Straße erschossen. – Unbekannt, 30.12.,<br />
Berlin: Ein 38 Jahre alter Libanese wird <strong>im</strong><br />
Hausflur erschossen, die Polizei schließt rechtsextremistische<br />
Motive nicht aus. – Unbekannt<br />
bedeutet nicht, daß den Strafverfolgungsbehörden<br />
die Namen der Opfer nicht bekannt<br />
seien. Sie wurden nicht publiziert.<br />
1992<br />
In der nebenstehenden Liste<br />
sind eine Reihe<br />
ungeklärter Fälle, bei denen die<br />
Umstände jedoch<br />
rechtsextremistische Motive<br />
wahrscheinlich sein lassen.<br />
Die Zahlen sind wie jede Statistik<br />
<strong>mit</strong> Vorsicht zu behandeln,<br />
denn wie viele andere Mordfälle<br />
es gibt, die ungeklärt sind,<br />
dennoch aber von Antise<strong>mit</strong>en<br />
oder Neofaschisten verübt<br />
wurden, bleibt <strong>im</strong> Dunkel.
Montag, 6.1.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Waldkirch bei Freiburg/Breisgau.<br />
Ein Libanese wird lebensgefahrlich verletzt,<br />
weitere 20 Asylbewerher werden <strong>mit</strong><br />
Rauchvergiftungen in ein Krankenhaus<br />
eingeliefert.<br />
Samstag/Sonntag, 11/12.1.<br />
• Auf ein Ausländerwohnhe<strong>im</strong> in Salzhausen/Kreis<br />
Harburg werden zwei Anschläge<br />
verübt.<br />
Dienstag, 14.1.<br />
• Brand in einem Flüchtlingshe<strong>im</strong> in Trier.<br />
Ein Bewohner wird schwer verletzt, als er<br />
bei der Flucht vor <strong>dem</strong> Feuer aus <strong>dem</strong><br />
zweiten Stock springt, ein weiterer erleidet<br />
schwere Rauchvergiftungen.<br />
Dienstag, 28.1.<br />
• In Kassel/Hessen überfallen drei junge<br />
Männer ein iranisches Lokal. Die Wirtin<br />
wird mißhandelt und beraubt, das Lokal<br />
angezündet, die Inhabnerin muß auf die<br />
Intensivstation.<br />
Mittwoch, 29.1.<br />
• Ein 37jähriger Rumäne wird in Berlin<br />
Pankow in der Nähe eines Flüchtlingswohnhe<strong>im</strong>s<br />
niedergestochen.<br />
Mittwoch, 19.2.<br />
• Brand in der zentralen Anlaufstelle für<br />
Asylbewerber in München. Die Regierung<br />
Oberbayerns geht von Brandstiftung aus.<br />
• In Neu-Isenburg/Hessen <strong>kommt</strong> es zu<br />
einer Massenschlägerei zwischen<br />
Skinheads und Ausländern. Eine unbeteiligte<br />
Frau wird angeschossen.<br />
Samstag, 29.2.<br />
• In Plankstadt/Baden-Württemberg<br />
<strong>kommt</strong> es bei einer türkischen Hochzeit zu<br />
einer mehrstündigen Massenschlägerei<br />
zwischen 150 Skinheads und rund 350<br />
Hochzeitsgästen.<br />
Donnerstag, 5.3.<br />
• Die britischen Behörden lassen den<br />
Asylantrag eines Sudanesen zu, der wegen<br />
ausländerfeindlicher Angriffe in Deutschland<br />
nach London geflohen war.<br />
Donnerstag, 26.3.<br />
• In Bremen wird ein Polizeirevier auf<br />
richterliche Anordnung hin durchsucht.<br />
Mehrere nigerianische Asylbewerber hatten<br />
einem Anwalt berichtet, sie seien von<br />
Beamten mißhandelt worden. Ein 14 Jahre<br />
alter Junge aus Kurdistan mußte nach seiner<br />
Festnahme <strong>mit</strong> gebrochener Schulter<br />
und zwe<strong>im</strong>al gebrochenem Arm ins Krankenhaus;<br />
ein 22 Jahre alter Asylbewerber<br />
aus Gambia erlitt einen Schock.<br />
Samstag, 28.3.<br />
• In Worms wird ein fünfzehnjähriger Türke<br />
von zwei Jugendlichen <strong>mit</strong> Naziabzeichen<br />
auf der Straße niedergestochen und<br />
<strong>kommt</strong> schwer verletzt ins Krankenhaus.<br />
Dienstag, 14.4.<br />
• Im Berliner Stadtteil Friedrichshain<br />
schlagen mehrere junge Männer auf eine<br />
Vietnamesin ein. Kurz darauf prügeln sie<br />
auf einen togoischen Staatsbürger ein und<br />
stoßen ihn auf die Straße, wo er von einem<br />
Auto angefahren wird. Ein Sudanese erleidet<br />
eine Platzwunde, als sie ihm einen<br />
Stein an den Kopf werfen.<br />
Samstag/Sonntag, 9./10.5.<br />
• In Wendisch Rietz/Brandenburg bedroht<br />
eine Gruppe von Skinheads einen Nigerianer<br />
in einer Diskothek <strong>mit</strong> einer Gaspistole,<br />
schlägt ihn zusammen und wirft ihn<br />
bewußtlos in einen See. Der Nigerianer,<br />
der von einem Ordner der Diskothek aus<br />
<strong>dem</strong> Wasser gerettet und in ein Krankenhaus<br />
gebracht wurde, schwebt in Lebensgefahr.<br />
Montag, 25.5.<br />
• Ein Sudanese wird in Potsdam von<br />
Skinheads zusammengeschlagen. Er<br />
<strong>kommt</strong> <strong>mit</strong> Verdacht auf schwere Kopfverletzungen<br />
in ein Krankenhaus.<br />
Donnerstag, 11.6.<br />
• In Freiburg bei Dresden sowie <strong>im</strong> Kreis<br />
Flöhe und in Frankenberg stürmen 90<br />
Polizeibeamte drei Asylbewerberhe<strong>im</strong>e.<br />
Dabei fallen Rufe wie „Scheißasylanten“<br />
und „Raus hier“. Die Bewohner, die an<br />
einen Überfall von Neonazis glauben, versuchen<br />
die Türen verschlossen zu halten.<br />
Nach Zeugenaussagen <strong>kommt</strong> es zu<br />
gewalttätigen Übergriffen durch die Polizisten.<br />
Freitag, 12.6.<br />
• Brand in einem Asylbewerberwohnhe<strong>im</strong><br />
in Isen/Kreis Erding. Das Gebäude brennt<br />
bis auf die Außenmauern ab, Personen<br />
werden nicht verletzt. Die Polizei schließt<br />
Brandstiftung aus.<br />
Montag, 22.6.<br />
• In Erding/Bayern erleidet ein 25jähriger<br />
Asylbewerber aus Indien einen Oberschenkeldurchschuß,<br />
als er bei seiner<br />
Festnahme zu fliehen versucht. Nach Polizeiangaben<br />
löste sich der Schuß versehentlich.<br />
Donnerstag, 9.7.<br />
• In Fürstenwalde wird ein russischer Aylbewerber<br />
zusammengeschlagen und<br />
beraubt. Der Verletzte erleidet ein Schädelhirntrauma.<br />
Auswahl rechtsextremistischer Anschläge 1992<br />
• In Herborn/Lahn-Dill-Kreis werden<br />
zwei 18 und 20jährige Männer aus Pakistan<br />
von drei Unbekannten <strong>mit</strong> Eisenstangen<br />
niedergeschlagen und <strong>mit</strong> Messerstichen<br />
verletzt.<br />
Donnerstag, 16.7.<br />
• Im Leipziger Stadtteil Süd-Ost überfallen<br />
fünf maskierte Männer die Wohnung<br />
eines vietnamesischen Ehepaars. Die <strong>mit</strong><br />
Schrotflinten und Baseballschlägern<br />
bewaff<strong>net</strong>en Männer dringen in das<br />
Schlafz<strong>im</strong>mer ein und mißhandeln den <strong>im</strong><br />
Bett liegenden Mann schwer.<br />
Sonntag, 26.7.<br />
• In Jena werden drei Ausländer auf <strong>dem</strong><br />
Markt von Rechtsradikalen angegriffen<br />
und verletzt, einer von ihnen <strong>mit</strong> einer<br />
Stichwunde.<br />
Donnerstag, 30.7.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Grieshe<strong>im</strong>/ Kreis Darmstadt-<br />
Dieburg.<br />
Sonntag, 2.8.<br />
• Das Asylbewerberhe<strong>im</strong> in Jessern/Kreis<br />
Lübben wird erneut von 20 bis 30 teilweise<br />
vermummten Personen angegriffen.<br />
Samstag/Sonntag, 8.8./9.8.<br />
• In Dergentin/Kreis Perleberg in Brandenburg<br />
dringen etwa 50 maskierte und<br />
<strong>mit</strong> Knüppeln und Schlagringen bewaff<strong>net</strong>e<br />
Personen in ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
ein und <strong>dem</strong>olieren das Gebäude. Zehn<br />
Asylbewerber werden verletzt, einer<br />
schwer.<br />
Samstag/Sonntag, 15.8/16.8.<br />
• In Grieshe<strong>im</strong>/Kreis Darmstadt-Dieburg<br />
überfallen mehrere junge Männer<br />
einen Wohnhe<strong>im</strong>komplex für Asylbewerber<br />
und bewerfen diesen <strong>mit</strong> Steinen<br />
und leeren Flaschen.<br />
Samstag, 22.8.<br />
• In Rostock greifen 150 bis 200 Jugendliche<br />
die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber<br />
<strong>im</strong> Stadtteil Lichtenhagen <strong>mit</strong><br />
Steinen, Molotowcocktails und Feuerwerkskörpern<br />
an. Die Polizei kann ein<br />
Eindringen verhindern. Es <strong>kommt</strong> zu einer<br />
dreizehnstündigen Straßenschlacht, bei<br />
der die Jugendlichen <strong>im</strong>mer wieder von<br />
etwa 1.000 Anwohnern, die ausländerfeindliche<br />
Parolen rufen, angefeuert werden.<br />
Die Polizei vermutet eine überregionale<br />
Planung und Steuerung des Angriffs.<br />
Sonntag, 23.8.<br />
• In Lichtenhagen/Rostock greifen etwa<br />
200 Jugendliche erneut <strong>mit</strong> Steinen und<br />
Molotowcocktails die Zentrale Aufnahmestelle<br />
an.<br />
Montag, 24.8.<br />
• In Lichtenhagen wird ein Teil der<br />
Flüchtlinge evakuiert. Am späten Abend<br />
stürmen faschistische Banden das He<strong>im</strong>,<br />
nach<strong>dem</strong> sich die Polizei zurückgezogen<br />
hat, und setzen das Erdgeschoß in Brand.<br />
Die Feuerwehr wird am Löschen gehindert.<br />
In den oberen Geschossen befinden<br />
sich mehr als 100 Personen, überwiegend<br />
Vietnamesen, die sich über das Dach in<br />
Sicherheit bringen können.<br />
• Der in Hamburg ansässige „Chaos Computer<br />
Club“ hat bei den Rechtsradikalen<br />
ein mo<strong>dem</strong>es Informationssystem <strong>mit</strong><br />
Datenbanken und elektronischen Mailboxen<br />
ausgemacht, <strong>mit</strong> dessen Hilfe sie zu<br />
schnellen und überraschenden Aktionen<br />
fähig seien.<br />
Dienstag, 25.8.<br />
• In Lichtenhagen <strong>kommt</strong> es nach Polizeiangaben<br />
zu den bisher schwersten gewalttätigen<br />
Auseinandersetzungen.<br />
Mittwoch, 26.8.<br />
• Aus Angst vor Überfällen fliehen etwa<br />
40 Ausländer aus einer Gemeinschaftsunterkunft<br />
bei Rostock, mehrere Kilometer<br />
von Lichtenhagen entfernt.und verstecken<br />
sich <strong>im</strong> Wald.<br />
Donnerstag, 27.8.<br />
• Weitere gewalttätige Auseinandersetzungen<br />
in Lichtenhagen/Rostock. Nach<br />
Erkenntnissen des BKA waren die Krawalle<br />
in Rostock organisiert und gesteuert.<br />
Samstag, 29.8.<br />
• In Sömmerda und in Eisenach (beides<br />
Thüringen) verhin<strong>dem</strong> Polizeikräfte den<br />
Angriff von <strong>mit</strong> Molotowcocktails<br />
bewaff<strong>net</strong>en Neonazis auf Asylbewerberhe<strong>im</strong>e.<br />
Sonntag, 30.8.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Hanau.<br />
• In Cottbus sammeln sich 180 Randalierer<br />
vor <strong>dem</strong> Asylbewerberhe<strong>im</strong>. Durch<br />
starken Polizeieinsatz kann ein Angriff<br />
verhindert werden.<br />
• In Groß-Bieberau/Kreis Darmstadt-<br />
Dieburg werden etwa fünfzehn Schüsse<br />
auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong> abgegeben.<br />
Dienstag, 1.9.<br />
• Japanische Geschäftsleute befürchten, in<br />
Ostdeutschland <strong>mit</strong> Asylbewerbern verwechselt<br />
zu werden. Mitarbeiter von Berliner<br />
Vertretungen werden belehrt, wie sie<br />
sich kleiden und wo sie sich aufhalten sollen.<br />
Mittwoch, 2.9.<br />
• In Neuholland/Kreis Oranienburg durchsucht<br />
die Polizei in einem Großeinsatz ein<br />
Asylbewerberhe<strong>im</strong> und stellt mehrere<br />
Waffen und waffenähnliche Gegenstände<br />
sicher. Auslöser für diesen Einsatz war<br />
eine anonyme Drohung, daß das He<strong>im</strong><br />
angezündet werde.<br />
Donnerstag, 3.9.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Ketzin/ Brandenburg. Das Gebäude<br />
brennt völlig aus; zwei Tatverdächtige<br />
werden festgenommen.<br />
Freitag, 4.9.<br />
• Etwa 40 bis 60 Jugendliche versuchen,<br />
das Zentrale Aufnahmelager für Asylbewerber<br />
in Eisenhüttenstadt zu stürmen. Es<br />
<strong>kommt</strong> zu einer mehrstündigen Straßenschlacht<br />
<strong>mit</strong> der Polizei.<br />
Samstag, 5.9.<br />
• In Gelnhausen/Hessen verhindert die<br />
Polizei einen Brandanschlag auf eine<br />
Asylbewerberunterkunft.<br />
Sonntag, 6.9.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Engelsberg/Kreis Traunstein.<br />
Drei He<strong>im</strong>bewohner werden verletzt.<br />
• In Pritzier/Kreis Hagenow schießen etwa<br />
30 <strong>mit</strong> Knüppeln bewaff<strong>net</strong>e Jugendliche<br />
vor einem Flüchtlingshe<strong>im</strong> Feuerwerkskörper<br />
ab und werfen Molotowcocktails.<br />
Die Bewohner waren bereits evakuiert.<br />
Donnerstag, 10.9.<br />
• In Quedlinburg/Sachsen-Anhalt greifen<br />
100 Jugendliche <strong>mit</strong> Steinen und<br />
Brandsätzen ein Asylbewerberhe<strong>im</strong> an.<br />
200 AnwohnerInnen sehen zu und klatschen<br />
Beifall. Es ist die dritte ausländerfeindliche<br />
Nacht in Folge. Am Morgen<br />
werden Schüsse auf die Unterkunft abgegeben.<br />
Freitag, 11.9.<br />
• Das Asylbewerberhe<strong>im</strong> in Quedlinburg/Sachsen-Anhalt<br />
wird erneut von<br />
Rechtsradikalen angegriffen.<br />
Samstag, 12.9.<br />
• In Dippoldiswalde bei Dresden attackieren<br />
20 bis 40 Personen die Asylbewerberunterkunft<br />
un d stürmen das Gebäude. Die<br />
Flüchtlinge hatten sich rechtzeitig in den<br />
nahen Wald gerettet.<br />
• In Hemsbach bei Heidelberg werden<br />
zwei Kinder bei einem Brandanschlag auf<br />
eine Asylbewerberunterkunft verletzt.<br />
Montag, 14.9.<br />
• Eine Rohrbombe in einem Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Saarlouis wird nach anonymer<br />
Warnung kurz vor der Explosion entschärft.<br />
Die Bombe <strong>mit</strong> knapp einem Kilo<br />
gewerblichem Sprengstoff gefüllt hätte<br />
die gesamte Unterkunft sprengen können.<br />
• Die in Quedlinburg untergebrachten<br />
Asylbewerber werden nach mehreren<br />
Nächten ausländerfeindlicher Krawalle an<br />
einen unbekannten Ort umquartiert.<br />
Dienstag, 15.9.<br />
• In Mückeln/Sachsen-Anhalt dringen<br />
zwei Männer in die Wohnung einer jugoslawischen<br />
Familie ein und mißhandeln<br />
drei Kinder unter „Ausländer raus“ -Rufen<br />
<strong>mit</strong> Fußtritten.<br />
Mittwoch, 16.9.<br />
• Bombenanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Bad Waldsee bei Ravensburg.<br />
• In Wismar wird das Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
erneut angegriffen.<br />
Donnerstag, 17.9.<br />
• Generalbundesanwalt Alexander von<br />
Stahl sieht trotz der Gewaltwelle Rechtsradikaler<br />
derzeit keine Gefahr für den<br />
Staat durch rechtsterroristische Vereinigungen.<br />
Freitag, 18.9.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Nußloch/Rhein-Neckar-Kreis.<br />
Samstag, 19.9.<br />
• Mehrere hundert Rechtsradikale greifen<br />
das Asylbewerberhe<strong>im</strong> in Wismar an, der<br />
sechste und brutalste Angriff in Folge.<br />
• In Altlandsberg/Brandenburg wird ein<br />
Brandanschlag auf ein von einem Türken<br />
geführtes Lebens<strong>mit</strong>telgeschäft verübt.<br />
Der Verkäufer erleidet Verbrennungen<br />
dritten Grades.<br />
Sonntag, 20.9.<br />
• In Urberach/Rödermark werden die Fensterscheiben<br />
eines Hotels, in <strong>dem</strong> Asylbewerber<br />
untergebracht sind, eingeworfen.<br />
Dienstag, 22.9.<br />
• Das Asylbewerberhe<strong>im</strong> in<br />
Wismar/Mecklenburg-Vorpommern wird<br />
geräumt, die rund 200 Asylbewerber verlegt.<br />
Samstag, 26.9.<br />
• In Erzhausen bei Darmstadt werden<br />
sechs Brandsätze auf das Gelände der<br />
Asylbewerberunterkunft geworfen. Die<br />
gleichen Tätern zünden einen polnischen<br />
Reisebus an.<br />
Sonntag, 27.9.<br />
• In Obernkirchen , Niedersachsen wird<br />
eine l9jährige Rumänin am Kopf verletzt,<br />
als Steine durch die Fenster einer Asylbewerberunterkunft<br />
geworfen werden.<br />
Dienstag, 29.9.<br />
• In Wiesbaden wird ein 25jähriger Asylbewerber<br />
aus Bangladesh von vier Männern<br />
zwischen 23 und 25 Jahren aus einer<br />
Telefonzelle gezerrt und getreten.<br />
Mittwoch, 30.9.<br />
• Brandanschlag auf die Gedenkstätte des<br />
ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen.<br />
Die „Jüdische Baracke“ brennt<br />
nieder.<br />
Donnerstag, 1.10.<br />
• In Leipzig sammeln sich etwa fünfzehn<br />
bis 20 Jugendliche vor einem Behindertenwohnhe<strong>im</strong><br />
für Kinder. Sie drohen: „Zu<br />
Hitlers Zeiten gab es sowas nicht“.<br />
Dienstag, 6.10.<br />
• Zwischen Waldhe<strong>im</strong> und<br />
Massanei/Sachsen wird das Denkmal für<br />
die Opfer des Todesmarsches vom KZ<br />
Coditz nach Freiberg <strong>mit</strong> Hakenkreuzen<br />
beschmiert.<br />
Mittwoch, 7.10.<br />
• In Köthen bei Magdeburg wird ein Deutscher<br />
von Skinheads zusammengeschlagen<br />
und <strong>mit</strong> Messerstichen verletzt, weil<br />
sie ihn für einen Ausländer halten.<br />
• In Frankfurt/Main wird ein Marokkaner<br />
bei der Überprüfung seiner Personalien<br />
durch die Schutzpolizei mißhandelt.<br />
Sonntag, 11.10.<br />
• Ein 28jähriger Iraner wird <strong>im</strong> Kölner<br />
Vorort Porz brutal zusammengeschlagen.<br />
Die sofort von seiner Freundin alarmierte<br />
Polizei macht keine Anstalten, die Täter<br />
zu verfolgen.<br />
Montag, 12.10.<br />
• An der Autobahn-Anschlußstelle<br />
Ortrand der A 13 werden zwei schlafende<br />
Polen in ihrem Kleintransporter überfallen<br />
und brutal mißhandelt.<br />
Donnerstag, 15.10.<br />
• In Saarbrücken greift eine Gruppe<br />
Rechtsradikaler einen 50jährigen Italiener<br />
an und verletzen ihn erheblich.<br />
• Ein schleswig-holsteinischer Polizist<br />
wird wegen Mißhandlung eines estnischen<br />
Asylbewerbs vom Dienst suspendiert. Er<br />
soll in der Nacht zum 3.Oktober den Mann<br />
geschlagen und <strong>mit</strong> der Waffe bedroht<br />
haben.<br />
Samstag, 17.10.<br />
• In Thale/Sachsen-Anhalt überfallen etwa<br />
zehn Rechtsradikale ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
und dringen ein. Die Polizei kann die<br />
Vergewaltigung einer Vietnamesin gerade<br />
noch verhin<strong>dem</strong>, drei Frauen wurden<br />
sexuell genötigt.<br />
Mittwoch, 21.10.<br />
• Brandanschlag auf die Gedenkstätte <strong>im</strong><br />
ehemaligen Frauenkonzentrationslager<br />
Ravensbrück.<br />
• In Gelnhausen/Hessen wird eine 43jährige<br />
Ausländerin in ihrer Wohnung überfallen<br />
und <strong>mit</strong> Tränengas besprüht.<br />
Donnerstag, 22.10.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Adenstedt/Niedersachsen. Zwei<br />
libanesische Kinder <strong>im</strong> Alter von zwei<br />
Wochen/acht Monaten müssen <strong>mit</strong> Rauchvergiftungen<br />
ins Krankenhaus.<br />
• Brandanschlag auf ein türkisches<br />
Restaurant in Hameln/Niedersachsen.<br />
Zehn Kinder von Asylbewerbern, die in<br />
den Stockwerken über der Gaststätte<br />
untergebracht waren, werden verletzt.<br />
Samstag/Sonntag, 24/25.10.<br />
• In Greifswald/Vorpommern greifen<br />
Rechtsradikale in der fünften Nacht in<br />
Folge das Wohnhe<strong>im</strong> für ausländische<br />
Studenten an.<br />
• Ebenfalls in Greifswald überfallen vermummte<br />
und zum Teil bewaff<strong>net</strong>e Täter<br />
einen vorwiegend von ausländischen Studenten<br />
besuchten Klub. Ein sechzehnjähriges<br />
Mädchen wird schwer verletzt.<br />
Mittwoch, 28.10.<br />
• In Frankfurt/Main sticht ein 52jähriger<br />
seinen 29 Jahre alten Nachbarn aus der<br />
Türkei nieder.<br />
Donnerstag, 29.10.<br />
• Brand in einer Asylbewerberunterkunft<br />
in Neckarstein/Kreis Bergstraße. Die Polizei<br />
schließt Brandstiftung nicht aus.<br />
Samstag, 31.10.<br />
• In Erlensee/Hessen schießt ein Unbekannter<br />
auf ein Hotel, in <strong>dem</strong> Asylbewerber<br />
leben.<br />
Sonntag, 1.11.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Dolgenbrodt/Brandenburg. Das<br />
fertig eingerichtete He<strong>im</strong> brennt bis auf<br />
die Grundmauem ab.<br />
Donnerstag, 5.11.<br />
• In Wolgast/Vorpommern mißhandeln<br />
zwei Jugendliche einen 22 Jahre alten<br />
Südafrikaner schwer.<br />
Dienstag, 10.11.<br />
• Drei Marineoffiziere und ein Offiziersanwärter<br />
werfen eine Übungsgranate vor<br />
eine Flüchtlingsunterkunft in Kiel/Holtenau.<br />
Die Granate explodiert <strong>mit</strong> doppeltem<br />
Kanonenschlag und Lichtblitz. Sie wurden<br />
vom Dienst suspendiert.<br />
Donnerstag, 12.11.<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 8<br />
• Nach Angaben der Kripo Heppenhe<strong>im</strong><br />
und der Staatsanwaltschaft Darmstadt<br />
wurde der Brand in einem Asylbewerberwohnhe<strong>im</strong><br />
in Lamperthe<strong>im</strong> am 31.<br />
Januar 92, bei <strong>dem</strong> eine Familie aus Sri<br />
Lanka ums Leben gekommen war,<br />
durch fahrlässige Brandstiftung verursacht.<br />
Die Täter seien geständig, die Tat<br />
habe keinen politischen Hintergrund.<br />
Samstag, 14.11.<br />
• In Berlin-Hellersdorf versuchen drei<br />
Rechtsradikale <strong>mit</strong> vorgehaltener Pistole,<br />
einen 38jährigen zur Erwiderung des Hitlergrußes<br />
zu zwingen. Der Mann wird<br />
schwer mißhandelt.<br />
Freitag, 20.11.<br />
• Brandanschlag auf ein Asylbewerberhe<strong>im</strong><br />
in Kassel, drei Bewohner erleiden<br />
Rauchvergiftungen.<br />
Dienstag, 24.11.<br />
• Im lippischen Bad Salzuflen wird ein 49<br />
Jahre alter Türke von etwa zehn maskierten<br />
Männern zusammengeschlagen.<br />
Mittwoch, 25.11.<br />
• Die Außenfassade eines noch nicht<br />
bezogenen Neubaus für Asylbewerber<br />
in Erzhausen wird <strong>mit</strong> Benzin übergossen<br />
und angezündet.<br />
Sonntag, 29.11.<br />
• In Marktredwitz/Oberfranken wird ein<br />
junger Türke von einem 38jährigen Deutschen<br />
<strong>mit</strong> einem Messer verletzt.<br />
• In Northe<strong>im</strong>/Niedersachsen verletzen<br />
drei Skinheads zwei Männer schwer.<br />
Montag, 30.11.<br />
• In Butzbach/Hessen randalieren mehrere<br />
angetrunkene Jugendliche vor einer Asylbewerberunterkunft.<br />
Donnerstag, 3.12.<br />
• In Leipzig werden zwei rumänische<br />
Asylbewerber von zehn bis fünfzehn<br />
Skinheads zusammengeschlagen.<br />
• Ein halbes Jahr nach seiner öffentlichen<br />
Drohung, „ein <strong>Blut</strong>bad unter Ausländern“<br />
anzurichten, wurde der Dresdner Stadtkämmerer<br />
Günther Rühlemann aus seinem<br />
Amt entlassen.<br />
Samstag, 5.12.<br />
• Brandanschläge in Urberach auf zwei<br />
überwiegend von Ausländern bewohnte<br />
Mehrfamilienhäuser.<br />
Samstag/Sonntag, 5./6.12.<br />
• Brand in einem zum Teil von Asylbewerbern<br />
bewohnten Hochhaus in Sindelfingen/Baden-Württemberg.<br />
Vier Personen<br />
werden verletzt.<br />
Dienstag, 8.12.<br />
• Drei unbekannte junge Männer überfallen<br />
in Bamberg eine indische Studentin<br />
auf offener Straße, mißhandeln und berauben<br />
sie.<br />
• In Treuchtlingen überfallen rechtsradikale<br />
Jugendliche einen 37jährigen Syrer<br />
in seiner Wohnung. Sie schlagen ihn<br />
bewußtlos und fesseln ihn an die Heizung.<br />
Samstag, 12.12.<br />
• In Wiesbaden überfallen fünf oder sechs<br />
Unbekannte einen 35jährigen Türken, rauben<br />
ihm seine Brieftasche, mißhandeln<br />
ihn und übergießen ihn <strong>mit</strong> Benzin, das sie<br />
nicht anzünden.<br />
Montag, 14.12.<br />
• Wie die Polizei in Postdam <strong>mit</strong>teilt, wurde<br />
ein Mann festgenommen, der in Schulzendorf<br />
bei Königs-Wusterhausen eine<br />
Kurdin besch<strong>im</strong>pft und vorsätzlich <strong>mit</strong><br />
seinem Auto angefahren hatte.<br />
Donnerstag, 17.12.<br />
• Eine junge Griechin wird in Düsseldorf<br />
<strong>im</strong> Stadtpark von drei Rechtsradikalen<br />
angegriffen, die ihr <strong>mit</strong> einem Messer ein<br />
Hakenkreuz in die Stirn ritzen.<br />
Freitag, 25.12.<br />
• Brand in einem Asylbewerberhe<strong>im</strong> in<br />
Essen. Das Feuer kann gelöscht werden.<br />
Sonntag, 27.12.<br />
• In Frankfurt/Main wird ein 28jähriger<br />
Straßenbahnfahrer von zwei Skinheads<br />
schwer mißhandelt, weil er zwei Türken<br />
freundlich Auskunft gegeben hatte. Er<br />
wird <strong>mit</strong> einer schweren Rückgratverletzung<br />
und Lähmungserscheinungen in die<br />
Uni-Klinik gebracht.<br />
Dienstag, 29.12.<br />
• Im Stadtteil Niedereschbach in Frankfurt/Main<br />
überfällt ein 23jähriger<br />
Skinhead ein Ehepaar in der Wohnung.<br />
Beide werden verletzt. Nachbarn hörten<br />
die Hilferufe der beiden und können den<br />
Skinhead überwältigen und der Polizei<br />
übergeben.<br />
Donnerstag/Freitag, 31.12.92/1.1.93<br />
• In Kaiserslautern werden bei einer Massenschlägerei<br />
zwischen 50 Rockern und<br />
Skinheads zehn Menschen verletzt, davon<br />
einige schwer.<br />
Mehr als 7.000 zum Teil übereinst<strong>im</strong>mender<br />
Straftaten der Rechten hat der<br />
Verfassungsschutz er<strong>mit</strong>telt, jedoch nicht<br />
<strong>im</strong> einzelnen publiziert. Diese und weitere<br />
etwa <strong>dem</strong> Fünffachen entsprechenden<br />
Anschläge entstammen der freien Presse.<br />
Die vollständigen Listen können bei der<br />
ZD eingesehen werden.
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 9<br />
Das Ende der UNO<br />
und ihrer Ziele<br />
Sie sollte eher gegen deutsche Rüstungskonzerne losschlagen<br />
als gegen irakischen Flüchtlinge<br />
Bei der laufenden Sitzungsperiode der<br />
UNO-Vollversammlung steht unter<br />
anderem eine tiefgreifende Strukturreform<br />
auf der Tagesordnung. Unter den Schwindeletiketten<br />
„Demokratisierung“ und „Entprivilegierung“<br />
beschreibt eine krude Koalition<br />
unter Führung der ehemaligen Achsenmächte<br />
nichts weniger als die inhaltliche<br />
Zerstörung der Weltorganisation. Wie<br />
schon einmal 1926 erhebt Deutschland die<br />
Forderung nach einer Sonderbehandlung<br />
und zeigt da<strong>mit</strong> überdeutlich, daß der ethische<br />
Anspruch einer Organisation, die <strong>dem</strong><br />
Frieden unter den Völkern dienen sollte, zu<br />
einem politischen Geschäft wird, zu einem<br />
Poker um Mitsprache, um Weltmacht.<br />
Gegen Atomwaffensperrvertrag<br />
Klaus Kinkels schwäbisches Englisch ist<br />
<strong>im</strong>mer für eine Lachnummer gut. So wird<br />
es auch am 8. Juli dieses Jahres gewesen<br />
sein, als er be<strong>im</strong> G7-Gipfel in Tokio zusammen<br />
<strong>mit</strong> seinem japanischen Amtskollegen<br />
vor die Presse trat und <strong>mit</strong> der Erklärung<br />
aufwartete, „Tschöhrmäny änd Tschäpähn“<br />
strebten als ständige Mitglieder in den<br />
Weltsicherheitsrat der UNO und wollten<br />
künftig ihre diesbezüglichen Bemühungen<br />
koordinieren.<br />
Das Lachen wird der versammelten Weltprominenz<br />
aber schnell vergangen sein: Am<br />
gleichen Tag brachte Kinkels neuer Bundesgenosse<br />
die G7-Resolution zur Verlängerung<br />
des Atomwaffensperrvertrages zu<br />
Fall. Japan sei dagegen, so Außenminister<br />
Muto, weil es sich einer atomaren Bedrohung<br />
durch Nordkorea gegenübersehe und<br />
weil eine „nationale Debatte“ zum Thema<br />
noch nicht abgeschlossen sei. Aus seinem<br />
Beraterstab hörte man Klagen, der Nichtverbreitungsvertrag<br />
sei „selbstsüchtig“ und<br />
„unfair“, denn er schreibe die Privilegien<br />
der Nachkriegsordnung auf ewig fest und<br />
nehme die ständigen Sicherheitsrats<strong>mit</strong>glieder<br />
USA, Frankreich, England, Rußland<br />
und China von der Verpflichtung zur atomaren<br />
Abrüstung aus. 1<br />
Macht durch pünktliche Schecks<br />
Ob Mutos Vorstoß <strong>mit</strong> Kinkel, wie vorher<br />
von beiden verkündet, abgesprochen wurde<br />
Die Deutschen begründen ihre UNO-<br />
Ambitionen jedenfalls weniger plump. Für<br />
die königlich-preußische Opposition jammerte<br />
ihr Sprecher Verheugen, die bisherigen<br />
EG-Sicherheitsrats<strong>mit</strong>glieder England<br />
und Frankreich seien leider nicht bereit, ihre<br />
Mandate als „EG-Mandate“ zu verstehen,<br />
will heißen: sich von Bonn dreinreden zu<br />
lassen. 2 Die Regierung betonte, man sei<br />
schließlich der drittgrößte Beitragszahler<br />
der Vereinten Nationen. 3 Mit diesem Köder<br />
und ähnlich süßen Argumenten – money<br />
makes the word go around – wurde in den<br />
letzten zwei Jahren eine Lobby für den<br />
deutschen Sitz <strong>im</strong> Sicherheitsrat zusammengekauft:<br />
Zunächst Ungarn, das schon<br />
seit langem am deutschen Tropf hängt<br />
(Januar 1992), 4 dann Generalsekretär<br />
Boutros-Ghali, der für seine ehrgeizigen<br />
UNO-Missionen auf die pünktlichen<br />
Schecks aus Frankfurt angewiesen ist<br />
(Februar 1992), 5 dann China, das Kinkel<br />
für seine Fürsprache noch etwas schuldete<br />
(September 1992); 6 Rußland war wegen<br />
seiner bekannten Abhängigkeit von deutschen<br />
Care-Paketen ohnehin kein Problem.<br />
Der Durchbruch kam <strong>mit</strong> einem zust<strong>im</strong>menden<br />
Brief von US-Präsident Clinton <strong>im</strong><br />
Juni 93. Frankreich und England äußerten<br />
zwar noch bis kurz vor <strong>dem</strong> Tokiogipfel<br />
Bedenken, 7 knickten dort aber ein, als Kinkel<br />
und Muto ihre Forderungen zum ersten<br />
Mal gemeinsam präsentierten. Vermutlich<br />
hatten die alten Achsenmächte <strong>mit</strong> Zuckerbrot<br />
und Peitsche gearbeitet: ein bißchen<br />
<strong>mit</strong> Atomwaffen und Handelskrieg winken,<br />
ein bißchen <strong>mit</strong> GATT-Vereinbarungen und<br />
GUS-Krediten locken – dann war die Sache<br />
<strong>im</strong> Kasten.<br />
„Nicht Mitarbeit <strong>im</strong><br />
Verein aller Nationen,<br />
sondern<br />
Mitbest<strong>im</strong>mung<br />
<strong>im</strong> Rat der Großen,<br />
das ist die deutsche<br />
Völkerbundsparole.<br />
Was ein Friedensfest<br />
sein könnte,<br />
wird zur Machtprobe <strong>mit</strong><br />
Paukenschlag und<br />
Trompetengeschmetter.“<br />
Carl v. Ossietzky 31.8.1926<br />
Ziel: Fall des Veto-Rechts<br />
Die Deutschen hat man entweder auf den<br />
Knien oder an der Gurgel – die Klugheit dieses<br />
Sprichwortes 8 sollte sich in den folgenden<br />
Wochen erweisen. Bis zum G7-Gipfel<br />
hatte die Bonner Diplomatie nämlich<br />
katzbuckelnd und devot agiert, jedenfalls in<br />
der Öffentlichkeit: „Ich will es nicht“, erklärte<br />
Kohl zu Beginn der Kampagne. „Wir wollen<br />
auf keinen Fall die Initiative ergreifen“,<br />
balzte Kinkel letzten Herbst vor der UNO-<br />
VV, und selbst <strong>im</strong> Juni säuselte der Kanzler<br />
noch fromm, man wolle nicht drängeln.<br />
Kaum waren die letzten Kritiker des deutschen<br />
Vorstoßes jedoch verstummt, sattelte<br />
die Bundesregierung drauf und verlangte<br />
ult<strong>im</strong>ativ, das deutsche Sicherheitsratsmandat<br />
auch <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Veto-Recht auszustatten.<br />
Da<strong>mit</strong> könnte die BRD unliebsame<br />
Beschlüsse, z.B. Sanktionen gegen ihr Ziehkind<br />
Kroatien, auch aus einer krassen Minderheitenposition<br />
heraus zu Fall bringen.<br />
Eigentlich gehen die Bonner Pläne aber<br />
noch weiter: 9 Das Veto-Recht soll generell<br />
abgeschafft werden, die „Privilegierung“<br />
der fünf „alten“ Weltmächte <strong>im</strong> Sicherheitsrat<br />
wäre da<strong>mit</strong> zu Ende, und seine künftig<br />
21 Mitglieder könnten <strong>mit</strong> einfacher Mehrheit<br />
über Blockaden und Embargos, Peace-<br />
Keeping und Peace-Making entscheiden.<br />
Man muß kein Freund der <strong>dem</strong>okratisch<strong>im</strong>perialistischen<br />
Staaten sein, um angesichts<br />
der Vorstellung zu erbleichen, daß<br />
sich der UNO-Sicherheitsrat dann in eine<br />
Spielwiese von Gorilla- und Mufti-Diktaturen<br />
verwandeln würde: UNO-Militärschlag<br />
unter Führung der Türkei gegen Jugoslawien<br />
Operation Wüstensturm unter Führung<br />
des Iran gegen Israel Nichts wäre unmöglich.<br />
Deutschland selbst hätte von diesen<br />
Gangstermehrheiten nichts zu befürchten:<br />
Im Vergleich zu den klassischen Kolonial-<br />
staaten hat sich die BRD <strong>im</strong> Trikont nur<br />
wenig unbeliebt gemacht, ihr völkisch-antiwestlicher<br />
Nationalismus ist <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> in der<br />
arabischen Welt und in Osteuropa weitgehend<br />
identisch, und angesichts der Liquidität<br />
von Bundesbank und Großkonzernen<br />
müßten aufmüpfige Despoten nicht<br />
bekriegt werden, sondern man könnte sie<br />
einkaufen.<br />
Gegen deutschen Militarismus<br />
Auch ohne dieses worst-case-Szenario<br />
bedeutet der Einzug Deutschlands und<br />
Japans in den Sicherheitsrat das Ende der<br />
UNO. Unter gleichem Label wird künftig<br />
eine Organisation arbeiten, die von den Zielen<br />
und Idealen ihrer Gründerväter weiter<br />
weg ist als die SPD von denen Karl Marx’.<br />
Roosevelt, Churchill und Stalin hatten am<br />
1. Januar 1942 <strong>mit</strong> 23 weiteren Staatschefs<br />
die „Erklärung der Vereinten Nationen“ verabschiedet,<br />
die das Ziel der „endgültigen<br />
Zerstörung der Nazityrannei“ über den<br />
2. Weltkrieg hinaus proklamierte. Die Jalta-<br />
Deklaration der „Großen Drei“ präzisierte<br />
dann, was <strong>mit</strong> „endgültig“ gemeint war: „Es<br />
ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen<br />
Militarismus und Nationalismus zu<br />
zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß<br />
Deutschland nie wieder <strong>im</strong>stande ist, den<br />
Weltfrieden zu stören. Wir sind entschlossen,<br />
alle deutschen Streitkräfte zu entwaffnen<br />
und aufzulösen; den deutschen Generalstab,<br />
der wiederholt die Aufrichtung des<br />
deutschen Militarismus zuwege gebracht<br />
hat, für alle Zeiten zerschlagen.“ Nie wieder…<br />
für alle Zeiten… In der UNO-Charta<br />
materialisierte sich dieser Antifaschismus<br />
in der sogenannten „Feindstaaten-Klausel“,<br />
wonach kriegerische Maßnahmen gegen<br />
die früheren Achsenmächte auch ohne<br />
UNO-Beschluß jederzeit möglich sind.<br />
Wende zum Schlechten<br />
Man kann sich darüber streiten, ab wann<br />
das nur noch leere Versprechungen waren.<br />
Mit <strong>dem</strong> Tod von Roosevelt und der Entmachtung<br />
der Morgenthau-Boys Mit der<br />
neu erstarkten Wirtschaftsmacht BRD und<br />
ihrer Mitgliedschaft in der NATO Mit der<br />
Wahl von Kurt Waldhe<strong>im</strong> zum Generalsekretär,<br />
ohne daß dessen Nazivergangenheit<br />
überprüft worden war Andererseits<br />
wurden die beiden deutschen Staaten erst<br />
1973 in die UNO aufgenommen und hatten<br />
dort während des Kalten Krieges kaum<br />
etwas zu melden.<br />
Wahrscheinlich brachte erst der Golfkrieg<br />
die Entscheidung zum schlechten. Amos Oz<br />
berichtet von kritischen St<strong>im</strong>men aus der<br />
israelischen Friedensbewegung, die UNO-<br />
Militärmaschine hätte eher gegen die deutschen<br />
Rüstungskonzerne losschlagen sollen<br />
als gegen ihre irakischen Filialen. Eine<br />
berechtigte Kritik, schließlich waren es die<br />
in die BRD hinübergeretteten Nazi-Trusts,<br />
die Saddams Vernichtungsphantasien<br />
gegen Israel überhaupt erst zu einer reellen<br />
Gefahr gemacht hatten. Wann wäre die<br />
Anwendung der Feindstaaten-Klausel verständlicher<br />
gewesen als gerade in jenen<br />
Wochen, als deutsche Experten daran<br />
arbeiteten, Jerusalem und Tel Aviv durch<br />
die Germanisierung von Scud-Raketen in<br />
die Reichweite von deutschem Giftgas zu<br />
bringen Stattdessen begann <strong>mit</strong> scheinheiliger<br />
Unterstützung durch die BRD ein<br />
Ersatzkrieg – und deswegen war jener<br />
16. Januar 1991 der point of no return für<br />
die UNO, der Anfang vom Ende.<br />
Jürgen Elsässer<br />
Von Jürgen Elsässer ist 1992 das Buch „Antise<strong>mit</strong>ismus<br />
– das alte Gesicht des neuen Deutschland“<br />
erschienen (Dietz Verlag Berlin). – Der Artikel ist eine<br />
aktualisierte Fassung des Autoren von einem Artikel<br />
für „Konkret“<br />
1) Uwe Sch<strong>mit</strong>t, Spekulationen in Japan über eine<br />
„nukleare Option des Landes, in: FAZ, 14.7.1993,<br />
2) lt. Welt, 24.9.1992, 3) lt. FAZ, 5.8.1992,<br />
4) lt. SPIEGEL 7/92, 5) lt. SPIEGEL 7/92,<br />
6) lt. Welt, 24.9.1993, 7) lt. SZ, 12./13.6.1993,<br />
8) von Churchill, 9)lt. SPIEGEL 28/1993<br />
„Seppl bleibt“ – Seppl<br />
it <strong>dem</strong> 5. Programm setzt Kabba-<br />
konsequent den Weg fort, den<br />
„Mratz<br />
es in den vergangenen Programmen auch<br />
nicht gefunden hat.“ Diese wuchtige Aussage<br />
aus <strong>dem</strong> Info-Blatt der Darmstädter<br />
Kabarettgruppe „Kabbaratz“ zu ihrem neuen<br />
Programm „Seppl bleibt“ trifft – ohne<br />
die vorhergehenden Programmen mindern<br />
zu wollen – zumindest bezüglich der aktuellen<br />
Produktion den Nagel auf den Kopf. Es<br />
war schon eine wilde Mischung, die <strong>dem</strong><br />
Publikum <strong>im</strong> gut halbvollen Saal der Bessunger<br />
Knabenschule geboten wurde. Manfred<br />
Fleck und Fritz Zurek versuchten sich<br />
zu Beginn als große hessische Lausbuben,<br />
die in dumpfer deutscher Normalität und<br />
<strong>mit</strong> der Bierflasche fest in der Hand mal<br />
eben einen polnischen Bus abfackeln. Mehr<br />
als schade, schon fast gefährlich, daß hier<br />
entschieden zu dick aufgetragen wurde.<br />
Wie man diese Art Typen vorführt, hat Gerhard<br />
Polt in seiner Schäferhunde-Nummer<br />
beklemmend klargemacht. Bei Polt eine<br />
Gänsehaut, bei Kabbaratz eine halbe Lachnummer<br />
über einen <strong>mit</strong>tlerweile massenhaft<br />
verbreiteten, äußerst gefährlichen<br />
Typus des „braven“ Mitbürgers. Dafür dann<br />
ziemlich schnell eine enge Kurve in Richtung<br />
exper<strong>im</strong>entelles Theater, maßgeblich<br />
von Evelyn Wendler getragen. Meine<br />
Begleitern, eigentlich sehr helle, blickte<br />
mich danach verunsichert an. Erst als ich<br />
bestätigte, ich hätte auch nichts verstanden,<br />
war ihre Welt wieder in Ordnung. Und<br />
das war eigentlich schade, war es doch –<br />
<strong>mit</strong> einer Ausnahme – der einzige Block, der<br />
nicht an Aufführungen anderer Kabarettisten<br />
gemahnte. Die ellenlange Telefontour<br />
des verlassenen Liebhabers, als runnig gag<br />
gnadenlos durchgezogen, war zu Beginn<br />
für jüngere Besucher best<strong>im</strong>mt sehr lustig,<br />
vielleicht sogar in der Mitte noch. Aber den<br />
scheiternden Selbstmordversuch (natürlich<br />
vor den laufenden Kameras eines namhaften<br />
privaten TV-Senders) gegen Ende konnte<br />
man nun be<strong>im</strong> besten Willen nicht mehr<br />
verkraften; hier wurde es schlicht peinlich.<br />
Älteren Besuchern dürfte <strong>mit</strong> Sicherheit<br />
Konstantin Weckers Stück „Meine Frau<br />
wollte heute ausgehen“ eingefallen sein, in<br />
<strong>dem</strong> das Thema männliche Eitelkeit zu kurz,<br />
knapp und äußerst prägnant abgehandelt<br />
wurde.<br />
Wunderschön dagegen das Stück von Evelyn<br />
Wendler und Peter Hoffmann als Therapiegenießer<br />
neuen Typs, die voller Naivität<br />
die tiefste Seele der Vollwertgeneration<br />
nach außen kramten. „Du gute Frau Du,<br />
wenn Du mal nicht mehr bist, dann tu ich<br />
Dich in den gelben Sack.“ Gott als der große<br />
Recycler, und die sanft therapierten Jünger<br />
genießen die herrlichen Farben der sterbenden<br />
Wälder – präzise auf den Punkt<br />
gebracht.<br />
Überhaupt: Auf Kabbaratz dürfte eine<br />
mathematische Banalität zutreffen. Daß<br />
nämlich zwei mal zwei vier ergibt und nicht<br />
eins. Denn die Gruppe gibt eher das Bild<br />
zweier <strong>mit</strong>einander lose verbandelter<br />
Grüppchen ab denn das der Homogenität.<br />
Und da offensichtlich jede Untergruppe ihre<br />
Vorlieben auf der Bühne ausspielen will,<br />
sind Längen kaum zu vermeiden. Schade,<br />
scheint doch das private schauspielerische<br />
Potential jedes einzelnen Mitglieds gut bis<br />
sehr gut. Peter Hoffmann z. B. würde <strong>mit</strong><br />
Sicherheit einen hervorragenden und witzigen<br />
Moderator abgeben. Aber zusammen<br />
wird’s halt nicht besser, sondern schlechter.<br />
Mein Tip: entschieden straffen, das<br />
Ganze.<br />
Peter Edelmann<br />
Kleine Zeitschrift<br />
<strong>mit</strong> großem Anspruch<br />
„estonia“: neues Blatt für estnische Literatur und Kultur<br />
Es gibt sie noch: Verleger, die ihren<br />
Betrieb nicht wie eine Kaufhauskette<br />
führen, sondern den Verlag als Anstalt für<br />
Bildung und mei<strong>net</strong>halben sittliche Erbauung<br />
verstehen. dipa in Frankfurt am Main<br />
gehört dazu: dort haben kleine Literaturen<br />
der Welt ihren Platz. Man kann da<strong>mit</strong> Dank<br />
und Anerkennung, vor allem in den Herkunftsländern,<br />
ernten; die Umsätze werden<br />
sich wohl in Grenzen halten.<br />
Ein neues Projekt des Verlags heißt „estonia<br />
– Zeitschrift für estnische Literatur und<br />
Kultur“; die zweite Nummer ist gerade<br />
erschienen. Die Redaktion besteht aus einer<br />
Ostberliner und einer holländischen Übersetzerin<br />
sowie einem Göttinger Finnougristen<br />
(Fachmann oder -frau für finnougrische<br />
Sprachen, deren Sprecher heute auf<br />
der finnischen Halbinsel, <strong>dem</strong> nordwestlichen<br />
Sibirien und der ungarischen Steppe<br />
behe<strong>im</strong>atet sind, red.). So erscheint die 60<br />
Seiten starke Halbjahresschrift überwiegend<br />
in deutscher Sprache. Als Estland<br />
noch Sowjetestland hieß, gab es bereits ein<br />
Blättchen gleichen Namens, von Hamburg<br />
und Helsinki aus redigiert. Damals enthielt<br />
es Texte in estnisch, finnisch, deutsch und<br />
englisch zu etwa gleichen Teilen.<br />
Für die der Landessprache kundigen Estland-Fans<br />
– und deren gibt es <strong>im</strong>mer noch<br />
und schon wieder einige in Deutschland;<br />
die alten baltischen Wurzeln kräftigen sich<br />
nach und nach – besteht jetzt natürlich die<br />
Möglichkeit, estnische Periodika zu beziehen;<br />
sich aus erster Hand über neue Kunst<br />
und Literatur zu unterrichten. „estonia“<br />
aber könnte Bindeglied zu Mitteleuropa und<br />
dessen Verkehrssprache Deutsch werden:<br />
neue literarische Texte, kundig übersetzt,<br />
übergreifende Essays zur baltischen<br />
Geschichte, Buchkritiken, Informationen<br />
und Nachbetrachtungen über estnische<br />
Kulturveranstaltungen in Deutschland.<br />
Heft 1/93 bietet von all <strong>dem</strong> etwas. Der<br />
Schauspieler Juhan Viiding bringt eine persönliche<br />
Betrachtung über das – ehemals<br />
deutsche – Tallinner Schauspielhaus, der<br />
PEN-Sekretär Mati Sirkel schreibt in einem<br />
tiefgründigen Vortrag über die gegenwärtige<br />
Normalisierung des Stellenwerts, den<br />
Literatur zu Sowjetzeiten hatte – vergleichbar<br />
<strong>mit</strong> der Situation in der DDR. Die Lyrikerin<br />
Debora Vaarandi stellt sich <strong>mit</strong> Gedichten<br />
auf estnisch und deutsch vor; zu Recht<br />
ziemlich kritisch werden deutsche Bildbände<br />
über Estland betrachtet. Romanen von<br />
Mati Unt und Viivi Luik gelten freundliche<br />
Besprechungen. Schließlich werden Veranstaltungen<br />
<strong>im</strong> Literarischen Colloquium<br />
Berlin in Hamburg und Bielefeld gewürdigt<br />
bzw. angekündigt.<br />
Die Mittellage des Heftes zwischen literarhistorischer<br />
Schrift und Vereinszeitung<br />
mag den Erstleser befremden – für zwei<br />
Zeitschriften wäre jedoch vermutlich weder<br />
der Markt, noch die verlegerische Kraft vorhanden.<br />
Wir sollten froh sein, daß es diese<br />
eine „estonia“ gibt.<br />
Redakteurin Marianne Vogel zitiert in einem<br />
Beitrag über die Situation der Literaturkritik<br />
und deren Podien: „Es wird in Estland einfach<br />
nicht genug gutes Material produziert,<br />
und wer wird sich auf die Dauer die teuren<br />
Zeitschriften leisten können“ Eine Frage,<br />
die sich für „estonia“ und deren Frankfurter<br />
Verlag hoffentlich nicht stellt. Es wäre doch<br />
gelacht, wenn das jetzt vereinte Deutschland<br />
weniger Interesse an seinem kleinen<br />
nördlichen Nachbarn hätte als früher jeder<br />
Landesteil für sich genommen. Doch es<br />
gibt eine Erbkrankheit großer Mächte: man<br />
interessiert sich <strong>im</strong>mer viel weniger fürs<br />
Fremde als fürs Eigenleben.<br />
Matthias Biskupek<br />
INTERNAT. TAPETEN<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
FEUILLETON I<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 10<br />
„Das erfindet bei uns keiner,<br />
das gibt’s<br />
Ein Gang über die<br />
Frankfurter<br />
Buchmesse<br />
<strong>mit</strong> Gerhard Zwerenz<br />
Nach mehrjähriger Abwesenheit von der<br />
Buchmesse wird ein Besuch zur Reise<br />
in ein unbekanntes Land. Wo früher eine<br />
Straße langführte, stehen Paläste aus Glas<br />
und Beton, es gibt Treppen, Überführungen,<br />
labyrinthische Keller und gänzlich neue verkehrslose<br />
Straßen, deren Sinn <strong>im</strong> Dunkeln<br />
bleibt. Immerhin findet, wer aufpaßt wie ein<br />
Luchs, sein gesuchtes Ziel, wenn auch über<br />
lange Korridore <strong>mit</strong> rollenden Laufstegen,<br />
Rolltreppen, Kehren – und endlich die seit<br />
Jahrzehnten vertraute Luft der Hallen, ein<br />
Gemisch von Staub, Schweiß, Wärme und<br />
vergeblicher Kl<strong>im</strong>atisierung <strong>mit</strong> Frischluftzufuhr<br />
von draußen, wo sie längst schon verbraucht<br />
an<strong>kommt</strong>. Die gute schlechte Stadtluft.<br />
Die Buchmesse besteht aus Büchern<br />
und Menschen, die davon zu leben beabsichtigen.<br />
Soweit es ihnen gelingt, sind sie Händler<br />
und sehen von Jahr zu Jahr stattlicher aus<br />
in ihren korrekten Anzügen von Boss und<br />
Kostümen von Jil Sander. Die weniger<br />
Erfolgreichen sind an ihren weniger erfolgreichen<br />
Gesichtern kenntlich. Jede Buchmesse<br />
versammelt so viele Pleitegeier wie<br />
die Autoindustrie erst neuerdings in der Krise.<br />
In der Bücherwelt herrscht <strong>im</strong>mer Krise,<br />
wovon die einen gut leben und die anderen<br />
es versuchen, in<strong>dem</strong> sie aus der gerade<br />
erreichten unteren Ebene des fortschreitenden<br />
Niedergangs eine Kulturkrise machen.<br />
Seit Spengler den Untergang<br />
des Abendlandes konstatierte,<br />
folgt gehorsam eine Krise der<br />
anderen, und auf der Frankfurter<br />
Buchmesse 1993 wurde der<br />
Rekordtiefpunkt erreicht,<br />
das heißt, es gibt viele Pleiten,<br />
doch die Geschäfte florieren.<br />
So steht’s in der Zeitung, die trotz sinkender<br />
Auflage auch bestens floriert, und wer was<br />
anderes behauptet, kann wegen Geschäftsschädigung<br />
angeklagt und verurteilt werden.<br />
Bilanzen nämlich werden nicht mehr<br />
gefälscht, höchstens frisiert, was ihnen die<br />
schönste Lockenpracht verleihen kann, und<br />
nur der Dumme steht plötzlich <strong>mit</strong> Glatze da.<br />
Tatsächlich blühen manche Sparten. Das<br />
Sachbuch geht gut, Religiöses und Antireligiöses,<br />
Astrologie und Technik, Ratgeber,<br />
Reise- wie Kochbücher finden reißenden<br />
Absatz. Bleibt die Belletristik, voran der<br />
Roman, das ewig kranke Kind, denn der<br />
deutsche Roman bleibt in der Entwicklung<br />
deutlich zurück, da klagen die Verleger und<br />
das Feuilleton wundert sich. Kritiker, die jahrelang<br />
junge Autoren, die inzwischen das<br />
Halbjahrhundert erreichten, zu überlebensgroßen<br />
Genies aufbliesen und kraft ihres<br />
Platzes in auflagenstarken Zeitungen den<br />
Leser von Enttäuschung zu Enttäuschung<br />
trieben, weil die heißempfohlenen Meisterwerke<br />
sich als dünnblütige, langweilige Konstrukte<br />
erwiesen, Werke der Leser-<br />
Abschreckung, diese tüchtigen Kritiker also<br />
läuteten diesmal die Buchmesse nicht <strong>mit</strong><br />
<strong>dem</strong> gewohnten Feiertagsgedröhn ein, nein,<br />
sie läuteten eher das Sterbeglöcklein.<br />
Es war als würde der<br />
deutsche Roman nun endgültig<br />
totgesagt und begraben.<br />
Der Generalfeuilletonist, der das in der einen<br />
Zeitung klugsinnig <strong>mit</strong> niedlichen Zitaten von<br />
Adorno bis Walter Benjamin konstatierte,<br />
warnte zum bösen Ende die deutschen Autoren<br />
davor, nun etwa unreflektiert einfach ins<br />
volle Leben greifend loszuerzählen, dies sei<br />
die falsche Schlußfolgerung aus <strong>dem</strong> Desaster.<br />
Und so werden die folgsamen Dichter,<br />
die so gern die Kritiken, die sie erhalten, zum<br />
ästhetischen Gerüst ihres nächsten Romans<br />
machen, so wie Fassbinder einmal von<br />
einem neuen Alexander-Kluge-Werk behauptete,<br />
der habe die Kritiken seines letzten<br />
Films verfilmt, so werden unsere deutschen<br />
Autoren also weiter Bücher ohne Publikum<br />
und nur zum Vorlesen und fürs Feuilleton<br />
produzieren, was aber gelesen wird, <strong>kommt</strong><br />
aus den beiden Amerika. Als Beweis wurde<br />
am Messedonnerstag bekannt, den Nobelpreis<br />
für Literatur habe Toni Morrison erhalten,<br />
eine bei uns weithin unbekannte und bisher<br />
kaum geschätzte Autorin aus Amerika,<br />
die fortan nicht unbekannt bleiben wird,<br />
denn ihre Bücher bei Rowohlt müßten künftig<br />
vom Leser verschlungen werden, auch<br />
wenn die Kritik nicht sonderlich erfreut reagieren<br />
dürfte, handelt es sich doch weniger<br />
um avantgardistische oder zumindest ästhetisch<br />
hochstehende Prosa – nein – hier<br />
schreibt eine schwarze Amerikanerin <strong>mit</strong> der<br />
Erfahrung doppelter Unterdrückung.<br />
Ihre Literatur ist geradezu klassisch zu nennen,<br />
es wird erzählt wie <strong>im</strong>mer erzählt worden<br />
ist, von Menschen für Menschen, mag<br />
sein, unsere Literaturkritik wird das Toni<br />
Morrison verzeihen, zumal sie eine Farbige<br />
ist und in den Augen der hohen Herrschaften<br />
einen gewissen Nachholbedarf hat.<br />
Schließlich darf sich<br />
unser J.M. S<strong>im</strong>mel<br />
nach vier Jahrzehnten<br />
feuilletonistischer Verachtung<br />
neuerdings sogar<br />
<strong>im</strong> Lichte edler Rezensenten-<br />
Anerkennung sonnen,<br />
und er ist doch gar keine<br />
schwarze Frau aus den USA.<br />
Kommt Zeit, bleibt Erfolg, <strong>kommt</strong> Anerkennung.<br />
Allerdings kam am Buchmessendonnerstag<br />
auch ein klassisch-realistischer<br />
deutscher Roman heraus, der für Aufsehen<br />
sorgt. Die Story geht so: Der tüchtige Nazijurist<br />
Dr. Maunz bringt es in der Bundesrepublik<br />
schnell wieder zu Ansehen und Ehren<br />
und wird bayerischer Kultusminister, welches<br />
Amt er aufgibt, weil seine Vergangenheit<br />
<strong>im</strong> Dritten Reich ein wenig bekannt wird,<br />
was die ansonstige Karriere des hochangesehenen<br />
Staatsrechtlers nicht hemmt, dessen<br />
Grundgesetzkommentare ganzen Generationen<br />
von Jurastudenten zum Unterricht<br />
dienen.<br />
Warum auch nicht, der Mensch ist wandelbar,<br />
warum soll ein Nazijurist nicht zum<br />
hochrenommierten Staatsrechtler der Demokratie<br />
werden Nun läßt unser Romanautor<br />
seine Figur aber am 10. September 1993<br />
kurzerhand sterben, und daraufhin druckt<br />
der Dr. Frey, Vorsitzender der rechtsextremistischen<br />
Deutschen Volksunion, in seiner<br />
„National-Zeitung“ in Faks<strong>im</strong>ile auflagensteigernde<br />
handschriftliche Briefe des eben<br />
friedlich Verschiedenen an den Dr. Frey ab.<br />
Da hat der Prof. jur. Maunz über viele Jahre<br />
hinweg die rechtsextreme DVU juristisch<br />
beraten, ihren Vorsitzenden freundschaftlich<br />
begleitet und anonym Artikel für die „National-Zeitung“<br />
verfaßt. Es ist sonnenklar, daß<br />
dieser Roman weder viele Leser findet noch<br />
den Beifall der Kritik, die <strong>dem</strong> Autor a) politische<br />
Hetze und b) überschießende Phantasie<br />
attestiert, zumal der Schriftsteller zu allem<br />
Überfluß in bösartiger <strong>dem</strong>agogischer<br />
real“<br />
Absicht auch noch behauptet, der Rechtsprofessor<br />
und vormalige Bonner Verteidigungsminister<br />
Rupert Scholz habe den<br />
he<strong>im</strong>lich-unhe<strong>im</strong>lichen Rechtsextremismus<br />
seines verstorbenen Freundes Prof. Maunz<br />
<strong>im</strong> Fernsehen bagatellisiert. Soweit die<br />
Roman-Story, wobei die Story echt, der<br />
Roman aber nicht geschrieben worden ist,<br />
denn welcher deutsche Schriftsteller wagte<br />
sich schon an so ein Politikum heran, das ihn<br />
bei der Kritik Kopf und Kragen sowie Renommee<br />
kosten kann, ganz abgesehen davon,<br />
daß kein Verleger den billigen Agitprop<br />
drucken würde. Nein, das ist keine Literatur,<br />
sondern konkrete Tatsache, am Messedonnerstagabend<br />
vom Fernsehmagazin<br />
„Panorama“ herausgebracht.<br />
P<br />
eter Rühmkorf, so hoffe ich, wird eine<br />
Entschuldigung akzeptieren. Eine Entschuldigung<br />
deshalb, weil er vom Autor dieser<br />
Zeilen in der vergangenen Ausgabe unserer<br />
Zeitung als zu leicht befunden wurde, „den<br />
Büchner-Preis“ der Deutschen Aka<strong>dem</strong>ie für<br />
Sprache und Dichtung würdig und guten<br />
Gewissens entgegenzunehmen. Hat doch die<br />
Rede des Preisträgers gezeigt, daß dieser ohne<br />
Wenn und Aber, vor allem aber auch ohne<br />
Rücksicht auf den jeweils wehenden Zeitgeist<br />
für die Freiheit und die Brüderlichkeit eintritt.<br />
Die Vorgeschichte: Die Deutsche Aka<strong>dem</strong>ie<br />
für Sprache und Dichtung hatte, ohne über<br />
die jüngste und blamable Verleihung des<br />
Preises an den Kriegshetzer Biermann überhaupt<br />
nur zu reden, geschweige denn Selbstkritik<br />
zu üben, Peter Rühmkorf aufs Schild<br />
gehoben. Und Peter Rühmkorf als neuer<br />
Preisträger wurde in diesem unrühmlichen<br />
Zusammenhang hart beurteilt. Gewiß nicht<br />
In Deutschland zumindest<br />
schreibt das Leben die besten<br />
Romane. Die irrsten Dinge<br />
passieren tatsächlich,<br />
die Dichter lassen sich das<br />
nicht einmal träumen.<br />
Da stehen wir also wieder mal als die Blamierten<br />
da. Es sieht ganz so aus als trauten sich<br />
deutsche Schriftsteller nicht mehr etwas anderes<br />
als ihre individuellen Schwierigkeiten be<strong>im</strong><br />
Schreiben, Leben und Lieben bzw. Nichtlieben<br />
zu literarisieren.<br />
Wir wundern uns auch gar nicht mehr, wie es<br />
<strong>kommt</strong>, daß die rechtsextremistischen Blätter<br />
und Bücher des rechtsextremen DVU-Frey-<br />
zu hart, gewiß nicht ungerecht. Aber eben<br />
doch in diesem Zusammenhang.<br />
Die Verleihung: Peter Rühmkorf erwies sich<br />
in seiner Rede, und dies in je<strong>dem</strong> Moment,<br />
des Namensgebers dieses Preises würdig.<br />
Ohne ihn jetzt <strong>im</strong> einzelnen zitieren zu wollen,<br />
stellte er sich unprätentiös in die lange Reihe<br />
deutscher Demokraten, die nicht einmal int<strong>im</strong>e<br />
Feinde zum Scheitern brauchen, da sie ja<br />
allzu gute Freunde hatten. Seine Abhandlung<br />
für die 68er-Bewegung, die er als „Pate“ und<br />
nicht als Kind der „Revolution“ erlebte, hätte<br />
einige der damaligen Protagonisten verlegen<br />
machen können – wären sie nur dagewesen.<br />
Das war voller <strong>Blut</strong>, Leidenschaft und Feuer,<br />
als er die kurze, heftige, sehnsüchtige Liebe<br />
des Literaten zum neuen Aufbruch schilderte.<br />
Und es war wiederum voller Lebenskraft,<br />
als Rühmkorf die kläglichen Gründe des<br />
Scheiterns benannte. Als da wären: Die neuen<br />
Scheidewasser der baren Wahrheit, die<br />
Imperiums so prächtig gedeihen wie juristisch<br />
unbelangt bleiben.<br />
Das hatte ein tüchtiger Altnazijurist und Neu<strong>dem</strong>okrat<br />
sowie he<strong>im</strong>licher Neonazifreund<br />
sachkundig beigetragen. Natürlich dürfen wir<br />
auch keineswegs vermuten, dies sei nur die<br />
Spitze des braunen Eisbergs, der aus <strong>dem</strong><br />
Meer von Scheiße herausrage, nach<strong>dem</strong> DVU-<br />
Frey nach <strong>dem</strong> Tode seines juristischen Kameraden<br />
die beiderseitige Tarnung hohnlachend<br />
beiseite zog. Aber ja doch, der Fall des<br />
so alt – wie neunazistischen Staatsrechtlers<br />
Prof. Dr. Maunz ist genau so ein Einzelfall wie<br />
die Skinmörder es sind, die Kanzler Kohl<br />
mehrmals ausdrücklich Einzeltäter nannte.<br />
Diese deutsche Science-fiction-Ebene der Realität<br />
ist es offenbar, die verhindert, daß sowas<br />
Roman wird. Wer mag denn auch die häßliche<br />
Wirklichkeit in die Literatur hinein verdoppeln,<br />
wo bekanntlich das Wahre/ Schöne und Gute<br />
gezeigt werden soll. So steht nun der tote<br />
Prof. Maunz als Idealbild vor uns, <strong>mit</strong> Bonner<br />
Orden behängt, und der Dr. Frey lacht sich ins<br />
Fäustchen für die nächsten Wahlen.<br />
Der höchstangesehene Bonner Jurist nicht<br />
nur Altnazi, sondern offiziell Demokrat und<br />
he<strong>im</strong>lich Neonazifreund. Das erfindet bei uns<br />
keiner, das gibt’s real. Wie sagt der Volksmund:<br />
oben hui und unten pfui.<br />
Gerhard Zwerenz<br />
„Freidenker, Literat, Freund <strong>im</strong> Geist“<br />
Eine Entschuldigung an Büchnerpreisträger Peter Rühmkorf<br />
„Büchner-Preis an eine<br />
würdigere Institution abgeben“<br />
Heinrich Schirmbeck gegen Preisverleihung durch Aka<strong>dem</strong>ie<br />
I<br />
n der Ausgabe 23 der ZD vom 25.10.1991<br />
protestierte Heinrich Schirmbeck öffentlich<br />
gegen die Verleihung des Büchnerpreises<br />
an Wolf Biermann und forderte die Aka<strong>dem</strong>ie<br />
zur Selbstkritik auf. Biermann hatte in<br />
der „Zeit“ vom 1.2.91 publiziert: „Ich bin für<br />
diesen Krieg!“ Er meinte da<strong>mit</strong> den Golf-<br />
Krieg. Schirmbeck, ein engagierter Vorkämpfer<br />
für den Frieden und selbst Mitglied<br />
der Aka<strong>dem</strong>ie, führte damals den Nachweis,<br />
daß die USA <strong>im</strong> Verlaufe des Krieges gegen<br />
geltendes Völkerrecht verstoßen hatten.<br />
Trotz seines öffentlichen Protestes gegen die<br />
Preisverleihung an „Golfkriegs-Hetzer Biermann“<br />
hielt es die „Aka<strong>dem</strong>ie für Sprache<br />
und Dichtung“ bis heute nicht für erforderlich,<br />
auf die Kritik zu reagieren, weshalb er<br />
seinen Artikel in diesem Jahr nachdrucken<br />
und bei der Preisvergabe <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> u.a. Zusatz<br />
verteilen ließ. Ein Reprint von Schirmbecks<br />
Anklage kann bei <strong>dem</strong> Autoren angefordert<br />
werden.<br />
Der Herausgeber<br />
Warum dieses Flugblatt<br />
Die erneute Präsentation dieses Pamphlets<br />
gegen die Verleihung des „Büchnerpreises“<br />
an den Golfkriegs-Hetzer Wolf Biermann vor<br />
zwei Jahren ist kein Griff in die Mottenkiste,<br />
sondern ein notwendiger Akt, weil die<br />
„W<br />
ir verbreiten nur unsere Meinung in öffentlichem<br />
Raum, das kann doch wohl nicht verboten<br />
sein“ meinte einer von den jungen Leuten, die<br />
Schirmbecks Aufruf verteilten, als er von einem ca.<br />
Fünfzigjährigen <strong>mit</strong> Halbglatze angesprochen wurde.<br />
Er hatte sich nicht vorgestellt, aber er war es,<br />
Dr. Gerhard Dette, Generalsekretär der Aka<strong>dem</strong>ie für<br />
Sprache und Dichtung. Dette war <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Verteilen (wie<br />
könnte es anders sein) nicht einverstanden und antwortete<br />
<strong>dem</strong> Verteiler: „Aber nicht hier <strong>im</strong> Theater. Wir werden<br />
Herrn Schirmbeck das <strong>mit</strong>teilen.“ Dann entdeckte er<br />
unseren Fotografen, setzte schnell ein freundliches<br />
Presselächeln auf und ging eiligen Schritts davon.<br />
Schauplatz: Foyer des Staatstheaters am 16.10.93.<br />
Heiner Schäfer<br />
„Deutsche Aka<strong>dem</strong>ie für Sprache und Dichtung“<br />
bisher <strong>mit</strong> keinem einzigen Wort auf<br />
diese fundamentale und bis ins letzte Detail<br />
begründete Kritik ihrer damalgien Handlungsweise<br />
reagiert hat.<br />
Das ist entweder eine arrogant-schnoddrige<br />
Geste der Mißachtung des Verfassers, der<br />
als langjähriges Mitglied (seit 1962) seine<br />
Kritik aus Verantwortungsgefühl für die<br />
Reinhaltung der Integrität dieser Aka<strong>dem</strong>ie<br />
und ihrer Aufgaben vorbrachte, oder ein<br />
stummes Eingeständnis ihrer schwerwiegenden<br />
Verfehlung, die ans Mark ihrer Substanz<br />
greift. Im letzteren Falle sollte die Aka<strong>dem</strong>ie<br />
ehrlicherweise die Konsequenz aus<br />
diesem Verstoß gegen die ethischen Normen<br />
ihrer Best<strong>im</strong>mung und Funktion ziehen und<br />
die Verleihung des Büchnerpreises für die<br />
Zukunft an eine dieser Aufgabe würdigere<br />
und unbescholtenere Institution abgeben.<br />
An <strong>dem</strong> Geist Georg Büchners, <strong>mit</strong> dessen<br />
Namen sie ihren Preis schmückt, hat sie sich<br />
schwer versündigt. Ein Akt der Buße täte ihr<br />
gut und läge <strong>im</strong> Interesse der nationalen und<br />
internationalen Bewertung des deutschen<br />
Kulturlebens, das alles tun sollte, um die<br />
letzteren Narben einer zwielichtigen Vergangenheit<br />
loszuwerden.<br />
Heinrich Schirmbeck (Aka<strong>dem</strong>ie Mitglied),<br />
Park Rosenhöhe 13, Darmstadt<br />
schnell, in nahezu beliebiger Anzahl und je<br />
nach Geschmack und Gusto alsbald wohlfeil<br />
erhältlich, den erhofften Aufbruch gründlich<br />
wieder in die Nähe jener Scheiterhaufen<br />
drängten, die zu bekämpfen sie einst angetreten<br />
waren. „Die Revolution fraß ihre<br />
Paten, bevor sie ihre Kinder fraß“.<br />
Als „linker Patriot“, der kurz vor der Neuvereinigung<br />
<strong>mit</strong> seinem „Lyrik- und Jazzprogramm“<br />
durch die „ehemalige Ex-DDR“<br />
(Gert Köster) tourte und nicht müde ward zu<br />
erklären, daß ihm „bei uns“ die Gleichheit<br />
und „bei ihnen“ die Freiheit fehlte, war sein<br />
Lagebericht zur Einheit wohl erwartbar, mindestens<br />
aber erhoffbar. Er enttäuschte nicht.<br />
Erwartbar allerdings nicht in dieser Länge,<br />
Ausführlichkeit, Deutlichkeit. Rühmkorfs<br />
Rede zur Preisverleihung war parteiisch, einseitig,<br />
politisch, subjektiv. Er sang ein politisch<br />
Lied, das für einige Prominente <strong>im</strong><br />
Auditorium offensichtlich ein garstig Lied<br />
war. „Deutschland, ein Lügenmärchen“, so<br />
zum Beispiel sprach der Preisträger Rühmkorf,<br />
„bis schließlich hin zu jenem von unserem<br />
Kanzler in die Arena getriebenen Ochsi<br />
von Präsidentenanwärter, der angeblich sagt<br />
was er denkt, aber das ist schon keine richtige<br />
Truggestalt mehr, sondern der am Nasenring<br />
vorgeführte Offenbarungseid.“<br />
Und einige durchaus prominente Darmstädter<br />
verließen <strong>dem</strong>onstrativ den Ort des<br />
Geschehens. Und unsereins wunderte sich<br />
über deren Dünnhäutigkeit. Denn geprügelt<br />
wurden doch auch und gerade jene, die ihre<br />
„linke“ Karriere in diversen Kaderparteien<br />
kaum ausgestanden hatten und knapp, aber<br />
unwillentlich an der erträumten Allmacht<br />
vorbeigeschrammt waren, sich nun in diversen<br />
<strong>mit</strong>tlerweile etablieren „Protestparteien“<br />
ein neues Nest gebaut haben und – selbstverständlich<br />
ohne ein Wort von Selbstkritik –<br />
schon wieder als Landesfürsten ihrer jeweiligen<br />
Gruppierung allergnädigst zu grüßen<br />
geruhen. So man sie gewähren läßt.<br />
Rühmkorf sprach <strong>mit</strong> gelebtem Recht über<br />
seine Zeit als deutscher Demokrat und Linker<br />
– wie <strong>im</strong>mer man dies zu definieren geruht.<br />
Er sprach über seine und unsere Generation.<br />
Vor allem: Er sprach die Sprache des Denkenden,<br />
Ringenden, aber <strong>im</strong>mer um Aufklärung<br />
bemühten Menschen, der, aller<br />
Rückschläge, Dummheiten, erfundener Einfachheiten<br />
zum Trotz seine Familie liebt, die<br />
er auch haßt, eben weil es seine unverständige<br />
Familie ist: Die Menschen. Die Demokraten.<br />
Und: Die Deutschen.<br />
Die Aka<strong>dem</strong>ie hat allen Demokraten und sich<br />
selbst <strong>mit</strong> der Nominierung Rühmkorfs<br />
einen großen Verdienst erwiesen. Unabhängig<br />
von durchaus diskussionswürdigen<br />
Aspekten <strong>im</strong> Gesamtwerk des Preisträgers<br />
stand hier ein Mann, der wie sein Patron,<br />
unabhängig von zugedachten Denkmalssockeln<br />
oder gar eines Unfehlbarkeitsanspruchs<br />
als Freidenker, Literat, Freund <strong>im</strong><br />
Geist und unbequeme Erscheinung tiefsten<br />
Respekt verdient.<br />
Trotz<strong>dem</strong> und gerade deshalb: Die überfällige<br />
Selbstkritik der Aka<strong>dem</strong>ie „wg. Biermann“<br />
wird da<strong>mit</strong> um so dringlicher.<br />
Peter Edelmann
Theater, Tanz, Rock,<br />
Jazz, Krabbelstuben …<br />
Geschichte des soziokulturellen Zentrums:<br />
10 Jahre Bessunger Knabenschule<br />
Zehn Jahre sind es <strong>im</strong> November, daß die<br />
Stadt Darmstadt <strong>dem</strong> „Trägerverein<br />
Bessunger Knabenschule“ die Nutzung des<br />
1878 erbauten Gebäudes überließ. „Die<br />
waren sich sicher, daß wir binnen eines<br />
Jahres dicht machen, sonst hätten wir den<br />
Laden nicht gekriegt“, erzählt Bernd Breitwieser,<br />
neben Jürgen Barth von den Anfängen<br />
an dabei. Der Magistrat unter <strong>dem</strong><br />
damaligen OB Günther Metzger gewährte<br />
einen Zuschuß in Höhe der Jahresmiete von<br />
24.000 Mark – das war’s. Der Schreibtisch<br />
für das Büro stammte aus einer Betriebsauflösung,<br />
die Schreibmaschine wurde <strong>im</strong><br />
Pfandhaus besorgt.<br />
Die Akzeptanz der Einrichtung seitens der<br />
Kommune und der Bessunger Bevölkerung<br />
lag bei null; als herauskam, daß CDU-Mitglied<br />
Otti Geschka, <strong>mit</strong>tlerweile Oberbürgermeisterin<br />
von Rüsselshe<strong>im</strong>, dort einen<br />
Yogakurs besucht, fühlte sich die arme<br />
Frau genötigt, sich öffentlich von der „Ideologie“<br />
der Bessunger Knabenschule zu<br />
distanzieren. „Damals ging hier politisch<br />
viel mehr ab“, erinnert sich Bernd Breitwieser.<br />
Damals hatten sich die Leute an ihren<br />
Kanzler Kohl noch nicht gewöhnt – und<br />
damals war auch die Zeit, als <strong>mit</strong> den Pershings<br />
die Sitzblockaden kamen.<br />
Mittelschichtorientiertes<br />
Freizeitverhalten<br />
Breitwieser erinnert an zwei Friedensgruppen,<br />
die sich mindestens zwe<strong>im</strong>al die<br />
Woche trafen und großen Zulauf hatten. Die<br />
gibt es auch heute noch: „Deutsche Friedensgesellschaft<br />
/ Vereinigte Kriegsdienstgegner“,<br />
„Frauen für den Frieden“ und die<br />
„Darmstädter Initiative für Frieden und<br />
Abrüstung“. Sie nutzen die Räume der Knabenschule<br />
eher vierzehntägig. Natürlich<br />
gibt es auch noch die „Solidaritätswerkstatt<br />
e. V.“, die sich der praktischen Unterstützung<br />
von 3. Welt-Projekten – speziell in<br />
Kuba – widmet und die „Darmstädter Initiative<br />
für die Abschaltung aller Atomanlagen“,<br />
aber das Angebot der über dreißig<br />
Kurse, die pro Woche in den 20 Räumen<br />
der Knabenschule laufen, wird von jenen<br />
dominiert, die Breitwieser <strong>mit</strong> „<strong>mit</strong>telschichtorientiertem<br />
Freizeitverhalten“ etikettiert.<br />
Yoga, Tai Chi Chuan, Bio-Energetik,<br />
Feldenkrais, Afrodance, Salsa, Bauchtanz,<br />
Steptanz, Flamenco und Ausdruckstanz, die<br />
Liste ließe sich verlängern.<br />
Sechzig Gruppen<br />
Die Knabenschule kassiert von den KursleiterInnen<br />
10 Mark pro Stunde, nicht kommerziell<br />
orientierte Turnusgruppen zahlen<br />
die Hälfte. Die Nachfrage übersteigt bei weitem<br />
das Angebot. Im Parterre des Schulgebäudes<br />
hat der „Verein für nichtrepressive<br />
Erziehung e.V.“ zum Quadratmeterpreis von<br />
6 Mark Räume für seine zwei Krabbelstuben,<br />
die Kinderwerkstatt und das Schülerhaus<br />
angemietet und beschäftigt dort sechs<br />
hauptamtliche pädagogische BetreuerInnen.<br />
Da diese Kindertagesstätten vom<br />
Landesjugendamt anerkannt sind, gewährt<br />
die Stadt Darmstadt einen 45-prozentigen<br />
Personalkostenzuschuß. Angebote für Kinder<br />
organisieren daneben der „Bund deutscher<br />
PfadfinderInnen“ (BDP), „Musik und<br />
Bewegung für Kinder“ und „Children’s<br />
International Summer Villages“ (CISV). Insgesamt<br />
sind es an die sechzig Gruppen, die<br />
die Räumlichkeiten mehr oder weniger<br />
regelmäßig nutzen. Zwischen <strong>dem</strong> „Deutschen<br />
Amateur-Radio-Club“ unter <strong>dem</strong><br />
Dach und den sechs Probenräumen <strong>mit</strong><br />
Tonstudio <strong>im</strong> Keller für Rockgruppen bieten<br />
sich in der Knabenschule die einzigen Probemöglichkeiten<br />
für die Theatergruppen<br />
„Theater <strong>im</strong> Hof“, „Creme frech“, „Sekt oder<br />
Selters“, „Al dente“, „Kabbaratz“ und andere.<br />
Die Öffentlichkeit identifiziert das Kulturzentrum<br />
vor allem <strong>mit</strong> der ehemaligen Turnhalle.<br />
1992 fanden in der 250 Personen fassenden<br />
Halle 113 Veranstaltungen statt. In<br />
diesem Oktober sind es 15, davon neunmal<br />
Theater und sechsmal Musik <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Schwerpunkt Jazz. Jürgen Wuchner organisiert<br />
dort auch seine Workshops.<br />
Finanzen sind <strong>im</strong> Keller<br />
50.000 Mark gibt das Hessische Kultusministerium<br />
jährlich für Kulturveranstaltungen<br />
ca. 100.000 Mark kommen von der<br />
Stadt für Personalkosten, Betriebskosten<br />
und Kultur. Die restlichen 300.000 Mark<br />
werden von der Knabenschule erwirtschaftet.<br />
Sie langen nicht, um den in zehn Jahren<br />
auf 60.000 Mark angewachsenen Schuldenberg<br />
abzutragen. Sie langen nicht, um<br />
beispielsweise die Halle technisch angemessen<br />
auszustatten oder die Toiletten zu<br />
renovieren Sie langen auch nicht, um die<br />
vier Mitarbeiter Jürgen Barth, Bernd Breitwieser,<br />
Detlef Gollasch und Hans-Joach<strong>im</strong><br />
Seitz auch nur halbwegs gerecht zu bezahlen.<br />
Zwei Dreißig- und zwei Zwanzigstun-<br />
(Foto: Heiner Schäfer)<br />
denstellen stehen ihnen zur Verfügung. Der<br />
Arbeitsaufwand erforderte das Doppelte.<br />
Seit 1987 ist die Knabenschule als Zivildienststelle<br />
anerkannt; wenn Bernd Breitwieser<br />
auf das letzte Jahrzehnt zurückblickt,<br />
wundert er sich selbst, daß sie es<br />
doch <strong>im</strong>mer wieder – auch dank der Spendenaktion<br />
1990 – geschafft haben. Für die<br />
Zukunft hofft er, den Status des ewigen<br />
Provisoriums ablegen zu können. „Es gibt<br />
kein Sanierungskonzept für das 2.300 Quadratmeter<br />
große Areal.“ Mal werden zwei<br />
Außenwände des Hauptgebäudes gestrichen,<br />
dann gibt es ein paar feuerfeste Türen<br />
für das Dachgeschoß; Dank „Wüstenrot“,<br />
die nebenan am Kuhschwanzeck noble<br />
Eigentumswohnungen gebaut haben, wird<br />
der Kinderspielplatz neu gestaltet. Aber der<br />
Ärger <strong>mit</strong> den neuen Nachbarn wegen<br />
Lärmbelästigung ist auch schon programmiert.<br />
Das Kulturzentrum Darmstadts<br />
Die Akzeptanz der Knabenschule in Bessungen<br />
ist gewachsen, das Exoten-Image<br />
schmilzt langsam dahin. Breitwieser wundert<br />
sich, daß in Bezug auf seine Arbeitsstätte<br />
noch <strong>im</strong>mer von Stadtteilkultur geredet<br />
wird. Die wenigsten der KursteilnehmerInnen<br />
sind Bessunger, die wenigsten<br />
KünstlerInnen, die dort auftreten, sind<br />
aus Bessungen und auch <strong>im</strong> Publikum sitzen<br />
nur wenige Bessunger. Es gibt auch<br />
kein anderes Zentrum in Darmstadt, so ist<br />
die Bessunger Knabenschule das Kulturzentrum.<br />
Eine mögliche Konkurrenz sieht<br />
Breitwieser in den HEAG-Hallen allerdings<br />
nicht, wenn die Planer das bestehende Verhältnis<br />
von kultureller Nutzung zu städtischer<br />
Unterstützung zum Maßstab nehmen.<br />
Als stillschweigende Anerkennung<br />
des Knabenschulen-Konzepts wertet er,<br />
daß das Modell eines Trägervereins, in <strong>dem</strong><br />
die Stadt selbst nicht vertreten ist, nun auch<br />
für das JuKuz Oetinger Villa übernommen<br />
wird. Auf Landesebene arbeitet die Knabenschule<br />
in der „Landesarbeitsgemeinschaft<br />
soziokultureller Zentren“ <strong>mit</strong>. Im November<br />
haben die Zentren „Station-17“, eine<br />
Musikgruppe von geistig Behinderten, eingeladen.<br />
Am 15.11. treten sie in der Knabenschule<br />
auf. Eine Feier zum zehnjährigen<br />
des Kulturzentrums Bessunger Knabenschule<br />
wird es nicht geben. Kein Geld.<br />
P. J. Hoffmann<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 11<br />
„An einer solchen Blume<br />
fehlt’s jetzt <strong>im</strong> Revier“<br />
Nach-Ruf des Autoren Matthias Biskupek auf „Die Weltbühne“<br />
Da ist sie <strong>im</strong> 88. Jahr ihres Zeitschriftendaseins<br />
unter Mediengerassel eingeschläfert<br />
worden. Die Untersuchungsorgane<br />
haben das Bulletin noch nicht freigegeben:<br />
War es fahrlässige oder böswillige Tötung<br />
Ist das Blättchen aus Angst vor eigener Courage<br />
gestorben Hat man den Schierlingsbecher<br />
selbst genommen In der letzten Nummer<br />
veröffentlichte die Augsburgerin Eva<br />
Leipprand einen Text über das modische<br />
Spiel Achtundsechzig: „Ein Scheißspiel“.<br />
Das, scheint mir, klingt <strong>net</strong>t, zukunftweisend,<br />
angemessen.<br />
Ich habe der ins Schulheftformat gekleideten<br />
Wochenschrift fast auf den Tag genau vierzehn<br />
Jahre treulich, täppisch und viel zu brav<br />
als freier Mitarbeiter gedient. Am 10. Juli<br />
1979 stand da mein erstes Textchen über ein<br />
Suhler Amateurtheater, dann kamen ein paar<br />
hundert weitere Glossen, Reportagen, Porträts<br />
und am 22. Juni 1993 wurde meine<br />
letzte Auslassung, über das von einem Autorenkollektiv<br />
verfaßte Ratgeberbuch, genannt<br />
„Katechismus der katholischen Kirche“,<br />
gedruckt. So habe ich zehn Jahre lang DDR-<br />
Zensur kennengelernt, ein Jahr freien, anarchischen<br />
Journalismus und drei Jahre Dümpelei<br />
in der Einheitssoße eines bundesweit,<br />
an Beliebigkeit leidenden Zeitschriften-Flachlands.<br />
Die „Weltbühne“ hatte sich in den letzten<br />
Monaten rapide zum Sprachrohr schwäbischen<br />
Professorengebrabbels entwickelt,<br />
war als Fußnoten-Organ für „Zeit“ und „konkrekt“-Autoren<br />
beliebt geworden. Das war<br />
wiederum DDR-Zeiten vergleichbar, nur<br />
sächselten damals die Professoren und die<br />
Über-Organe hießen „Einheit“ und „horizont“.<br />
Wäre das Projekt einer weiterführenden<br />
„Wildbiene“ gelungen, hatte sich noch<br />
der Bierzeitungs-Touch hinzugesellt, <strong>dem</strong><br />
wörterwälzende Intellektuelle gern aufsitzen.<br />
Sie treten jetzt alle auf den Plan: die Widerstandskämpfer<br />
der DDR, die <strong>im</strong> Blättchen<br />
einen Hort des Stalinismus sahen, weil man<br />
grade ihre Texte dort nicht druckte. Denn<br />
eine böse Eigenschaft ist der Neid.<br />
Die „Weltbühne“ machte natürlich allen<br />
Unfug, der von Zensoren ausgestreut wurde,<br />
<strong>mit</strong>. Es gelang ihr nur hin und wieder,<br />
best<strong>im</strong>mte Jubelthemen nicht zu behandeln.<br />
Der wohlangepaßte und gutmütige Chefredakteur<br />
in den letzten beiden DDR-Jahrzehnten,<br />
Peter Theek, versuchte manchmal, frech<br />
unterm Tisch hervorzugucken, wurde aber<br />
oft genug zurückgepfiffen, wenn nicht von<br />
hauptamtlichen Zensoren, dann von vorauseilend<br />
Gehorsamen in seiner Redaktion.<br />
Was mir die Arbeit möglich machte: Man<br />
konnte in seinem eigenen Ton schreiben,<br />
mußte nicht in parteigestanzten Fertigteilen<br />
reden, wie weithin üblich. So schrieb ich<br />
über Rednergesten oder Theaterstücke, über<br />
Wanderpfade und Hochseilfamilien und versuchte<br />
da<strong>mit</strong>, bißchen Eigenes zu transportieren.<br />
Kampf um den kritischen Halbsatz<br />
hieß das nervende Spiel.<br />
Vielleicht war die „Weltbühne“ ein Hort der<br />
jetzt entlarvten Sklavensprache der DDR.<br />
Mag sein. Mir will aber nach wie vor nicht in<br />
den Kopf, warum der plumpe, angeblich<br />
direkt und klar aussagende Stil, ob nun wieder<br />
bieder für die Hinterwaldmutti wie bei<br />
„Bild“ oder ziseliert für den Vorderhausdezernenten<br />
wie be<strong>im</strong> „Spiegel“, die Welt<br />
richtig erklären kann. Texte sollten <strong>im</strong>mer<br />
auch sprachspielerisch Zusammenhänge<br />
aufdecken, die sonst nicht un<strong>mit</strong>telbar, also<br />
oberflächlich, sichtbar sind. Diesem Lehrsatz<br />
wußte die „Weltbühne“ manchmal zu genügen.<br />
Und an einer solchen Blume fehlt’s jetzt<br />
<strong>im</strong> Revier.<br />
Andere Zeitschriften wurden von festangestellten<br />
Redakteuren gemacht. Die „Weltbühne“<br />
war Bühne ihrer freien Mitarbeiter.<br />
Um derentwillen sie gelesen wurde. Kunstkritiker<br />
Lothar Lang, umstritten, war Argument<br />
für Weltbühne-Lektüre. Günther<br />
Cwojdraks bildhafte Theaterkritiken wurden<br />
besch<strong>im</strong>pft und – gelesen. Christian Neef<br />
berichtete vorsichtig wahrheitsgemäß – aus<br />
<strong>dem</strong> Zentrum der Perestroika, aus Moskau.<br />
Der Zürcher Theo Pinkus und der Frankfurter<br />
Altkommunist Emil Carlebach sorgten <strong>mit</strong><br />
anderer Tonart gelegentlich für Verwirrung.<br />
Fries und Christ und Konrad Weiß schrieben<br />
dort. Aufbau-Cheflektor Caspar kritisierte als<br />
Kaspar Borz Bücher. Und ein Mann, der wie<br />
kaum ein anderer über vierzig Jahre bis fast<br />
zum Schluß, <strong>mit</strong> Witz und Geist, ohne politischen<br />
Dröhn-Ton, sondern <strong>mit</strong> Nebenbei-<br />
Bemerkungen die „Weltbühne“ <strong>mit</strong>best<strong>im</strong>mte,<br />
der Feuilletonist Lothar Kusche, hatte für<br />
seine Dauer-Glosse über deutsche Sprachverwirrung<br />
einen hellseherischen Titel: Kohl.<br />
Natürlich, es gab sie auch zur Genüge: Nationalratspräsidenten,<br />
christliche Blockflöten,<br />
wichtig-betuliche Professoren, die Ergebenheitsadressen<br />
drucken ließen. Die wurden<br />
billig(end) – das Blättchen kostete 50 Pfennige<br />
– in Kauf genommen.<br />
Die Zeitschrift erschien bis vor einem dreiviertel<br />
Jahr <strong>mit</strong> allen ruhmreichen Vorfahren<br />
auf der Titelseite: Jacobsohn, Tucholsky,<br />
Ossietzky. Und dann kam merkwürdig anmutend<br />
nach diesen Namen: „Seit Dezember<br />
1989 herausgegeben von Helmut Reinhardt“.<br />
Vielleicht sollte es assoziieren, daß<br />
nun ein neuer noch unbekannter Revolutionär<br />
das Ruder ergriffen – aber Reinhardt<br />
war alter Stellvertreter, Chef Theek ohnehin<br />
Rentner geworden. Gewiß, die alte Redaktionsmannschaft<br />
hatte ihren Vizechef gewählt<br />
– und darauf mehrheitlich das sinkende<br />
Schiff verlassen. Reinhardt versuchte, seine<br />
Bühne allen zu öffnen. So wurde wahllos ins<br />
Blatt gekippt, was auf die Redaktionstische<br />
flatterte. Viel Weinerlichkeit, viel PDS-Nachhakelei,<br />
endlose Selbstbezichtigungen, aber<br />
auch neue, in Westdeutschland wohlbekannte,<br />
Autoren: Peer Maiwalds exzellente<br />
Sprachspiele: Otto Köhlers radikal linke Aufklärungen;<br />
Fülberths knappe Zeitanalysen.<br />
Dafür bekam ein Jürgen Kuczynski in der<br />
,,Weltbühne“, kein Podium mehr, da die Leitung<br />
ihn als Altlast ansah: Neuer, vorauseilender<br />
Gehorsam.<br />
Alles, was ich in diesen Wendewirren <strong>dem</strong><br />
Blättchen anbot, wurde gedruckt. Unter allerlei<br />
Pseudonymen. Nicht mal meine falschen<br />
Kommas wurden geändert. Das hätte mich<br />
mißtrauisch machen sollen. Als der Frankfurter<br />
Immobilienhändler Bernd F. Lunkewitz<br />
den Verlag aufkaufte, änderte sich zunächst<br />
nichts. Auch das hätte mir das<br />
nahe Ende anzeigen müssen.<br />
Allmählich aber überkam das<br />
Blatt jener gesamtdeutsche Zeilentripper,<br />
der anspruchsvoll<br />
sein wollenden Wochen- und<br />
Monatsblättern eigen ist. Was<br />
kurz und knapp und originell<br />
formuliert werden müßte –<br />
wozu man als Schreiber Geduld<br />
brauchte – wurde zeitsparend in<br />
die Länge geschrieben. In der<br />
DDR war zu wenig Papier da.<br />
Jetzt mußte Papier wirtschaftsfördernd<br />
verbraucht werden. Da<br />
zu<strong>dem</strong> das Schreiber-Einkommen<br />
von jener Fähigkeit<br />
abhängt, eine Beobachtung,<br />
einen Gedanken, eine Einsicht<br />
über viele Zeilen dehnen zu können,<br />
konnte sich auch die „Weltbühne“<br />
diesem kapitalistischen<br />
Diktat nicht verweigern. Und so<br />
dehnten sich nun die professoralen<br />
Artikel und zogen<br />
Fäden, wie gebackener Käse …<br />
Für das schnelle Ende ist vielleicht<br />
doch zu danken.<br />
Ich danke also.<br />
RAUMGESTALTUNG<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
Lese-,<br />
Bücher-,<br />
Schreib-,<br />
und Brief-Lust<br />
Frankfurter Schirn entwirft geglücktes<br />
Panorama niederländischer Malerei<br />
Martin Weskott, Pfarrer aus Katlenburg<br />
bei Göttingen, rettete von 1991 an fast<br />
eine halbe Million Bücher vor der Vernichtung.<br />
Die Bücher stammten aus DDR-Verlagen<br />
und landeten nach der Währungsunion<br />
auf ehemaligen Braunkohlenkippen bei Leipzig.<br />
Für seinen Einsatz ist Martin Weskott<br />
zum Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen<br />
worden.<br />
Zum diesjährigen Münchner Kirchentag hielt<br />
Weskott einen Gottesdienst über „Die Geister<br />
– die wir riefen“. Die Veranstaltung in<br />
der Kapernaum-Kirche in München-Lerchenau<br />
trug den Untertitel: „Die vergessenen<br />
Bücher – Wider einen Prozeß der Vernichtung<br />
und des Wegwerfens“. Matthias Biskupek,<br />
einer der betroffenen Autoren, verfaßte<br />
diesen Text:<br />
Die Abenteuer des Buches<br />
Ich hatte einem Verlag viele Jahre redlich<br />
gedient. Vier Bücher von mir waren dort<br />
schon erschienen. In glänzenden Pappbänden.<br />
Zum alsbaldigen Verbrauch best<strong>im</strong>mt.<br />
Weißt Du, sprach daraufhin der Verlagsleiter,<br />
jetzt ist es soweit. Jetzt kannst Du ein richtiges<br />
Buch bekommen, in echtes Ganzgewebe<br />
gebunden. Mit wirklich weißem Papier und<br />
Schutzumschlag und Dichterphoto.<br />
Solcherart waren die Auszeichnungen, die<br />
man in <strong>dem</strong> fernen Staate DDR bekam, wenn<br />
man zwar frech unter <strong>dem</strong> Tisch vorguckte,<br />
aber eben nicht zu frech. Ei, freute ich mich.<br />
Ein Buch wie ein richtiger deutscher Romancier.<br />
Ich will es „Die Abenteuer der andern“<br />
heißen, drin sollen freundliche Geschichten<br />
stehen, über Sehnsüchte, die wir haben und<br />
tiefschwarze Stellen, die ich, wie andere<br />
Menschen auch, in mir versteckt halte. Das<br />
Buch war also ein satirisches Werklein.<br />
Und kaum hatte ich das Manuskript abgegeben,<br />
und kaum waren zwei Jahre vergangen,<br />
FEUILLETON III<br />
Der eingängige Titel mag Interesse<br />
wecken und zugleich abwegigen Ideen<br />
Nahrung geben – „Leselust“ in der Frankfurter<br />
Schirn ist keine Promotions-Veranstaltung<br />
der Mainzer „Stiftung Lesen“ und<br />
auch sonst keine kulturelle Begleiterscheinung<br />
der Buchmesse, die gerade dieses<br />
Jahr Flandern und die Niederlande als<br />
Schwerpunkt präsentierte. „Leselust“<br />
bezeich<strong>net</strong> eine glückliche Neusichtung der<br />
niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts,<br />
verstanden nicht als repräsentativbeliebiger<br />
Flug über die Epoche unter einem<br />
Titel wie „Von Rembrandt bis Vermeer“<br />
oder als isoliert angelegte Gattungsuntersuchung<br />
„Holländische Genremalerei des<br />
Goldenen Zeitalters“. Die Ausstellung<br />
betrachtet stattdessen eine Epoche, in<strong>dem</strong><br />
sie das Motiv des Buches, des Briefes, des<br />
Lesens und des Schreibens über das ganze<br />
Jahrhundert hinweg und durch Vergleiche<br />
„Sie hat sich doch noch zum Guten<br />
gewendet, diese seltsame Wende“<br />
da hatte man das Buch schon genehmigt.<br />
Denn <strong>im</strong> fernen Staate DDR mußten Bücher<br />
genehmigt werden. Darüber murrten wir<br />
natürlich allzeit. Natürlich allzeit ganz brav.<br />
So wurde mir gesagt…<br />
Und kaum war ein weiteres Jahr ins Deutsch-<br />
Land gegangen, war das Buch schon<br />
gedruckt, auf – naja – fast weißes Papier,<br />
wohlgesetzt und gebunden in Ganzgewebe.<br />
Ich schloß mein Beleg-Exemplar verzückt in<br />
die Arme. Es war später Frühling und ein paar<br />
Tage weiter, <strong>im</strong> frühen Sommer, wurde unser<br />
Spielgeld in Echtgeld getauscht. Siehe, dieses<br />
aber heißet man Währungsunion.<br />
In den Auslagen tummelte sich heiße West-<br />
Ware. In den Buchläden ebenso. Mein Abenteuer<br />
hatten dort nichts verloren; darein hatte<br />
man nämlich noch einen DDR-Preis<br />
gedruckt. Sechs Mark und fünfzig. Sechs<br />
Mark und fünfzig aber sind unlauterer Wettbewerb,<br />
in einem Land, in <strong>dem</strong> die Erstauflagen<br />
von Hardcover-Büchern 29, 39 oder 49<br />
Mark kosten. So wurde mir gesagt. Doch wo<br />
meine fertigen Buch-Abenteuer sein könnten,<br />
wußte niemand in <strong>dem</strong> ganzen und<br />
großen Verlag.<br />
Bis eines schönen Tages ein schöner Brief<br />
aus <strong>dem</strong> schönen Katlenburg bei mir eintraf.<br />
Zweitausend Exemplare gerade dieses<br />
Buches waren gefunden worden. Dort, wo<br />
man viel früher Braunkohle gefunden hatte.<br />
So lagen meine „Abenteuer der andern“ <strong>mit</strong><br />
andern Lese-Abenteuern jetzt wohlverwahrt<br />
<strong>im</strong> Bücherspeicher der Katlenburger Kirchgemeinde.<br />
Und weil das eine fröhliche Geschichte sein<br />
soll, will ich kein Ossi-Wehgeschrei, wie<br />
schl<strong>im</strong>m man doch <strong>mit</strong> uns und unseren Geistesprodukten<br />
umginge, anst<strong>im</strong>men, sondern<br />
erleichtert aufseufzen: Sie hat sich doch<br />
noch zum Guten gewendet, diese seltsame<br />
Wende.<br />
Zwei Verliebte <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Kontrabaß zeigt die als<br />
„Offiziersbesuch“ betitelte Szene des<br />
Amsterdamer Malers Willem Duyster,<br />
Öl auf Holz, 58 x 45 cm,<br />
aus <strong>dem</strong> Kopenhagener Statens Museum for<br />
Kunst.<br />
(Foto: Kunsthalle Schirn)<br />
Und weil wir <strong>im</strong> Gotteshaus sind, will ich ein<br />
bißchen Gott und ein bißchen mehr <strong>dem</strong><br />
Pastor Weskott danken. Und <strong>mit</strong> ein bißchen<br />
biblischer Anspielung will ich schließen: Der<br />
Herrgott freut sich mehr über einen verlorenen<br />
Sohn, der zu ihm zurückkehrt, als über<br />
<strong>im</strong>mer und ewig Rechtschaffene. Und so finde<br />
ich dieses Buch der anderen Abenteuer auf<br />
einmal wichtiger, als andere meiner Bücher.<br />
Denn ich hatte es schon abgeschrieben – nun<br />
aber weiß ich, daß dieser neudeutsch-kaufmännische<br />
Ausdruck für <strong>im</strong>mer und für die<br />
Ewigkeit ist. Ich verkneife mir das Amen an<br />
dieser Stelle.<br />
Matthias Biskupek<br />
Die Firma<br />
Etwas merkwürdig ist die Anwalts-Firma<br />
in Memphis ja schon, für die sich Mitch<br />
Mc Deere entschieden hat: Dort arbeiten<br />
nur weiße, verheiratete Männer. Aber der<br />
junge Yuppie – die Hauptrolle spielt der<br />
amerikanische Strahlemann und Kassenknüller<br />
Tom Cruise – ist geblendet von den<br />
protzigen Annehmlichkeiten, die ihm geboten<br />
werden: ein schönes Haus, ein Mercedes-Cabrio<br />
und ein sechsstelliges Jahresgehalt.<br />
Das lockt den Mann aus armen Verhältnissen<br />
und achtlos wischt er die Bedenken<br />
seiner Frau Abby (Jeanne Tripplehorn)<br />
beiseite. Wenn sich eine Firma als Familie<br />
bezeich<strong>net</strong>, ist höchste Vorsicht geboten,<br />
das weiß doch jedes Fernsehkind. Nur<br />
Mitch, der will es nicht wissen. Dann erfährt<br />
verschiedener Bildtypen <strong>mit</strong>einander verfolgt.<br />
Daß es der Schirn dabei in einer Vorbereitungszeit<br />
von gut drei Jahren gelungen<br />
ist, eine wahre Anhäufung von Spitzenwerken<br />
der Malerei an den Main zu holen,<br />
sollte für sich sprechen und jegliche Diskussion<br />
um die Aufgabe des Hauses als<br />
eigenständiges Institut schamvoll verstummen<br />
lassen.<br />
Das Faszinosum der niederländischen<br />
Malerei mag sicherlich in den verschiedenen<br />
Möglichkeiten liegen, sich ihr<br />
anzunähern. Bei einem ersten Gang durch<br />
die Bildersäle ließe frau/mann sich vielleicht<br />
allein von der malerischen Könnerschaft<br />
und Delikatesse der Werke leiten und begeistern,<br />
könnte die Lichtführung und den<br />
skizzenhaften Stil bei Rembrandt und seiner<br />
Schule bewundern und die sch<strong>im</strong>mernden<br />
Seidenstoffe bei Vermeer und Gerard<br />
ter Borch betrachten. Ob das Wesen dieser<br />
Malerei tatsächlich nur eine nüchterne<br />
„Kunst der Beschreibung“ darstellt, wie es<br />
eine Fraktion der neueren Kunstwissenschaft<br />
sieht, oder vielmehr doch in einem<br />
vielschichtiges System aus Symbolen und<br />
Andeutungen besteht, kann der Besucher in<br />
der Schirn exemplarisch überprüfen, etwa<br />
an den Stilleben. Da liegen <strong>im</strong>mer wiederkehrende<br />
Requisiten auf einem rohen Holztisch<br />
oder vor neutralem Hintergrund. Ein<br />
Totenschädel, die erloschene Kerze, eine<br />
verwelkende Blume und die in einem Brief<br />
oder einem Buch konservierten Worte<br />
geben die sichtbare Realität ebenso in penibler<br />
Weise wieder wie sie den ermahnenden<br />
Gedanken eines memento mori, der steten<br />
Erinnerung an die Vergänglichkeit und den<br />
Tod, aussprechen. Dieser Grundgedanke<br />
wird <strong>im</strong>mer wieder variiert, es erscheint<br />
bald ein lorbeerumkränzter Totenkopf zwischen<br />
antiken Skulpturen bei David de<br />
Heem und so<strong>mit</strong> das Zeichen des künstlerischen<br />
Ruhms, der vielleicht den Tod überdauert,<br />
oder sogar ein symbolisches Portrait<br />
des Flottenführers und Volkshelden<br />
Admiral Tromp, das Pieter Steenwijk nach<br />
dessen Tod 1653 schuf. Hier gibt das Titelblatt<br />
der Gedenkrede auf den Helden <strong>dem</strong><br />
Betrachter eine lesbare Auskunft über die<br />
Darstellung, während das Stilleben aus<br />
Totenkopf <strong>mit</strong> übergestülptem Federbarett<br />
und <strong>dem</strong> Degen des Admirals in geistvoller<br />
Weise die abwesende Person charakterisiert.<br />
Zu Beginn der Ausstellung haben<br />
BesucherInnen jedoch erst eine entwicklungsgeschichtliche<br />
Lektion absolviert und<br />
an Werken wie den „Vier Evangelisten“ des<br />
Utrechter Malers Jan van Bijlert von 1625<br />
gesehen, in welchem Maße die niederländische<br />
Malerei von ganz traditionellen, katholisch<br />
geprägten Vorbildern ausging. Der<br />
Entwicklungssprung von dieser in klaren,<br />
hellen Farben gehaltenen Darstellung hin zu<br />
Rembrandts Gemälde „Alte lesende Frau“<br />
von 1631 ist beeindruckend – eine gebückte<br />
Greisin liest angestrengt in einem riesigen<br />
Folianten, umgeben von undefinierter<br />
Dunkelheit und zugleich erhellt von einem<br />
auf sie gerichteten Lichtstrahl, der die kostbaren<br />
roten, goldenen und braunen Töne<br />
des Bildes aufglühen läßt. Ist es Rembrandts<br />
Mutter, wie oft vermutet wurde<br />
Oder handelt es sich doch um eine Darstellung<br />
der frommen Prophetin Hannah aus<br />
<strong>dem</strong> Neuen Testament Den lesenden Propheten,<br />
Heiligen und Einsiedlern ist ein<br />
ganzes Kapitel der Ausstellung gewidmet,<br />
das die Spannweite dieses Bildthemas von<br />
Godfried Schalkens inbrünstig-erotischer,<br />
lesender „Büßenden Magdalena“ bis hin zur<br />
fast grotesken Komik des von allerlei Unge-<br />
er, daß niemand je die Firma verlassen hat,<br />
es sei denn, er ist gestorben. Und schon ist<br />
er <strong>mit</strong>tendrin <strong>im</strong> Strudel der Mafia und des<br />
FBI.<br />
Sidney Pollack verfilmte diese Geschichte<br />
nach <strong>dem</strong> Bestseller von John Grisham<br />
etwas schleppend und <strong>mit</strong> zweieinhalb<br />
Stunden viel zu lang. Die Liebesgeschichte<br />
des jungen Ehepaares ist gar keine, die Rollen<br />
bleiben in Stereotypen hängen: dort das<br />
blasse He<strong>im</strong>chen am Herd <strong>mit</strong> weiblichen<br />
Intuitionen, da der Erfolgssüchtige, der<br />
zum Allein-Kämpfer wird. Im letzten Drittel<br />
wird es dann doch noch spannend, aber arg<br />
konstruiert zugleich. Tom Cruise hat <strong>mit</strong><br />
diesem Film wieder mal eine gute Arbeit<br />
hingelegt, solides Handwerk, das aber nicht<br />
vom Hocker reißt. Was man Sidney Pollack<br />
dagegen kaum attestieren kann: insgesamt<br />
fünf Mal lugte von oben ein Mikro in das<br />
Bild – Illusion ade! vro<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 12<br />
heuern bedrängten „Heiligen Antonius“ des<br />
David Teniers offenbart.<br />
Die Bibel und das Bibelstudium spielten in<br />
der protestantischen, oft kalvinistisch<br />
geprägten und so<strong>mit</strong> wortgläubigen Bürgerkultur<br />
der Niederlande eine wichtige<br />
Rolle. Daß daneben die Buchproduktion<br />
einen nie gekannten Höhepunkt erreichte<br />
und das städtische Bürgertum eine<br />
erstaunlich breite Kenntnis des Lesens und<br />
Schreibens besaß, gehört zu den in der<br />
Ausstellung aufgearbeiteten Themen. Zum<br />
Bestseller wurden neben der religiösen<br />
Erbauungsliteratur und zahlreichen Fortsetzungsromanen<br />
die Gedichte eines Herrn<br />
Jacob Cats, durch und durch moralisierende<br />
Werke, die die Werte und Tugenden<br />
einer geord<strong>net</strong>en, bürgerlichen Lebensweise<br />
widerspiegeln.<br />
Wen wundert’s, daß auch die Malerei diese<br />
Welt reflektiert, wenn van der Neer seine<br />
„Leserin“ andächtig über das Gelesene aus<br />
einem Emblembuch reflektieren läßt oder<br />
Jan van der Heyden die geord<strong>net</strong>en Weltwunder<br />
einer großbürgerlichen Kunstkammer<br />
in fast surrealistisch-klarer Weise wiedergibt<br />
Es gehört aber zugleich zum<br />
Wesen dieser Malerei, Moral und Maßstab<br />
ironisch oder subtil zu unterlaufen und zu<br />
kommentieren, wie dies Samuel van<br />
Hoogstraten in „Die Pantoffeln“, <strong>dem</strong> vielleicht<br />
beachtenswertestem Werk der Ausstellung<br />
tut. Neben <strong>dem</strong> Durchgang einer<br />
Tür hängt ein Handtuch und steht der<br />
Besen nach getaner Hausarbeit, man blickt<br />
über einen schmalen Flur durch die gerade<br />
geöff<strong>net</strong>e Tür in die gute Stube des Hauses,<br />
die Pantoffeln der Dame bleiben säuberlich<br />
vor der Schwelle stehen, eine erloschene<br />
Kerze und ein abgegriffenes Buch auf <strong>dem</strong><br />
Tisch zeugen von der unterbrochenen Lektüre.<br />
Erst ein Gemälde <strong>im</strong> Gemälde gibt uns<br />
den Schlüssel zu Verständnis der menschenleeren,<br />
doch von einem Lebenshauch<br />
noch warmen Szenerie – ter Borchs „Bordellszene“<br />
weist auf die explizit nicht darstellbaren<br />
erotischen Freuden der Hausleute<br />
hin. Daß diese privat bleibende Sphäre<br />
der Eheleute in helles Licht getaucht wird,<br />
während die Zeugen der Hausarbeit <strong>im</strong> Vordergrund<br />
verschattet bleiben, mag jeden<br />
Betrachter zu seiner eigenen Bildinterpretation<br />
anregen.<br />
Die diskrete Bildsprache kehrt bei den briefelesenden<br />
und briefeschreibenden Damen<br />
und Herren wieder, die ein letztes Kapitel<br />
der Ausstellung bilden. Dem Brief kam <strong>im</strong><br />
17. Jahrhundert nicht nur eine Rolle als<br />
weithin einzigem Kommunikations<strong>mit</strong>tel<br />
zu, sondern auch die Symbolik als Botschaft<br />
einer meist amourösen Beziehung.<br />
Hier glaubt man zu spüren, daß trotz der<br />
breiten Lese- und Schreibkenntnis diese<br />
Tätigkeiten stets <strong>im</strong> Bewußtsein ihrer<br />
besonderen Bedeutung für den Menschen<br />
ausgeübt wurden, daß Bücher und Briefe<br />
noch als wahre Kulturträger galten und<br />
noch nicht durch eine <strong>im</strong>mer schnellere<br />
Massenkommunikation entwertet waren.<br />
Es scheint, als hätte Gerard ter Borch einen<br />
Offizier in diesem Bewußtsein seinen Brief<br />
schreiben lassen, während ein Trompeter<br />
wartet, die Depeche zu über<strong>mit</strong>teln; und<br />
eine feine Dame dann die Botschaft bei<br />
einem Glas Wein liest, während bei Frans<br />
van Mieris bereits ein Arzt die offenbar liebeskranke<br />
Leserin ernsthaft zur Vernunft<br />
ermahnt. Diese stillen Bilder stehen zwar<br />
stets in einem Bezug zu der Sprachwelt der<br />
restlichen niederländischen Malerei, ohne<br />
daß sich jedoch das Denken oder Handeln<br />
ihrer Protagonisten ganz erschließen ließe.<br />
Von diesen zurückhaltend agierenden, auch<br />
in der Gesellschaft allein wirkenden Personen<br />
geht ein eigentümlicher Reiz aus, der<br />
sich bei Jan Vermeer aus Delft noch in einer<br />
Weise steigert, die <strong>dem</strong> Maler seit rund<br />
hundert Jahren eine geradezu kultische<br />
Verehrung zukommen läßt. Ein ruhiger<br />
Blick auf sein „briefeschreibendes<br />
Mädchen“ (aus Washington ausgeliehen)<br />
allein mag den Weg nach Frankfurt lohnen<br />
– auch wenn die ansonsten so ansprechende<br />
Gestaltung der Ausstellung gerade diesem<br />
Meisterwerk den gräßlichen Kontrast<br />
zwischen <strong>dem</strong> zarten Zitronengelb des pelzbesetzten<br />
Kleides und einem entschieden<br />
zu kräftigen Strohgelb der Wände zumutet.<br />
Dagegen mögen ein Leseraum <strong>mit</strong> weiterführender<br />
Literatur und ein kleines<br />
Führungsheftchen, das jeder Ausstellungbesucher<br />
erhält, der Lust am vergnüglichen<br />
Entdecken dieser Bilderwelten lehrreichen<br />
Vorschub gewähren.<br />
Gerhard Kölsch<br />
„Leselust“, Frankfurter Schirn-Kunsthalle,<br />
bis zum 2. Januar 1994; Mo 14 - 18, Di - Fr 10 - 22,<br />
Sa und So 10 - 19 Uhr, Katalog 49 Mark.
BRIEFE AN DIE REDAKTION I<br />
In eigener Sache: „Eine unerhörte Anmaßung“ „Sich gemeinsam wehren“<br />
Bauverein für Arbeiterwohnungen verweigert außer Informationen auch Inserate<br />
Der Gesetzgeber hat zum Schutz der Pressefreiheit<br />
auch die wirtschaftliche Seite nicht<br />
außer Acht gelassen. Was würde eine verfassungsrechtliche<br />
Garantie der Pressefreiheit<br />
nutzen, wenn die Behörden und Institutionen,<br />
die in öffentlichem Eigentum stehen<br />
(wie der Bauverein), einer Zeitung gezielt<br />
Anzeigen vorenthalten, um sie auszuhungern<br />
Dies geschieht seit dreieinhalb Jahren<br />
konsequent <strong>mit</strong> der Zeitung für Darmstadt.<br />
Unter fortwähren<strong>dem</strong> Verstoß gegen geltendes<br />
Recht sind bis zu der Ausgabe 55 keine<br />
Anzeigen in Auftrag gegeben worden. Manche<br />
Institutionen wie der Bauverein enthalten<br />
auch Informationen konsequent vor – das<br />
bezeich<strong>net</strong> man als Zensur. Bauvereinsdirektor<br />
Heinz Reinhard und eine ganze Reihe<br />
Vertreter anderer Behörden und behördengleicher<br />
Institutionen haben wir deshalb<br />
nach dreijährigem Boykott angeschrieben,<br />
denn wir denken, die Herren hatten lange<br />
genug Zeit, die Zeitung kennenzulernen und<br />
sich zu überlegen, ob sie auch weiterhin<br />
gesetzeswidrig handeln wollen. Nach<strong>dem</strong><br />
wir erst Mitte Juli freundlich angefragt hatten<br />
und ohne Antwort geblieben waren, mahnten<br />
wir am 29.9. <strong>mit</strong> Setzen einer Frist ab; da erst<br />
bequemte sich Reinhard zu einer Antwort.<br />
Eine zweite, wieder befristete Abmahnung ist<br />
gesetzlich vorgeschrieben, bevor wir die<br />
Juristen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Überprüfen der Gesetzestreue<br />
des Bauvereinsdirektors beauftragen<br />
können. Ob er einlenken wird Im Folgenden<br />
veröffentlichen wir die Korrespondenz:<br />
Sehr geehrter Herr Reinhard,<br />
am 15.7.1993 hatten wir Sie angeschrieben<br />
und gebeten, auch unsere LeserInnen bei Informationen<br />
zu berücksichtigen, die Sie über<br />
Inserate verbreiten lassen. Leider haben Sie<br />
bis heute auf unser Anschreiben nicht geantwortet.<br />
Wir bitten Sie deshalb wiederholt um<br />
eine Antwort.<br />
Sollten Sie sich inzwischen zu einer Gleichbehandlung<br />
der ortsansässigen Zeitungen<br />
entschlossen haben, reicht das Erteilen von<br />
Aufträgen, denn anhand der Publikationen<br />
sind wir über die Tätigkeit Ihres Hauses informiert.<br />
In diesem Falle bitte ich Sie, den<br />
Sachbearbeitern die Telefonnummer von<br />
Herrn Schäfer (719896) weiterzugeben.<br />
Nehmen Sie nach wie vor Abstand von einem<br />
Inserieren in der „Zeitung für Darmstadt“,<br />
bitte ich Sie um Begründung und darf mir dafür<br />
den 22.10.93 vormerken. Da der Gesetzgeber<br />
ausdrücklich ein wettbewerbswidriges<br />
Verhalten der Behörden durch einseitiges<br />
Bevorteilen gerade bei neu auf den Markt<br />
hinzutretenden Verlagen ausschließt, betrachten<br />
Sie dieses Anschreiben bitte als erste<br />
Abmahnung <strong>im</strong> Sinne juristischer Formvorschriften.<br />
Mit Dank <strong>im</strong> voraus und freundlichem Gruß<br />
Darmstadt, den 29.9.93<br />
M. Gr<strong>im</strong>m<br />
Sehr geehrter Herr Reinhard,<br />
Dank für Ihren Brief vom 7.10.. Ihrer Aufforderung<br />
bin ich gerne nachgekommen und<br />
habe Ihre Objektivität nachzuvollziehen versucht.<br />
Mit meinem Schreiben hatte ich Sie gebeten,<br />
Stellung zu einem wieder einmal unbeantworteten<br />
Schreiben (15.7.) zu beziehen. Ich<br />
verstehe ja, daß Sie nicht gerne schreiben –<br />
das ist wohl objektiv richtig. Inwieweit meine<br />
Schreiben objektiv besehen eine „Anmaßung“<br />
darstellen, vermag ich nicht zu erkennen,<br />
denn <strong>im</strong>merhin ist es der Gesetzgeber,<br />
der eine Gleichbehandlung der Presse vorschreibt.<br />
Da Sie in Lohn und Sold aus öffentlichen Mitteln<br />
stehen, der Bauverein ist eine 100-Prozent-Tochter<br />
der Stadt, haben Sie ebenso<br />
wie alle anderen Behörden den Gleichbehandlungsgrundsatz<br />
zu beachten. Sowohl<br />
was Informationen anbelangt als auch Anzeigen,<br />
von denen Sie vergangene Woche wieder<br />
einmal eine überflüssig große <strong>im</strong> „Echo“<br />
geschaltet und da<strong>mit</strong> der Förderung fremden<br />
Wettbewerbs gedient haben. Wie lange dauert<br />
es denn noch, bis auch Sie akzeptieren,<br />
daß Darmstadt eine zweite Zeitung braucht<br />
Noch einmal drei Jahre Ohne Anzeigen und<br />
Informationen ist es objektiv außerordentlich<br />
schwer, eine zweite Zeitung aufzubauen –<br />
oder sollten Sie gar etwas gegen die Presse<br />
<strong>im</strong> allgemeinen haben Wenn sich Ihre Zensur<br />
der „Zeitung für Darmstadt“ gegen die<br />
Weibliche Idole,<br />
20.000 Jahre alt und jünger<br />
Liebe Damen und Herren des Teams<br />
und besonders lieber Herr Kölsch,<br />
da habe ich mich doch sehr gefreut, daß<br />
Herr Kölsch nach Wiesbaden ins Frauenmuseum<br />
gefahren ist und über die wichtige<br />
Ausstellung, „Die Sprache der Göttin“, ein<br />
so großer und gut plazierter Artikel von ihm<br />
in der Zeitung für Darmstadt erschien.<br />
Weniger richtig fand ich, daß meine Zeichnung<br />
ohne meinen Namen erschien. Es ist<br />
sicher ein Phänomen, daß ein männlicher<br />
Zeitungsbericht dann doch wenigstens die<br />
Hälfte der Länge Infragestellung sein muß.<br />
Die Frage nach der wissenschaftlichen<br />
Methodik, so scheinbar zierlich gestellt,<br />
läßt sich doch leicht bei den 200 wissenschaftlichen<br />
Aufsätzen von Frau Prof. Marija<br />
D<strong>im</strong>butas nachlesen (es gibt einen sehr<br />
informativen Artikel in „Ab 40“, 4/1993,<br />
✁<br />
Briefe:<br />
An die<br />
Postfach: 10 11 01<br />
64211 Darmstadt<br />
Telefax: 06151 - 71 98 97<br />
einer Zeitschrift von, für und über Frauen)<br />
oder in den veröffentlichten Büchern. Auch<br />
deutsche Autorinnen wie Frau Göttner-<br />
Abendrot oder Jutta Voss wären zu nennen.<br />
Oder wie wär es <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Besuch irgendeines<br />
Museums <strong>im</strong> südosteuropäischen<br />
Raum, da gibt es in je<strong>dem</strong> neolithische Funde<br />
zu sehen. Im Augenblick kann ich bis<br />
Ende des Monats auch die Fotodokumentation<br />
der Ausgrabungen aus Anatolien/Türkei,<br />
Catal Höyük – „Auf den Spuren der Göttin“<br />
<strong>im</strong> Frauenmuseum Bonn empfehlen.<br />
Diese vorpatriarchale Kultur war keine<br />
Frauenherrschaft über Männer, wie Sie sich<br />
leicht überzeugen können, vielleicht n<strong>im</strong>mt<br />
Ihnen das etwas von Ihrer Angst und<br />
Abwehr, Herr Kölsch. Sie haben sich in die<br />
Auseinandersetzung erst einmal hineinbegeben,<br />
das ist lobenswert. Vielleicht wollen<br />
Sie wirklich Ihren Fragen nachgehen und<br />
das ist nicht nur so ein Redaktionsstil von<br />
Ihnen. Ich wünsche Ihnen viele neue<br />
Erkenntnisse, sie werden auch mehr über<br />
sich dabei erfahren können.<br />
Es grüßt Sie herzlich,<br />
Prof. Dr. Gunhild Langosch<br />
Zur Ausstellung: „Weibliche Idole, 20000 Jahre alt<br />
und jünger“ <strong>im</strong><br />
Frauenmuseum<br />
Wiesbaden bis<br />
April 1994<br />
von mir gedruckten Inhalte richten sollte,<br />
warum schreiben Sie dann nicht Publizität<br />
ist Ihnen zugesichert.<br />
Anscheinend paßt die so einfache gesetzliche<br />
Regelung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />
nicht in die Köpfe einiger DarmstädterInnen.<br />
Was bleibt uns als Zeitungsmachern<br />
dann anderes übrig, als die Gesetzeslage <strong>im</strong>mer<br />
und <strong>im</strong>mer wieder anzumahnen – die Alternative<br />
dazu ist das Einstellen der Zeitung.<br />
Wollen Sie das Wir jedenfalls denken nicht<br />
an ein Einstellen und fordern Sie deshalb wiederholt<br />
auf, die Gesetze einzuhalten und uns<br />
bei der Vergabe sowohl von Informationen<br />
als auch von Anzeigen, die Sie an andere Zeitungen<br />
weiterleiten, zu berücksichtigen.<br />
In diesem Sinne betrachte ich dieses Anschreiben<br />
als zweite juristische Abmahnung<br />
und erwarte, daß Sie mir bis zum 22.10.<br />
schriftlich Bescheid geben, ob Sie diese, meine<br />
objektive Sicht <strong>mit</strong> mir teilen und künftig<br />
für die Gleichbehandlung sorgen werden.<br />
In der neuesten Ausgabe der ZD finden Sie<br />
übrigens noch keine vergleichende Berechnung<br />
für die Bebauung des Ruthsplatzes, da<br />
Sie mir die Informationen darüber nicht zugestellt<br />
haben. Deshalb bitte ich Sie wiederholt<br />
um die Berechnungsunterlagen.<br />
Mit einem freundlichen<br />
Guten Morgen für Darmstadt<br />
Darmstadt, den 8.10.93<br />
M. Gr<strong>im</strong>m<br />
Gesetzwidrige<br />
Tierversuche<br />
Rückhaltlose Informationen über Tierversuche<br />
an der Universitätsklinik in Frankfurt/<br />
Main haben Tierschützer von der hessischen<br />
Landesregierung verlangt. Gesundheitsministerin<br />
Iris Blaul (Grüne) soll <strong>mit</strong>teilen, ob<br />
<strong>dem</strong> Klinikum bis zum Jahr 1995 insgesamt<br />
50 Exper<strong>im</strong>ente an mindestens 33.000 Tieren<br />
genehmigt wurden. Das forderte der<br />
„Bund gegen Mißbrauch der Tiere“ in einem<br />
Schreiben an die Ministerin.<br />
Der Geschäftsführer der Tierschutzorganisation,<br />
Ilja Weiss, will <strong>mit</strong> der Anfrage auch<br />
erfahren, ob es zutrifft, daß die gesetzlich<br />
vorgeschriebene Funktion des betrieblichen<br />
Tierschutzbeauftragten an der Frankfurter<br />
Universitätsklinik seit längerer Zeit nicht<br />
besetzt ist. „In einem solchen Fall würde sich<br />
die Frage stellen, wie es möglich ist, daß <strong>dem</strong><br />
Klinikum überhaupt Tierversuche erlaubt<br />
werden, obwohl das Tierschutzgesetz die<br />
Mitwirkung des betrieblichen Beauftragten<br />
fordert“, stellte Weiss fest.<br />
Eine Frankfurter Tierschutzgruppe hatte<br />
berichtet, aus Unterlagen der Universitätsklinik<br />
gehe hervor, daß dort bis 1995 in 50 Versuchsvorhaben<br />
mindestens 33.000 Tiere<br />
verbraucht werden sollen. Für die bereits<br />
genehmigten Exper<strong>im</strong>ente seien außer Hunden,<br />
Katzen, Meerschweinchen, Hühnerküken<br />
und Schweinen auch Exoten wie Ka<strong>im</strong>ane<br />
und Wachteln vorgesehen.<br />
Jutta Breitwieser, Vorsitzende des<br />
Bundes gegen Mißbrauch der Tiere e. V.<br />
„Was kann eine Mieterinitiative tun und<br />
bewegen“ war das Thema eines Informationsabends<br />
der Mieterinitiative Kranichstein<br />
am Dienstag, den 5. Oktober.<br />
Ulrich Strohecker, Mitglied des Mieterausschusses<br />
des Mannhe<strong>im</strong>er Stadtteils<br />
Vogelstang, berichtete von den vielfältigen<br />
Aktivitäten gegen den Verkauf und die<br />
Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen<br />
in diesem Mannhe<strong>im</strong>er Stadtteil.<br />
Neben monatlichen Broschüren, einer<br />
Stadtteilzeitung zur Information der Bürgerinnen<br />
und Bürger berichtete Herr Strohecker<br />
auch von vielen Aktivitäten zur Herstellung<br />
von Öffentlichkeit. Ein Höhepunkt<br />
war eine Fahrt nach Bonn in den Bundestag<br />
<strong>mit</strong> anderen Initiativen zusammen, wo zeitgleich<br />
die Beratung einer Gesetzesvorlage<br />
zur Wohnungspolitik stattfand. Herr Strohecker<br />
führte die darin beschlossene Verlängerung<br />
der Frist, nach Anspruch auf<br />
Eigenbedarf bei der Umwandlung von Mietin<br />
Eigentumswohnungen geltend gemacht<br />
werden kann, auch auf den massiven Druck<br />
von Mieterinitiativen zurück.<br />
Im Laufe der Diskussion wurde deutlich,<br />
daß es viele Gemeinsamkeiten die Situation<br />
der Mieterinnen und Mieter in Kranichstein<br />
und in Mannhe<strong>im</strong>-Vogelstang betreffend<br />
gibt.<br />
Weitere Themen an diesem Abend waren<br />
die von vielen Mieterinnen und Mietern vorgetragenen<br />
Probleme bei der Mängelbeseitigung<br />
und Instandhaltung vieler Wohnungen,<br />
insbesondere der GWH. Viele klagten<br />
über feuchte Wände, undichte Fenster und<br />
die ungenügende Abstellung dieser Mängel.<br />
Hier wird die Mieterinitiative weiter am<br />
Ball bleiben und die Mieterinnen und Mieter<br />
gezielt informieren.<br />
Weitere Punkte waren die hohen Nebenkosten,<br />
die Forderung nach Wasseruhren in<br />
den einzelnen Wohnungen und ein Notruftelefon<br />
zur besseren Erreichbarkeit in Notfällen.<br />
Die Mieterinitiative will sich <strong>mit</strong> den Wohnungsbauunternehmen<br />
in Verbindung setzen<br />
und Gespräche führen. Der Mieterverein<br />
soll hierbei einbezogen werden und das<br />
noch ausstehende Gespräch baldmöglichst<br />
durchgeführt werden. Leider wurde auch<br />
versucht, einen Mieter von seiten des Vermieters<br />
her unter Druck zu setzen. Der<br />
betroffenen Familie wurde die fristlose Kündigung<br />
angedroht, falls sie weiterhin das<br />
Vertrauensverhältnis zwischen Mieter und<br />
Vermieter belasten würden. Hintergrund<br />
war ein Nachbarschaftsbrief, in <strong>dem</strong> die<br />
Familie ihre Mitbewohner aufforderte, sich<br />
gemeinsam zu wehren. Die Mieterinitiative<br />
weist solche Einschüchterungsversuche<br />
zurück und wird der betroffenen Familie zur<br />
Seite stehen.<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 13<br />
Mieterinitiative Kranichstein<br />
gegen Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen<br />
Das nächste Treffen der Mieterinitiative<br />
wird Ende November stattfinden und über<br />
einen konkreten Forderungs- und Aktivitätenkatalog<br />
beraten. Weiterhin soll Kontakt<br />
zum Förderverein Kranichstein aufgenommen<br />
und weitere Mängel in Kranichsteiner<br />
Wohnungen aufgedeckt und öffentlich<br />
gemacht werden. Wer weitere Informationen<br />
über die Mieterinitiativen haben oder<br />
<strong>mit</strong>machen will, wer Probleme bei der Mängelbeseitigung<br />
hat, wende sich an:<br />
Heinz und Hei<strong>dem</strong>arie Thielmann,<br />
Tel.: 71 23 29 oder<br />
Rainer Keil, Tel.: 71 39 96<br />
Sitzblockaden in Mutlangen<br />
waren keine Nötigung<br />
Freispruch für Klaus Vack und seine Töchter<br />
Mit Beschluß vom 30.9.93 hat das Amtsgericht<br />
Schwäbisch Gmünd nach siebeneinhalb<br />
Jahren das Strafverfahren wegen Nötigung<br />
anläßlich pazifistisch begründeter<br />
Sitzblockaden in Mutlangen - gegen Klaus<br />
Vack, dessen Töchter Aicha und Sonja<br />
sowie Ingmar Reichert eingestellt. Ebenfalls<br />
eingestellt wurde vom Landgericht Ellwangen<br />
ein Strafverfahren am 17.9. gegen<br />
Christel Eifert , die <strong>im</strong> September1986<br />
gleichfalls in Mutlangen an einer Sitz<strong>dem</strong>onstration<br />
gegen Pershing-Raketen teilgenommen<br />
hatte.<br />
Im Familienprozeß Vack begründete das<br />
Gericht die Einstellung <strong>mit</strong> der langen Verfahrensdauer,<br />
die in keinem Verhältnis stehe<br />
zu der dreijährigen Bewährungsfrist.<br />
Das Gericht wies daraufhin, daß sich <strong>im</strong><br />
Laufe der Jahre die Rechtsauffassung zum<br />
Nötigungsparagraphen geändert habe.<br />
Durch <strong>im</strong>mer mehr Obergerichte erfolgten<br />
entweder Freisprüche oder würden für eine<br />
Verurteilung Voraussetzungen erhoben, die<br />
nach so langer Zeit nicht mehr nachgeprüft<br />
werden könnten .<br />
P.E.N.<br />
protestiert gegen<br />
Kontakte <strong>mit</strong><br />
Gehe<strong>im</strong>dienst<br />
Äußerst schockiert äußerst sich das P.E.N.-<br />
Zentrum der BRD über die engen Kontakte<br />
Bonns zum iranischen Gehe<strong>im</strong>dienst.<br />
Die zweitägigen Verhandlungen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Chef des iranischen Gehe<strong>im</strong>dienstes, Minister<br />
Fallahian, wenige Tage nach <strong>dem</strong><br />
Attentat auf den norwegischen Verleger von<br />
Salman Rushdie in Oslo, nennt der P.E.N.<br />
eine Ungeheuerlichkeit. Mit diesen<br />
Gesprächen und der gleichzeitig bekannt<br />
gewordenen bereits zweijährigen engen<br />
Zusammenarbeit der Dienste beider Länder<br />
habe sich die Bundesregierung auch innerhalb<br />
der Europäischen Gemeinschaft isoliert.<br />
Offenbar spreche man in Bonn <strong>mit</strong><br />
zwei Zungen. Wer verbal für Rushdie eintrete<br />
und gleichzeitig <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> iranischen<br />
Gehe<strong>im</strong>dienst verhandele, riskiere seine<br />
Glaubwürdigkeit.<br />
Wörtlich heißt es: „Bonn weigert sich, das<br />
Treffen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> iranischen Minister zu<br />
kommentieren“. Aber <strong>dem</strong> Gast der Bundesregierung<br />
aus Teheran selbst verdanken<br />
wir die Information, daß es Konfliktpunkte<br />
nicht gab und von Menschenrechten nicht<br />
die Rede war. Auch das Todesurteil gegen<br />
einen <strong>im</strong> Iran verhafteten Deutschen und<br />
die Ermordung von vier iranischen Kurden<br />
auf deutschem Boden <strong>im</strong> September 1992<br />
standen offenbar nicht zur Debatte. Seit<br />
1989 sind in Westeuropa insgesamt 21 iranische<br />
Dissidenten ermordet worden. Daß<br />
der dafür verantwortliche iranische<br />
Gehe<strong>im</strong>dienst sich darauf berufen kann, <strong>mit</strong><br />
Bundeskanzleramt, BND und Verfassungsschutz<br />
vertrauensvoll zusammenzuarbeiten,<br />
verdient festgehalten zu werden.<br />
P.E.N.-Zentrum<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Der erste Prozeß in dieser Sache gegen<br />
Klaus Vack und seine Angehörigen, der<br />
über fünf Verhandlungstage ging und<br />
Kosten von zirka 12.000 Mark verursachte<br />
hatte, führte am 19.2.87 zu einer Verurteilung.<br />
Diese wurde jedoch vom Oberlandesgericht<br />
Stuttgart zurückverwiesen, weil der<br />
damalige Amtsrichter, der heutige Gerichtspräsident<br />
des Amtsgerichts Schwäbisch<br />
Gmünd Dr. Werner Offenloch, zwar ausdrücklich<br />
die lauteren Motive und die Friedlichkeit<br />
der Demonstration in seinem<br />
schriftlichen Urteil hervorgehoben hatte,<br />
die Blockade gegen Raketen jedoch als verwerflich<br />
eingestuft hatte.<br />
In allen Fällen erfolgte die Einstellung auf<br />
Kosten der Staatskasse. Da<strong>mit</strong> kommen<br />
diese Einstellungen sämtlich einem Freispruch<br />
gleich.<br />
Klaus Vack sieht in diesen und vielen anderen<br />
Fällen von Einstellungen keinen ausreichenden<br />
Anlaß zur Zufriedenheit: „Be<strong>im</strong><br />
Nötigungsparagraphen ist die Justiz zum<br />
Büttel der Politik geworden, und es ist eine<br />
Schande, daß der Nötigungsparagraph, der<br />
über zehn Jahre <strong>mit</strong> großer Schärfe angewandt<br />
wurde, nicht längst zugunsten der<br />
friedlichen Demonstranten reformiert worden<br />
ist. Das Ko<strong>mit</strong>ee für Grundrechte und<br />
Demokratie wird sich auch weiter politisch<br />
und juristisch gegen den §240 StGB wenden,<br />
denn er wird frühestens dann wieder<br />
in Aktion gesetzt, wenn es zu neuen, gleichgelagerten<br />
Konflikten <strong>kommt</strong>.<br />
Hanne Vack<br />
DESIGNERTEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
Im Stundentakt von Ort zu Ort<br />
VCD fordert „Integralen Taktfahrplan“ <strong>im</strong> Kreis<br />
Eine komplette Überarbeitung<br />
des öffentlichen Nahverkehrs <strong>im</strong> Kreis Darmstadt-Dieburg<br />
hat der Verkehrsclub Deutschland<br />
(VCD) gefordert. Nach Ansicht des VCD<br />
soll ein „Integraler Taktfahrplan“ es in naher<br />
Zukunft ermöglichen, <strong>im</strong> Stundentakt von<br />
je<strong>dem</strong> Ort <strong>im</strong> Kreis jeden anderen Ort zu<br />
erreichen, ohne lange auf den Anschluß warten<br />
zu müssen. Für den Schienenverkehr läßt<br />
der Rhein-Main-Verkehrsbund bereits eine<br />
entsprechende Untersuchung erstellen.<br />
Be<strong>im</strong> integralen Taktfahrplan setzt der<br />
umweltbewußte Verkehrsclub auf die Koordination<br />
der heutigen Bahn- und Buslinien. Diese<br />
müßten „intelligent ver<strong>net</strong>zt“ werden. An<br />
den Knotenpunkten sollen alle Nahverkehrslinien<br />
zu gleicher Zeit eintreffen und abfahren.<br />
So könnten opt<strong>im</strong>ale Anschlüsse in alle Richtungen<br />
sichergestellt werden. Ein derartiger<br />
Taktknoten ist in Darmstadt bereits der Luisenplatz,<br />
<strong>im</strong> Ostkreis der Dieburger Bahnhof.<br />
Als weitere Knoten stellt sich der VCD unter<br />
anderem den Bahnhof Bickenbach und eine<br />
zentrale Bushaltestelle in Modautal-Ernsthofen<br />
vor.<br />
Allein durch die Ver<strong>net</strong>zung und den effektiven<br />
Einsatz der vorhandenen Fahrzeuge<br />
erwartet der VCD mehr Fahrgäste von rund<br />
10 Prozent. „Diese Zahl wurde uns von fortschrittlichen<br />
Nahverkehrsplanern genannt“,<br />
meint Uwe Schuchmann, Sprecher des VCD.<br />
Die Linienstruktur muß nach Ansicht des<br />
VCD dabei „komplett überdacht werden“. So<br />
sollte z.B. die Schnellbuslinie Groß-Umstadt<br />
– Darmstadt mindestens jede Stunde über<br />
den Dieburger Bahnhof führen, um opt<strong>im</strong>ale<br />
Anschlüsse aus der Weininsel in Richtung<br />
Rodgau herzustellen.<br />
In den integralen Taktfahrplan soll „auf jeden<br />
Fall“ der heutige Schulbusverkehr eingebaut<br />
werden; Schulbeginn und -ende sollen sich<br />
am Fahrplan orientieren. So können heute<br />
ineffektiv gebundene Finanz<strong>mit</strong>tel statt für<br />
Schulbusse für einen attraktiven Nahverkehr<br />
verwendet werden. „Zur Zeit gibt der Kreis<br />
mehr Geld für die Schülerbeförderung aus als<br />
für den öffentlichen Nahverkehr“, weiß<br />
Schuchmann. Angesichts der heutigen<br />
Finanz<strong>mit</strong>telknappheit müsse „jegliche Ressource“<br />
zur Finanzierung des Nahverkehrs<br />
erschlossen werden.<br />
Uwe Schuchmann<br />
„Die Erkenntnis lautet: Es gibt nur ein Interesse<br />
der <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Fall befaßten Juristen:<br />
Das Verfahren gegen Anton Malloth zu verhindern.“<br />
„Dabei erschien auf <strong>dem</strong> Bildschirm auch<br />
der Dortmunder Oberstaatsanwalt Klaus<br />
Schacht: Ein emotionsloser Ochsenfrosch,<br />
<strong>dem</strong> die Untat ins Gesicht geschrieben<br />
stand.“<br />
Diese beiden Sätze schrieb Ralph Giordano<br />
in seiner Rezension des Buches „Haus<br />
Deutschland oder die Geschichte eines<br />
ungesühnten Mordes“ von Peter Finkelgruen,<br />
die am 9.1.1993 in der „Frankfurter<br />
Rundschau“ erschien. In <strong>dem</strong> Buch wird<br />
die Geschichte von Finkelgruens Großvater<br />
rekonstruiert und wie dieser Opfer eines<br />
Verbrechens, begangen durch den SS-Aufseher<br />
Anton Malloth, wurde. Das Verhältnis,<br />
das Politik und Justiz dieses Landes<br />
nach <strong>dem</strong> Krieg zu Opfern und Tätern entwickelt<br />
haben, wird an den in diesem dargestellten<br />
Personen exemplarisch aufgezeigt<br />
– einschließlich des Oberstaatsanwalts<br />
Klaus Schacht, der die Anklage gegen einen<br />
bereits als Mörder Überführten und Verurteilten<br />
abgelehnt hat.<br />
Im folgenden veröffentlichen wir einen<br />
Briefwechsel zwischen der HEAG und der<br />
ZD, der Einsicht gibt, warum in der Berichterstattung<br />
über einige fremdenfeindliche<br />
Vorfälle nichts über Konsequenzen zu lesen<br />
war. Die HEAG enthält auf Vorstandsbeschluß<br />
der Öffentlichkeit die Informationen<br />
vor und beschwert sich darüber, daß in der<br />
ZD, Ausgabe 55, der folgende Absatz publiziert<br />
war: „Die HEAG präsentierte werbewirksam<br />
ihre Aktion, ‚Stoppt alten Haß und<br />
neue Schläger‘, verschwieg jedoch<br />
Schmäh- und Drohbriefe, die daraufhin<br />
zuhauf eingegangen sein sollen – auch eine<br />
Anfrage der ZD blieb bis heute unbeantwortet“.<br />
Auf <strong>dem</strong> „Fachtag des Kommunalen<br />
Präventionsrates“ war eindeutig festgehalten<br />
worden: Gewalt wird unterstützt, wenn<br />
sie geduldet wird.<br />
BRIEFE AN DIE REDAKTION II<br />
Eine Mark für Kinder <strong>im</strong> Krieg<br />
Vertrauliches zwischen Hessischer Elektrizitäts AG und ZD<br />
Wie Informationen der Öffentlichkeit vorenthalten werden<br />
Traudel Damjanic hofft auf Spenden und auf Weihnachtspäckchen<br />
Die schrecklichen Kriegsbilder aus <strong>dem</strong><br />
ehemaligen Jugoslawien gehören seit<br />
Monaten zum bundesrepublikanischen<br />
Fernsehalltag und haben durch negativen<br />
Gewöhnungseffekt zwangsläufig an ihrer<br />
eindringlichen Kraft verloren, die noch vor<br />
Wochen starke Hilfsbereitschaft und Spendenfreude<br />
ausgelöst hatte. „Jetzt dürfen wir<br />
nicht aufhören, das unsagbare Leid der<br />
Kriegskinder zu lindern.“<br />
Traudel Damjanic organisiert und begleitet<br />
Staatsanwalt: Beleidigung und üble Nachrede<br />
P.E.N.-Schriftsteller solidarisieren sich <strong>mit</strong> Ralph Giordano<br />
Am 26.4.93 teilte der Frankfurter Staatsanwalt<br />
Rauchhaus Ralph Giordano <strong>mit</strong>, daß<br />
gegen ihn ein Er<strong>mit</strong>tlungsverfahren wegen<br />
„Beleidigung und übler Nachrede zum<br />
Nachteil des Oberstaatsanwalts Klaus<br />
Schacht“ eingeleitet worden sei. Am 6.8.93<br />
hat Rauchhaus be<strong>im</strong> Amtsgericht Frankfurt<br />
Anklage erhoben. Statt den Kollegen<br />
Schacht auf den Weg der Privatklage zu<br />
verweisen, den seinerzeit auch Heinrich<br />
Böll gegen Matthias Walden beschreiten<br />
mußte, hat der Frankfurter Staatsanwalt<br />
beschlossen, Ralph Giordano <strong>im</strong> Interesse<br />
der Öffentlichkeit, d.h. des Staates, anzuklagen.<br />
Nach <strong>dem</strong> Feuertod dreier Türkinnen in<br />
Mölln am 23.11.92 hatte Giordano, angesichts<br />
des Passivität des Staates, gegen die<br />
rechten Gewalttäter an Helmut Kohl<br />
geschrieben, Juden in Deutschland würden<br />
ihren Schutz nun selber in die Hände nehmen.<br />
Zwei Tage später erklärte Bundeskanzler<br />
Kohl <strong>im</strong> Plenum des Deutschen<br />
Bundestages: „Das Gewaltmonopol des<br />
Staates darf nicht angetastet werden. Wer<br />
dies versucht, muß die ganze Härte des<br />
Staates zu spüren bekommen.“ Kurz<br />
Sehr geehrter Herr Methlow,<br />
Ihr Schreiben vom 15.10. darf ich berichtigen.<br />
Zum einen hatten nicht Sie mir „vertraulich“<br />
<strong>mit</strong>geteilt, daß auf Ihre Aktion „Stoppt alten<br />
Haß und neue Schläger“ Droh- und Schmähbriefe<br />
eingegangen sind, zum anderen hatten<br />
sie am 6.9. zugesagt, <strong>mit</strong>zuteilen, ob der Vorstand<br />
die Informationen freigibt. Nach Ihrer<br />
Auskunft wollte der Vorstand die Schmähbriefe<br />
in der darauffolgenden Woche sichten<br />
und dann entscheiden, ob die HEAG da<strong>mit</strong> an<br />
die Öffentlichkeit treten wolle. Ich warte seit<strong>dem</strong><br />
vergebens auf Ihren Rückruf.<br />
Dann trat die HEAG <strong>mit</strong> der Aktion auf <strong>dem</strong><br />
Fachtag des kommunalen Präventionsrates<br />
am 29.9. öffentlich werbewirksam auf und<br />
verschwieg die ausländerfeindlichen Reaktionen.<br />
Hatten Sie erwartet, daß wir unseren<br />
LeserInnen ebenso eine scheinbar heile<br />
Darmstädter Wirklichkeit vorspiegeln<br />
Der Vorstand der HEAG, nach Ihrer Auskunft<br />
bestehend aus Ihnen, Horst Blechschmidt<br />
und Dr. Siegfried Bittner, hat offensichtlich<br />
beschlossen, die Öffentlichkeit nicht zu informieren;<br />
dürfen wir wohl daraus schließen,<br />
daß wir nichts mehr von Ihnen gehört haben.<br />
Eine Informationssperre gilt wohl auch für<br />
die Resolution des AStA der Technischen<br />
Hochschule: Sie erinnern sich Aufgrund der<br />
Zeugenaussage eines Studenten waren die<br />
Fahrkartenkontrolleure Ihres Frankfurter<br />
Subunternehmens beschuldigt worden, offen<br />
ausländerfeindlich aufgetreten zu sein.<br />
Angeblich wollte die HEAG dringlichst den<br />
Zeugen sprechen und konnte ihn – so war<br />
uns <strong>mit</strong>geteilt worden – nicht erreichen.<br />
Nach<strong>dem</strong> wir Ihnen die Adresse des Studenten<br />
<strong>mit</strong>geteilt hatten, war er nach eigener<br />
Aussage bei Ihnen – doch Sie behaupteten<br />
gegenüber der ZD, er sei nicht erreichbar<br />
gewesen. Auch ein Vorstandsbeschluß<br />
Nehmen Sie dies bitte als erste schriftliche<br />
Frage, auf deren Beantwortung unsere LeserInnen<br />
ebenso neugierig sind wie wir. Übrigens:<br />
unseren LeserInnen ist es sicher<br />
gleichgültig, wie die Informationen an die ZD<br />
gelangen, ob telefonisch oder schriftlich,<br />
Hauptsache, die Fragen werden beantwortet.<br />
Und da möchten wir gleich den Anfang <strong>mit</strong><br />
den folgenden Fragen machen:<br />
1. Wieviele Droh- bzw. Schmähbriefe sind<br />
der HEAG auf Ihre Aktion „Stoppt alten Haß<br />
… “ zugegangen<br />
2. Sind Sie bereit, der Öffentlichkeit die<br />
Drohbriefe zugänglich zu machen<br />
<strong>im</strong> dritten Jahr regelmäßig Hilfstransporte<br />
(bisher 27) in Lager an der dalmatinischen<br />
Küste und überwacht die Verteilung der<br />
Güter an Ort und Stelle. Kinder, die die<br />
Flucht und Vertreibung aus ihren He<strong>im</strong>atorten<br />
in Bosnien-Herzegowina und Kroatien<br />
überlebt haben, sind hier in Lagern und<br />
ehemaligen Hotels untergebracht. Krank an<br />
Körper und Seele aus einer Alptraumwelt<br />
kommend, leben sie in Not und Hunger.<br />
„Die Kinder leiden stark, die Babynahrung<br />
danach hat der Dortmunder Oberstaatsanwalt<br />
Schacht bei seinen Frankfurter Kollegen<br />
Anzeige gegen Giordano erstattet.<br />
Wir, die Unterzeichnenden, übernehmen<br />
die inkr<strong>im</strong>inierten Sätze als eigene und<br />
äußern sie hier<strong>mit</strong> öffentlich:<br />
Jurek Becker, Katja Behrens, Henryk Broder,<br />
Wibke Bruhns, Eva Demski, Dr. Christa<br />
Dericum, Peter Finkelgruen, Uwe Friesel,<br />
Jürgen Fuchs, Max von der Grün, Gerd Heidenreich,<br />
Dieter Hildebrandt, Ursula Krechel,<br />
Manfred Krug, Günter Kunert, Dr. Jea<strong>net</strong>te<br />
Lander, Siegfried Lenz, Monika<br />
Maron, Helmut Ortner, Prof. Dr. Adalbert<br />
Podlech, Peter Schneider, Wilfried Schoeller,<br />
Gertrud Seehaus, Adam Seide, Johannes<br />
Mario S<strong>im</strong>mel, Günter Wallraff, Eva<br />
Weissweiler, Gerhard Zwerenz<br />
PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren<br />
<strong>im</strong> Ausland, Fritz Beer, London<br />
Weitere Unterschriften und Solidaritätsbekundungen<br />
werden begrüßt. Schreiben Sie<br />
an:<br />
ISRADOK, 50937 Köln, Postfach 420 248<br />
Wenn nein, warum nicht<br />
3. Soweit die Drohbriefe strafbaren Inhaltes<br />
waren, hat die HEAG gegen die Autoren<br />
Strafanzeige gestellt<br />
4. Warum hat die HEAG die Aktion als vorbildlich<br />
in der Öffentlichkeit dargestellt und<br />
die Reaktionen verschwiegen<br />
5. Sind der HEAG weitere fremdenfeindliche<br />
Aktionen bekannt geworden, die sie der<br />
Öffentlichkeit nicht bekannt machen will<br />
Wenn ja, wieviele und welche<br />
Der HEAG war eine Resolution des AStA der<br />
Technischen Hochschule zugeleitet worden,<br />
wegen rassistischer Äußerungen von Fahrkartenkontrolleuren.<br />
1. Warum ist der ZD trotz Anfrage nicht <strong>mit</strong>geteilt<br />
worden, daß zwischen <strong>dem</strong> Zeugen<br />
und der HEAG ein Gespräch stattfand und<br />
was dabei herausgekommen ist<br />
2. Beschäftigt die HEAG das Unternehmen<br />
weiterhin Wenn ja, warum<br />
3. Ist es richtig, daß unter den Angestellten<br />
des Fahrkartenkontrollunternehmens Vorbestrafte<br />
und Mitglieder rechter Organisationen<br />
beschäftigt sind<br />
4. Würde die HEAG ein Unternehmen, das in<br />
Ihrem Auftrag arbeitet und offen fremdenfeindlich<br />
auftretende Angestellte beschäftigt<br />
auch als fremdenfeindlich bezeichnen<br />
Wenn nein, warum nicht<br />
Für die Finanzplanung würde uns die Beantwortung<br />
der folgenden Fragen gelegen kommen:<br />
a. Warum vergibt die HEAG keine Anzeigenaufträge<br />
mehr an die ZD<br />
b. Kann es sein, daß die Vergabe der Aufträge<br />
<strong>mit</strong> der Berichterstattung zusammenhängt<br />
c. Warum fördert die HEAG fremden Wettbewerb<br />
durch das Inserieren in anderen Zeitungen<br />
Da unseren LeserInnen gleich ist, ob die<br />
Auskünfte schriftlich oder mündlich erteilt<br />
werden, würde es uns freuen, wenn Sie uns<br />
die Informationen bis zum 30.10. zukommen<br />
lassen würden, denn wir sichern Ihnen<br />
Publizität in der nächsten Ausgabe der ZD,<br />
die am 5.11. erscheint, zu.<br />
Mit freundlichem Gruß,<br />
der Herausgeber<br />
PS: Wir sichern der HEAG zu, Ihre Mitteilungen<br />
künftig auf Wunsch <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Zusatz<br />
„vertraulich“ zu versehen.<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 14<br />
aus den Hilfstransporten reicht längst nicht<br />
aus, Medikamente fehlen.“<br />
In diesem Jahr hat die Flüchtlingskinder-<br />
Hilfe bereits <strong>mit</strong> einer spektakulären Aktion<br />
in der Öffentlichkeit auf das Elend der<br />
Kriegskinder hinweisen können. „Der Krieg<br />
in meinen Augen“ war das Thema einer<br />
Ausstellung <strong>mit</strong> Bildern, Gedichten und<br />
Texten der jungen Kriegsopfer, deren Arbeiten<br />
– unüberhörbare Hilferufe – nicht nur<br />
<strong>im</strong> Hessischen Landesmuseum in Darmstadt<br />
oder <strong>im</strong> Plenarsaal des Bundestages<br />
in Bonn gezeigt wurden, sondern auch weiterhin<br />
als Wanderausstellung in Deutschland<br />
präsentiert wird – <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Ziel, die<br />
Hilfsbereitschaft erneut zu wecken und wieder<br />
zu stärken. Mit Hilfe dieser eindringlichen<br />
und stark berührenden Ausstellung<br />
will Traudel Damjanic zu<strong>dem</strong> erreichen, daß<br />
den Flüchtlingskindern sowohl medizinische<br />
als auch psychotherapeutische Hilfe<br />
geleistet werden kann. „Uns fehlt leider<br />
Geld.“<br />
Die Helferin, <strong>mit</strong> einem Kroaten verheiratet<br />
und Mutter zweier Söhne von 15 und 19<br />
Jahren, hat jetzt <strong>mit</strong> einer neuen Aktion<br />
„Eine Mark für Kinder <strong>im</strong> Krieg“ wieder den<br />
Versuch gestartet, auch Schulkinder zu<br />
motivieren, für ihre Altersgenossen in Not<br />
zu spenden. Damjanic : „Ich bin den Schülerinnen<br />
und Schülern sehr dankbar für die<br />
Hilfe, die sie in der Vergangenheit geleistet<br />
haben, besonders in Darmstadt. Für die<br />
jetzt anlaufende Weihnachts-Sammelaktion<br />
braucht die Flüchtlingskinder-Hilfe dringend<br />
Unterstützung.<br />
Jede Spende hilft,<br />
helfen Sie bitte <strong>mit</strong><br />
Dringend benötigt werden folgende Sachspenden<br />
:<br />
Nahrung: Reis, Nudeln, Mehl, Kartoffelprodukte,<br />
Milchpulver, Haferflocken, Margarine,<br />
Öl, Zucker, Kakao, Tee, Fertigsuppen,<br />
Brotaufstrich.<br />
Aus <strong>dem</strong> medizinischen Bereich: Insulin,<br />
Verbandsmaterial, Injektionen für Zahnmedizin<br />
(Anästhesie), Läusepulver, Rollstühle.<br />
Hygienische Artikel: Seife, Waschpulver,<br />
Monatshygiene, Windeln, Babyöl, Wundschutzcreme,<br />
Zahnpasta und -bürsten.<br />
Darüberhinaus werden gebraucht: Stromaggregate,<br />
Geräte zur Brandbekämpfung –<br />
so ein gebrauchtes Feuerwehrauto,<br />
Taschenlampen (Batterien), Kerzen,<br />
Streichhölzer, Kopiergeräte, um Schulbücher<br />
zu vervielfältigen.<br />
Sachspenden nach telefonischer Absprache<br />
an Traudel Damjanic, Telefon 716547.<br />
Für Geldspenden wird eine gültige Spendenbescheinigung<br />
zur Vorlage be<strong>im</strong> Finanzamt<br />
ausgestellt.<br />
Spendenkonto: 20 00 130,<br />
Sparkasse Darmstadt (BLZ 50 850 150),<br />
Kennwort „Flüchtlingshilfe“, Dekanat<br />
Darmstadt HST 037<br />
Weihnachtspäckchen für die<br />
Kriegskinder<br />
Über die laufende Versorgung <strong>mit</strong> Hilfsgütern<br />
aller Art hinaus soll den Kindern zu<br />
Weihnachten eine persönliche Freude<br />
gemacht werden.<br />
Traudel Damjanic und ihre Helferinnen und<br />
Helfer hatten bereits in den vergangenen<br />
Jahren zur Weihnachtszeit die Kriegskinder<br />
in den Lagern beschenken können. Wie bisher<br />
sollen kleine Weihnachtspakete (angestrebt<br />
sind mindestens 3.000 Stück), die<br />
einen Wert von etwa zehn Mark haben.<br />
Hierfür werden folgende – auch gebrauchte<br />
– Dinge gesammelt: Kleine Plüschtiere,<br />
Spielzeugautos, Schulmaterial, Süßigkeiten<br />
jeder Art.<br />
Diese Sachspenden werden nach telefonischer<br />
Absprache von Traudel Damjanic entgegengenommen.<br />
Bis Ende November 1993 werden sie<br />
gesammelt, in einzelne Päckchen verteilt<br />
und in der ersten Dezemberwoche zu den<br />
Kindern transportiert.<br />
Jede Spende hilft und schenkt Freude. Helfen<br />
Sie bitte <strong>mit</strong>.<br />
Traudel Damjanic<br />
Die Zeitung für Darmstadt<br />
!<br />
druckt Briefe an die Redaktion<br />
grundsätzlich unverändert. Ausgenommen sind Schreib- und<br />
Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Für Kürzungen wird<br />
die Zust<strong>im</strong>mung der AutorInnen eingeholt. Inhaltliche, auch<br />
politische, Änderungen werden nicht angebracht und auch<br />
nichts hinzugefügt. Die Briefe geben nicht die Meinung der<br />
Redaktion wieder.
PARTEIEN - STANDPUNKTE I<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 15<br />
Zur Tiefgarage <strong>im</strong><br />
HEAG-Block<br />
„Wir wollen nicht nur <strong>im</strong>mer<br />
weiter über eine neue Verkehrspolitik reden,<br />
sondern <strong>dem</strong> Reden auch Taten folgen lassen“,<br />
sagt Günter Mayer, Fraktionsvorsitzender<br />
der Grünen, zur Kritik der Industrie- und<br />
Handelskammer an den Überlegungen der<br />
Koalition, die geplante Tiefgarage <strong>im</strong> HEAG-<br />
Block auf zwei Stockwerke zu verringern und<br />
die Zahl der Parkplätze drastisch zu reduzieren.<br />
„Das ist auch kein fauler Kompromiß, weil<br />
die beiden Ebenen für die Erschließung und<br />
die Lkw-Andienung wohl notwendig sind.“<br />
Die geplante Zufahrt von der zweiten Ebene<br />
der Luisencenter-Tiefgarage in die vierte<br />
Ebene der Heag-Hallen-Tiefgarage wäre<br />
außer<strong>dem</strong> unübersichtlich und eine richtige<br />
Angströhre. Schon aus diesem Grund muß<br />
der Bau dieser unterirdischen Stockwerke<br />
abgelehnt werden.<br />
Es ist der politische Wille der Koalition, die<br />
erheblichen Belastungen zu verringern, die<br />
der Autoverkehr verursacht. „Die Schaffung<br />
weiterer Parkplätze in der Innenstadt und die<br />
Reduzierung des Autoverkehrs schließen<br />
sich aber gegenseitig aus“, so Günter Mayer<br />
weiter.<br />
In der Innenstadt gibt es genug Parkraum in<br />
öffentlichen Parkhäusern und Tiefgaragen.<br />
Nur parken dort zu 40 Prozent Dauerparker,<br />
hauptsächlich Berufspendler. Die Zahl derjenigen,<br />
die <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Auto zur Arbeit nach<br />
Darmstadt fahren, muß verringert werden.<br />
Das wird durch die Umwandlung von Langzeitparkplätzen<br />
in Kurzzeitparkplätze und<br />
durch die Förderung des Öffentlichen Nahverkehrs<br />
(ÖPNV) erreicht.<br />
Dazu gehört auch, daß die Parkgebühren<br />
deutlich angehoben werden. Parken <strong>im</strong> Zentrum<br />
von Nürnberg zum Beispiel kostet 5<br />
Mark in der Stunde. Durch eine kommunale<br />
Steuer oder eine Abgabe auf Gebühren in<br />
innerstädtischen privaten Parkhäusern<br />
könnten die Mehreinnahmen durch die<br />
Gebührenerhöhung abgeschöpft werden.<br />
Zur Zeit werden nämlich diejenigen bestraft,<br />
die sich ökologisch vernünftig verhalten und<br />
Busse und Bahnen benutzen. Denn die Preise<br />
für den ÖPNV sind oft höher als die Parkgebühren.<br />
Solange man in Darmstadt so<br />
günstig parken kann, steigt niemand auf<br />
öffentliche Verkehrs<strong>mit</strong>tel um. Das ist auch<br />
der Grund, warum viele Darmstädter aus<br />
den Stadtteilen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Auto wenige Kilometer<br />
in die Stadt fahren.<br />
Durch diese Maßnahmen würde nicht nur<br />
die Belastung durch den Autoverkehr verringert,<br />
sondern in der Innenstadt würden auch<br />
Parkplätze für Besucher aus <strong>dem</strong> Umland<br />
frei.<br />
Der Verzicht auf den Bau zweier Etagen der<br />
geplanten HEAG-Block-Tiefgarage vereinfacht<br />
außer<strong>dem</strong> die Baumaßnahmen erheblich<br />
und verkürzt die Bauzeit. „Auch das ist<br />
ein Gewinn für die Innenstadt“, so die Grünen<br />
weiter.<br />
Der Bau eines Tiefgaragen-Parkplatzes<br />
kostet ca. 70.000 Mark. „HEAG“ ist in Darmstadt<br />
auch ein Symbol für Öffentlichen Personennahverkehr.<br />
Da müssen sich die Verantwortlichen<br />
wirklich fragen lassen, ob sie<br />
<strong>mit</strong> soviel Geld eine Politik unterstützen wollen,<br />
die <strong>dem</strong> Autoverkehr nutzt und <strong>dem</strong><br />
ÖPNV schadet.<br />
B 3-Umgehung:<br />
die unendliche<br />
Geschichte<br />
Der zügige Weiterbau der B 3-<br />
Umgehung Arheilgen entwickelt sich nach<br />
Meinung des FDP-Ortsverbandes Arheilgen/Wixhausen<br />
zu einer Stillstandsphase<br />
<strong>mit</strong> unabsehbarem Fertigstellungstermin.<br />
Seit Beginn der neuen Koalition von<br />
SPD/Grünen <strong>im</strong> Darmstädter Stadtparlament<br />
ist ein Stillstand <strong>im</strong> Weiterbau der B 3 festzustellen,<br />
obwohl die Straßenbauverwaltung<br />
als auch der Hessische Minister für Wirtschaft<br />
und Verkehr die Stadt zu einer Äußerung<br />
über ihre Haltung zu den diskutierten<br />
Planungsänderungen drängen. Eine Koordinationsentscheidung<br />
<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> S-Bahn-Bau<br />
Frankfurt/Darmstadt wird als dringend notwendig<br />
angesehen.<br />
Die von SPD/Grünen anvisierten Änderungen,<br />
wie Verzicht auf eine Anbindung der<br />
Weiterstädter Straße an die B 3, Unterführung<br />
statt Überführung der Anbindung Virchowstraße<br />
sowie Verlagerung der Anbindung<br />
Virchowstraße an die B 3 nach Süden<br />
und <strong>dem</strong> Bau von Fußgänger- und Radfahrerquerungen<br />
an Weiterstädter- und Ötterstädterweg<br />
verteuern die Baumaßnahme um<br />
einen zweistelligen Millionenbetrag und verhindern<br />
eine zügige Realisierung bis 1995,<br />
da außer<strong>dem</strong> der bestehende Bebauungsplan,<br />
<strong>mit</strong> all den daraus resultierenden Folgeerscheinungen,<br />
grundlegend geändert werden<br />
muß, wie der Hessische Wirtschaftsminister<br />
unmißverständlich klarstellte.<br />
Dabei würde die neue Unterführung der<br />
Virchowstraße allein Mehrkosten von 10<br />
Millionen Mark beinhalten, die die Stadt<br />
allein tragen müßte, da der Bund keine Notwendigkeit<br />
für diese Umplanungsmaßnahme<br />
sieht. Zum anderen wäre die Deutsche Bundesbahn<br />
dann Bauträger und würde so<strong>mit</strong><br />
den baulichen Zeitplan best<strong>im</strong>men. Ein<br />
Abhängen der Weiterstädter Straße schneidet<br />
die Verbindungen zum Westgebiet<br />
Arheilgens ab; ein direkter Weg zum Gewerbegebiet<br />
ist dann nicht mehr gegeben,<br />
obwohl die Stadt dort weiterhin Gewerbe<br />
ansiedelt, wie auch Wohngebiete <strong>im</strong> südlichen<br />
Teil. Auch der direkte Weg zum neuen<br />
Grillplatz ist nur über Umwege zu erreichen.<br />
Die Landwirte müßten ebenfalls in Zukunft<br />
über die Virchowstraße zu ihren Feldern fahren,<br />
wie der gesamte Verkehr, der dann als<br />
Ausweichmöglichkeit den Bereich der<br />
Römer-/Wechslerstraße n<strong>im</strong>mt. Die Anwohner<br />
dieser Straßen werden über diese verkehrliche<br />
Lösung wenig glücklich sein, insbesondere<br />
die Belästigung für die dortigen<br />
Altenhe<strong>im</strong>bewohner wird kaum erträglich<br />
sein.<br />
Darum seien, so der Vorsitzende des Ortsverbandes<br />
und Stadtverord<strong>net</strong>e Dieter Balzer,<br />
die Vorschläge der neuen Koalition<br />
abzulehnen. Der derzeitige Bebauungsplan<br />
sei so zu belassen, und da<strong>mit</strong> ein zügiger<br />
Weiterbau zu gewährleisten. Balzer erwartet<br />
von der SPD, daß sie diesen Alternativvorschlägen<br />
nicht zust<strong>im</strong>mt, zumal sie den vorliegenden<br />
Bebauungsplan in allen Phasen<br />
einst<strong>im</strong>mig <strong>mit</strong>getragen hat. Jede abweichende<br />
SPD-Haltung bedeutet für Arheilgen<br />
auf lange Zeit weiterhin die enormen Verkehrsbelastungen,<br />
insbesondere für die<br />
Anwohner der Frankfurter Landstraße; diese<br />
werden es der SPD sicherlich „danken“.<br />
Lern- und Spielstube<br />
vor <strong>dem</strong> Aus<br />
Eine seit Jahren in Darmstadt<br />
bewährte Einrichtung, die Lern- und Spielstube<br />
des Sozialkritischen Arbeitskreises in<br />
der Frankfurter Straße, kämpft ums Überleben.<br />
Es droht die Kündigung der Räume in<br />
der Frankfurter Straße, Ersatz ist nicht in<br />
Sicht.<br />
Die sozialpolitische Sprecherin der CDU,<br />
Walburga Jung, wirft <strong>dem</strong> zuständigen Sozialdezernenten<br />
Gerd Grünewaldt mangelndes<br />
Engagement für die Lern- und Spielstube<br />
vor. Zunächst sei der Ankauf des Hauses in<br />
der Frankfurter Straße geplant gewesen, um<br />
der Einrichtung ein Bleiberecht zu sichern.<br />
Ein entsprechender Magistratsantrag sei<br />
aber stillschweigend „beerdigt“ worden, obwohl<br />
der Ankauf zu vertretbaren Bedingungen<br />
möglich gewesen wäre. Grünewaldt dazu:<br />
„Aufgrund der drohenden Kündigungsgefahr<br />
… ist für die Einrichtung ein unsicherer<br />
Zustand entstanden. Eine Garantie für<br />
kontinuierliche Arbeit besteht aus diesen<br />
Gründen leider nicht“. Wer so schnell aufgebe,<br />
müsse sich fragen lassen, ob ihm die<br />
Arbeit <strong>mit</strong> ausländischen Kindern und Familien<br />
so wenig bedeute. Hier offenbare sich<br />
ein beschämender Widerspruch zwischen<br />
<strong>dem</strong> Versprechen des Koalitionspapier von<br />
SPD und Grünen („offene Kinder- und<br />
Jugendarbeit wird ausdrücklich unterstützt“)<br />
und der Praxis des Sozialdezernenten.<br />
Über dreißig ausländische Kinder hätten hier<br />
ein zweites Zuhause gefunden, ihre Familien<br />
hätten Vertrauen zu der dort angebotenen<br />
Bürgerberatung gefaßt. Nach Einschätzung<br />
der CDU dürfe die Arbeit, die ein Beitrag zu<br />
partnerschaftlichem Umgang von Deutschen<br />
und Ausländern sei, nicht einfach kaputtgehen.<br />
Grünewaldts<br />
Schwarzer-Peter-<br />
Spiel<br />
„Ein Stück Volksverdummung“,<br />
will der Sozialdezernent Gerd Grünewaldt<br />
betreiben, wenn er glaubt <strong>mit</strong> Schuldzuweisungen<br />
an die Bundesregierung Politik<br />
machen zu können, stellt die CDU-Fraktion<br />
fest.<br />
Beispiel Altenhilfe: der Landeswohlfahrtsverband,<br />
der diese Aufgabe jetzt auf die<br />
Gemeinden verlagert hat, ist ein Gremium<br />
aus mehrheitlich sozial<strong>dem</strong>okratischen<br />
Kommunalpolitikern. Grünewaldts Kollegen<br />
aus den Kreisen und Städten sind dort in der<br />
Verantwortung, die gleichen, die dann in<br />
Bonn protestieren wollen. Daß die Altenhilfe<br />
ständig teurer wird, liegt nicht an „den Politikern“<br />
sondern an steigenden Fallzahlen,<br />
(8 Prozent) und an besserer Bezahlung der<br />
Pflegekräfte (ebenfalls 8 Prozent). „Wir wissen<br />
seit langem, daß die große Zahl hochbetagter<br />
Menschen eine sozialpolitische<br />
Herausforderung darstellt“, erinnert Walburga<br />
Jung, „neben einer Entlastung durch die<br />
Pflegeversicherung müssen auch vor Ort<br />
Strategien zur Problemlösung gefunden<br />
werden“.<br />
Eine seltsame Hilflosigkeit beweist auch die<br />
Leiterin der Sozialverwaltung, Dr. Wilma<br />
Mohr, wenn sie die Verwaltung zusammenbrechen<br />
sieht, weil Asylbewerber statt Bargeld<br />
Warengutscheine bekommen sollen,<br />
da<strong>mit</strong> Mißbrauch verringert wird.<br />
Die Zeitung für Darmstadt druckt Parteienmeldungen<br />
grundsätzlich unverändert. Ausgenommen sind Schreib- und<br />
Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Inhaltliche auch<br />
politische Änderungen werden nicht angebracht und auch<br />
nichts hinzugefügt. Die Briefe geben nicht die Meinung der<br />
Redaktion wieder.<br />
Kindergartenplätze sind sinnvolle soziale<br />
Angebote, um die Familien in ihrer Erziehungsarbeit<br />
zu stärken, und kein Holzhammer<br />
zur Vernichtung der Städte. „Es gehört<br />
schon ein Stück Unverfrorenheit dazu, in<br />
<strong>dem</strong> Augenblick, wo das Land Hessen bei<br />
den Kindergärten 11 Millionen Mark gekürzt<br />
hat, <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Finger nach Bonn zu zeigen“,<br />
kritisiert die sozialpolitische Sprecherin der<br />
CDU. Das Klagelied sei kein Ersatz für eigene<br />
Ideen und eigenen Sparwillen. Magere Jahre<br />
ließen sich durch gemeinsame Anstrengungen<br />
leichter bewältigen als durch Jammern<br />
und Einfallslosigkeit. Grünewaldt müsse<br />
sich die Frage gefallen lassen, ob es in<br />
Darmstadt zukünftig keine neuen Kindergärten<br />
mehr geben solle oder ob die Altenpflege<br />
zurückgefahren werden solle, weil soziale<br />
Dienstleistungen hohe Kosten verursachen.<br />
Arbeitsamt<br />
beschlagnahmt<br />
Presseinfo<br />
Am 28. September war die<br />
DKP Darmstadt <strong>mit</strong> einem Infostand vor<br />
<strong>dem</strong> Arbeitsamt Darmstadt präsent und verteilte<br />
unter anderem eine Presseinformation<br />
des Arbeitsamtes über die Arbeitsmarktentwicklung<br />
<strong>im</strong> Juli 1993 <strong>im</strong> Raum Starkenburg.<br />
Besagte Presseinformation wurde aber von<br />
der Pressesprecherin (!) der Behörde sofort<br />
beschlagnahmt und eine Verteilung untersagt.<br />
Diese eigenartige Vorgehensweise<br />
kann nun verschiedentlich interpretiert werden,<br />
zumal man sich <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> „Verbot“ ohne<br />
jede Erklärung begnügte:<br />
– Geht das Amt davon aus, daß seine Presse<strong>mit</strong>teilungen<br />
ohnehin nicht veröffentlicht<br />
werden, und wenn ja, sie nicht von Betroffenen<br />
gelesen werden<br />
– Fürchtet das Amt, daß Arbeitslose anhand<br />
der Statistik ihre Situation anders begreifen,<br />
als persönliches Schicksal bzw. eigene<br />
Unfähigkeit<br />
– Fürchtet das Amt unvorhergesehene Reaktionen<br />
angesichts der drastisch zugenommenen<br />
Arbeitslosigkeit <strong>im</strong> Raum Starkenburg<br />
in nahezu allen Branchen Reaktionen,<br />
die etwa zum Austausch der Betroffenen<br />
untereinander führen, zur gegenseitigen<br />
Verständigung über ihre Lage<br />
– Fürchtete das Amt, daß das Konkurrenz-<br />
verhalten bei der Arbeitssuche aufgebrochen<br />
wird, wenn die Betroffenen das wahre Ausmaß<br />
der Arbeitslosigkeit erfahren Daß<br />
Arbeitslose sich nicht mehr nur <strong>mit</strong> Schlangestehen<br />
um Lohn und Brot begnügen, sondern<br />
versuchen, auch auf andere – z. B. politische!<br />
– Weise wieder handlungsfähig zu<br />
werden<br />
Diese und andere Fragen kann und muß man<br />
sich stellen, wenn eine Behörde, die gesetzlich<br />
verpflichtet ist, regelmäßig ihre Daten zu<br />
veröffentlichen, diese den Betroffenen und<br />
da<strong>mit</strong> der Öffentlichkeit bei passender Gelegenheit<br />
ohne jede Rechtsgrundlage vorenthält!<br />
Die DKP Darmstadt kündigt hier<strong>mit</strong> an, daß<br />
sie am 2. November wieder <strong>mit</strong> einem<br />
Kaffee- und Infotisch vorm Arbeitsamt stehen<br />
und die jüngsten freigegebenen Presseinformationen<br />
der Behörde verteilen wird,<br />
sich diesmal allerdings gegen eine<br />
Beschlagnahme zu wehren weiß.<br />
i. A. Andrea Schön<br />
Schikanöse<br />
Vorschriften für<br />
öffentliche Bäder<br />
Eine Bedrohung der Existenz<br />
der städtischen Schw<strong>im</strong>mbäder erblickt der<br />
stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion,<br />
Walter Schmidt, in einer geplanten<br />
neuen Industrienorm für die Gewässergüte<br />
in öffentlichen Schw<strong>im</strong>mbädern. Die Bundesrepublik<br />
Deutschland sei jetzt schon das<br />
Land <strong>mit</strong> den strengsten Vorschriften für<br />
solche Gewässer. Sollte diese Norm Vorschrift<br />
werden, seien umfangreiche technische<br />
Investitionen zur Verbesserung der<br />
Wasserqualität erforderlich, wobei der<br />
Hessische Städte- und Gemeindebund darauf<br />
hinweise, daß viele der dann notwendigen<br />
Apparaturen erst in Laborversuchen<br />
getestet worden seien.<br />
Die Stadt Darmstadt, aber nicht nur sie, so<br />
Schmidt, werde nicht in der Lage sein, die<br />
Millionen aufzubringen, um solche Investitionen<br />
zu finanzieren. Zu bedenken sei auch,<br />
daß die neue höherwertige Technologie<br />
einen höheren Wartungs- und da<strong>mit</strong> Personalaufwand<br />
erforderlich mache. Dies sei der<br />
Stoff, aus <strong>dem</strong> die finanzielle Notlage der<br />
Kommunen gemacht werde. Irgendwelche<br />
Bürokraten in irgendwelchen übergeord<strong>net</strong>en<br />
Bundesanstalten oder Ministerien hätten<br />
offensichtlich nichts anderes zu tun, als<br />
Städte und Gemeinden <strong>mit</strong> neuen kostenträchtigen<br />
Vorschriften zu quälen.<br />
Ähnliches Beispiel seien die Standards und<br />
Normen be<strong>im</strong> Sozialen Wohnungsbau und<br />
be<strong>im</strong> Bau von Einrichtungen für Kinder. Über<br />
die Erhöhung letzterer werde gegenwärtig<br />
<strong>im</strong> Landesjugendamt beraten. So, als ob<br />
Geld für weitere Verteuerungen vorhanden<br />
wäre und die Städte und Gemeinden in der<br />
Lage wären, auf diese Weise das vom Bundesgesetzgeber<br />
avisierte Ziel, 1996 für jedes<br />
Kind einen Kindergartenplatz zu schaffen,<br />
sicherzustellen. Auf den Rat der CDU-<br />
Politikerin Jung eingehend, meint Schmidt,<br />
daß auch in CDU-regierten Städten bisher<br />
keine Ideen bekannt geworden seien, die zu<br />
wundersamen Geldvermehrungen geführt<br />
hätten und CDU-regierte Städte meist noch<br />
höher verschuldet seien als die, in denen die<br />
Sozial<strong>dem</strong>okraten das Sagen hätten. Im<br />
übrigen sei die Darmstädter CDU <strong>mit</strong> solchen<br />
Aussagen bundesweit isoliert, weil sie<br />
sich außerhalb der Solidarität der Städte und<br />
Gemeinden stelle, die gemeinsam gegen<br />
<strong>im</strong>mer weiter zunehmende soziale und sonstige<br />
finanzielle Anforderungen kämpfen.<br />
Radfahrer frei<br />
Viele Radwege in Darmstadt<br />
haben ihren Namen eigentlich gar nicht verdient.<br />
Denn oft werden lediglich Gehwege<br />
durch das Aufstellen der blauen Schilder <strong>mit</strong><br />
<strong>dem</strong> Symbol „Radweg“ zu kombinierten<br />
Geh- und Radwegen umgewidmet.<br />
Nach Ansicht von Georg Bartenschlager,<br />
Stadtverord<strong>net</strong>er der Grünen, <strong>kommt</strong> es<br />
deshalb häufig zu Konfrontationen zwischen<br />
Radfahrern und Fußgängern. „Radfahrer<br />
sind viermal so schnell wie Fußgänger. Es ist<br />
offensichtlich, daß es da zu Problemen kommen<br />
muß, wenn Radfahrer und Fußgänger<br />
die gleichen Wege benutzen. Den Fußgängern<br />
sind die Radler viel zu schnell. Sie<br />
fühlen sich deshalb auf ihren Wegen nicht<br />
mehr sicher. Die Radfahrer werden durch<br />
Fußgänger in ihrer Fahrt gebremst und<br />
behindert.“<br />
Georg Bartenschlager beantragt deshalb in<br />
der nächsten Sitzung der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung,<br />
daß auf kombinierten Fuß-<br />
/Radwegen, die keine eigene Fahrspur für<br />
Räder besitzen, die Benutzungspflicht für<br />
RadfahrerInnen aufgehoben werden soll.<br />
Diese Wege sollen statt dessen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
blauen Fußgängerschild <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Zusatzzeichen<br />
„Radfahrer frei“ versehen werden.<br />
Georg Bartenschlager verspricht sich einige<br />
Vorteile von dieser Regelung. Denn die<br />
Gruppe der Radfahrer ist nicht homogen. Es<br />
gibt Radler, die jeden Tag <strong>mit</strong> ihrem Fahrrad<br />
unterwegs sind, sich <strong>dem</strong>entsprechend<br />
sicher <strong>im</strong> Straßenverkehr bewegen und<br />
möglichst schnell unterwegs sein wollen.<br />
Durch die Aufhebung der Benutzungspflicht<br />
haben diese „schnelleren“ Radler die Möglichkeit,<br />
die Fahrbahn <strong>mit</strong>zubenutzen, und<br />
ungehindert ihr Fahrziel zu erreichen.<br />
„Langsamere“ Radler dagegen, Kinder,<br />
Senioren können weiterhin den Fußweg <strong>mit</strong>benutzen,<br />
wobei den Fußgängern aber eindeutig<br />
Vorrang eingeräumt wird.<br />
„Durch diese Maßnahme wird den unterschiedlichen<br />
Interessen der Radfahrer Rechnung<br />
getragen. Das hat zur Folge, daß die<br />
Attraktivität des umweltfreundlichsten Verkehrs<strong>mit</strong>tels<br />
gesteigert wird“, so Georg Bartenschlager<br />
abschließend. Das sei ganz <strong>im</strong><br />
Sinn einer ökologisch orientierten Verkehrspolitik.<br />
Kurs der Bürgernähe<br />
begrüßt<br />
Die Aussage von Stadtrat<br />
Heino Swyter, Oberbürgermeister Peter<br />
Benz und Bürgermeister Michael Siebert<br />
sollten lieber den Kontakt zur Wirtschaft<br />
suchen, „um den Standort Darmstadt zu retten.<br />
Das ist wichtiger als Bürgersprechstunden,<br />
in denen man erfährt, welche Laterne<br />
kaputt ist“, wird vom stellvertretenden Vorsitzenden<br />
der SPD-Fraktion, Walter Schmidt,<br />
als „unglaublich arrogant“ zurückgewiesen.<br />
Diese Aussage, so Schmidt, mache deutlich,<br />
welchen Stellenwert das Bürgergespräch für<br />
Stadtrat Swyter habe und warum die Klagen<br />
von Bürgern z.B. über die Geruchsbelästigung<br />
durch die Bio-Kompostanlage in Kranichstein<br />
bei ihm so verzögerlich und lange<br />
keinen Erfolg gehabt hätten. Abgesehen<br />
davon, daß der Oberbürgermeister in einem<br />
ständigen Dialog <strong>mit</strong> der Wirtschaft stehe,<br />
sei es für Darmstadts Bevölkerung wichtig,<br />
einen „Oberbürgermeister zum Anfassen“ zu<br />
haben, der auch die alltäglichen Anliegen<br />
von Bürgern ernst nehme, wenn er auch<br />
nicht in allen Fällen helfen könne. Im übrigen<br />
sei es bezeichnend, daß der Stadtrat die Bürger<br />
so einschätze, als hätten sie nur läppische<br />
und unwichtige Anliegen vorzubringen.<br />
Die SPD-Fraktion begrüße den Kurs der Bürgernähe<br />
von Oberbürgermeister Peter Benz<br />
<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Wissen, daß dieser sowohl <strong>mit</strong> den<br />
Großen der Wirtschaft und Gesellschaft wie<br />
auch <strong>mit</strong> den Kleinen <strong>im</strong> Gespräch stehe.<br />
Jugendamt<br />
soll Tagesmütter<br />
ver<strong>mit</strong>teln<br />
Etwas zu schnell war die<br />
Frauenbeauftragte Trautel Baur nach Meinung<br />
der F.D.P.-Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion<br />
bereit, den Antrag von drei arbeitslosen<br />
Frauen zu unterstützen, <strong>mit</strong> rund 100.000<br />
Mark aus <strong>dem</strong> Stadtsäckel eine Tagesmütterberatung<br />
und -ver<strong>mit</strong>tlung einzurichten.<br />
Die Liberalen, die das Tagesmütter-Modell<br />
als Alternative zum Kindergarten seit langem<br />
favorisieren und eine Ver<strong>mit</strong>tlung und Beratung<br />
durch das Jugendamt bzw. z. B. durch<br />
die Familienbildungsstätte für sinnvoll<br />
☛<br />
Fortsetzung folgende Seite<br />
NEPAL-TEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
PARTEIEN - STANDPUNKTE II<br />
Nummer 56 · 22.10.1993 · Seite 16<br />
halten, wollen von der Stadt zuerst einmal<br />
wissen, ob das Jugendamt Tagesmütter ver<strong>mit</strong>telt,<br />
und wenn nein, warum nicht. Außer<strong>dem</strong><br />
verlangt die Fraktion Auskunft darüber,<br />
welche Kosten entstehen, wenn das Jugendamt<br />
diese Aufgabe <strong>mit</strong> übern<strong>im</strong>mt. In ihrer<br />
Kleinen Anfrage verweist Theo Ludwig auch<br />
auf das Hanauer Tagesmütter-Modell, das<br />
nur rund die Hälfte des von den drei Frauen<br />
geforderten Beitrages kosten würde, nämlich<br />
50.000 Mark.<br />
Rechtsextremismus<br />
Der SPD Ortsverein Mitte<br />
beschäftigte sich auf der letzten Vorstandssitzung<br />
u. a. <strong>mit</strong> den vielen faschistischen<br />
und ausländerfeindlichen Taten der vergangenen<br />
Zeit, durch die sich der auch in<br />
Deutschland verstärkt auftretende Rechtsextremismus<br />
hervortat. Es wurde bemängelt,<br />
daß von den Politikern zwar „tiefe Betroffenheit“<br />
an den Tag gelegt wird, aber … nichts<br />
geschieht! Der SPD Ortsverein Mitte würde<br />
es sehr begrüßen, wenn sich die SPD endlich<br />
<strong>mit</strong> „Strategien gegen rechts“ an die<br />
Öffentlichkeit wenden und echte Alternativen<br />
allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufzeigen<br />
würde. Unseren ausländischen Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürgern muß klar gezeigt<br />
werden, daß sie ein Teil unserer Gesellschaft<br />
sind. Außer<strong>dem</strong> muß die Politik des Sozialabbaus<br />
verhindert werden, denn eine gute<br />
Sozialpolitik ist die beste antifaschistische<br />
und antirassistische Arbeit. Die Politik der<br />
Bundesregierung, die die Länder und<br />
Gemeinden finanziell ausbluten läßt, muß<br />
durch ein einheitliches Vorgehen der SPD-<br />
Länder und Gewerkschaften gestoppt werden.<br />
Die Ausländerfeindlichkeit hat ihre<br />
Wurzeln nicht in den Vorurteilen gegenüber<br />
Fremdheit, sondern viemehr in den Ängsten<br />
der Menschen um ihre materielle Existenz.<br />
Der SPD Ortsverein Mitte wird seine Arbeit<br />
zu diesem Thema sowohl durch interne als<br />
auch durch öffentliche Veranstaltungen fortsetzen.<br />
Sabine Mürdter<br />
Was kostet ein<br />
Kindergartenplatz<br />
„Bevor Entschlüsse gefaßt<br />
werden, muß man genau wissen, was<br />
eigentlich verhandelt wird.“ So die F.D.P.-<br />
Stadtverordentenfraktion in ihrer Pressemeldung<br />
zum vieldiskutierten Thema Kindergartenbeiträge<br />
und zur Absicht des Magistrats,<br />
die Eltern nun stundenweise bezahlen zu lassen.<br />
In einer Großen Anfrage verlangen die<br />
Liberalen jetzt exakte Zahlen zu Plätzen in<br />
öffentlichen und privaten Kindergärten, Horten<br />
und Krippen, zum Bedarf und zu den<br />
Kosten vom Magistrat. Der Kranichsteiner<br />
Stadtverord<strong>net</strong>e Theo Ludwig kritisierte in<br />
diesem Zusammenhang, daß aus <strong>dem</strong><br />
Jugendamt keine aussagefähigen Zahlen<br />
z. B. zu den tatsächlichen Kosten eines Kindergartenplatzes<br />
zu erfahren gewesen seien.<br />
Ohne eine solide Zahlenbasis müßten aber<br />
alle Versuche, über Beitragsstaffeln zu diskutieren,<br />
scheitern.<br />
Aus diesem Grund fragt die Fraktion u. a.<br />
auch nach <strong>dem</strong> derzeitigen Kosten-Prozentsatz,<br />
der <strong>mit</strong> Elternbeiträgen gedeckt wird<br />
und nach den Kriterien, die bei der Festlegung<br />
der Beiträge angewandt wurden. Die<br />
Liberalen hoffen, <strong>mit</strong> einer soliden und nachvollziehbaren<br />
Zahlenbasis, in der auch die<br />
Zuschüsse des Landes und die Zuschüsse<br />
der Stadt an private Träger berücksichtigt<br />
sind, die sehr emotionsgeladene Debatte<br />
über Beitragsstaffeln versachlichen zu können.<br />
Eine runde Sache, so die<br />
sozialpolitische Sprecherin der CDU Walburga<br />
Jung, seien die Vorschläge des Jugendamtes<br />
für die Kindergartengebühren. Da<strong>mit</strong><br />
seien die „Mondpreise“ des SPD-Fraktionsvorsitzenden<br />
Knechtel vom Tisch, der die<br />
Eltern <strong>mit</strong> 600 Mark zur Kasse bitten wollte.<br />
Der SPD-Vorschlag habe zu erheblicher<br />
Unruhe unter den Kindergarteneltern<br />
(gemeint: Kindergartenkindereltern, red.)<br />
geführt. Deshalb sollte die neue Regelung<br />
rasch eingeführt werden, da<strong>mit</strong> wieder Ruhe<br />
einkehre. Die CDU hält eine maßvolle Anpassung<br />
der Elternentgelte für vertretbar. Der<br />
derzeitige Satz von 80 Mark stamme aus<br />
einer Zeit, wo ein Platz pro Jahr 4.000 Mark<br />
gekostet habe. Heute koste ein Kindergartenplatz<br />
etwa 7.500 Mark. Der Elternanteil sei<br />
unter 20 Prozent gesunken. Die CDU werde<br />
darauf achten, daß Rabatte für Mehrkinderfamilien<br />
gewährt würden und daß alle Kindergärten<br />
in Darmstadt gleiche Elternbeiträge<br />
erheben. „Es ist beispielsweise in Kranichstein<br />
von Eltern <strong>im</strong>mer wieder kritisiert worden,<br />
daß sie in einem Kindergarten mehr<br />
bezahlen müßten als <strong>im</strong> anderen“, weiß Walburga<br />
Jung. Unterschiedliche Gebühren, je<br />
nach<strong>dem</strong> ob ein Kind halbtags oder ganztags<br />
betreut werde, leuchteten den Familien ein,<br />
weil für den ganzen Tag mehr Personal benötigt<br />
werde. Die CDU werde über Kindergartengebühren<br />
<strong>mit</strong> den Eltern und den Mitarbeiterinnen<br />
sprechen. Die Vorstellungen der<br />
CDU sollen am einem Info-Stand am 23.10.<br />
von 10 bis 13 Uhr auf <strong>dem</strong> Luisenplatz der<br />
Öffentlichkeit vorgestellt werden. „Wir erkennen<br />
an, daß bei der vorgeschlagenen Lösung<br />
die wichtige familienergänzende Arbeit des<br />
Kindergartens <strong>im</strong> Vordergrund gestanden<br />
hat und nicht die leere Kasse des Kämmerers“,<br />
freut sich Walburga Jung.<br />
Vor der eigenen Tür<br />
kehren<br />
Die CDU-Landtagsabgeord<strong>net</strong>e<br />
Otti Geschka hat sich erstaunt<br />
darüber gezeigt, daß der SPD-Kämmerer<br />
Otto Blöcker und die SPD-Fraktion nicht<br />
müde werden, die finanzielle Belastung<br />
Darmstadts durch die Bundesregierung<br />
anzuprangern. „Kehren Sie doch zuerst mal<br />
vor Ihrer eigenen Haustür“, forderte die<br />
CDU-Politikerin angesichts der erdrutschartigen<br />
Einbrüche <strong>im</strong> Sozialbereich, die in Hessen<br />
anstünden und die voll auf die Kommunen<br />
durchschlagen würden. „Dieser rot-grüne<br />
Sozialabbau ist hausgemacht“, kritisiert<br />
Otti Geschka, denn die Einschnitte würden<br />
vorgenommen, obwohl die Kasse des Landes<br />
gegenüber 1991 um 4,1 Mrd. besser<br />
ausgestattet sei. Frau Geschka verwies zur<br />
Begründung auf die massiven Kürzungen<br />
be<strong>im</strong> Bau von Kindergärten, wo 1994 um 42<br />
Prozent gekürzt werde. Die verfügbaren Gelder<br />
hätten sich von 110 Mio. Mark auf 64<br />
Mio. Mark verringert. In der Altenhilfe werde<br />
um 25 Prozent gekürzt, obwohl ein Antragsstau<br />
von mehreren Jahren zu bewältigen sei.<br />
Auch der soziale Wohnungsbau müsse<br />
„kräftig Federn lassen“, das Wohnungsbauprogramm<br />
werde um 120 Mio. Mark zurückgefahren.<br />
„Wo ist der Aufschrei der SPD-<br />
Kommunalpolitiker gegen diesen in der<br />
Geschichte Hessens einmaligen Sozialabbau“,<br />
fragt die CDU-Abgeord<strong>net</strong>e. Geschka<br />
verwies darauf, daß Hessen bisher bei den<br />
Belastungen durch den Solidarpakt günstiger<br />
weggekommen sei. Man habe <strong>mit</strong> Belastungen<br />
von 3 Mrd. Mark gerech<strong>net</strong>,<br />
tatsächlich seien aber nur 1,7 Mrd. angefallen.<br />
Statt die ersparten 1,3 Mrd. als Vorsorge<br />
zurückzulegen, wurde das Geld <strong>im</strong> Nachtragshaushalt<br />
verpulvert. Dabei zeige sich<br />
einmal mehr, daß rot-grüne Politiker nicht<br />
<strong>mit</strong> Geld umgehen könnten.<br />
Auf den Spuren von<br />
Sabais<br />
Bevor Heinz Winfried Sabais<br />
1954 in Darmstadt sein Amt als Kulturreferent<br />
und 1971 als Oberbürgermeister antrat,<br />
war er in We<strong>im</strong>ar u. a. <strong>mit</strong> der Vorbereitung<br />
der Veranstaltungen zum 200. Geburtstag<br />
Goethes beauftragt. Was sonst weiß der<br />
Darmstädter über das Wirken dieses unvergessenen<br />
Oberbürgermeisters in der Stadt<br />
Goethes und Schillers fragte Ruth Wagner,<br />
MdL und Stadtverord<strong>net</strong>e der F.D.P., bei<br />
ihrem letzten Besuch in We<strong>im</strong>ar. Schon nach<br />
kurzen Recherchen stieß sie auf interessante<br />
und in Darmstadt weitgehend unbekannte<br />
Tatsachen – z. B. die, daß es Heinz Winfried<br />
Sabais war, der 1948/49 Thomas Mann zum<br />
Goethejahr und zur Einweihung des Nationaltheaters<br />
nach We<strong>im</strong>ar geholt hatte.<br />
Nach Gesprächen <strong>mit</strong> verschiedenen Wissenschaftlern<br />
in We<strong>im</strong>ar stellte sich außer<strong>dem</strong><br />
heraus, daß in den verschiedenen<br />
Archiven und Bibliotheken der Stadt noch<br />
zahlreiche Unterlagen zur Tätigkeit des 1981<br />
verstorbenen Darmstädter Oberbürgermeisters<br />
zu finden sind. Diese Dokumente<br />
zusammenzustellen und der Darmstädter<br />
Öffentlichkeit z. B. in einer Ausstellung <strong>im</strong><br />
Staatsarchiv zu präsentieren, schlug die<br />
engagierte Kulturpolitikerin nach ihrer Rückkehr<br />
aus We<strong>im</strong>ar den Darmstädter Kollegen<br />
vor. Sowohl Prof. Eckhart Franz, Leiter des<br />
Staatsarchivs, als auch Kulturamtsleiter<br />
Roland Dotzert haben bereits Bereitschaft<br />
signalisiert, das Projekt zu unterstützen. In<br />
einem Brief hat Ruth Wagner jetzt OB Peter<br />
Benz vom Stand der Dinge unterrichtet und<br />
zugleich die Bereitschaft der We<strong>im</strong>arer<br />
betont, aktiv an der Dokumentation <strong>mit</strong>zuarbeiten.<br />
Plan für Baugebiet<br />
A 24 prüfen<br />
Die Koalition aus Grünen und<br />
SPD hat <strong>im</strong> Umweltausschuß nochmals den<br />
Magistrat angemahnt, das auf Grund eines<br />
Prüfantrags vom Juni letzten Jahres ausstehende<br />
Planungskonzept für das Baugebiet<br />
A24 – Ötterstädter Weg vorzulegen.<br />
Jener Antrag enthält den Auftrag zu prüfen,<br />
auf welche Weise ein Blockheizkraftwerk, ein<br />
Ringbus und Zisternen zur Regenwassergewinnung<br />
für ein Brauchwassersystem verwirklicht<br />
werden können.<br />
Mit der Planung dieses Baugebiets waren<br />
der ehemalige Oberbürgermeister G. Metzger,<br />
der Baudezernent Dr. W. Rösch und der<br />
ehemalige Umweltdezernent, heute Schuldezernent,<br />
H. Swyter, befaßt. Alle drei haben<br />
es nicht geschafft, diesen Prüfantrag binnen<br />
eines Jahres zu bearbeiten.<br />
Anzeige<br />
Die Stadtverord<strong>net</strong>en der Koalition sind über<br />
diese Verzögerung seitens der da<strong>mit</strong> befaßten<br />
Dezernenten verärgert. „Es hat den<br />
Anschein als versuche man, eine vernünftige,<br />
zukunftsweisende und umweltverträgliche<br />
Planung <strong>im</strong> Sande verlaufen zu lassen<br />
und gleichzeitig den Befürwortern die<br />
Schuld dafür zu geben, den Bau von Wohnungen<br />
in Arheilgen zu verzögern“, so Klaus<br />
Jahn, der umweltpolitische Sprecher der<br />
Grünen-Fraktion und Einwohner des Stadtteils<br />
Arheilgen.<br />
Der <strong>dem</strong> Ausschuß beiwohnende Bürgermeister<br />
Michael Siebert, der seit kurzer Zeit<br />
Umwelt- und Planungsdezernent ist, hat<br />
<strong>dem</strong> Ausschuß zugesagt, den Antrag bis zur<br />
nächsten Ausschußsitzung bearbeitet und<br />
ein Konzept vorgelegt zu haben.<br />
Trotz dieser Zusage fordert die CDU, ohne<br />
Kenntnis des von der Stadt vorzulegenden<br />
Konzepts, daß ein unabhängiges Ingenieurbüro<br />
<strong>mit</strong> der konkreten Planung von<br />
Straßenführungen und Grünflächen beauftragt<br />
werden soll.<br />
Ein solches Vorgehen hätte zur Folge, daß<br />
eine für den Bus zügig zu bewältigende und<br />
trotz<strong>dem</strong> für die Anwohner sichere Straßenführung<br />
sowie Freiflächen für die Versickerung<br />
überschüssigen Regenwassers wahrscheinlich<br />
entfielen. Buslinie und Zisternen<br />
wären dann nur noch äußerst schwierig zu<br />
verwirklichen.<br />
Die Wirtschaft fördern<br />
Zum ersten Mal in dieser<br />
Legislaturperiode trafen sich die F.D.P.-<br />
Fraktionen aus <strong>dem</strong> Landkreis Darmstadt-<br />
Dieburg und aus Darmstadt zu einer<br />
gemeinsamen Sitzung. Erstes Ergebnis der<br />
Besprechung „aus <strong>dem</strong> gleichen Oppositionsboot<br />
heraus“: <strong>mit</strong> gleichlautenden<br />
Anträgen will man <strong>im</strong> Stadtparlament bzw.<br />
<strong>im</strong> Kreistag eine Initiative zur Wirtschaftsförderung<br />
in Bewegung setzen. Ziel ist, so die<br />
Fraktionsvorsitzenden Klaus-Jürgen Hoffie<br />
STADTVERORDNETENFRAKTION<br />
und Dr. Dierk Molter, die Einrichtung von<br />
Wirtschaftskommissionen, die den Magistrat<br />
und den Kreisausschuß zu Wirtschafts,<br />
Arbeitsmarkt- und Infrastrukturfragen regelmäßig<br />
informieren und beraten. Hoffie: „Zu<br />
allen Themen gibt es Ausschüsse und Kommissionen,<br />
nur zum Thema Wirtschaft<br />
nicht!“ Gerade jetzt aber sei eine stärkere<br />
Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und<br />
Politik dringend notwendig. In die Kommissionen<br />
sollen deshalb Vertreter der IHK, der<br />
Handwerkskammern, der Gewerbevereine,<br />
der Gastronomie und des Einzelhandels, der<br />
Arbeitgeber, der Gewerkschaften und des<br />
Arbeitsamtes berufen werden.<br />
Ein hohes Maß von Gemeinsamkeit stellten<br />
die beiden Fraktionen auch zum Problem der<br />
Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) fest,<br />
<strong>dem</strong> der Landkreis nun auch beitreten wird.<br />
Zwar wisse noch niemand, <strong>mit</strong> welchen<br />
Kosten die Kommunen be<strong>im</strong> RMV zu rechnen<br />
haben – Stadtrat Heino Swyter: „Das<br />
gibt die zweite Haushaltskatastrophe“ –,<br />
trotz<strong>dem</strong> begrüßten die Liberalen einmütig<br />
die Bereitschaft des Landes, Verantwortung<br />
zu übernehmen und den RMV <strong>mit</strong> seinem<br />
deutlich verbesserten Verkehrsangebot vor<br />
allem in der Fläche <strong>mit</strong> 35 Millionen<br />
zunächst einmal zu finanzieren. Allerdings<br />
kritisierte MdL Ruth Wagner, daß die Mittel<br />
<strong>dem</strong> kommunalen Finanzausgleich entnommen<br />
würden und da<strong>mit</strong> an anderer Stelle<br />
fehlen.<br />
Be<strong>im</strong> Thema Schule gelang es den Darmstädtern,<br />
die Sorgen der Landkreis-Liberalen<br />
zu zerstreuen. Stadtverord<strong>net</strong>er Dieter Balzer:<br />
Für den 4. Riegel der Berufsschule in<br />
Darmstadt sei in absehbarer Zeit kein Geld<br />
vorhanden, da<strong>mit</strong> bleibe die Dieburger<br />
Berufsschule in ihrem Bestand ungefährdet.<br />
Unterstützung fand Inge Slabon, schulpolitische<br />
Sprecherin der Landkreis-F.D.P., auch<br />
bei ihrer Absicht, <strong>im</strong> Landkreis Sonderschul-<br />
Abteilungen an Regelgrundschulen einzurichten.<br />
Die beiden Fraktionen wollen sich künftig<br />
häufiger zu gemeinsamen Sitzungen treffen,<br />
um Probleme zu besprechen, die sowohl die<br />
Stadt als auch den Landkreis Darmstadt-<br />
Dieburg betreffen. Für die nächste Fraktionssitzung<br />
stehen zwei Themen schon fest: der<br />
Regionale Raumordnungsplan und die<br />
Finanzierung des Staatstheaters.<br />
Ludwigshöhstraße 55 · 6100 Darmstadt · Tel. 0 6151/6 1430 oder 614 90 · Fax 614 01<br />
en…die Grünen informieren…die Grünen informieren…die Grünen informi<br />
In die hier aufgeführten Anträge und Kleinen Anfragen der Fraktion DIE GRÜNEN sowie<br />
in die kleine Auswahl von Magistratsvorlagen kann <strong>im</strong> Grünen-Büro Einsicht genommen werden.<br />
Magistratsvorlagen:<br />
913 vom 22.9.93<br />
Bericht zum Abfallwirtschaftskonzept (Stand 93)<br />
917 vom 22.9.93<br />
Ehemalige Mühltalschule, PCB-Sanierung<br />
918 vom 22.9.93<br />
Bebauungsplan E 22.1, Villenkolonie, Eberstadt<br />
919 vom 22.9.93<br />
Neubau einer zweiten Schule in Kranichstein<br />
931 vom 22.9.93<br />
Einstellung des Umlegungsverfahrens U-D 38,<br />
Hammelstrift/Jägertorstraße<br />
935 vom 22.9.93<br />
Stadion am Böllenfalltor, hier: Mieteinnahmen<br />
936 vom 22.9.93<br />
Bebauungsplan N 25.1, Magdalenenplatz<br />
954 vom 29.9.93<br />
Satzung des Jugendamtes<br />
969 vom 29.9.93<br />
Frauen-Kommunikationszentrum, Kyritzschule<br />
970 vom 29.9.93<br />
Die Schnelle 9<br />
971 vom 29.9.93<br />
Bebauungsplan E 33.5, Modau/Bauerngarten<br />
972 vom 29.9.93<br />
Satzungsänderung für Ausländerbeirat<br />
9573 vom 29.9.93<br />
Landschaftsplan Darmstadt<br />
994 vom 29.9.93<br />
Gebührenordnung für den städtischen<br />
Wochenmarkt<br />
Kleine Anfragen:<br />
– zu Arbeit statt Sozialhilfe<br />
– zu Fußgänger-Anforderungsampeln<br />
– zur Tiefgarage <strong>im</strong> Jagdhofkomplex<br />
– zur Planung für den Karolinenplatz nach<br />
Fertigstellung des Mollerbaus<br />
– zu Möglichkeiten des Wohnungsbaus in der<br />
Löffelstraße (Martinsviertel)<br />
– zur Gestaltung des Randbereichs der<br />
Rüdeshe<strong>im</strong>er Straße<br />
– zu Radverkehrs<strong>net</strong>z und Radwegeausbauprogramm<br />
– zur Bürgerberatung des SKA<br />
Anträge:<br />
– zu Fußgängerampeln an der Kasino-/Pallaswiesenstraße<br />
– zur geplanten Stillegung des Bundesbahn-<br />
Ausbesserungswerks Darmstadt<br />
– zur PCB-Sanierung der Lichtenbergschule<br />
– (<strong>mit</strong> SPD) Konzept zur Vermeidung von<br />
Obdachlosigkeit<br />
– zum Friedensplatz<br />
– (<strong>mit</strong> SPD) zu Kranichstein Südwest<br />
(Bebauungsplan K6)<br />
– zu kombinierten Fuß-/Radwegen<br />
– zum Verkehrskonzept Mathildenplatz<br />
– (<strong>mit</strong> SPD) zur Änderung der<br />
Einstellplatzsatzung<br />
Die GRÜNEN wollen, daß ein Konzept zur verkehrlichen Neuordnung des<br />
Mathildenplatzes und der Bismarckstraße unter best<strong>im</strong>mten Zielsetzungen<br />
und unter Einbeziehung der HEAG, von VCD, ADFC u. a. erstellt wird.<br />
Auszug aus einem Antrag zur nächsten Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung am 21. 10.93