Franz Kafkas Deutsch Marek Nekula (Regensburg) - Linguistik online
Franz Kafkas Deutsch Marek Nekula (Regensburg) - Linguistik online
Franz Kafkas Deutsch Marek Nekula (Regensburg) - Linguistik online
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
220<br />
particulae collectae<br />
Soweit ich aber Löwy kenne glaube ich daß solche ständigen Wendungen, die<br />
auch im gewöhnlichen ostjüdischen Gespräch oft vorkommen wie "Weh ist mir!"<br />
oder "S'ist nischt" oder "S'ist viel zu reden" nicht Verlegenheit verdecken sollen,<br />
sondern als immer neue Quellen den für das ostjüdische Temperament immer<br />
noch zu schwer daliegenden Strom der Rede umquirlen sollen. (Kafka<br />
1994/Tgb1: 23)<br />
Der Witz ist hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand,<br />
trotzdem doch in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes<br />
als Mauscheln kann, das Mauscheln im weitesten Sinne genommen, in dem<br />
allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende<br />
oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht<br />
erworben sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat<br />
und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen<br />
werden könnte, denn hier kann ja alles nachgewiesen werden durch den<br />
leisesten Anruf des Gewissens in einer reuigen Stunde. Ich sage damit nichts gegen<br />
das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische<br />
Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch ist dieses:<br />
Worauf herauf hat er Talent Oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinn<br />
hinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie an einander zerreibende: "er<br />
schreibt. Über wem") und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt<br />
hat, daß im <strong>Deutsch</strong>en nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste<br />
Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand,<br />
nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann,<br />
daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen. Das ist eine Tatsache, lustig oder<br />
schrecklich, wie man will; aber warum lockt es die Juden so unwiderstehlich<br />
dorthin Die deutsche Literatur hat auch vor dem Freiwerden der Juden gelebt<br />
und in großer Herrlichkeit, vor allem war sie, soviel ich sehe, im Durchschnitt<br />
niemals etwa weniger mannigfaltig als heute, vielleicht hat sie sogar heute an<br />
Mannigfaltigkeit verloren. Und daß dies beides mit dem Judentum als solchem<br />
zusammenhängt, genauer, mit dem Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum,<br />
mit der schrecklichen inneren Lage dieser letzten Generationen, das hat doch<br />
besonders Kraus erkannt oder richtiger, an ihm gemessen ist es sichtbar geworden.<br />
(Brod/Kafka 1989/2: 359)<br />
Es versteht sich von selbst, dass Kafka ein durch die Zeit, den Raum,u. U. auch<br />
durch die Herkunft geprägtes <strong>Deutsch</strong>sprach und zum Teil auch schrieb, das<br />
weiter unten näher beschrieben werden soll. In einem Tagebucheintrag vom 16.<br />
Juli 1912 wird dies in fremder Umgebung am Beispiel der gesprochenen Sprache<br />
thematisiert:<br />
Ich biete ihnen meine "Brause" an, sie trinken, die Älteste zuerst. Mangel einer<br />
wahren Verkehrssprache. Ich frage, ob sie schon genachtmahlt haben, vollständiges<br />
Unverständnis, Dr. Sch. fragt, ob sie schon Abendbrot gegessen haben, beginnende<br />
Ahnung, (er spricht nicht deutlich, atmet zu viel) erst bis der Friseur<br />
fragt, ob sie gefuttert haben, können sie antworten. (Kafka 1990b/I: 1050)