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(Auf-)Zeichnen 1800-1900 - Melton Prior Institut

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Vorwort/<br />

Preface<br />

stephan berg,<br />

kunstverein hannover<br />

ulrike groos,<br />

kunsthalle düsseldorf<br />

For a long time, the interest in the medium of<br />

drawing seemed to have flagged almost entirely.<br />

Not only was a focus on drawing considered<br />

increasingly obsolete at art schools, drawing also<br />

played at best a subsidiary role in the world of<br />

exhibitions. In the face of large format painting,<br />

repeatedly reemerging in waves since the 1980s,<br />

installative narrative work that targets a suggestive<br />

inclusion of the beholder, and the boom in a<br />

style of photography that courts the auratic quality<br />

of the wall painting, drawing, with its intimate<br />

austerity, seemed marginal and almost anachronistic.<br />

Only in the past few years has attention<br />

again returned to this chronically undervalued<br />

medium. Here, an important role is played by the<br />

moment of immediate directness, coupled with<br />

drawing’s sketch-like and fragmentary character,<br />

central structural elements of the medium.<br />

The project ”Diving Trips” picks up in a certain<br />

Lange Zeit schien das Interesse am Medium der Zeichnung fast vollständig erlahmt. Nicht<br />

nur an den Kunsthochschulen galt die Beschäftigung mit Zeichnung immer mehr als obsolet,<br />

auch im Ausstellungsbetrieb spielten zeichnerische Positionen allenfalls eine Nebenrolle.<br />

Im Kontext einer in Wellen immer wieder in den Betrieb hineinschwappenden Großmalerei<br />

seit den achtziger Jahren, installativ erzählerischer Entwürfe, die auf eine suggestive<br />

Einbeziehung des Betrachters zielten, und im Kontext des Booms einer unverhohlen<br />

um die Auratik des Tafelbilds buhlenden Fotografie, wirkte Zeichnung in ihrer intimistischen<br />

Sparsamkeit marginal und nahezu anachronistisch. Erst in den letzten Jahren richtet<br />

sich der Fokus wieder verstärkt auf dieses chronisch unterschätzte Medium. Eine wichtige<br />

Rolle spielt dabei das Moment einer unmittelbaren Direktheit, gepaart mit dem<br />

Charakter des Skizzenhaften und Fragmentarischen als zentrale Strukturelemente der<br />

Gattung.<br />

Das Projekt „Tauchfahrten“ knüpft in gewisser Weise an dieses wieder aufgeflammte<br />

Interesse am Medium der Zeichnung an, argumentiert aber von einer Richtung her, die bislang<br />

in der Diskussion des Zeichnerischen eher eine untergeordnete Rolle gespielt hat, dem<br />

Aspekt der Reportage. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei die Frage, was die<br />

Zeichnung im wortwörtlichen Sinne zurückbringt, wenn sie konkrete Ereignisse und Situationen<br />

protokolliert. Mit dieser Perspektivierung hin auf das Moment einer visuellen Berichterstattung<br />

gerät automatisch das Verhältnis von Zeichnung und Fotografie in den Blick.<br />

Ohne den medialen Paradigmenwechsel in Frage stellen zu wollen, mit dem die Fotografie<br />

seit Anfang des 20. Jahrhunderts sukzessive das gezeichnete Nachrichten-Bild ersetzte,<br />

macht die Ausstellung ebenso deutlich, wie zeichnerische Re-Portagen eine Dimension des<br />

Realen hervorzubringen vermögen, die im fotografischen Diskurs strukturell unsichtbar bleiben<br />

muss.<br />

Dabei hilft der Zeichnung eben das, was sie strukturell vom Fotografischen unterscheidet:<br />

Die sensorische Berührung, die das Auge und den Stift des Zeichners mit der zu<br />

protokollierenden Realität verbindet, erlaubt einen völlig anderen gestalterischen Freiraum,<br />

als er in der (nicht manipulierten) Fotografie aufgrund der direkten chemisch-physikalischen<br />

Verknüpfung von Welt und Apparatur möglich wäre. Interessanterweise erscheint das Potenzial<br />

der zeichnerischen Wirklichkeitsaneignung gerade unter den Bedingungen der gegenwärtigen<br />

digitalen fotografischen Praxis und den in ihr enthaltenen Möglichkeiten der perfekten<br />

Wirklichkeitssimulation deutlich gestärkt. So argumentiert der Züricher Tages-Anzeiger<br />

in einer Rezension zu Joe Saccos „The Fixer“, einer gezeichneten Reportage aus dem<br />

Sarajewo des Jahres 1995, die Zeichnung in der Reportage erlebe in einer Zeit schier unendlicher<br />

Möglichkeiten zur Manipulation von Fotografie gerade deswegen eine Renaissance,<br />

way on this renewed interest in the medium, but<br />

arguing from a direction that up until now has<br />

played a rather subordinate roll in the debate: the<br />

aspect of reportage. Central here is thus the question<br />

of what drawing literally retains when it<br />

records concrete events and situations. By taking<br />

this perspective on the moment of visual reporting,<br />

the relationship between drawing and photography<br />

automatically comes into view. Without<br />

seeking to question the media paradigm shift by<br />

which the photograph has successively replaced<br />

news illustration since the beginning of the twentieth<br />

century, the exhibition makes it equally<br />

clear how illustrative “re-porting” can evoke a<br />

dimension of the real that can only remain invisible<br />

in photographic discourse.<br />

Here, drawing is helped precisely by that which<br />

structurally distinguishes it from photography:<br />

the sensory contact that ties the eye and the<br />

drawing utensil to the reality being recorded,<br />

allowing for a completely different free artistic<br />

space than could ever be possible in (unmanipulated)<br />

photography as a result of the direct chemical-physical<br />

linkage of world and apparatus in the<br />

latter medium. Interestingly, the potential that<br />

lies in illustration’s appropriation of reality seems<br />

particularly strengthened under the conditions of<br />

current digital photography and the possibilities<br />

inherent of the perfect simulation of reality<br />

inherent in it. Thus, the Zurich newspaper<br />

Tagesanzeiger argues in a review of Joe Sacco’s<br />

“The Fixer”, a reportage drawing series from<br />

Sarajevo 1995, that in an age of the sheer endless<br />

possibilities of manipulation of photography,<br />

drawing as a medium of reportage is experiencing<br />

a renaissance, precisely because it seems more<br />

subjective, thus reminding us that a filtered reality<br />

lies at its foundation. The wonderfully paradox-<br />

ical turn according to which the apparent reality<br />

of the photography seems, as a result of its falsifiable<br />

nature, less believable than the obvious subjectivity<br />

of the illustration, not only throws a<br />

telling light on how our perception of reality is<br />

perforated by the media, but also catapults news<br />

illustration and thus drawing as a whole to the<br />

status of a key medium for receiving reality.<br />

Fitting for the extensive nature of the issue and<br />

the lack of attention paid to it in the past, Tauchfahrten<br />

combines historical and current aspects<br />

of reportage illustration from very different areas.<br />

In so doing, the exhibition uses examples outside<br />

a narrowly conceived realm of art, like the press<br />

illustrations of Fritz Koch-Gotha, the courtroom<br />

drawings of Erich Dittmann, the mine drawings of<br />

Alfred Schmidt, the comic-like narrations of He<br />

Youzhi, or the filmic drawings of Robert Weaver,<br />

with an artistic genealogy stretching from John<br />

weil sie subjektiver wirke und damit daran erinnere, dass ihr eine gefilterte Wahrnehmung<br />

zugrunde liege. Die wunderbar paradoxe Volte, wonach die augenscheinliche Wahrheit des<br />

Fotografischen aufgrund seiner Fälschbarkeit in gewisser Weise weniger glaubwürdig wirkt<br />

als die offensichtliche Subjektivität des Zeichnerischen, wirft nicht nur ein bezeichnendes<br />

Licht auf die medial perforierte Struktur unserer Wirklichkeitswahrnehmung, sondern katapultiert<br />

die Reportagezeichnung und damit Zeichnung insgesamt auf die Ebene eines<br />

Schlüsselmediums der Wirklichkeitsrezeption.<br />

Der Breite des Themas und seiner bislang geringen <strong>Auf</strong>arbeitungstiefe angemessen,<br />

verschränkt „Tauchfahrten“ historische und aktuelle Aspekte der Reportagezeichnung aus<br />

verschiedensten Bereichen. Dabei verbindet die Präsentation im engeren Sinne nicht-künstlerische<br />

Entwürfe, beispielsweise die Pressezeichnungen von Fritz Koch-Gotha, die Gerichtszeichnungen<br />

von Erich Dittmann, die Bergwerkszeichnungen von Alfred Schmidt, die<br />

comic-nahen Narrationen von He Youzhi oder die filmisch angelegten Protokolle Robert<br />

Weavers mit einer künstlerischen Genealogie, die von John Singer Sargent und Max Klinger<br />

über Alberto Giacometti bis hin zu Stephan Mörsch, Amelie von Wulffen und Andreas Siekmann<br />

reicht. Deutlich wird so nicht nur die hohe ästhetische Qualität zeichnerischer Arbeiten<br />

aus dem Bereich der so genannten angewandten Kunst, sondern werden auch die<br />

stupenden Möglichkeiten, die das Genre der gezeichneten Reportage insgesamt bietet.<br />

Unser großer Dank gilt zunächst Clemens Krümmel und Alexander Roob, die nicht nur<br />

das ambitionierte Konzept dieser Schau inhaltlich entwickelt haben, sondern auch für den<br />

umfangreichen Katalog verantwortlich zeichnen, der als Grundlagenwerk für jede weitere<br />

Beschäftigung mit dem Thema zu betrachten ist. Ein weiterer großer Dank geht an die Förderer<br />

dieses Ausstellungsprojektes, an die Niedersächsische Lottostiftung, die Kulturstiftung<br />

des Bundes und das Land Niedersachsen, deren substanzielle Hilfe das Gesamtvorhaben<br />

erst möglich gemacht hat.<br />

Singer Sargent and Max Klinger, then to Alberto<br />

Giacometti, and finally to Stephan Mörsch, Amelie<br />

von Wulffen, and Andreas Siekmann. In this way,<br />

not only does the high aesthetic quality of illustration<br />

from the area of so-called applied arts<br />

become clear, but also the stupendous possibilities<br />

that drawing as a medium can offer.<br />

Our thanks first to Clemens Krümmel and Alexander<br />

Roob, who not only developed the show’s ambitious<br />

concept, but also are responsible for the<br />

extensive catalogue, which will be considered a<br />

foundational work for dealing with this issue.<br />

Many thanks also go to the financial supporters<br />

of this project: Niedersächsische Lottostiftung,<br />

Kulturstiftung des Bundes, and the Federal Land<br />

of Lower Saxony, whose substantial help first<br />

made this whole project possible.

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