(Auf-)Zeichnen 1800-1900 - Melton Prior Institut
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Karin Gludovatz<br />
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45<br />
Lucjan Motyka, Wandbild mit der Simulation<br />
eines Badezimmerspiegels Auschwitz-<br />
Birkenau, Block 8, Waschraum im 2. Stock.<br />
of the photographs, forces them to take on a role<br />
that they will never be able to fulfill: that of the<br />
reporter who draws an “objective” depiction of reality.<br />
Such a notion already contains the disappointment<br />
in the potential realization of a missing faithfulness<br />
to detail: Irith Dublon-Knebel pointed out<br />
the low tolerance of those who interviewed survivors,<br />
either immediately after liberation or in the<br />
decades afterward; these interviewers found themselves<br />
confronted with narratives told by survivors<br />
that did not want to provide an exact description of<br />
everyday life or individual facts. 23 In the most extreme<br />
cases, this led to the doubting of their testimony<br />
as a whole 24 which is all the more absurd considering<br />
how much was believed when it came to visual<br />
testimony. The drawings in particular show also<br />
that one must take leave of a naïve notion of an<br />
unmediated reality contained within them.<br />
These works are results of personal experiences that<br />
trachtung ist von der Ambivalenz geprägt, die verschiedenen bildlichen Äußerungen als<br />
Äußerungen einzelner Subjekte wahrzunehmen und sie unter historischer Perspektive im<br />
Hinblick auf das Geschehen in den Lagern zu lesen.<br />
Diese Voraussetzung relativiert die Frage nach der Authentizität oder genauer: ermöglicht<br />
ihre kritische Hinterfragung in Hinblick auf die Ereignisse und deren Rezeption.<br />
Den Zeichnungen wurde als scheinbar unmittelbare Reaktionen auf das Geschehen gerne<br />
der Status der nicht in Frage zu stellenden Zeugenschaft zugesprochen, die zudem –<br />
anders als mündliche Aussagen – nicht mehr variierten: „[...] wir [haben] die Katastrophe<br />
jetzt in unanfechtbaren authentischen Bildern vor Augen.“ 22 Diese problematische <strong>Auf</strong>ladung<br />
der Bilder, die auch und – bedingt durch das Medium – noch mehr die frühe Rezeption<br />
der Fotos betrifft, zwingt sie in eine Rolle, die sie nie werden erfüllen können: jene des<br />
Berichterstatters, der eine ‚objektive’ Wiedergabe der Realität zeichnet. Eine solche Vorstellung<br />
beinhaltet schon die Enttäuschung bei der potenziellen Feststellung mangelnder<br />
Detailtreue. Irith Dublon-Knebel wies auf diese niedrige Frustrationsschwelle bei Interviewern<br />
hin, die entweder unmittelbar nach der Befreiung oder in den Jahrzehnten danach<br />
Überlebende nach ihren Erfahrungen befragten und sich teilweise mit Erzählungen konfrontiert<br />
sahen, die weder den Alltag noch einzelne Fakten exakt beschreiben wollten. 23 Dies<br />
Anonym, „Die Strafkompanie<br />
‚Königsgraben’“, Wandmalerei in<br />
Auschwitz-Birkenau, Block 1<br />
are brought to expression in an individual form. The<br />
process of finding a form of expression and thus a<br />
necessary moment of distantiation was one way of<br />
articulating what was experienced, but also of<br />
maintaining individuality. 25 The stylistic variety of<br />
the drawings – beyond any aestheticization – is a<br />
crucial aspect of their interpretation. It indicates<br />
the highly varied cultural contexts and traditions<br />
from which the producers came, their decided continuation<br />
or variation in maintaining an autonomy of<br />
the subject, which on this level places itself in a certain<br />
field of tension. The drawings provide observations<br />
of the reality of the camps, and they bear witness<br />
to the subversiveness of an internal sense of<br />
self-determination against which the Nazis were<br />
powerless.<br />
Abb. aus: Joseph P. Czarnecki,<br />
Last Traces. The Lost Art of<br />
Auschwitz, New York 1989<br />
1. Vgl. dazu Hamburger<br />
<strong>Institut</strong> für Sozialforschung<br />
(Hg.): Verbrechen der<br />
Wehrmacht. Dimensionen<br />
des Vernichtungskrieges<br />
1941-1944, Ausstellungskat.,<br />
Hamburg 2002. Ein<br />
besonders zynisches<br />
Beispiel für den persönlichen<br />
Bildgebrauch von<br />
Lagerszenen bietet das sog.<br />
Auschwitzalbum, das die<br />
Deportierung jüdischer<br />
Ungarinnen und Ungarn<br />
vom Transport bis zur<br />
Verteilung im Lager dokumentiert.<br />
Die einzelnen<br />
Fotos wurden mit kalligrafierten<br />
Bildunterschriften<br />
(z. B.: „nicht mehr einsatzfähige<br />
Frauen und Kinder“)<br />
versehen, während die<br />
erste Seite eine zärtliche<br />
Widmungsinschrift trägt<br />
(„Andenken von Deinem<br />
Lieben und Unvergesslicher<br />
und Treuliebender Heinz“).<br />
Vgl. dazu: Yasmin Doosry:<br />
Vom Dokument zur Ikone.<br />
Zur Rezeption des<br />
Auschwitz-Albums, in:<br />
Dies. (Hg.): Representations<br />
of Auschwitz. 50 Years of<br />
Photographs, Paintings,<br />
and Graphics, O_wi_cim<br />
1995, S. 95-104.<br />
2. Am bekanntesten sind<br />
jene vier <strong>Auf</strong>nahmen, die<br />
Mitglieder des Sonderkommandos<br />
in Auschwitz<br />
machten. Diese zeigen –<br />
unscharf, doch eindeutig –<br />
die Verbrennung von Ermordeten,<br />
Frauen auf dem<br />
Weg zur Exekution und<br />
einen wohl unbeabsichtigt<br />
ausgelösten Blick auf<br />
Baumwipfel. Die Fotos<br />
konnten aus dem Lager<br />
gebracht und an den polnischen<br />
Widerstand weitergegeben<br />
werden. Sie bilden<br />
gerade aufgrund ihrer<br />
Verwackeltheit und ihrer<br />
rasch gewählten Bildausschnitte<br />
die Gefahr ihrer<br />
Entstehung ab, sichtbar in<br />
der Eile ihrer Produktion.<br />
Vgl. Georges Didi-Huberman:<br />
Images malgré tout,<br />
in: Clément Chéroux (Hg.):<br />
Mémoire des camps.<br />
Photographies des camps<br />
de concentration et d’extermination<br />
nazis (1933-<br />
1999), Paris 2001, S. 11-21.<br />
führte in den extremsten Fällen dazu, dass die Aussagen in Zweifel gezogen wurden, 24 was<br />
umso absurder ist, wenn man bedenkt, wie sehr im Verhältnis dazu den Bildern geglaubt<br />
wurde. Gerade die Zeichnungen zeigen auch, dass man sich von einer naiven Vorstellung<br />
einer darin unvermittelten Realität verabschieden muss.<br />
Diese Arbeiten sind Resultate persönlicher Erfahrungen, die in individueller Form veräußerlicht<br />
wurden. Der Prozess der Formfindung und mithin ein notwendiges Distanzierungsmoment<br />
war ein Weg, das Erlebte artikulieren, aber auch Individualität aufrecht erhalten<br />
zu können. 25 Die stilistische Vielfalt der Zeichnungen ist – jenseits von Ästhetisierung<br />
– ein zentraler Punkt ihrer Interpretation. Sie verweist auf die unterschiedlichsten<br />
kulturellen Kontexte und Traditionen, denen die Produzent/innen entstammten, ihre dezidierte<br />
Fortführung bzw. Variation auf das Bewahren einer Autonomie des Subjekts, das sich<br />
auf dieser Ebene in ein bestimmtes Spannungsfeld setzt. Die Zeichnungen übermitteln<br />
Beobachtungen der Lagerrealität, und sie zeugen von der Subversion innerer Selbstbestimmtheit,<br />
gegen die die Nazis machtlos waren.<br />
3. Stellvertretend für die<br />
umfangreiche Literatur seien<br />
hier Cornelia Brink:<br />
Ikonen der Vernichtung.<br />
Öffentlicher Gebrauch von<br />
Fotografien aus nationalsozialistischenKonzentrationslagern<br />
nach 1945,<br />
Berlin 1995, Cheroux 2001<br />
(zit. Anm. 2) und Bettina<br />
Bannasch/Almuth Hammer<br />
(Hg.): Verbot der Bilder –<br />
Gebot der Erinnerung.<br />
Mediale Repräsentation der<br />
Schoah, Frankfurt 2004.<br />
Weitere Studien versammelt<br />
Ute Wrocklage:<br />
Fotografie und Holocaust.<br />
Annotierte Bibliografie,<br />
Frankfurt/Main 1998.<br />
4. Vgl. zur Begriffsdebatte<br />
Jürgen Kaumkötter: Kunst<br />
in Auschwitz – Ein schmaler<br />
Grat, in: kritische<br />
berichte, 4 (2003), S. 62-76.<br />
5. So schreibt etwa Mary S.<br />
Costanza: Bilder der Apokalypse.<br />
Kunst in Konzentrationslagern<br />
und Ghettos,<br />
München 1983, S. 29: „Diese<br />
Kunst ist ebenso lebendig<br />
wie die Arbeiten von<br />
Historikern und<br />
Schriftstellern und wie die<br />
vielen Dokumente und<br />
Fotos, die von den Nazis<br />
selbst, die bürokratisch<br />
genau alles ablegten, sowie<br />
von den Befreiungsstreitkräften<br />
hinterlassen wurden.<br />
Zusätzlich haben wir<br />
die Katastrophe jetzt in<br />
unanfechtbaren authentischen<br />
Bildern vor Augen.“<br />
6. Vgl.. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 78.<br />
7. Vgl. Sybil H. Milton:<br />
Culture under Duress. Art<br />
and the Holocaust, in: F. C.<br />
Decoste, Bernhard<br />
Schwartz (Hg.): The<br />
Holocaust Ghost. Writings<br />
on Art, Politics, Law and<br />
Education, The University<br />
of Alberta Press 2000, S.<br />
84-97, hier S. 88.<br />
8. Vgl. Costanza (wie Anm.<br />
5), S. 51.<br />
9. Vgl. Kaumkötter (wie<br />
Anm. 4), S. 68.<br />
10. Vgl. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 42.<br />
11. Zu den Wandzeichnungen<br />
vgl. die katalogähnliche<br />
Zusammenstellung bei<br />
Joseph P. Czarnecki: Last<br />
Traces. The Lost Art of<br />
Auschwitz, New York 1989.<br />
12. Zit. n. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 60.<br />
13. Vgl. Milton<br />
(wie Anm. 7), S. 93.<br />
14. Vgl. Milton<br />
(wie Anm. 7), S. 91.<br />
15. Vgl. dazu die von<br />
Costanza (wie Anm. 5)<br />
versammelten Interviews.<br />
16. Zit. n. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 28.<br />
17. Zit. n. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 29.<br />
18. Zit. n. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 50.<br />
19. Zit. n. Costanza<br />
(wie Anm. 5), S. 90.<br />
20. Zu diesem Aspekt vgl.<br />
etwa Miriam Novitch:<br />
Resistenza Spirituale. 120<br />
disegni dai Campi di<br />
Concentramento e dai<br />
Ghetti 1940-1945, Mailand<br />
1979 und Janet Blatter, Sybil<br />
Milton: Art of Holocaust,<br />
New York 1981.<br />
21. Zit. n. Costanza (wie<br />
Anm. 5), S. 18.<br />
22. Costanza (wie Anm. 5),<br />
S. 22.<br />
23. Irith Dublon-Knebel:<br />
Transformationen im Laufe<br />
der Zeit. Re-Präsentationen<br />
des Holocaust in Zeugnissen<br />
der Überlebenden,<br />
in: Insa Eschebach, Sigrid<br />
Jacobeit, Silke Wenk (Hg.):<br />
Gedächtnis und Geschlecht.<br />
Deutungsmuster in Darstellungen<br />
des nationalsozialistischen<br />
Genozids,<br />
Frankfurt/Main, New York<br />
2002, S. 327-342.<br />
24. Dublon-Knebel (wie<br />
Anm. 23). Bereits Hannah<br />
Arendt: Elemente und<br />
Ursprünge totaler Herrschaft,<br />
Frankfurt/Main<br />
1962, zeigte diese Paradoxie<br />
auf.<br />
25 Vgl. zu dieser grundsätzlichenDarstellungsprogrammatik<br />
James E.<br />
Young: Beschreiben des<br />
Holocaust, Frankfurt/Main<br />
1992.