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(Auf-)Zeichnen 1800-1900 - Melton Prior Institut

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Clemens Krümmel<br />

10<br />

11<br />

Ida Libby Dengrove, „Yoko Ono“, 1984<br />

Akira Kurosawa, Zeichnung aus dem Storyboard zu<br />

„The Sea Is Watching“, erst nach Kurosawas Tod 2002<br />

von Kei Kumai in einem Film umgesetzt.<br />

has increasingly been becoming over the past few<br />

decades: a framing term for various forms of visual<br />

witnessing, a technique of reporting particularly<br />

from otherwise inaccessible spaces or spaces<br />

that are or only accessed with difficulty. “Diving<br />

expeditions” in the literal sense are research trips<br />

undertaken under difficult conditions due to the<br />

limited air, space, and time in unusual surroundings.<br />

In the sense used here, this becomes a<br />

metaphor for the special form of access to “problematic”<br />

spaces that drawing provides in comparison<br />

to other techniques (each with its own limitations).<br />

These spaces include not only sites that<br />

for juridical, political, ideological, economic, or<br />

technical reasons cannot be captured with other<br />

visual media, but also imaginary spaces that refer<br />

to utopian projects, inventions of the future,<br />

films in planning, and dreams, fantasies, and<br />

inner images more generally.<br />

Mit „Tauchfahrten“ wird ein spezifischerer Zugang erprobt: Es geht um „Zeichnung<br />

als Reportage“, und zwar genau im Wortsinn eines <strong>Zeichnen</strong>s, das etwas „zurückbringt“. Damit<br />

soll bei dieser Ausstellung interessieren, was Zeichnung auch ist, was sie seit mindestens<br />

einhundertfünfzig Jahren immer wieder war und was sie vielleicht in den vergangenen<br />

Jahrzehnten wieder etwas stärker geworden ist: eine Passepartout-Technik der visuellen<br />

Zeugenschaft, ein Verfahren der Berichterstattung, auch und vor allem aus anders<br />

unzugänglichen oder nur erschwert zugänglichen Räumen. „Tauchfahrten“ im wörtlichen<br />

Sinne sind Forschungsausflüge, die wegen der Knappheit von Atemluft, Raum und Zeit in<br />

einem nicht gewohnten Umfeld erschwerte Bedingungen aufweisen. Im hier verwendeten,<br />

übertragenen Sinn werden sie zur Metapher einer besonderen Zugangsmöglichkeit zu „problematischen“<br />

Räumen, die Zeichnung im Vergleich mit anderen Techniken (mit jeweils<br />

eigenen Einschränkungen freilich) zu bieten hat. Zu diesen Räumen zählen Orte – die aus<br />

juristischen, politischen, ideologischen, ökonomischen oder technischen Gründen nicht<br />

mit anderen Bildmedien aufzunehmen sind als mit Zeichnung – aber auch imaginäre Räume,<br />

die sich auf utopische Projekte, noch zu entwickelnde Erfindungen, in Planung befindliche<br />

Filme, aber auch allgemeiner auf Träume, Phantasien und innere Bilder beziehen.<br />

Jedem sind zahlreiche andere Verwendungsweisen berichtender, reportagehaft illustrierender<br />

Zeichnung geläufig: Buchillustrationen, Pressezeichnungen, Gerichtszeichnungen<br />

(wie die oft monströs wirkenden Bilder von Ida Libby Dengrove), Phantombilder, Tatortskizzen,<br />

Kassiber aus Gefängnissen (wie Angelos Zeichnungen zur Verbesserung des Lebensbedingungen<br />

in amerikanischen Gefängnissen), therapeutisch genutzte Traumzeichnungen,<br />

Wegbeschreibungen, technische Zeichnungen in Gebrauchsanweisungen, Storyboardzeichnungen<br />

(wie den Zeichnungen zu Hitchcocks Film „The Birds“ oder zu dem erst<br />

posthum nach den Skizzen verwirklichten Film „The Sea Is Watching“ von Akira Kurosawa),<br />

etc. In einem Niemandsland zwischen diesen beiden Bereichen (und zumeist nicht so sehr<br />

in irgendeinem heroischen „Off“) liegen zudem die Zeichnungsformen der so genannten<br />

Amateure, Zeichner/innen, die sich weder der ständischen Disziplin professioneller Zeichnung<br />

noch der postulierten Freiwilligkeit und Freizügigkeit des Künstlerischen zuordnen<br />

lassen oder die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus „Ausnahme“- oder „Außenseiter“-Status<br />

zugewiesen bekommen. Auch das potenziell gattungsübergreifende zeichnerische<br />

Verfahren ist also im Zusammenhang der gezeichneten Reportage nur ein Teilaspekt.<br />

Die nicht nur in der Vielfalt der möglichen Einsatzgebiete liegenden Vorzüge des<br />

<strong>Zeichnen</strong>s sollen wiederum nicht zu einer idealisierten Beschreibung führen – schon gar<br />

nicht, was den Zeugencharakter der hier gesammelten Zeichnungen und Zeichnungsfol-<br />

We are all familiar with numerous other applications<br />

of reportage-like illustration: book illustrations,<br />

press drawings, courtroom illustration (like<br />

the often monstrous pictures of Ida Libby Dengrove,<br />

Fig.), facial composites, crime scene sketches,<br />

missives smuggled out of prison (like Angelos’s<br />

drawings in the interest of improving living conditions<br />

in American prisons, Fig.), dream drawings<br />

used in a therapeutic context, directions, technical<br />

drawings in instruction manuals, storyboard<br />

drawings (like the drawings for Hitchcock’s The<br />

Birds or those of The Sea is Watching “by” Akira<br />

Kurosawa, a film that was only completed<br />

posthumously based on the director’s sketches,<br />

Fig.), and so on. In a no-man’s-land between<br />

these two areas (and often not in some kind of<br />

heroic “off”) are the forms of illustration of socalled<br />

amateurs, illustrators who can neither be<br />

classified in the guild of professional illustrators<br />

nor attributed the supposed voluntary character<br />

and freedom of the artistic, or for the most various<br />

reasons are assigned “exceptional” or “outsider”<br />

status. Even the potentially discipline-crossing<br />

technique of drawing is also only a partial<br />

element in the context of illustrated reportage.<br />

At the same time, the advantages of drawing,<br />

which lie not only in the multiplicity of its various<br />

areas of application, should not lead us towards<br />

an idealized description, especially where the witness<br />

character of the here collected drawings and<br />

series is concerned. Jonathan Crary’s book,<br />

Technologies of Observation (1990), presents a<br />

study based not only on the theories of sensation<br />

and modernity of Charles Baudelaire and Walter<br />

Benjamin, but also Guy Debord’s critique of the<br />

“spectacle” on the “dissolution” of the seeing<br />

observer in the nineteenth century in Western<br />

modernism. On Benjamin’s image of the observer,<br />

Screenshots aus „The Scorpion King“, HK 1991,<br />

Regie: David Lai<br />

which in turn should be seen in historically specific<br />

terms, Crary writes: “He makes clear how<br />

modernity subverts even the possibility of a contemplative<br />

beholder. There is never a pure access<br />

to a single object; vision is always multiple, adjacent<br />

to and overlapping with other objects,<br />

desires, and vectors.” 3 In his description of vision,<br />

Benjamin prudently did not make reference to<br />

painting, nor did he refer to nineteenth century<br />

drawing. It is thus by no means detrimental to<br />

current debates on this visual technique to preserve<br />

a skeptical view of the possibilities of<br />

“objective reference.” For what is “authentic” in<br />

reportage illustrations, “direct,” “immediate,” or<br />

“real,” also in relationship to the reality discourses<br />

of documentary photography or filming, has to<br />

be discussed anew for each particular case and be<br />

analyzed as a specific construction.<br />

The knowledge of images and their truth content<br />

gen betrifft. Mit Jonathan Crarys Buch „Techniken des Betrachters“ (1990) etwa liegt eine<br />

auf den Sinnlichkeits- und Modernitätstheorien von Charles Baudelaire und Walter Benjamin,<br />

aber auch auf der „Spektakel“-Kritik von Guy Debord aufbauende Untersuchung der<br />

„<strong>Auf</strong>lösung“ des sehenden Betrachters im 19. Jahrhundert und in der westlichen Moderne<br />

vor. Zu Benjamins Bild des Betrachters, das natürlich wiederum zeitspezifisch zu sehen<br />

ist, schreibt er: „He makes clear how modernity subverts even the possibility of a contemplative<br />

beholder. There is never a pure access to a single object; vision is always multiple,<br />

adjacent to and overlapping with other objects, desires, and vectors.“ 3 Benjamin hat sich<br />

bei dieser Beschreibung wohlweislich nicht auf die Malerei – und auch nicht auf die Zeichnung<br />

des 19. Jahrhunderts bezogen. Es schadet heutigen Auseinandersetzungen mit diesen<br />

Bildverfahren keineswegs, sich eine skeptische Sichtweise auf die Möglichkeiten „objektiver<br />

Referenz“ vorzubehalten. Denn was an Reportagezeichnungen „authentisch“, „direkt“,<br />

„unmittelbar“ oder „wirklich“ sein kann, auch etwa im Verhältnis zu den Wahrheitsdiskursen<br />

dokumentarischen Fotografierens oder Filmens, bleibt in jedem einzelnen Fall<br />

neu zu diskutieren und als spezifische Konstruktion zu analysieren.<br />

Dabei hilft zum Teil ein inzwischen weit verbreitetes Wissen von Bildern und ihrem<br />

Wahrheitsgehalt, das besonderen Erkenntnisproblemen besondere Wahrnehmungsweisen<br />

und Darstellungsmethoden gegenüberzustellen gelernt hat. In einer zeitgenössischen Gebrauchsanweisung<br />

der Sternwarte Remscheid für Astronomie-Amateure liest man zum<br />

Beispiel eine alltäglich formulierte Einordnung der Möglichkeiten von Zeichnung: „Einen<br />

objektiven Eindruck von einem Objekt des Weltalls – z. B. eines Planeten, einer leuchtenden<br />

Gaswolke oder einer entfernten Galaxie – werden wir nicht erhalten. Darauf kommt es<br />

aber auch nicht an, sondern darauf, sich der Wirklichkeit mit unseren Mitteln und Beschränkungen<br />

weitest möglich anzunähern, die Wahrnehmung also zu optimieren. Eine<br />

gute Chance dazu bietet die Zeichnung. Das <strong>Zeichnen</strong> am Teleskop unterstützt und fördert<br />

die optische Wahrnehmung. Der Beobachter konzentriert sich und überprüft dabei<br />

immer wieder sein Werk mit dem Bild im Fernrohr. Er bekommt so allmählich ein Gefühl<br />

für die Proportionen im Bild und lernt, das Bild zu verfeinern. Zeichnungen haben den Vorteil,<br />

dass man in ihnen die besten Beobachtungsmomente festhalten und zu einem Gesamtbild<br />

summieren kann.“<br />

In dem Kung-Fu-Film „The Scorpion King“ (Hong Kong 1993, Regie: David Lai) gelingt<br />

es dem Schüler nur über heimlich angefertigte Skizzen, der rasenden Schnelligkeit der<br />

Bewegungen seines Meisters zu folgen – er setzt sich durch die genaue zeichnerische Vergegenwärtigung<br />

des Verhältnisses der einzelnen Gliedmaßen zueinander überhaupt erst<br />

in die Lage, sich den Anforderungen seiner gefährlichen Lebensumstände anzupassen. Er<br />

is of some assistance here, a knowledge that has<br />

learned to wither the special problems of cognition<br />

of certain modes of perception and forms of<br />

representation. In the instructions published by<br />

the Remscheid Observatory for astronomy amateurs,<br />

for example, we read an everyday description<br />

of the possibilities of drawing: “There is no<br />

way to get an objective impression of an object of<br />

outer space, for example, that of a planet, a nebula,<br />

or a distant galaxy. This is also not the point,<br />

but rather to approach reality with our means and<br />

limitations as close as possible, to optimize perception.<br />

A good chance for this is offered by drawing.<br />

Drawing on the telescope supports and promotes<br />

optical perception. The observer concentrates,<br />

thereby repeatedly checking his work<br />

against the image in the telescope. He thus slowly<br />

gets a feeling for the proportions in the image,<br />

and learns to refine the picture. Drawings have<br />

the advantage that one can record the best moments<br />

of observation and sum them up to form a<br />

total image.”<br />

In the Kung Fu film The Scorpion King (Hong<br />

Kong 1993, David Lai; Fig.), the student is only able<br />

to follow the fantastic swiftness of the movements<br />

of his master by way of secretly made sketches:<br />

only though the precise realization of the relationships<br />

between the individual limbs in drawing<br />

is he at all able to adjust to the needs posed by<br />

the dangerous situation in which he finds himself.<br />

Through a step-by-step mimetic process, he<br />

brings what once seemed unattainable tangibly<br />

close, and, by way of the collected drawings is<br />

much later still able to remember in a physically<br />

precise way every hand and foot position.<br />

If we think of such practices of description using<br />

recursive techniques of learning as well as the<br />

possibilities of illustrative imagination, we are

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