Fall 10 - Lehrstuhl für Ãffentliches Recht II Prof. Dr. Markus Möstl
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PÜ Grundrechte SoSe 2009<br />
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Möstl<br />
<strong>Fall</strong> <strong>10</strong> (Pseudo-Krupp) – Kurzlösung<br />
Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />
I. Zuständigkeit des BVerfG<br />
ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff BVerfGG<br />
<strong>II</strong>. Beschwerdefähigkeit<br />
“Jedermann“, Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG. T: (+)<br />
<strong>II</strong>I. Prozessfähigkeit<br />
T selbst ist nicht prozessfähig (§§ 51 f ZPO, § 62 I VwGO, §<strong>10</strong>4 Nr. 1 BGB analog). Sie kann<br />
aber durch ihre Eltern als gesetzliche Vertreter (§§ 1626 I, 1629 I BGB) wirksam vertreten<br />
werden.<br />
IV. Beschwerdegegenstand<br />
Jeder Akt der öffentlichen Gewalt, auch solche der Gesetzgebung (vgl. §§ 93 <strong>II</strong>I, 94 IV, <strong>II</strong>I<br />
BVerfGG). Auch Unterlassen (vgl. §§ 92, 95 I 1 BVerfGG).<br />
Hier: Unterlassen effektiverer gesetzlicher Regelungen zur Luftreinhaltung<br />
V. Beschwerdebefugnis<br />
Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung (Möglichkeitsformel):<br />
1. Art. 20 a GG <br />
Art. 20 a GG stellt als Staatszielbestimmung ein objektives Verfassungsprinzip und kein subjektives<br />
<strong>Recht</strong> dar.<br />
2. Allgemeines Grundrecht auf Umweltschutz <br />
Ein allgemeines Grundrecht auf Umweltschutz ist im GG nicht verankert. (-)<br />
3. Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG ( i.V.m. der Schutzpflichtenlehre)<br />
Schädigungen der Gesundheit und Lebensgefährdung der T durch die Luftverschmutzung<br />
sind möglich. Jedoch wird die fragliche Verschmutzung durch Private, nicht hingegen durch<br />
den Staat verursacht. Die Privaten sind aber nicht gemäß Art. 1 <strong>II</strong>I GG grundrechtsverpflichtet.<br />
Eine Verletzung in Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG in der Form des status negativus scheidet daher aus.
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Möglicherweise Verletzung von Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG durch gesetzgeberisches Unterlassen; setzt<br />
möglichen Anspruch auf staatliches Tun (hier: Schutz vor Immissionen) voraus<br />
- Schutzpflichten aus Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG: Hier: Die körperliche Unversehrtheit der T kann<br />
durch Luftverunreinigung erheblich beeinträchtigt werden. Eine Verletzung der Schutzgüter<br />
von Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG ist somit möglich. Da Leben und körperliche Unversehrtheit hohen<br />
Verfassungsrang genießen und eine extreme Beeinträchtigung droht erscheint das<br />
Bestehen einer objektiven Schutzpflicht des Staates zumindest möglich.<br />
- Sonderproblem: Einklagbarkeit der Schutzpflichten: Die Schutzpflichtverletzung<br />
stellt zunächst eine Verletzung des Grundrechts in seiner objektivrechtlichen Dimension<br />
dar. Bei Anerkennung einer Grundrechtsverletzung durch Schutzpflichtverletzung ist die<br />
Gewähr eines korrespondierenden subjektiven <strong>Recht</strong>s auf Abhilfe zur Gewähr effektiven<br />
Grundrechtsschutzes nach Art. 19 IV 1 GG konsequent. T ist damit beschwerdebefugt.<br />
Exkurs: Schutzpflichtenlehre im Rahmen der Grundrechtsfunktionen<br />
(vgl. zum Ganzen: Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 4, 23. Aufl.; <strong>Dr</strong>eier, GG, Vorb. 43fff )<br />
Subjektivrechtliche Dimension der Grundrechte (Statuslehre nach Georg Jellinek)<br />
(1) Grundrechte als Abwehrrechte (status negativus)<br />
(2) Grundrechte als Leistungsrechte (status positivus)<br />
(3) Grundrechte als Teilnahmerechte (status activus)<br />
(4) Grundrechte als Verfahrensrechte (status activus processualis)<br />
Objektivrechtliche Dimension der Grundrechte („objektive Werteordnung“)<br />
(1) Institutsgarantie<br />
(2) Ausstrahlungswirkung gegenüber Exekutive und Judikative: Verfassungskonforme Auslegung/<br />
mittelbare <strong>Dr</strong>ittwirkung<br />
(3) Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber<br />
(4) Schutzpflichten: Dogmatische Begründung ist strittig. h.M.: Die objektive Wertentscheidung<br />
Art. 1 I 2, <strong>II</strong>I GG verpflichtet den Staat, auch für eine (vorbeugende) Verhinderung<br />
von Grundrechtsverletzungen zu sorgen.<br />
VI. <strong>Recht</strong>swegerschöpfung, Subsidiarität<br />
<strong>Recht</strong>sweg ist gegenüber gesetzgeberischem Unterlassen nicht eingeräumt, kann somit<br />
nicht erschöpft werden.<br />
Grundsatz der Subsidiarität steht der VB nicht entgegen; ein Vorgehen gegen die einzelnen<br />
Emittenten, einzelne Genehmigungen oder lokale Genehmigungsbehörden wäre aussichtslos.<br />
VI. Form und Frist<br />
keine Frist bei gesetzlichem Unterlassen (+)
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Zwischenergebnis: Die VB ist zulässig.<br />
B. Begründetheit<br />
Die VB ist begründet, wenn T in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen <strong>Recht</strong>en verletzt<br />
ist. In Betracht kommt allein eine Verletzung von Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG durch die Nichtergreifung<br />
effektiverer Schutzmaßnahmen.<br />
Aufbauhinweis: Bei der Grundrechtsverletzung nach der Schutzpflichtendogmatik hat sich<br />
der Aufbau nach dem Schema Schutzbereich – Eingriff – <strong>Recht</strong>fertigung nicht durchgesetzt,<br />
sondern folgt einer eigenen Systematik (Schutzpflicht – Erfüllung der Schutzpflicht).<br />
I. Versagen der abwehrrechtlichen Funktion<br />
Die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte fordert den Nachweis eines dem Staat zumindest<br />
mittelbar zurechenbaren Verhaltens und der Kausalität zwischen diesem Verhalten<br />
und der grundrechtsbeeinträchtigenden Umweltschädigung.<br />
Die Luftverunreinigung ist das Ergebnis summierter Emissionen nicht (unmittelbar) grundrechtsgebundener<br />
Privater, gegen die die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion leer laufen.<br />
Der einzelnen staatlichen Emissionsgenehmigung fehlt der Eingriffscharakter; es besteht nur<br />
eine allgemeine staatliche Mitverantwortung.<br />
Keine Zurechnung zum Staat ⇒ kein Grundrechtsschutz im status negativus<br />
<strong>II</strong>. Bestehen der Schutzpflicht<br />
Ein Grundrechtsverstoß durch Unterlassen ist nur möglich, wenn im konkreten <strong>Fall</strong> eine<br />
Schutzpflicht besteht, aus der eine positive Handlungspflicht des Staates erwächst.<br />
Je bedeutsamer ein Schutzgut ist und je weniger sich der Betroffene wehren kann, um so<br />
größer ist die staatliche Schutzpflicht.<br />
1. Qualität der Gefahr<br />
Verletzung oder qualifizierte Gefährdung des grundrechtlich geschützten <strong>Recht</strong>sgutes<br />
Hier: T bereits ernsthaft, sogar lebensbedrohlich, erkrankt. Die hochrangigen Schutzgüter der<br />
körperlichen Unversehrtheit und des Lebens nach Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG ist sind ernsthaft bedroht.<br />
Die Luftverschmutzung ist auch mit großer Wahrscheinlichkeit kausal für diese Schutzgutsbeeinträchtigung.<br />
2. Qualität des verfassungsrechtlich geschützten <strong>Recht</strong>sguts<br />
Leben: Voraussetzung für die Ausübung aller Freiheitsrechte<br />
Körperliche Unversehrtheit: Voraussetzung für die Ausübung der meisten Freiheitsrechte.<br />
beide <strong>Recht</strong>sgüter besonders hohe Stellung<br />
Zwischenergebnis: Eine Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben gegen die Autoabgase<br />
ist damit grundsätzlich begründbar.
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<strong>II</strong>I. Erfüllung der Schutzpflicht<br />
Fraglich ist hier, ob der Staat dieser Schutzpflicht genügt hat.<br />
Prüfungsmaßstab (strittig): (Nur) Evidenzkontrolle oder (strenges) Untermaßverbot<br />
a) (nur) Evidenzkontrolle<br />
Arg: Schutz des Gestaltungsspielraumes des demokratischen Gesetzgebers.<br />
BVerfG: Verletzung der Schutzpflicht nur feststellbar, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen<br />
entweder überhaupt nicht getroffen hat, oder die getroffenen Maßnahmen offensichtlich<br />
gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, um das Schutzziel zu erreichen.<br />
Überprüfung nur evidenter Mängel<br />
Hier: keine evidenten Mängel, da Gesetzgeber prinzipiell tätig geworden ist und immissionsschutzrechtliche<br />
Bestimmungen erlassen hat, die die Belastung tatsächlich reduzieren.<br />
b) (strenges) Untermaßverbot<br />
Überprüfung anhand dreier Kriterien:<br />
- aa) sorgfältige Ermittlung der Tatsachen und vertretbare Einschätzung<br />
- bb) vertretbare Abwägung der widerstreitenden Interessen<br />
- cc) Wirksamkeit der ergriffenen Schutzmaßnahmen (Effektivität (!))<br />
Hier:<br />
e.A.: Bedenken bzgl. Wirksamkeit des Schutzes. Verletzung Untermaßverbot eher (+)<br />
a.A: Die zum Schwangerschaftsabbruch entwickelte Dogmatik des Untermaßverbots lässt<br />
sich nicht auf komplexe naturwissenschaftlich-technisch Abwägungsentscheidungen übertragen<br />
(wenig überzeugend); aber: Selbst wenn einheitlicher Maßstab gilt: Demokratischer Gestaltungsspielraum<br />
zu wahren, „staatliches Gesamtpaket“ zum Gesundheitsschutz zu sehen;<br />
daher sei hier ausreichender staatlicher Schutz gewährleistet, Verletzung des Untermaßverbotes<br />
(-)<br />
c) Stellungnahme<br />
Anwendung des Untermaßverbots Vom BVerfG im Abtreibungsurteil entwickelt, aber auch<br />
auf Schutz des geborenen Lebens anwendbar. (Arg.: Geborenes Leben nicht weniger schutzwürdig<br />
als das ungeborene). Ebenso anwendbar für Schutz der körperlichen Unversehrtheit.<br />
(Arg.: Art. 2 <strong>II</strong> 1 GG nennt ausdrücklich beide RG nebeneinander). Daher ist von einem einheitlichen<br />
Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes auszugehen. Jedoch ist das Untermaßverbot<br />
zum Schutz demokratischer Gestaltungsspielräume restriktiv zu handhaben. Es ist ein<br />
Ausgleich zwischen den Interessen der Grundrechtsträger zu finden, diese Aufgabe kommt in<br />
der parlamentarischen Demokratie des GG aber dem Gesetzgeber und nicht dem BVerfG zu.<br />
Vorliegend: Hier hat der Gesetzgeber einen erheblichen Schutzbeitrag geleistet und Abwägungsentscheidungen<br />
getroffen, die in D mit einer Vielzahl von Gesetzen die Emissionen begrenzen.<br />
Das tolerierte Belastungsniveau verhindert hohe volkswirtschaftliche Kosten, die die<br />
freiheitsrechtliche Entfaltung anderer Bürger hemmen würden und dadurch auch dem Staats-
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haushalt Mittel u.A. für die Gesundheitsfürsorge (von der auch und gerade die kranke T profitiert)<br />
und die Erfüllung anderer Aufgaben entziehen würden. Die stetig steigende Lebenserwartung<br />
in D zeigt, dass die Abwägungsentscheidungen keinesfalls den Schutz von Leben<br />
und Gesundheit vernachlässigen. Krankheiten gehören auch zum allgemeinen Lebensrisiko<br />
des Einzelnen, der T sind Schutzmaßnahmen, z.B. Atemschutzmaske, zumutbar.<br />
keine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht (a.A. ggf. vertretbar)<br />
Zwischenergebnis. VB ist unbegründet. (a.A. ggf. vertretbar)<br />
Endergebnis: Die VB ist zulässig aber unbegründet. (a.A. ggf. vertretbar)<br />
VERTIEFUNGSHINWEISE<br />
LEITENTSCHEIDUNG: BVerfG, NJW 1998, 3264 (Waldschäden); NJW 1996, 651 (Ozongesetz);<br />
NJW 1997, 2509 (elektromagnetische Felder); BVerfGE 49, 89/140 ff. (Kalkar I -<br />
Schutzpflichtendogmatik allgemein); 88, 203/254 (Schwangerschaftsabbruch <strong>II</strong>, Untermaßverbot).<br />
LITERATUR: CALLIESS/KALLMAYER, JuS 1999, 785; SCHMIDT/KAHL, Umweltrecht, 7. Aufl.<br />
§ 2, Rn. 3 ff.; MÖSTL, DÖV 1998, <strong>10</strong>29; MURSWIEK, Die Verwaltung 2000, 241; SCHLETTE,<br />
JZ 1996, 327; STEINBERG, NJW 1996, 1985; WOLLENTEIT/WENZEL, NuR 1997, 60; KÖCK,<br />
ZUR 2002, 349- 352.