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Neue und alte Hüte Ein Besuch in Guben Von Dorothée Fraleux
- Seite 2 und 3: An diesem Morgen, kurz nach Acht, s
- Seite 4 und 5: „Doktor Tod” heißt er in den M
- Seite 6 und 7: Das Pfarrhaus, in dem Domke lebt, s
- Seite 8 und 9: „Jetzt aber haben wir das Plastin
- Seite 10: gessen zu werden. Das bezeugt auch
Neue und alte Hüte<br />
Ein Besuch in Guben<br />
Von Dorothée Fraleux
An diesem Morgen, kurz nach Acht, sind<br />
ein junger Mann und eine sehr alte Frau<br />
die einzigen Kunden im Bäckerladen an<br />
der Hauptstraße von Guben, der alten Wilhelm-Pieck-Stadt.<br />
Sie sitzen ganz hinten<br />
auf einer Eckbank und trinken Beuteltee.<br />
An der Tresenrückwand stapeln sich die<br />
Waren, daneben hängen Hüte in allerlei<br />
Farben und Formen. Sie erinnern an eine<br />
andere, bessere Zeit. <strong>Der</strong> „Gubener Hut”<br />
war einmal eine Marke, er zierte Köpfe in<br />
ganz Deutschland.<br />
Das war vor dem Zweiten Weltkrieg. 1945<br />
wurde die Stadt geteilt, so hatte es die Konferenz<br />
von Jalta beschlossen. Guben verlor<br />
sein Zentrum an den polnischen Stadtteil<br />
Gubin, von seinen 45.000 Einwohnern<br />
blieben gerade 26.000. Später, in der DDR,<br />
wurde das, was von der Stadt übrig blieb,<br />
für eine kurze Zeit zum Zentrum der staatseigenen<br />
Textil- und Chemiefaserindustrie.<br />
Eingang zum Plastinarium in Guben<br />
Jeder Fünfte findet keine Arbeit, wer kann, sucht<br />
eine Zukunft im Westen, andere suchen sie bei<br />
den Rechtsextremisten.<br />
Wie viele andere ostdeutsche Städte leidet<br />
Guben heute unter den Folgen der massiven<br />
Deindustrialisierung, die nach dem<br />
Ende der DDR einsetzte. Innerhalb weniger<br />
Jahre verringerte sich die Zahl der Einwohner<br />
um ein Drittel. Jeder Fünfte findet keine<br />
Arbeit, wer kann, sucht eine Zukunft im<br />
scripten 12 Neue und alte Hüte<br />
Westen, andere suchen sie bei den Rechtsextremisten.<br />
Guben ist eine sterbende Stadt. <strong>Der</strong> Tod<br />
wurde hier zur Metapher für den wirtschaftlichen<br />
und demografischen Niedergang. Ist<br />
es <strong>als</strong>o Zufall, dass das Plastinarium gerade<br />
hier seinen Standort fand?<br />
Die Frau, die mit ihrem Sohn im Gubener<br />
Bäckerladen Tee trinkt, fällt durch ein<br />
grünes Abzeichen auf, das sie am Mantel<br />
trägt. Ihren Körper, so geht aus ihm hervor,<br />
möchte sie Gunther von Hagens spenden,<br />
deshalb ist sie heute nach Guben gekommen.<br />
Sie lächelt und erklärt: „Ich habe eine<br />
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Neue und alte Hüte<br />
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sehr seltene Form von Osteoporose. Nach meinem Tod, da möchte<br />
ich nützlich sein.“ Ihr Sohn schaut skeptisch, scheint ihren Entschluss<br />
aber zu akzeptieren. Dann verlassen beide den Laden und<br />
treten auf die Straße.<br />
Trotz der frühen Uhrzeit erfüllt an diesem Samstag, den 8. September<br />
2007, eine seltene Unruhe die Stadt. Eine wachsende Zahl an<br />
Menschen bewegt sich auf ein gigantisches Festzelt zu.<br />
Die Ausstellung sahen Millionen Besucher.<br />
Faszination oder Abscheu?<br />
Das Plastinarium lädt zum Internationalen<br />
Tag der Körperspender. Über 700 Menschen<br />
wollen sich vergewissern, dass sie<br />
ihre Körper in gute Hände geben.<br />
1977 fand der Anatom Gunther von Hagens<br />
eine Technik, die es ihm erlaubt, die Körper<br />
von Verstorbenen zu „plastinieren“: Indem<br />
er sämtliche Körperflüssigkeiten durch<br />
einen Kunststoff ersetzt, kann er sie für<br />
einige hundert Jahre verwesungsfrei konservieren.<br />
Plastinate nennt von Hagens<br />
die Resultate, die er in ulkigen Posen zur<br />
Schau stellt. Seit 1991 tourt er mit ihnen<br />
durch die Welt und erregt überall Faszination<br />
und Abscheu. Seine Ausstellungen<br />
„Bodyworlds” sahen Millionen Besucher, sie<br />
machten ihn reich und gaben ihm einen<br />
zweifelhaften Ruf. „Doktor Tod” heißt er in<br />
den Medien.<br />
Als von Hagens vor etwa drei Jahren<br />
beschloss, eine Schauwerkstatt in Guben
„Doktor Tod” heißt er in den Medien.<br />
zu eröffnen, geriet der Ort bundesweit in die Schlagzeilen. Das<br />
Plastinarium sollte zugleich Museum und Werkstatt sein und den<br />
Besuchern einen Vorgeschmack auf die großen Shows geben. Sie<br />
würden den Angestellten dabei zusehen können, wie sie Leichen<br />
zu Schaustücken verarbeiten. Mit diesen Plänen war der Unternehmer<br />
zuvor im katholischen Polen gescheitert. Auch deshalb, weil<br />
die SS-Vergangenheit seines Vaters an die Öffentlichkeit drang,<br />
den er dort <strong>als</strong> Direktor einsetzen wollte. Es half nichts, <strong>als</strong> dieser<br />
beteuerte, bei den Nazis lediglich Koch gewesen zu sein.<br />
Dass negative Schlagzeilen schließlich auch Schlagzeilen seien,<br />
mag man dagegen in Guben gedacht haben. Wolfgang Teske, ein<br />
Einwohner der Stadt, rief den in Polen gescheiterten Unternehmer<br />
kurzerhand an und fragte, ob er nicht etwas mit dem großen<br />
Gebäude auf der anderen Straßenseite anfangen könne, das nun<br />
schon seit zwölf Jahren leer stehe. Auf einen Investor für die alte<br />
2.500 Quadratmeter große Textilfabrik hatte auch Bürgermeister<br />
Klaus-Dieter Hübner (FDP) lang gewartet und unterstützte die<br />
Ansiedlung nach Kräften. Er erhoffte sich frischen Wind für die<br />
dahinsiechende Stadt.<br />
So zog von Hagens in die alte Fabrik an der Uferstraße, die den<br />
Gubenern schon <strong>als</strong> Rathaus gedient hatte. Bei der Eröffnung im<br />
November 2006 war es, <strong>als</strong> käme der Tod persönlich. Die Medien<br />
berichteten zumindest vom kulturellen Exitus. Und hatte nicht<br />
Brandenburgs Minister Schönbohm (CDU) gerade erst eine „Proletarisierung”<br />
der Ostdeutschen ausgemacht? Einen Erbschaden der<br />
kommunistischen Ideologie?<br />
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Gunther von Hagens<br />
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Neue und alte Hüte<br />
„Von Hagens betreibt Sensationshascherei<br />
und Schaustellerei.“<br />
Natürlich reagierten manche Bürger mit<br />
Ablehnung. Einige gründeten ein „Bündnis<br />
für Menschenwürde“. Aber die meisten<br />
dachten wie Hübner, dass Guben es sich<br />
nicht hätte leisten können, den ungewöhnlichen<br />
Investor abzulehnen. Die Ansiedlung<br />
verstrickte Befürworter und Gegner fortan<br />
in metaphysische Fragen nach dem Verhältnis<br />
von Geist und Materie. Und Guben<br />
wurde zu einem Ort, in dem die Antworten<br />
darauf zu einzigartigen, ganz konkreten<br />
Konsequenzen für seine Einwohner geführt<br />
hatten: Unterstützen wir die Ansiedlung?<br />
Sind wir bereit, dort zu arbeiten? Und<br />
würden wir selbst einem solchen Unternehmen<br />
unseren Körper zur Verfügung stellen?<br />
Ina K. ist eine junge, groß gewachsene Frau<br />
mit blonden Haaren, und mit 19 Jahren<br />
sind für sie alle Fragen geklärt. Nach ihrem<br />
Tod will sie sich plastinieren lassen. Dieses<br />
Jahr im Juni wird sie ihr Abitur machen,<br />
und dann, da ist sie ganz sicher, möchte<br />
sie weg von hier. Vielleicht nach Mannheim<br />
oder nach Stuttgart, nur nicht bleiben, wo<br />
nichts passiert. Sie sieht in der Ausstellung<br />
reine Aufklärung, das, <strong>als</strong> was sie sich<br />
verkauft. Vom wissenschaftlichen Nutzen<br />
der Plastinate ist sie überzeugt: „Wenn<br />
man sich die Knochen anschaut, wie die<br />
Muskeln funktionieren, was ein Mensch<br />
Pfarrer Michael Domke<br />
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damit machen kann! Man braucht sie sich<br />
bloß nicht <strong>als</strong> richtige Menschen vorzustellen,<br />
mit einer Geschichte, einem Leben<br />
usw.“, erklärt sie. Aber sind es nicht richtige<br />
Menschen? „Ja, doch, man muss bloß<br />
nicht daran denken.“ Ina redet nicht weiter,<br />
lächelt und zieht vor, nicht länger darüber<br />
nachzudenken.<br />
Die ersten Demonstrationen für Freiheit,<br />
Demokratie und Menschenrechte in der<br />
DDR gingen von den Kirchen aus, auch<br />
von der, in der Michael Domke noch immer<br />
predigt. Als Pfarrer von Guben wurde er oft<br />
genug Opfer des Misstrauens des Staates,<br />
er weiß seinen Platz in der neuen Gesellschaft<br />
zu schätzen. Deshalb verwundert es<br />
ein wenig, wenn er von der Kehrseite der<br />
Demokratie spricht, <strong>als</strong> er an das Plastinarium<br />
denkt. „Es ist durch die Öffnung der<br />
Grenzen natürlich sehr viel Neues über uns<br />
hereingebrochen. Die Menschen dachten:<br />
Aha, das kann man jetzt <strong>als</strong>o alles machen!<br />
Aber das innere Verhältnis zu manchen<br />
fragwürdigen Errungenschaften ist überhaupt<br />
nicht herausgebildet worden, und<br />
auch nicht, wie man eine Position dazu einnimmt.<br />
Das hat einfach ein Gefühl von Verunsicherung<br />
und Heimatlosigkeit erzeugt.“
Das Pfarrhaus, in dem Domke lebt, steht mitten auf dem jüdischen<br />
Friedhof der Stadt. Guben hatte einmal eine große jüdische<br />
Gemeinde, auch das war vor dem Krieg. Domke sieht es <strong>als</strong><br />
seine Aufgabe an, die Erinnerung an sie wach zu halten. Für das<br />
Gedächtnis der Toten fühlt er sich verantwortlich. „Schamlos und<br />
grausam“ gehe von Hagens mit den Körpern der Verstorbenen um.<br />
In allen Kulturkreisen gebe es eine Ehrfurcht vor den Verstorbenen,<br />
die mit der Ehrfurcht vor den Lebenden zusammenhinge. Immer<br />
seien Bestattungsriten von einer Scheu getragen, sich des Körpers<br />
zu bemächtigen. Hier passiere das dagegen unter dem Deckmantel<br />
der wissenschaftlichen Forschung. „Von Hagens betreibt Sensationshascherei<br />
und Schaustellerei.“<br />
Domke ist der Anführer des Aktionsbündnisses für Menschenwürde.<br />
Ein Don Camillo im Kampf gegen das Unternehmen und<br />
das, was er <strong>als</strong> dessen logische Folge sieht, die Verrohung. Allerdings<br />
ist es seit Beginn des Jahres leiser um sein Bündnis geworden.<br />
„Denn man wird ja Teil der Kampagne, wenn man lauth<strong>als</strong><br />
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Tabubruch oder Wissenschaft?<br />
Würden sie ihren Körper nach<br />
ihrem Ableben plastinieren<br />
lassen?<br />
protestiert. Das ist ja genau, was er möchte! Er will auch religiöse<br />
Gefühle immer wieder verletzen, damit es immer wieder<br />
einen neuen Tabubruch, ein neues Kribbeln gibt.“ Und <strong>als</strong> der<br />
Anatom bekannt gab, selbst eine Kirche gründen zu wollen, eine<br />
„Bodychurch“, in der er zum Beispiel gekreuzigte Plastinate zeigen<br />
würde, zog es der Pfarrer vor, zu schweigen und auf den allmählichen<br />
Überdruss des Publikums zu setzen.<br />
Die Spannung im Festzelt, das die Körperspender und eine<br />
Armada von Fotografen und Fernsehteams bevölkern, erreicht<br />
inzwischen seinen Höhepunkt. Gunther von Hagens steht auf der<br />
Bühne, ausstaffiert mit seinem Beuys-Hut, wie immer. Mit einer<br />
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Die Stadt war bekannt <strong>als</strong><br />
die „Perle der Lausitz“.<br />
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subtilen Mischung aus Bodenständigkeit und Charisma gelingt es<br />
ihm, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Das Plastinarium habe<br />
gerade einen kleinen Rückschlag hinnehmen müssen, verkündet<br />
er. Das Kultusministerium verbiete Schulklassen einen Besuch<br />
im Museum. Da erhebt sich ein Mann aus dem Publikum, er ist<br />
empört: Dass sich ausgerechnet die Politiker <strong>als</strong> Moralapostel aufspielen!<br />
„Und das, nachdem sie uns hier mit unserer Arbeitslosigkeit<br />
allein lassen, mit nichts zu tun! Und dann kommen sie uns mit<br />
der Moral!“<br />
Nicht weit vom Gubener Stadtzentrum, im Ortsteil Schenkendöbern,<br />
wohnt Frank F. in einem kleinen Einfamilienhaus mit gepflegtem<br />
Garten und einem Teich mit Seerosen, eine Katze spielt im<br />
Herbstlaub. Er ist gelernter Schlosser und Schweißer, spezialisiert<br />
auf Wärmedämmung. Vor der Wiedervereinigung arbeitete<br />
er in der alten Textilfabrik, seine Frau war Verkäuferin im Konsum,<br />
der einzigen örtlichen Kaufhalle. Als von Hagens in die Stadt<br />
kam, freute sich F. vor allem darüber, dass seine alte Textilfbrik<br />
dem Abriss entkommen würde. „Die Mauern waren ja auch noch<br />
einwandfrei. Nach der Wende wurde viel zu viel abgerissen!“ F.<br />
bewarb sich sofort darum, bei der Renovierung der Fabrik zu<br />
helfen und bekam den Zuschlag. Nun arbeitet er zusammen mit<br />
seinem Sohn an der alten Stätte, im neu eröffneten Plastinarium.<br />
In der Stadt begegnet man Vielen, denen es im Gegensatz zu Frank<br />
F. nicht so gut gelingt, die Brüche, die die Wende in ihrer Biografie<br />
hinterließ, wieder zu einem Ganzen zu fügen, zu einer Geschichte.<br />
Sie haben noch immer damit zu kämpfen, in welch kurzer Zeit das<br />
gewohnte Leben nach der Vereinigung aus den Fugen geriet. Alles<br />
war vom Verschwinden bedroht: <strong>Der</strong> Arbeitsplatz, das Geld, eine<br />
in der DDR gewachsene Kultur.
„Jetzt aber haben wir das Plastinarium!“<br />
„Innerhalb weniger Jahre wurde alles platt<br />
gemacht.“ Peter Raake trifft sich mit anderen<br />
Mitgliedern vom Gubener Heimatbund<br />
einmal in der Woche im Vereinshaus in der<br />
Gaststraße, die in ihrem weiteren Verlauf<br />
auf die polnische Stadtseite führt. Das<br />
Haus beherbergt ein Vielzahl an Bruchstücken<br />
Gubener Stadtgeschichte: Vergilbte<br />
Urkunden hängen neben den Porträts<br />
früherer Bürgermeister und einem Poster<br />
Corona Schröters, der gebürtigen Gubenerin<br />
und eine der Musen Goethes. Auf<br />
dem Tisch steht ein großer Korb mit roten<br />
Äpfeln, Gubener Warraschkes.<br />
Es ist vor allem dieser Korb mit Äpfeln, der<br />
sentimental stimmt. Vor dem Krieg zog die<br />
Gubener Apfelblüte im Frühling Touristen<br />
aus der ganzen Region an. Die Stadt war<br />
bekannt <strong>als</strong> die „Perle der Lausitz“. Nach<br />
der Teilung gab es dieses Guben nicht mehr.<br />
Seine Kathedrale, sein Theater und sogar<br />
sein bestes Restaurant standen fortan im<br />
polnischen Gubin, wo man am Erbe der<br />
deutschen Geschichte nicht besonders<br />
interessiert war. Auf der kleinen Insel in der<br />
Neisse, die beide Stadtteile trennt, lassen<br />
sich Spuren dieser Geschichte finden,<br />
umgestürzte Säulen, enthauptete Statuen.<br />
Ihr Andenken an dieses Guben schafft für<br />
die Mitglieder des Heimatbundes einen<br />
neuen kulturellen Zusammenhalt und tritt<br />
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an die Stelle des Vakuums, das der Zusammenbruch des sozialistischen<br />
Staatenbundes bei Vielen hinterließ.<br />
In der DDR gewann die entvölkerte Stadt für kurze Zeit an Renommee<br />
zurück. Wilhelm-Pieck-Stadt hieß sie da, benannt nach dem<br />
ersten und einzigen Präsidenten der Republik, und sie galt wieder<br />
was: Perle der Lausitz. 6.000 Leute arbeiteten zeitweise in den<br />
Textil- und Chemiefaserfabriken. Mäntel aus Guben hatten eine<br />
hervorragende Qualität, auch nach den Maßstäben des westlichen<br />
Marktes. Trotzdem konnte es keiner verhindern, dass nach dem<br />
Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staats 70 Prozent der Produktion in<br />
den Westen wanderte.<br />
Mehr <strong>als</strong> alles Andere fürchten die älteren Herren und Damen<br />
vom Heimatbund die Bedrohung, in Vergessenheit zu geraten. Die<br />
vielen Veränderungen, die Guben in seiner Geschichte durchlaufen<br />
musste, die der Grenzen und der Bedeutung, der politischen<br />
Führung und des Selbstbewusstseins, sie haben das Gedächtnis<br />
der Stadt durchlöchert. Es ist wohl eine besondere Ironie der<br />
Geschichte, dass sie in Guben vorläufig zu einem Ort führt, an<br />
dem die Verstorbenen <strong>als</strong> plastinierte Ausstellungsstücke ihrer<br />
Lebensgeschichte beraubt und dem Andenken der Nachfahren<br />
entzogen werden. Ausgerechnet das Plastinarium fügt der brüchigen<br />
Geschichte Gubens ein weiteres Kapitel hinzu und trägt heute<br />
dazu bei, der Stadt eine neue Identität zu geben.<br />
„In Cottbus haben sie Energie Cottbus. Wir hatten hier nichts. Jetzt<br />
aber haben wir das Plastinarium!“, erklärt Frank F. enthusiastisch.<br />
Zum ersten Mal überhaupt konnte er es sich leisten, mit seiner<br />
Familie in den Urlaub zu fahren, nach Griechenland. Und dort<br />
kannten sie Guben, die Stadt der Toten! Alles ist besser, <strong>als</strong> ver-
gessen zu werden. Das bezeugt auch das Restaurant, das kürzlich<br />
gegenüber dem Plastinarium eröffnete, „Tom’s Culinarium“. Die<br />
Leichenindustrie erweckte Guben ein wenig zu neuem Leben.<br />
Am Ende dieses Tages, des Internationalen Tages der Körperspender,<br />
verlaufen sich die Interessenten, nur einige Frauen in Stöckelschuhen<br />
stolpern noch im Bauschutt auf dem Gelände des<br />
Plastinariums herum. Nicht weit von ihnen bildet sich ein anderer<br />
Besucherstrom und strebt einem kleineren Zelt entgegen: Hier<br />
küren die Gubener, ohne dass sich beide Ereignisse stören würden,<br />
die Schönste und Klügste aller jungen Gubener Frauen, ihre Apfelkönigin.<br />
© Text: Dorothée Fraleux, Fotos: Mathias Königschulte<br />
Dorothée Fraleux ist Chefredakteurin und Mitbegründerin der<br />
„La Gazette de Berlin“. Sie wirft darin einen französischen Blick<br />
auf deutsche Themen. Davor arbeitete sie <strong>als</strong> freie Journalistin und<br />
Verlegerin in Paris, schrieb unter anderem für die Zeitung „Libération“<br />
und das Magazin Télérama. Nach einem Arbeitsaufenthalt in<br />
Mali spricht sie nun auch ein paar Brocken Bambara. Ihr Studium<br />
an der Universität Science-Po in Grenoble beendete sie mit einer<br />
Diplomarbeit über Salman Rushdie.<br />
scripten 12 Neue und alte Hüte<br />
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