09.11.2012 Aufrufe

Pope ein Metaphysiker! - Literaturwissenschaft-online

Pope ein Metaphysiker! - Literaturwissenschaft-online

Pope ein Metaphysiker! - Literaturwissenschaft-online

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Literatur des 18. Jahrhunderts<br />

VII. Sensualistische Ästhetik (G. E. Lessing: Laokoon)<br />

Giovanni Paolo Pannini (1759)


Ästhetik


Ästhetik<br />

Alexander Gottlieb<br />

Baumgarten<br />

1750/58


Ästhetik<br />

Alexander Gottlieb<br />

Baumgarten<br />

1750/58<br />

undeutliche Erkenntnis<br />

(gegen Descartes: clare et distincte)


§ 1. AESTHETICA (theoria<br />

liberalium artium, gnoseologia<br />

inferior, ars pulchre cogitandi, ars<br />

analogi rationis) est scientia<br />

cognitionis sensitivae.<br />

Die Ästhetik (als Theorie der freien<br />

Künste, als untere Erkenntnislehre, als<br />

Kunst des schönen Denkens und als<br />

Kunst des der Vernunft analogen<br />

Denkens) ist die Wissenschaft der<br />

sinnlichen Erkenntnis.


§ 1. AESTHETICA (theoria<br />

liberalium artium, gnoseologia<br />

inferior, ars pulchre cogitandi, ars<br />

analogi rationis) est scientia<br />

cognitionis sensitivae.<br />

Die Ästhetik (als Theorie der freien<br />

Künste, als untere Erkenntnislehre, als<br />

Kunst des schönen Denkens und als<br />

Kunst des der Vernunft analogen<br />

Denkens) ist die Wissenschaft der<br />

sinnlichen Erkenntnis.<br />

›oberes‹ vs. ›unteres‹ Erkenntnisvermögen


Alexander Gottlieb Baumgarten<br />

Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus<br />

(1735)<br />

§ 9: »Poema est oratio perfecta sensitiva.«


Klimatheorie


Klimatheorie<br />

Charles de Secondat<br />

Baron de la Brède et de Montesquieu<br />

De l‘Esprit des Loix (1748)


Klimatheorie<br />

Charles de Secondat<br />

Baron de la Brède et de Montesquieu<br />

De l‘Esprit des Loix (1748)<br />

Johann Gottfried Herder<br />

Ideen zur Philosophie der<br />

Geschichte der Menschheit (1784-91)


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

1766


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

1766<br />

Johann Gottfried Herder<br />

Plastik<br />

1770


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Philosophie ? Poesie


Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres<br />

Berlin, Juni 1753<br />

On demande l'examen du système de <strong>Pope</strong> contenu dans la<br />

proposition: Tout est bien. Il s'agit: 1. De déterminer le vrai<br />

sens de cette proposition, conformément à l'hypothèse de son<br />

auteur. 2. De la comparer avec le système de l'optimisme, ou<br />

du choix du meilleur, pour en marquer exactement les rapports<br />

et les différences. 3. Enfin d'alléguer les raisons qu'on croira<br />

les plus propres à établir ou à détruire ce système.<br />

Verlangt wird die Untersuchung des Systems von <strong>Pope</strong>, wie es in der<br />

Aussage Alles ist wohlgeordnet enthalten ist. Es handelt sich darum:<br />

1. Den wahren Sinn dieser Aussage in Über<strong>ein</strong>stimmung mit der<br />

Ausgangsvermutung ihres Autors zu bestimmen. 2. Sie mit dem System<br />

des Optimismus bzw. der Wahl des Besten zu vergleichen, um die<br />

Entsprechungen und Unterschiede genau zu bezeichnen. 3. Schließlich<br />

die Gründe anzuführen, die man für die geeignetsten hält, um dieses<br />

System durchzusetzen oder zu zerstören.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />

Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />

Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />

Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />

Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />

andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />

k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />

Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />

Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />

den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />

ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />

Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />

Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />

Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />

Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />

andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />

k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />

Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />

Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />

den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />

ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />

Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />

Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />

Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />

Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />

andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />

k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />

Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />

Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />

den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />

ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />

Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />

Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />

Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />

Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />

andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />

k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />

Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />

Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />

den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />

ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Und die Ordnung des <strong>Metaphysiker</strong>s? – – Er geht, in<br />

beständigen Schlüssen, immer von dem Leichtern zu dem<br />

Schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts<br />

nach. Wenn man die Wahrheiten auf <strong>ein</strong>e sinnliche Art<br />

aus<strong>ein</strong>ander könnte wachsen sehen: so würde ihr Wachstum<br />

eben dieselben Staffeln beobachten, die er uns in der<br />

Überzeugung von derselben hinauf gehen lässt.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Und die Ordnung des <strong>Metaphysiker</strong>s? – – Er geht, in<br />

beständigen Schlüssen, immer von dem Leichtern zu dem<br />

Schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts<br />

nach. Wenn man die Wahrheiten auf <strong>ein</strong>e sinnliche Art<br />

aus<strong>ein</strong>ander könnte wachsen sehen: so würde ihr Wachstum<br />

eben dieselben Staffeln beobachten, die er uns in der<br />

Überzeugung von derselben hinauf gehen lässt.<br />

All<strong>ein</strong> Ordnung! Was hat der Dichter damit zu tun? Und noch<br />

dazu <strong>ein</strong>e so sklavische Ordnung. Nichts ist der Begeisterung<br />

<strong>ein</strong>es wahren Dichters mehr zuwider.


Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />

<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />

Alles was der Dichter sagt, soll gleich starken Eindruck<br />

machen; alle s<strong>ein</strong>e Wahrheiten sollen gleich überzeugend<br />

rühren. Und dieses zu können, hat er k<strong>ein</strong> ander Mittel, als<br />

diese Wahrheit nach diesem System, und jene nach <strong>ein</strong>em<br />

andern auszudrücken. – Er spricht mit dem Epikur, wo er die<br />

Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend<br />

preisen soll. Die Wollust würde in den Versen <strong>ein</strong>es Seneca,<br />

wenn er überall genau bei s<strong>ein</strong>en Grundsätzen bleiben wollte,<br />

<strong>ein</strong>en sehr traurigen Aufzug machen; ebenso gewiss als die<br />

Tugend, in den Liedern <strong>ein</strong>es sich immer gleichen Epikurers,<br />

ziemlich das Ansehen <strong>ein</strong>er Metze haben würde.


Aristoteles (384-322)<br />

Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.


Quintus Horatius Flaccus (65 - 8 v. Chr.)<br />

Ars poetica = Epistulae II,3 (Ad Pisones)<br />

simplex [...] et unum


Quintus Horatius Flaccus (65 - 8)<br />

Ars poetica = Epistulae II,3 (Ad Pisones)<br />

Humano capiti cervicem pictor equinam<br />

iungere si velit et varias inducere plumas<br />

undique conlatis membris, ut turpiter atrum<br />

desinat in piscem mulier formosa superne,<br />

spectatum admissi risum teneatis, amici?


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

»ut pictura poesis«<br />

Horaz<br />

Dichtung ? Malerei/Bildhauerei


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

»aut prodesse aut delectare«<br />

Horaz


Laokoon<br />

1. Jh. n. Chr.?<br />

Vatikanische Museen<br />

Rom


So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die<br />

Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck<br />

in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften <strong>ein</strong>e<br />

große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem<br />

Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte all<strong>ein</strong>,<br />

bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in<br />

allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt und den<br />

man ganz all<strong>ein</strong>, ohne das Gesicht und andere Teile zu<br />

betrachten, an dem schmerzlich <strong>ein</strong>gezogenen Unterleibe<br />

b<strong>ein</strong>ahe selbst zu empfinden glaubt, dieser Schmerz, sage<br />

ich, äußert sich dennoch mit k<strong>ein</strong>er Wut in dem Gesichte<br />

und in der ganzen Stellung. Er erhebt k<strong>ein</strong> schreckliches<br />

Geschrei, wie Virgil von s<strong>ein</strong>em Laokoon singt. Die<br />

Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr <strong>ein</strong><br />

ängstliches und beklemmtes Seufzen [...]. Laokoon leidet,<br />

aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: s<strong>ein</strong> Elend<br />

geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser<br />

große Mann das Elend ertragen zu können.<br />

Johann Joachim Winckelmann (1755)<br />

Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke


Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, dass der<br />

Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen<br />

Wut nicht zeige, welche man bei der Heftigkeit desselben<br />

vermuten sollte, ist vollkommen richtig. [...]<br />

Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit<br />

gibt, in der Allgem<strong>ein</strong>heit der Regel, die er aus diesem<br />

Grunde herleitet, wage ich es, anderer M<strong>ein</strong>ung zu s<strong>ein</strong>.


Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen<br />

Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten<br />

mit Geschrei zu Boden.


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

a) Antistoizismus<br />

b) Aufgabe der Kunst ist Schönheit, nicht Moraldidaxe<br />

c) Poesie ist diachron / Malerei-Bildhauerei ist synchron<br />

d) Dichtung ist den bildenden Künsten überlegen


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist<br />

allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende<br />

Gegenstand äußert. Sieht man ihn s<strong>ein</strong> Elend mit großer Seele<br />

ertragen, so wird diese große Seele zwar unsere Bewunderung<br />

erwecken, aber die Bewunderung ist <strong>ein</strong> kalter Affekt, dessen<br />

untätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie<br />

jede andere deutliche Vorstellung, ausschließet.


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Wenn es wahr ist, dass das Schreien bei Empfindung<br />

körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten<br />

griechischen Denkungsart, gar wohl mit <strong>ein</strong>er großen Seele<br />

bestehen kann: so kann der Ausdruck <strong>ein</strong>er solchen Seele die<br />

Ursache nicht s<strong>ein</strong>, warum dem ohngeachtet der Künstler in<br />

s<strong>ein</strong>em Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen;<br />

sondern es muss <strong>ein</strong>en andern Grund haben, warum er hier<br />

von s<strong>ein</strong>em Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses<br />

Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket.


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Ich wollte bloß festsetzen, dass bei den Alten die Schönheit<br />

das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei.<br />

Und dieses festgesetzt, folget notwendig, dass alles andere,<br />

worauf sich die bildenden Künste zugleich mit erstrecken<br />

können, wenn es sich mit der Schönheit nicht verträgt, ihr<br />

gänzlich weichen, und wenn es sich mit ihr verträgt, ihr<br />

wenigstens untergeordnet s<strong>ein</strong> müssen.


Und dieses nun auf den Laokoon angewendet, so ist die<br />

Ursache klar, die ich suche. Der Meister arbeitete auf die<br />

höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des<br />

körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller s<strong>ein</strong>er entstellenden<br />

Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er musste ihn<br />

also herab setzen; er musste Schreien in Seufzen mildern;<br />

nicht weil das Schreien <strong>ein</strong>e unedle Seele verrät, sondern weil<br />

es das Gesicht auf <strong>ein</strong>e ekelhafte Weise verstellet. Denn man<br />

reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und<br />

urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war <strong>ein</strong>e Bildung,<br />

die Mitleid <strong>ein</strong>flößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich<br />

zeigte; nun ist es <strong>ein</strong>e hässliche, <strong>ein</strong>e abscheuliche Bildung<br />

geworden, von der man gern s<strong>ein</strong> Gesicht verwendet, weil der<br />

Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne dass die Schönheit<br />

des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl<br />

des Mitleids verwandeln kann.


Balthasar Permoser<br />

1651-1732<br />

Die bloße weite Öffnung des Mundes, - bei Seite gesetzt, wie<br />

gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts<br />

dadurch verzerret und verschoben werden, - ist in der Malerei<br />

<strong>ein</strong> Fleck und in der Bildhauerei <strong>ein</strong>e Vertiefung, welche die<br />

widrigste Wirkung von der Welt tut.


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister<br />

des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes<br />

Maß halten müssen, und finde, dass sie allesamt von der<br />

eigenen Beschaffenheit der Kunst und von denselben<br />

notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind.<br />

Schwerlich dürfte sich also wohl irgend <strong>ein</strong>e derselben auf die<br />

Poesie anwenden lassen.


Malerei/Bildhauerei<br />

räumlich<br />

simulan<br />

Körper<br />

Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Dichtung<br />

zeitlich<br />

diachron<br />

Handlungen


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen,<br />

so muss sich der König vor unsern Augen s<strong>ein</strong>e völlige<br />

Kleidung Stück vor Stück umtun; das weiche Unterkleid, den<br />

großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den Degen; und so<br />

ist er fertig, und ergreift das Szepter. Wir sehen die Kleider,<br />

indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet; <strong>ein</strong><br />

anderer würde die Kleider bis auf die geringste Franse gemalet<br />

haben, und nur von der Handlung hätten wir nichts zu sehen<br />

bekommen.


Gotthold Ephraim Lessing<br />

Laokoon<br />

oder<br />

über die Grenzen<br />

der<br />

Mahlerey und Poesie<br />

1766<br />

Eben weil die Hässlichkeit in der Schilderung des Dichters<br />

zu <strong>ein</strong>er minder widerwärtigen Ersch<strong>ein</strong>ung körperlicher<br />

Unvollkommenheiten wird, und gleichsam, von der Seite<br />

ihrer Wirkung, Hässlichkeit zu s<strong>ein</strong> aufhöret, wird sie dem<br />

Dichter brauchbar; und was er vor sich selbst nicht nutzen<br />

kann, nutzt er als <strong>ein</strong> Ingrediens, um gewisse vermischte<br />

Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit<br />

welchen er uns, in Ermangelung r<strong>ein</strong>angenehmer<br />

Empfindungen, unterhalten muss.


Christian Adolph Klotz<br />

1738-1771


Ich habe behauptet, dass die<br />

alten Artisten den Tod nicht<br />

als <strong>ein</strong> Skelett vorgestellt:<br />

und ich behaupte es noch.


Endlich will ich an den<br />

Euphemismus der Alten erinnern;<br />

an ihre Zärtlichkeit, diejenigen<br />

Worte, welche unmittelbar <strong>ein</strong>e<br />

ekle, traurige, grässliche Idee<br />

erwecken, mit minder<br />

auffallenden zu verwechseln.<br />

Wenn sie, diesem Euphemismus<br />

zu Folge, nicht gern geradezu<br />

sagten, »er ist gestorben«,<br />

sondern lieber, »er hat gelebt, er<br />

ist gewesen, er ist zu den<br />

Mehrern abgegangen.


Diese antike Kunstwerke<br />

stellen Skelette vor; aber<br />

stellen denn diese Skelette<br />

den Tod vor? Muss denn<br />

<strong>ein</strong> Skelett schlechterdings<br />

den Tod, das personifierte<br />

Abstraktum des Todes, die<br />

Gottheit des Todes, vorstellen?<br />

Warum sollte <strong>ein</strong><br />

Skelett nicht auch bloß <strong>ein</strong><br />

Skelett vorstellen können?<br />

Warum nicht auch etwas<br />

anders?


larvae<br />

Diese antike Kunstwerke<br />

stellen Skelette vor; aber<br />

stellen denn diese Skelette<br />

den Tod vor? Muss denn<br />

<strong>ein</strong> Skelett schlechterdings<br />

den Tod, das personifierte<br />

Abstraktum des Todes, die<br />

Gottheit des Todes, vorstellen?<br />

Warum sollte <strong>ein</strong><br />

Skelett nicht auch bloß <strong>ein</strong><br />

Skelett vorstellen können?<br />

Warum nicht auch etwas<br />

anders?


Antonio Canova<br />

1757-1822<br />

Von dieser Seite wäre es also zwar<br />

vermutlich unsere Religion, welche<br />

das alte heitere Bild des Todes aus<br />

den Grenzen der Kunst verdrungen<br />

hätte! Da jedoch eben dieselbe<br />

Religion uns nicht jene schreckliche<br />

Wahrheit zu unserer Verzweiflung<br />

offenbaren wollen; da auch sie uns<br />

versichert, dass der Tod der Frommen<br />

nicht anders als sanft und erquickend<br />

s<strong>ein</strong> könne: so sehe ich nicht, was<br />

unsere Künstler abhalten sollte, das<br />

scheußliche Gerippe wiederum<br />

aufzugeben, und sich wiederum in den<br />

Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.<br />

Die Schrift redet selbst von <strong>ein</strong>em<br />

Engel des Todes: und welcher<br />

Künstler sollte nicht lieber <strong>ein</strong>en<br />

Engel, als <strong>ein</strong> Gerippe bilden wollen?


Whatever is, is right.<br />

Alexander <strong>Pope</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!