Pope ein Metaphysiker! - Literaturwissenschaft-online
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Die Literatur des 18. Jahrhunderts<br />
VII. Sensualistische Ästhetik (G. E. Lessing: Laokoon)<br />
Giovanni Paolo Pannini (1759)
Ästhetik
Ästhetik<br />
Alexander Gottlieb<br />
Baumgarten<br />
1750/58
Ästhetik<br />
Alexander Gottlieb<br />
Baumgarten<br />
1750/58<br />
undeutliche Erkenntnis<br />
(gegen Descartes: clare et distincte)
§ 1. AESTHETICA (theoria<br />
liberalium artium, gnoseologia<br />
inferior, ars pulchre cogitandi, ars<br />
analogi rationis) est scientia<br />
cognitionis sensitivae.<br />
Die Ästhetik (als Theorie der freien<br />
Künste, als untere Erkenntnislehre, als<br />
Kunst des schönen Denkens und als<br />
Kunst des der Vernunft analogen<br />
Denkens) ist die Wissenschaft der<br />
sinnlichen Erkenntnis.
§ 1. AESTHETICA (theoria<br />
liberalium artium, gnoseologia<br />
inferior, ars pulchre cogitandi, ars<br />
analogi rationis) est scientia<br />
cognitionis sensitivae.<br />
Die Ästhetik (als Theorie der freien<br />
Künste, als untere Erkenntnislehre, als<br />
Kunst des schönen Denkens und als<br />
Kunst des der Vernunft analogen<br />
Denkens) ist die Wissenschaft der<br />
sinnlichen Erkenntnis.<br />
›oberes‹ vs. ›unteres‹ Erkenntnisvermögen
Alexander Gottlieb Baumgarten<br />
Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus<br />
(1735)<br />
§ 9: »Poema est oratio perfecta sensitiva.«
Klimatheorie
Klimatheorie<br />
Charles de Secondat<br />
Baron de la Brède et de Montesquieu<br />
De l‘Esprit des Loix (1748)
Klimatheorie<br />
Charles de Secondat<br />
Baron de la Brède et de Montesquieu<br />
De l‘Esprit des Loix (1748)<br />
Johann Gottfried Herder<br />
Ideen zur Philosophie der<br />
Geschichte der Menschheit (1784-91)
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
1766
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
1766<br />
Johann Gottfried Herder<br />
Plastik<br />
1770
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Philosophie ? Poesie
Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres<br />
Berlin, Juni 1753<br />
On demande l'examen du système de <strong>Pope</strong> contenu dans la<br />
proposition: Tout est bien. Il s'agit: 1. De déterminer le vrai<br />
sens de cette proposition, conformément à l'hypothèse de son<br />
auteur. 2. De la comparer avec le système de l'optimisme, ou<br />
du choix du meilleur, pour en marquer exactement les rapports<br />
et les différences. 3. Enfin d'alléguer les raisons qu'on croira<br />
les plus propres à établir ou à détruire ce système.<br />
Verlangt wird die Untersuchung des Systems von <strong>Pope</strong>, wie es in der<br />
Aussage Alles ist wohlgeordnet enthalten ist. Es handelt sich darum:<br />
1. Den wahren Sinn dieser Aussage in Über<strong>ein</strong>stimmung mit der<br />
Ausgangsvermutung ihres Autors zu bestimmen. 2. Sie mit dem System<br />
des Optimismus bzw. der Wahl des Besten zu vergleichen, um die<br />
Entsprechungen und Unterschiede genau zu bezeichnen. 3. Schließlich<br />
die Gründe anzuführen, die man für die geeignetsten hält, um dieses<br />
System durchzusetzen oder zu zerstören.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />
Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />
Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />
Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />
Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />
andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />
k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />
Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />
Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />
den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />
ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />
Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />
Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />
Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />
Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />
andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />
k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />
Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />
Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />
den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />
ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />
Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />
Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />
Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />
Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />
andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />
k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />
Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />
Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />
den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />
ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Ein Gedicht ist <strong>ein</strong>e vollkommene sinnliche Rede.<br />
Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und <strong>ein</strong>e sinnliche<br />
Rede; beides in <strong>ein</strong>em – Ob diese wohl <strong>ein</strong>ander aufreiben?<br />
Was muss der <strong>Metaphysiker</strong> vor allen Dingen tun? - Er muss die<br />
Worte, die er brauchen will, erklären; er muss sie nie in <strong>ein</strong>em<br />
andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muss sie mit<br />
k<strong>ein</strong>en, dem Sch<strong>ein</strong>e nach gleichgültigen, verwechseln.<br />
Welches von diesen beobachtet der Dichter? K<strong>ein</strong>es. Schon der<br />
Wohlklang ist ihm <strong>ein</strong>e hinlängliche Ursache, <strong>ein</strong>en Ausdruck für<br />
den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte<br />
ist ihm <strong>ein</strong>e Schönheit.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Und die Ordnung des <strong>Metaphysiker</strong>s? – – Er geht, in<br />
beständigen Schlüssen, immer von dem Leichtern zu dem<br />
Schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts<br />
nach. Wenn man die Wahrheiten auf <strong>ein</strong>e sinnliche Art<br />
aus<strong>ein</strong>ander könnte wachsen sehen: so würde ihr Wachstum<br />
eben dieselben Staffeln beobachten, die er uns in der<br />
Überzeugung von derselben hinauf gehen lässt.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Und die Ordnung des <strong>Metaphysiker</strong>s? – – Er geht, in<br />
beständigen Schlüssen, immer von dem Leichtern zu dem<br />
Schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts<br />
nach. Wenn man die Wahrheiten auf <strong>ein</strong>e sinnliche Art<br />
aus<strong>ein</strong>ander könnte wachsen sehen: so würde ihr Wachstum<br />
eben dieselben Staffeln beobachten, die er uns in der<br />
Überzeugung von derselben hinauf gehen lässt.<br />
All<strong>ein</strong> Ordnung! Was hat der Dichter damit zu tun? Und noch<br />
dazu <strong>ein</strong>e so sklavische Ordnung. Nichts ist der Begeisterung<br />
<strong>ein</strong>es wahren Dichters mehr zuwider.
Moses Mendelssohn / Gotthold Ephraim Lessing<br />
<strong>Pope</strong> <strong>ein</strong> <strong>Metaphysiker</strong>!<br />
Alles was der Dichter sagt, soll gleich starken Eindruck<br />
machen; alle s<strong>ein</strong>e Wahrheiten sollen gleich überzeugend<br />
rühren. Und dieses zu können, hat er k<strong>ein</strong> ander Mittel, als<br />
diese Wahrheit nach diesem System, und jene nach <strong>ein</strong>em<br />
andern auszudrücken. – Er spricht mit dem Epikur, wo er die<br />
Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend<br />
preisen soll. Die Wollust würde in den Versen <strong>ein</strong>es Seneca,<br />
wenn er überall genau bei s<strong>ein</strong>en Grundsätzen bleiben wollte,<br />
<strong>ein</strong>en sehr traurigen Aufzug machen; ebenso gewiss als die<br />
Tugend, in den Liedern <strong>ein</strong>es sich immer gleichen Epikurers,<br />
ziemlich das Ansehen <strong>ein</strong>er Metze haben würde.
Aristoteles (384-322)<br />
Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.
Quintus Horatius Flaccus (65 - 8 v. Chr.)<br />
Ars poetica = Epistulae II,3 (Ad Pisones)<br />
simplex [...] et unum
Quintus Horatius Flaccus (65 - 8)<br />
Ars poetica = Epistulae II,3 (Ad Pisones)<br />
Humano capiti cervicem pictor equinam<br />
iungere si velit et varias inducere plumas<br />
undique conlatis membris, ut turpiter atrum<br />
desinat in piscem mulier formosa superne,<br />
spectatum admissi risum teneatis, amici?
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
»ut pictura poesis«<br />
Horaz<br />
Dichtung ? Malerei/Bildhauerei
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
»aut prodesse aut delectare«<br />
Horaz
Laokoon<br />
1. Jh. n. Chr.?<br />
Vatikanische Museen<br />
Rom
So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die<br />
Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck<br />
in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften <strong>ein</strong>e<br />
große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem<br />
Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte all<strong>ein</strong>,<br />
bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in<br />
allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt und den<br />
man ganz all<strong>ein</strong>, ohne das Gesicht und andere Teile zu<br />
betrachten, an dem schmerzlich <strong>ein</strong>gezogenen Unterleibe<br />
b<strong>ein</strong>ahe selbst zu empfinden glaubt, dieser Schmerz, sage<br />
ich, äußert sich dennoch mit k<strong>ein</strong>er Wut in dem Gesichte<br />
und in der ganzen Stellung. Er erhebt k<strong>ein</strong> schreckliches<br />
Geschrei, wie Virgil von s<strong>ein</strong>em Laokoon singt. Die<br />
Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr <strong>ein</strong><br />
ängstliches und beklemmtes Seufzen [...]. Laokoon leidet,<br />
aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: s<strong>ein</strong> Elend<br />
geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser<br />
große Mann das Elend ertragen zu können.<br />
Johann Joachim Winckelmann (1755)<br />
Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke
Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, dass der<br />
Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen<br />
Wut nicht zeige, welche man bei der Heftigkeit desselben<br />
vermuten sollte, ist vollkommen richtig. [...]<br />
Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit<br />
gibt, in der Allgem<strong>ein</strong>heit der Regel, die er aus diesem<br />
Grunde herleitet, wage ich es, anderer M<strong>ein</strong>ung zu s<strong>ein</strong>.
Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen<br />
Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten<br />
mit Geschrei zu Boden.
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
a) Antistoizismus<br />
b) Aufgabe der Kunst ist Schönheit, nicht Moraldidaxe<br />
c) Poesie ist diachron / Malerei-Bildhauerei ist synchron<br />
d) Dichtung ist den bildenden Künsten überlegen
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist<br />
allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende<br />
Gegenstand äußert. Sieht man ihn s<strong>ein</strong> Elend mit großer Seele<br />
ertragen, so wird diese große Seele zwar unsere Bewunderung<br />
erwecken, aber die Bewunderung ist <strong>ein</strong> kalter Affekt, dessen<br />
untätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie<br />
jede andere deutliche Vorstellung, ausschließet.
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Wenn es wahr ist, dass das Schreien bei Empfindung<br />
körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten<br />
griechischen Denkungsart, gar wohl mit <strong>ein</strong>er großen Seele<br />
bestehen kann: so kann der Ausdruck <strong>ein</strong>er solchen Seele die<br />
Ursache nicht s<strong>ein</strong>, warum dem ohngeachtet der Künstler in<br />
s<strong>ein</strong>em Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen;<br />
sondern es muss <strong>ein</strong>en andern Grund haben, warum er hier<br />
von s<strong>ein</strong>em Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses<br />
Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket.
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Ich wollte bloß festsetzen, dass bei den Alten die Schönheit<br />
das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei.<br />
Und dieses festgesetzt, folget notwendig, dass alles andere,<br />
worauf sich die bildenden Künste zugleich mit erstrecken<br />
können, wenn es sich mit der Schönheit nicht verträgt, ihr<br />
gänzlich weichen, und wenn es sich mit ihr verträgt, ihr<br />
wenigstens untergeordnet s<strong>ein</strong> müssen.
Und dieses nun auf den Laokoon angewendet, so ist die<br />
Ursache klar, die ich suche. Der Meister arbeitete auf die<br />
höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des<br />
körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller s<strong>ein</strong>er entstellenden<br />
Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er musste ihn<br />
also herab setzen; er musste Schreien in Seufzen mildern;<br />
nicht weil das Schreien <strong>ein</strong>e unedle Seele verrät, sondern weil<br />
es das Gesicht auf <strong>ein</strong>e ekelhafte Weise verstellet. Denn man<br />
reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und<br />
urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war <strong>ein</strong>e Bildung,<br />
die Mitleid <strong>ein</strong>flößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich<br />
zeigte; nun ist es <strong>ein</strong>e hässliche, <strong>ein</strong>e abscheuliche Bildung<br />
geworden, von der man gern s<strong>ein</strong> Gesicht verwendet, weil der<br />
Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne dass die Schönheit<br />
des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl<br />
des Mitleids verwandeln kann.
Balthasar Permoser<br />
1651-1732<br />
Die bloße weite Öffnung des Mundes, - bei Seite gesetzt, wie<br />
gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts<br />
dadurch verzerret und verschoben werden, - ist in der Malerei<br />
<strong>ein</strong> Fleck und in der Bildhauerei <strong>ein</strong>e Vertiefung, welche die<br />
widrigste Wirkung von der Welt tut.
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister<br />
des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes<br />
Maß halten müssen, und finde, dass sie allesamt von der<br />
eigenen Beschaffenheit der Kunst und von denselben<br />
notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind.<br />
Schwerlich dürfte sich also wohl irgend <strong>ein</strong>e derselben auf die<br />
Poesie anwenden lassen.
Malerei/Bildhauerei<br />
räumlich<br />
simulan<br />
Körper<br />
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Dichtung<br />
zeitlich<br />
diachron<br />
Handlungen
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen,<br />
so muss sich der König vor unsern Augen s<strong>ein</strong>e völlige<br />
Kleidung Stück vor Stück umtun; das weiche Unterkleid, den<br />
großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den Degen; und so<br />
ist er fertig, und ergreift das Szepter. Wir sehen die Kleider,<br />
indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet; <strong>ein</strong><br />
anderer würde die Kleider bis auf die geringste Franse gemalet<br />
haben, und nur von der Handlung hätten wir nichts zu sehen<br />
bekommen.
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Laokoon<br />
oder<br />
über die Grenzen<br />
der<br />
Mahlerey und Poesie<br />
1766<br />
Eben weil die Hässlichkeit in der Schilderung des Dichters<br />
zu <strong>ein</strong>er minder widerwärtigen Ersch<strong>ein</strong>ung körperlicher<br />
Unvollkommenheiten wird, und gleichsam, von der Seite<br />
ihrer Wirkung, Hässlichkeit zu s<strong>ein</strong> aufhöret, wird sie dem<br />
Dichter brauchbar; und was er vor sich selbst nicht nutzen<br />
kann, nutzt er als <strong>ein</strong> Ingrediens, um gewisse vermischte<br />
Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit<br />
welchen er uns, in Ermangelung r<strong>ein</strong>angenehmer<br />
Empfindungen, unterhalten muss.
Christian Adolph Klotz<br />
1738-1771
Ich habe behauptet, dass die<br />
alten Artisten den Tod nicht<br />
als <strong>ein</strong> Skelett vorgestellt:<br />
und ich behaupte es noch.
Endlich will ich an den<br />
Euphemismus der Alten erinnern;<br />
an ihre Zärtlichkeit, diejenigen<br />
Worte, welche unmittelbar <strong>ein</strong>e<br />
ekle, traurige, grässliche Idee<br />
erwecken, mit minder<br />
auffallenden zu verwechseln.<br />
Wenn sie, diesem Euphemismus<br />
zu Folge, nicht gern geradezu<br />
sagten, »er ist gestorben«,<br />
sondern lieber, »er hat gelebt, er<br />
ist gewesen, er ist zu den<br />
Mehrern abgegangen.
Diese antike Kunstwerke<br />
stellen Skelette vor; aber<br />
stellen denn diese Skelette<br />
den Tod vor? Muss denn<br />
<strong>ein</strong> Skelett schlechterdings<br />
den Tod, das personifierte<br />
Abstraktum des Todes, die<br />
Gottheit des Todes, vorstellen?<br />
Warum sollte <strong>ein</strong><br />
Skelett nicht auch bloß <strong>ein</strong><br />
Skelett vorstellen können?<br />
Warum nicht auch etwas<br />
anders?
larvae<br />
Diese antike Kunstwerke<br />
stellen Skelette vor; aber<br />
stellen denn diese Skelette<br />
den Tod vor? Muss denn<br />
<strong>ein</strong> Skelett schlechterdings<br />
den Tod, das personifierte<br />
Abstraktum des Todes, die<br />
Gottheit des Todes, vorstellen?<br />
Warum sollte <strong>ein</strong><br />
Skelett nicht auch bloß <strong>ein</strong><br />
Skelett vorstellen können?<br />
Warum nicht auch etwas<br />
anders?
Antonio Canova<br />
1757-1822<br />
Von dieser Seite wäre es also zwar<br />
vermutlich unsere Religion, welche<br />
das alte heitere Bild des Todes aus<br />
den Grenzen der Kunst verdrungen<br />
hätte! Da jedoch eben dieselbe<br />
Religion uns nicht jene schreckliche<br />
Wahrheit zu unserer Verzweiflung<br />
offenbaren wollen; da auch sie uns<br />
versichert, dass der Tod der Frommen<br />
nicht anders als sanft und erquickend<br />
s<strong>ein</strong> könne: so sehe ich nicht, was<br />
unsere Künstler abhalten sollte, das<br />
scheußliche Gerippe wiederum<br />
aufzugeben, und sich wiederum in den<br />
Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.<br />
Die Schrift redet selbst von <strong>ein</strong>em<br />
Engel des Todes: und welcher<br />
Künstler sollte nicht lieber <strong>ein</strong>en<br />
Engel, als <strong>ein</strong> Gerippe bilden wollen?
Whatever is, is right.<br />
Alexander <strong>Pope</strong>