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DerProzeß------------------------------------------------------------------------------<br />
DAS GESETZ, DIE TRADITION, DIE PRAXIS UND DIE REFORM<br />
Sharp, short shock<br />
Der Zweck der U-Haft wird<br />
in der Strafprozeßordnung<br />
(StPO) nicht eigens definiert.<br />
Der Gesetzgeber<br />
folgt oHenbar der Ansicht,<br />
daß sich der Zweck von<br />
selbst aus den in der StPO<br />
genannten Haftgründen<br />
ergebe und damit keiner<br />
eigenen Definition bedürfe.<br />
Die Handhabung der Haftgründe in der Praxis<br />
läßt einen gewissen Ermessensspielraum<br />
offen, der nach Maßgabe der Vorstellungen<br />
ausgefüllt wird, welche die Richter über den<br />
bloßen Gesetzestext hinaus mit den<br />
Haftzwecken verbinden. So werden häufig<br />
die gesetzlichen Haftgründe nicht nur als<br />
Mittel zur Verfahrenssicherung, sondern auch<br />
als Ausdruck der Strafzwecke verstanden.<br />
Wenn die U-Haft nur zur Verfahrenssicherung<br />
dient, ist ihr Anwendungsbereich wesentlich<br />
enger begrenzt, als wenn sie auch antizipierend<br />
Strafzwecke in sich aufnimmt.<br />
Um diese beiden Zielsetzungen geht es.<br />
Im Sinne der Verfahrenssicherung ist<br />
die U-Haft lediglich ein organisationstechnisches<br />
Mittel, das nur insoweit Anwendung<br />
finden darf, als es im Rahmen der Haftgründe<br />
zu diesen formalen Zwecken wirklich erforderlich<br />
ist. Der Verdächtige darf sich dem<br />
Verfahren nicht durch Flucht entziehen<br />
(Fluchtgefahr) und er darf die Untersuchungen<br />
nicht durch Manipulation der Beweismittel,<br />
seien es Objekte oder Personen (Verdunkelungsgefahr),<br />
erschweren. Als Nebeneffekt<br />
hat diese Haft auch einen materiellen Wert:<br />
Sie bereitet die individuelle Bestrafung vor<br />
oder nimmt sie schon teilweise vorweg (Spezialprävention)<br />
und sie hält andere von<br />
Straftaten ab (Generalprävention). Davon<br />
steht allerding nichts im Gesetz. Da der Strafprozeß<br />
die Durchsetzung des sog. Strafanspruchs<br />
bezweckt, scheint es sich bei der<br />
Wahrnehmung des Strafzweckes nicht nur<br />
um eine Wirkung der Verfahrenssicherung zu<br />
handeln, sondern um eine gleichbe<strong>recht</strong>igte<br />
Zielsetzung. Die Strafzwecke also würden<br />
der Haftanordnung nicht nur unvermeidlich<br />
nachfolgen, sondern ihr auch vorausgehen,<br />
die Präventionswirkung könnte zur Bejahung<br />
eines Haftgrundes führen. Für diese Ansicht<br />
Seite 36<br />
scheint zu sprechen, daß nach § 38 Strafgesetzbuch<br />
(StGB) die U-Haft stets auf die<br />
Strafhaft anzurechnen ist. Daraus leiten viele<br />
die gesetzliche Anerkennung der These ab,<br />
daß die U-Haft auch Strafzwecke verfolge,<br />
ohne zu erkennen, daß § 38 eine reine Billigkeitsvorschrift<br />
ist, deren obligarorischer Charakter<br />
die bei fakultativer Anwendung mögliche<br />
Erpressung prozessualen Wohlverhaltens<br />
des Täters verhindern soll.<br />
Die Tradition<br />
Der tiefere Grund, den Geist des Gesetzes in<br />
dieser Weise zu erfassen, ist in der Geschichte<br />
zu suchen. Früher setzte der Beginn eines<br />
"ordentlichen Untersuchungsprozesses" wegen<br />
eines Verbrechens in der Regel die Verhaftung<br />
des Beschuldigten voraus (StG 1803,<br />
1. Teil, §§ 281,334 ff). Damit waren nicht nur<br />
die Strafzwecke, unter denen die Abschreckung<br />
anderer an erster Stelle stand, von<br />
vornherein gesichert, sondern der Untersuchungsrichter<br />
hatte auch den Verdächtigen<br />
jederzeit bequem zur Hand. Dieser konnte<br />
den Prozeß höchstens noch durch Leugnen<br />
hindern. Die Lust am Leugnen verging ihm<br />
aber, je länger er in Haft saß, zumal er damit<br />
von seelischen Unterstützungen durch die<br />
Außenwelt abgeschlossen war. Die Haft war<br />
und ist noch immer unvermeidlich ein Mittel<br />
zur Geständniserlangung. Nachdem die Folter<br />
abgeschafft war, bot sich an, sie durch die<br />
ohnehin übliche U-Haft zu ersetzen. So hat<br />
diese bis heute auf ganz natürliche Weise neben<br />
der Verfahrenssicherung und Erfüllung<br />
der Strafzwecke noch die Wirkung der leichteren<br />
Geständniserlangung. Diese geht leicht<br />
im Zweck der Verfahrenssicherung auf, wenn<br />
das Leugnen als eine Form des "Verdunkelns"<br />
durch den Beschuldigten als Beweisobjekt<br />
an sich selbst aufgefaßt wird. Je länger<br />
er leugnet, desro mehr erschwert er das Verfahren,<br />
und das soll schließlich verhindert<br />
werden.<br />
Seit der StPO von 1850 (§ 191), die im<br />
Anschluß an die liberale Revolution von 1848<br />
erging und das Vorbild für die geltende StPO<br />
von 1873 war, setzt die U-Haft neben dem<br />
Tatverdacht das Vorliegen bestimmter Haftgründe<br />
voraus, das sind die Flucht- und Verdunkelungsgefahr.<br />
Damit gab der Gesetzgeber<br />
zu erkennen, daß die Strafzwecke und<br />
der Geständniszwang die U-Haft nicht <strong>recht</strong>fertigen<br />
können. Dieser Rückzug auf die Verfahrenssicherung<br />
galt nicht bei Verbrechen<br />
mit Strafdrohungen mit über fünf Jahren Kerker.<br />
Hier war stets Haft zu verhängen, insoweit<br />
blieb es bei der umfassenden Sinngebung.<br />
JURIDIKUM<br />
Im Neoabsolutismus wurde in Rückkehr<br />
zur vorrevolutionären Zeit der weitere Haftgrund<br />
des "großen öffentlichen Ärgernisses"<br />
durch die Straftat hinzugefügt (StPO 1853, §<br />
1561it. d). Die Nichtberücksichtigung der öffentlichen<br />
Meinung war von der Praxis sehr<br />
vermißt worden, der "gesunde Rechtssinn<br />
des Volkes" nahm an der Nichtverhaftung<br />
Anstoß (Hye, StPO 1853, 207). Kaum war<br />
aber der Neoabsolutismus zu Ende gegangen,<br />
wurde dieser Haftgrund durch das "Gesetz<br />
zum Schutz der persönlichen Freiheit" von<br />
1862 (§ 3) und bald auch vom "Staatsgrundgesetz<br />
über die allgemeinen Rechte der<br />
Staatsbürger" von 1867 (Art. 8) ausdrücklich<br />
verboten, "um die Freiheit der Person gegen<br />
Übergriffe der Organe der öffentlichen Gewalt<br />
zu schützen" (Präambel des Gesetzes<br />
von 1862). Diese Gesetze wurden in unsere<br />
demokratische Bundesverfassung von 1920<br />
(Art. 149) integriert. Durch das Verbot der<br />
Beachtung des öffentlichen Ärgernisses war<br />
die Generalprävention als Haftgrund weitgehend<br />
ausgeschlossen.<br />
In der StPO von 1873 (§§ 175, 180) wurde<br />
der obligatorische Haftgrund der besonderen<br />
Verbrechensschwere auf zehn Jahre Kerkerstrafdrohung<br />
zurückgenommen, dafür<br />
wurde aber die Wiederholungsgefahr hinzugefügt,<br />
die bis dahin von der Praxis in die<br />
Verdunkelungsgefahr hineingelegt worden<br />
war. Mit der Wiederholungsgefahr kam wieder<br />
ein rein präventiver Gesichtspunkt zur<br />
Geltung, denn die fraglichen Taten waren ja<br />
noch gar nicht begangen worden. Selbst<br />
wenn sie im Falle ihrer Begehung die Abwicklung<br />
des laufenden Verfahrens erschwert<br />
hätten, hätte das mit der Sicherung der Beweismittel<br />
für dieses Verfahren, um das es<br />
bei der Verdunkelungsgefahr allein gehen<br />
sollte, nichts zu tun gehabt. Die Schwerstverbrechen<br />
und die Wiederholungsgefahr sind<br />
seit dem die Schwachpunkte des U-Haft<strong>recht</strong>s.<br />
Die Praxis<br />
Die Justizpraxis hat in Fortführung der<br />
Rechtstradition aus dem Absolutismus und<br />
unterstützt durch diese bei den Ausnahmen<br />
die Präventionszwecke unterschwellig beibehalten.<br />
Statt sie bei den gesetzlichen Haftgründen<br />
der Flucht- und Verdunkelungsgefahr<br />
auszuschließen, wurden sie ihnen mehr<br />
oder weniger stillschweigend unterlegt. Die<br />
Wiederholungsgefahr wurde zum häufigsten<br />
Haftgrund. Aus ihr wurde abgeleitet, daß hier<br />
der Strafzweck nur noch deutlicher in Erscheinung<br />
trete als bei den anderen Haftgründen.<br />
Dieser materielle Zweck sei also<br />
auch bei diesen gegeben, schließlich sei der<br />
Strafprozeß kein Selbstzweck, sondern er diene<br />
dem Straf<strong>recht</strong> (OLG-Präs. i. R. Bröll, JBI.<br />
1983,421).<br />
Das Verständnis der Haft als ein Mittel<br />
zum Geständniszwang wurde bis 1975 durch<br />
eine Vorschrift erleichtert, nach der die "verschuldete"<br />
U-Haft nicht auf die Strafhaft angerechnet<br />
würde (§ 55a StG). Das war eine<br />
Nr 4/92