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Seite 16<br />
Themenspecial<br />
<strong>WEITBLICK</strong><br />
„Amerika steigt nicht ab“<br />
Interview mit Dr. Christoph von Marschall, Washington-Korrespondent des Berliner „Tagesspiegels“<br />
„Amerika steigt nicht ab“<br />
Der Journalist und Buchautor Dr. Christoph von Marschall ist als Washington-<br />
Korrespondent des Berliner „Tagesspiegels“ ein intimer Kenner der politischen<br />
Szenerie in den USA. Im Interview mit <strong>WEITBLICK</strong> äußert er sich über den<br />
US-Wahlkampf, die Chancen von Barack Obama auf eine zweite Amtszeit, die<br />
Tea-Party-Bewegung und das kuriose Europabild der Amerikaner.<br />
Herr Dr. von Marschall, in diesem Jahr stehen in den<br />
USA Präsidentschaftswahlen an. Wie schätzen Sie die<br />
Chancen von Amtsinhaber Barack Obama auf eine<br />
Wiederwahl ein?<br />
Der Ausgang ist völlig offen. Die Bürger sind zornig auf<br />
die gesamte politische Klasse. Nur noch 43 Prozent unter-<br />
stützen Obamas Politik, 50 Prozent lehnen sie ab. Die<br />
Republikaner stehen aber nicht besser da. Sie beherrschen<br />
den Kongress, und dessen Arbeit bewerten nur 12 Prozent<br />
positiv.<br />
Obamas Wahlkampfslogan vor vier Jahren lautete „Yes,<br />
we can !“. Hat er es tatsächlich gekonnt? In Deutschland<br />
überwiegt ja mittlerweile die Enttäuschung. Wie ist die<br />
Beurteilung der amerikanischen Bevölkerung?<br />
Obama hat gemessen an anderen Präsidenten viel erreicht:<br />
Gleich zu Beginn das große Konjunkturpaket, dann die<br />
Reformen des Gesundheitswesen, der Finanzaufsicht und<br />
des Umgangs mit Homosexuellen im Militär, dazu der Abrüstungsvertrag<br />
mit Russland und die Ernennung von zwei<br />
neuen Verfassungsrichterinnen. Deutschland ist enttäuscht,<br />
Amerika ebenso. Diese Enttäuschung hat aber verschiedene<br />
Ursachen. Aus Sicht der Deutschen hat er zu wenig verän-<br />
Dr. Christoph von Marschall<br />
dert im Vergleich mit George W. Bush. Für die Amerikaner<br />
verändert Obama zu viel oder tut das Falsche. Er sollte vor<br />
allem die Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Stattdessen<br />
kamen „Reformen für die Geschichtsbücher“.<br />
„Die Tea Party ist ein buntes<br />
Sammelbecken ohne klare<br />
ideologische Ausrichtung.“<br />
Nehmen wir an, dass Obama wiedergewählt wird? Wo<br />
werden seine Schwerpunkte in der zweiten Amtszeit<br />
liegen?<br />
Im Inneren bleiben die Wirtschaft, die Budgetsanierung, die<br />
Modernisierung der Infrastruktur und die Reform des Einwanderungsrechts<br />
die dringendsten Aufgaben. Nach außen<br />
Terrorabwehr, die Gestaltung der Beziehungen zu China<br />
und die Bemühung um einen Nahostfrieden.<br />
Die Kluft zwischen Demokraten und Republikanern ist<br />
unübersehbar. Droht der Konflikt auch die US-Gesellschaft<br />
zu entzweien?<br />
Dr. Christoph von Marschall wurde 1959 in Freiburg geboren. Er studierte Osteuropäische<br />
Geschichte und Politik in Freiburg, Mainz und Krakau, Polen. Die Promotion erfolgte<br />
1988. Ein Jahr später begann er seine journalistische Laufbahn bei der „Süddeutschen<br />
Zeitung“. 1991 wechselte er zum „Tagesspiegel“ nach Berlin. Seit 2005 ist der mit mehreren<br />
Journalistenpreisen ausgezeichnete Dr. von Marschall Leiter des Büros Washington.<br />
Im letzten Präsidentschaftswahlkampf war er regelmäßig mit Barack Obama unterwegs.<br />
Nach dessen Einzug ins Weiße Haus erhielt er als einer der wenigen Korrespondenten<br />
einen „White House Press Pass“.<br />
Bücher: „Barack Obama. Der schwarze Kennedy“, Orell Füssli Verlag Zürich. Erstausgabe<br />
2007. „Michelle Obama. Ein amerikanischer Traum“, Orell Füssli Verlag, Zürich 2009.<br />
Amerikas Gesellschaft ist schärfer gespalten, als man sich<br />
das in Europa vorstellen kann. Nach US-Maßstäben sind die<br />
Deutschen fast alle Sozialdemokraten, egal ob die Parteifarbe<br />
rot, schwarz, grün oder gelb ist. Eine Partei mit der<br />
ideologischen Ausrichtung der Republikaner gibt es hier in<br />
Deutschland gar nicht. Fürs Erste macht die Spaltung der<br />
US-Gesellschaft den Kongress im Wahljahr nahezu handlungsunfähig<br />
und radikalisiert zudem die Ränder, siehe die<br />
Tea Party.<br />
Wie erklären Sie sich den Erfolg der Tea-Party-<br />
Bewegung?<br />
Die Tea Party ist ein buntes Sammelbecken ohne klare ideologische<br />
Ausrichtung. Ihre Forderungen sind in erster Linie<br />
säkular: Schuldenabbau, weniger Staat, niedrigere Steuern.<br />
Es gibt auch Überschneidungen mit der religiösen Rechten –<br />
Ablehnung von Abtreibung und Homo-Ehe – sowie ein paar<br />
Rassisten, die Präsident Obama wegen seiner Hautfarbe<br />
ablehnen. Alles in allem ist diese Protestbewegung eine<br />
Reaktion auf die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise,<br />
verstärkt durch das subjektive Gefühl, dass das Land in<br />
dieser Lage einen „unamerikanischen“, also irgendwie illegitimen<br />
Präsidenten habe.<br />
„In der Eurokrise erweist sich<br />
Europa aus US-Sicht unfähig, das<br />
Nötige zu tun.“<br />
Was hätte es für die USA gesellschaftlich und ökonomisch<br />
zu bedeuten, wenn der nächste US-Präsident ein<br />
Republikaner aus den Reihen der Tea Party wäre? Und<br />
wie würde sich dann die US-Außenpolitik gestalten?<br />
Es wird keinen Präsidenten aus der Tea Party geben.<br />
Diese Bewegung ist nicht mehrheitsfähig in den USA.<br />
Sie kann maximal 25 bis 30 Prozent der Wähler anziehen.<br />
Die Republikaner wollen dieses Potenzial nicht aufgeben.<br />
Aber zugleich schadet die Tea Party ihren Wahlaussichten,<br />
weil sie die Republikaner nach rechts drückt und damit<br />
weniger wählbar macht für die wahlentscheidenden<br />
Bürger, die Parteilosen in der Mitte der Gesellschaft.<br />
Grundregel: Je rechter der Präsidentschaftskandidat, den<br />
die Republikaner aufstellen, desto besser die Chancen<br />
für Obama.<br />
Für viele Beobachter in Europa befindet sich Amerika<br />
„auf dem absteigenden Ast“. Sind die Tage der USA als<br />
die führende Wirtschafts- und Militärmacht tatsächlich<br />
gezählt? Oder wird sich Amerika neu erfinden?<br />
Amerika steigt nicht ab. Es verliert relativ an Einfluss, weil<br />
es in der Krise ist und andere Länder im Aufstieg. Die USA<br />
werden diese Krise in zwei, drei Jahren überwinden und<br />
noch lange die führende Wirtschaftsmacht, die stärkste Militärmacht<br />
und der wichtigste Markt für deutsche Produkte<br />
bleiben.<br />
<strong>WEITBLICK</strong><br />
„Amerika steigt nicht ab“<br />
Seite 17<br />
Themenspecial<br />
Dr. Christoph von Marschall kennt den US-Präsidenten Barack Obama persönlich.<br />
Als Berichterstatter begleitete er ihn bereits im Wahlkampf 2008.<br />
Eines Ihrer Vortragsthemen lautet: „Warum Amerika die<br />
EU nicht versteht. Das kuriose Europabild in den USA.“<br />
Wie sehen die Amerikaner eigentlich Europa?<br />
Aus US-Sicht ist Europa ein Kontinent der sympathischen<br />
Träumer und weltpolitisch wenig bedeutend. Es ist nicht<br />
mehr das Zentrum der Bedrohung, der Kalte Krieg ist<br />
vorbei. Aber es bietet auch wenig an, um den Gefahren von<br />
heute zu begegnen: Terror, „Failing States“, die Terrorgruppen<br />
eine Basis bieten, Cyberwar. In der Eurokrise erweist<br />
sich Europa aus US-Sicht unfähig, das Nötige zu tun. Amerika<br />
ist ein Nationalstaat – und mag nicht glauben, dass<br />
supranationale Gebilde wie die EU funktionieren, wenn es<br />
darauf ankommt.<br />
Sie besitzen als einer der wenigen Auslandskorrespondenten<br />
einen sogenannten „White House Pass“,<br />
der ständigen Zutritt ins Weiße Haus erlaubt. Wie läuft<br />
eigentlich die Kommunikation zwischen Ihnen und dem<br />
Oval Office ab?<br />
Ausländer haben es schwerer als Amerikaner, Zugang zu<br />
bekommen. Ich sitze nicht bei den Obamas auf dem Sofa.<br />
Aber die wichtigsten Mitarbeiter kennen mich inzwischen,<br />
da ich seinen Aufstieg seit Jahren begleitet habe, erst im<br />
Wahlkampf, nun im Weißen Haus. Vermutlich ist es darauf<br />
zurückzuführen, dass ich als einziger deutscher Korrespondent<br />
ein Obama-Interview bekam (im Juni 2011, zum<br />
Besuch der Kanzlerin), einen „White House Pass“ habe und<br />
zur Weihnachtsfeier des Präsidenten eingeladen werde.