PF-2091
Johann Kuhnau: Lobe den Herren, meine Seele / Praise thou the Lord, o my spirit
Johann Kuhnau: Lobe den Herren, meine Seele / Praise thou the Lord, o my spirit
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VORWORT<br />
Als Johann Kuhnau nach einundzwanzig Jahren im Thomaskantorat<br />
am 5. Juni 1722 gestorben war, wurde er in<br />
einem Leipziger Jahrbuch mit einem ausführlichen Nachruf<br />
gewürdigt. Hier heißt es: „Was er nächstdem an Musicalischen<br />
Kirchen-Stücken, insonderheit seit anno 1701, da er<br />
Cantor und Director Musices worden, componiret habe,<br />
mag wohl schwerlich zu zehlen seyn, gestalt er bey seinen<br />
häuffigen musicalischen Aufführungen sich fremder Composition<br />
niemahls oder doch gar selten bedienet, da hingegen<br />
mit seiner Arbeit er andern vielfältig aushelffen müssen.“<br />
Von diesem, einst umfangreichen, Werkkomplex – der<br />
denjenigen seines Amtsnachfolgers Johann Sebastian Bach<br />
quantitativ in den Schatten stellte – hat sich nur ein Bruchteil<br />
erhalten. Etwas mehr als dreißig „Kirchenstücke“ aus<br />
Kuhnaus Feder haben die Zeiten überdauert. Sie liegen<br />
handschriftlich in mittel- und norddeutschen Bibliotheken<br />
vor: überwiegend innerhalb der Sammlung Becker (Stadtbibliothek<br />
Leipzig), in den Musikalien der Grimmaer Fürstenschule<br />
(Landesbibliothek Dresden) und der Sammlung<br />
Bokemeyer (Staatsbibliothek zu Berlin). Die Autographe<br />
und Originalstimmensätze darunter lassen sich an einer<br />
Hand abzählen, und bei manchen Sekundärquellen ist die<br />
Richtigkeit der Autorenangabe „di Kuhnau“ durchaus zweifelhaft.<br />
Dennoch ist das überlieferte kirchenmusikalische<br />
Schaffen Kuhnaus heute für Kenner und Liebhaber barocker<br />
Kirchenmusik, aber auch für Laien und professionelle<br />
Musiker gleichermaßen von besonderem Reiz, und dies aus<br />
mehreren Gründen.<br />
Kuhnaus Werke, entstanden zwischen den frühen 1680er<br />
Jahren – als Kuhnau noch Schüler in Zittau und Dresden<br />
und ab 1684 Organist der Leipziger Thomaskirche war –<br />
und den späten 1710er Jahren, fallen stilistisch ausgesprochen<br />
vielgestaltig aus. Das Spektrum reicht von geistlichen<br />
Arien und Spruchkonzerten des 17. Jahrhunderts über Choralbearbeitungen,<br />
experimentellen Mischformen bis hin zu<br />
Kirchenkantaten Neumeister’scher Prägung. Und die Mannigfaltigkeit<br />
von Kuhnaus Tonsprache, die mal dramatisch/<br />
theatralisch, mal fließend arios und andächtig daherkommt,<br />
straft alle diejenigen Lügen, die den Kirchenkomponisten<br />
Kuhnau gern als einen angeblich rückwärtsgewandten Künstler<br />
abtun, der sich den musikalischen Neuerungen des frühen<br />
18. Jahrhunderts vehement verweigert hätte.<br />
Dieses von der älteren Forschung gezeichnete Porträt ist ein<br />
Zerrbild, das sich aus Dokumenten zu einigen Grabenkämpfen<br />
ergibt, die sich der Thomaskantor Kuhnau – leider wenig<br />
geschickt – mit der jungen innovativen Leipziger Musikerszene<br />
an Neukirche und Opernhaus lieferte, namentlich mit den<br />
aufstrebenden Studenten Georg Philipp Telemann, Johann<br />
David Heinichen und Johann Friedrich Fasch.<br />
Die nunmehr angegangene Neuausgabe aller erhaltenen<br />
geistlichen Werke Kuhnaus soll dieses falsche Bild korrigieren<br />
und den Komponisten aus der Ecke des angeblich<br />
„Musicalischen Horribilicribrifax“ herausholen, in die er<br />
bereits früh gestellt wurde. Denn Kuhnaus Kirchenmusik stellt<br />
dem in jungen Jahren erfolgreichen galanten Romanschreiber,<br />
innovativen Clavierkomponisten und sogar Operisten ein in<br />
jederlei Hinsicht ebenbürtiges Zeugnis aus. Ein Zeugnis, das<br />
außerdem deutlich werden lässt, weshalb ein Telemann später<br />
behaupten konnte, die Feder des weithin als „Polyhistoris in<br />
arte Musica“ gerühmten Kuhnau habe ihm einst als Muster<br />
gedient: um daran seinen eigenen Kirchenstil zu modellieren.<br />
Und vor allem wird durch die Neuausgabe von Kuhnaus<br />
Vokalwerken endlich eine wichtige musikalische Facette der<br />
gattungsgeschichtlich so spannenden Übergangsphase zwischen<br />
Geistlichem Konzert des 17. Jahrhunderts und spätbarocker<br />
Kirchenkantate zugänglich, die in ihrer Bedeutung<br />
kaum überschätzt werden kann.<br />
Michael Maul<br />
III