10/11 - Evangelische Kirchen in Erfurt
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THEMA: GOTTESDIENST 12<br />
Da es im Dom verboten ist, laut zu<br />
fluchen, fiel es uns noch schwerer, uns<br />
zusammenzureißen. So e<strong>in</strong> Unglück,<br />
wo doch Flüche die Hauptuntermalung<br />
der jugendlichen Sprache ausmachen.<br />
So schwand die Lust wie die<br />
Wärme aus der Tür und der Dom kam<br />
uns noch kälter vor, als er ohneh<strong>in</strong><br />
schon war.<br />
Da kam es uns nur zu gute, dass der<br />
Betreuer, Herr Junker (der es vorzog,<br />
im warmen Mantel danebenzustehen<br />
und die armen Teufel auf dem Boden<br />
zu beobachten) endlich mal die Edith-<br />
Ste<strong>in</strong>- Schüler, die passende Texte entwarfen,<br />
was ihre ursprüngliche Zahl<br />
von zehn Schülern auf zwei reduzierte,<br />
e<strong>in</strong>lud.<br />
Erstens, weil es e<strong>in</strong>e angenehme Abwechslung<br />
zum normalen Umfallenaufstehen-streiten<br />
war. Und zweitens,<br />
weil wir es satt hatten, zu wissen, dass<br />
die anderen Schüler <strong>in</strong> ihrem Edith-<br />
Ste<strong>in</strong>-Gymnasium im warmen Klassenraum<br />
über ihren Texten brüten durften,<br />
während wir kalt und klamm im<br />
Dom herumlagen. Also hob sich die<br />
Stimmung wieder und wurde größer<br />
denn je, als die Rede endlich von den<br />
zahlreichen Generalproben war, die<br />
wir noch vor uns hatten.<br />
Abgesehen von e<strong>in</strong>em kalten Schauer,<br />
den uns das Wort „Kalte Probe“ den<br />
Rücken herunter peitschte. Herr Junker<br />
wies uns auch darauf h<strong>in</strong>, dass der<br />
Kanzler <strong>in</strong> Person und zahlreiche andere<br />
Politiker zugegen se<strong>in</strong> werden.<br />
Das bot schier unerschöpflichen Gesprächstoff<br />
für Wochen. Denn wir hatten<br />
„die Möglichkeit, uns vor dem<br />
Kanzler zu äußern“. Die zahlreichen<br />
Äußerungsoptionen be<strong>in</strong>halteten nicht<br />
nur, den Kanzler vom Boden aus zu<br />
betrachten, sondern auch mit Laserpo<strong>in</strong>tern<br />
kle<strong>in</strong>e rote Punkte auf den<br />
verschiedenen Körperteilen der Politiker<br />
tanzen zu lassen, um e<strong>in</strong> wenig<br />
Spannung für die 3 Millionen Fernsehzuschauer<br />
zu bieten. Oder, oder,<br />
oder…<br />
Nach den Sommerferien g<strong>in</strong>g die Arbeit<br />
weiter. Zwar waren durch das tägliche<br />
Herumlungern <strong>in</strong> den Ferien unsere<br />
Gelenke steif wie Kruzifixe, doch<br />
dieses feste Problem löste sich von<br />
selbst wie e<strong>in</strong> Knoten, als wir die ersten<br />
fünf mal Umfallen und Wiederaufstehen<br />
im Dom h<strong>in</strong>ter uns hatten.<br />
Immer wieder von rührend (ja be<strong>in</strong>ahe<br />
flehend) geschriebenen Term<strong>in</strong>briefen<br />
zum Weitermachen angehalten, wurde<br />
uns der Dom langsam vertrauter als<br />
mancher Teil der Schule: Sternenförmig<br />
g<strong>in</strong>gen wir immer wieder schweigend<br />
oder umfallend auf die Altar<strong>in</strong>sel<br />
<strong>in</strong> der Dommitte zu!<br />
Wie es ab jetzt weitergeht, kann ich<br />
nur raten. Wir werden vermutlich noch<br />
zahlreiche Probestunden absitzen<br />
(besser gesagt abliegen), ehe wir uns<br />
dem Kanzler höchstselbst zu Füßen<br />
werfen dürfen. In zwei Generalproben<br />
werden wir uns h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stürzen und wir<br />
werden weiter unseren Kameraden auf<br />
die Be<strong>in</strong>e helfen, die es e<strong>in</strong>fach nicht<br />
lernen dürfen.<br />
Was jedoch Hoffen, Zweifeln und Ermutigen<br />
angeht: Am frustrierendsten<br />
wird es se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e echte Lösung<br />
des Wegproblems wahrsche<strong>in</strong>lich weder<br />
durch die Streiter, noch durch die<br />
Ausgucker gefunden werden wird.