8. MAI - Antifaschistische Linke Berlin
8. MAI - Antifaschistische Linke Berlin
8. MAI - Antifaschistische Linke Berlin
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<strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong> :: [ALB] ::<br />
<strong>8.</strong> <strong>MAI</strong><br />
60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus
INHALT<br />
INHALT<br />
EINLEITUNG <strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong><br />
GESCHICHTE WIRD GEMACHT <strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong><br />
UNRECHT IN ZAHLEN <strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong><br />
INTERVIEW <strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong> | Freundinnen des Sachsenhausenkomitees<br />
DAS MASSAKER VON DISTOMO AK Distomo, Hamburg<br />
HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN. Katja Diefenbach<br />
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME Raul Zelik<br />
ANZEIGEN<br />
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IMPRESSUM<br />
HERAUSGEBERIN<br />
<strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong> :: [ALB] ::<br />
[T] 030/27 56 07 56<br />
[F] 030/27 56 07 55<br />
[E] <strong>8.</strong>mai@antifaschistische-aktion.com<br />
[ I ] www.antifa.de|www.8-mai.antifaschistische-aktion.com<br />
Resonanz, Fragen, Kritik und kostenlose Bestellungen bitte an:<br />
<strong>8.</strong>mai@antifaschistische-aktion.com<br />
V.i.S.d.P.: Franz Fanon, Karl-Marx-Allee 77, 10345 <strong>Berlin</strong><br />
EIGENTUMSVORBEHALT<br />
Nach dem Eigentumsvorbehalt ist diese Broschüre<br />
solange Eigentum des Absenders, bis sie der/dem<br />
Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. »Zur-<br />
Habenahme« ist keine persönliche Aushändigung<br />
im Sinne dieses Vorbehalts. Wird die Broschüre<br />
der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt,<br />
ist sie dem Absender mit dem Grund der<br />
Nichtaushändigung zurückzusenden. Wird die<br />
Broschüre der/dem Gefangenen nur teilweise persönlich<br />
ausgehändigt, so sind die nicht ausgehändigten<br />
Teile, und nur sie, dem Absender mit dem<br />
Grund der Nichtaushändigung zurückzusenden.<br />
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EINLEITUNG<br />
EINLEITUNG<br />
Mit dieser Textsammlung wollen wir uns dagegen wenden, dass endgültig eine offizieller<br />
»Schlussstrich« unter die Geschichte des Nationalsozialismus gezogen wird. Wir gehen<br />
davon aus, dass es seit der Wiedervereinigung 1989/90 einen verstärkt aktivierten<br />
Prozess in diesem Land gibt, der sich unter dem Schlagwort »Normalisierungspolitik«<br />
zusammenfassen lässt. Gemeint ist die Schaffung eines neuen Nationalbewusstseins, das<br />
Deutschland als selbstbewusste, von der Schuld der eigenen Geschichte befreiten Nation<br />
präsentieren kann. Es geht darum, zum gleichberechtigten Akteur im globalen Konkurrenzgeschehen<br />
des Neoliberalismus aufsteigen zu können.<br />
Dieser Prozess läuft auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab: neben der Geschichtsschreibung<br />
selbst lassen sich in der Kultur-, Musik- und Kunstproduktion schleichende Umwandlungsprozesse<br />
aufzeigen, die zusammengenommen einen Blick auf die Geschichte entwerfen,<br />
der Konsequenzen und heutige Handlungsmöglichkeiten ausschließt. Verschiedene Facetten<br />
dieser Tendenz werden in den einzelnen Artikeln beleuchtet.<br />
In Zeiten eines immer rigider werdenden Asylrechts, einer wachsenden neofaschistischen<br />
Bewegung und einer sich militarisierenden Außenpolitik sagen wir, dass der Kampf um die<br />
Geschichte notwendiger Bestandteil des Kampfes um ein besseres Leben sein muss –<br />
Geschichte wird gemacht, auch von uns, hier und jetzt!<br />
<strong>Berlin</strong> ist befreit.<br />
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
Heraus zum revolutionären <strong>8.</strong> Mai!<br />
Sofortige Entschädigung aller ZwangsarbeiterInnen!<br />
Kampf dem Faschismus & Krieg!<br />
Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.<br />
Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört<br />
Kanzler Gerhard Schröder hat auf seinem<br />
Schreibtisch das Photo seines Vaters in<br />
Wehmachtsuniform aufgestellt und scheint<br />
mit dieser Zurschaustellung familiärer Vergebung<br />
zufrieden. Er kommentiert das in<br />
der Mitte <strong>Berlin</strong>s entstehende Holocaust-<br />
Mahnmal mit dem Satz, es entstehe »ein<br />
Ort, zu dem Deutsche gerne gehen sollten«.<br />
Die Kunstsammlung Friedrich Christian<br />
Flicks, einer der größten lebenden Nazierben,<br />
wird von ihm feierlich im eigens umgebauten<br />
Hamburger Bahnhof präsentiert –<br />
als Akt der Versöhnung der Deutschen mit<br />
sich selbst. Die Bombardierung Dresdens<br />
steht hoch im Kurs der offiziellen Kultur<br />
des Erinnerns, während die letzten noch<br />
lebenden ZwangsarbeiterInnen weiterhin<br />
vergeblich auf Entschädigung warten.<br />
Zugleich reist ein anderer Repräsentant<br />
der ›<strong>Berlin</strong>er Republik‹ am 60. Jahrestag<br />
der Befreiung von Auschwitz an den Ort<br />
der systematischen Ermordung der jüdischen<br />
Bevölkerung Europas und zeigt Betroffenheit<br />
– es ist Horst Köhler, Präsident<br />
der Nation. Und in täglich erscheinenden<br />
neuen Reden lesen wir öffentliche Bekenntnisse<br />
zum Antifaschismus und Mahnungen,<br />
sich des neu entfl ammenden Antisemitismus<br />
zu erwehren. Der Wahlerfolg der NPD in<br />
Sachsen scheint einem weiteren ›Aufstand<br />
der Anständigen‹ Aufschwung zu verleihen<br />
und man sorgt sich um die Entstehung<br />
peinlicher Bilder einer Nazidemonstration<br />
durchs Brandenburger Tor am <strong>8.</strong> Mai.<br />
Geschichte, Schuld und Verantwortung<br />
Sichtbar wird, dass die Deutung dessen, was<br />
wir Geschichte nennen, schon immer eng<br />
verknüpft war mit politischem Herrschaftsanspruch.<br />
Und dass das, was wir offizielle<br />
Geschichtsschreibung nennen, in Wirklichkeit<br />
ein umkämpftes Terrain ist, in dem Dinge<br />
verloren gehen, umgedeutet werden, sich<br />
angeeignet werden. Übrig bleibt die Deutung<br />
aus Sicht der Sieger, der Mächtigen,<br />
der Herrschenden. Genau einen solchen Siegeszug<br />
feiert das neue Deutschland gerade:<br />
Spätestens seit 1989/90 ist eine Tendenz<br />
zu beobachten, die mittlerweile als »Normalisierungspolitik«<br />
mit einem eigenen<br />
Begriff belegt wird. Gemeint ist die Schaffung<br />
eines neuen Nationalbewusstseins,<br />
das Deutschland als selbstbewusste, von der<br />
Schuld der eigenen Geschichte befreiten<br />
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
Nation präsentieren kann. Es geht darum,<br />
gleichberechtigter Akteur im globalen Konkurrenzgeschehen<br />
des Neoliberalismus zu<br />
werden. Es geht darum, zu den Mächtigsten<br />
der Welt zu gehören. Darum, seine nationalen<br />
Interessen geltend machen zu können –<br />
ein altes Lied mit immer neuer Melodie.<br />
Und in diesem Zusammenhang ist das Ziehen<br />
eines endgültigen »Schlussstrichs« unter<br />
die Vergangenheit für die Herrschaftsprojekte<br />
des neuen Deutschland vonnöten,<br />
damit der Vorwurf der Kontinuität und<br />
Durchsetzung deutscher Interessen etwa mit<br />
militärischen Mitteln im Keim erstickt werden<br />
kann. Dieses ideologische Bestreben<br />
gibt es schon lange, doch bewegte es sich<br />
bislang auf Bahnen, die sich um die Frage<br />
der Schuld bildeten – nachzuzeichnen an<br />
der unsäglichen These der Verführung der<br />
deutschen Gesellschaft durch Hitler, des Abladens<br />
der Verantwortung auf hohe Funktionäre<br />
des Nationalsozialismus, die sich<br />
wiederum mit einem vermeintlichen »Befehlsnotstand«<br />
herausgeredet haben. Ging<br />
das Bekenntnis zur Schuld schon mühsam<br />
über die Lippen, scheute man sich, jemals<br />
politische Verantwortung für die Gräuel<br />
des Nationalsozialismus zu übernehmen.<br />
Die jeweiligen Herrschenden sind aber<br />
die Erben aller, die je gesiegt haben<br />
Dies hat sich mit der rotgrünen Regierung<br />
geändert, jedoch keineswegs zum Guten:<br />
Das Bekenntnis der Schuld wird in die durch<br />
die Geschichte vorgegebene Pfl icht, Verantwortung<br />
zu übernehmen, umgepolt. Gerade<br />
aufgrund der Barbarei des Faschismus,<br />
so das Argument, trage Deutschland eine<br />
besondere Verantwortung in der Durchsetzung<br />
»humanitärer Politik«. Nicht trotz,<br />
sondern wegen Auschwitz hieß die Parole,<br />
mit der Deutschland 1999 das dritte Mal<br />
im 20. Jahrhundert Soldaten auf den Balkan<br />
schickte, um im Jugoslawienkrieg mitzumischen.<br />
Und nicht zufällig passt sich dieser<br />
Tenor in die neu formulierten Werte eines<br />
»zivilisierten« Europa ein, das momentan<br />
dabei ist, sich im Kanon der westlichen<br />
Welt zum authentischen Repräsentanten des<br />
wahren Humanismus zu profilieren. Und<br />
dies heißt eben nicht, sich einer antimilitaristischen<br />
Haltung verpfl ichtet zu fühlen,<br />
sondern über den Bezug auf die Geschichte<br />
wieder zum militärischen Akteur zu werden.<br />
Nicht Verantwortung für die Vergangenheit<br />
wird hier übernommen, sondern<br />
zukünftiger Führungsanspruch angemeldet.<br />
Wir erleben also eine erneute Version der<br />
Integration der Geschichte in die Logik<br />
von Profit, Ausbeutung und Krieg. Möglich<br />
wird dies gerade über die persönliche Geschichte<br />
der Ex-68er, die heute die Regierung<br />
bilden. Der von ihnen vorgetragene<br />
Wille, der Geschichte ihren Platz einzuräumen,<br />
bekommt dadurch Glaubwürdigkeit,<br />
dass sie die Auseinandersetzung mit<br />
dem Nationalsozialismus zur Grundlage<br />
der eigenen politischen Haltung stilisieren.<br />
Wie aber sieht diese Integration genau aus?<br />
In der ›<strong>Berlin</strong>er Republik‹ werden dem Erinnern<br />
feste Orte zugewiesen – die Topographie<br />
des Terrors etwa oder das baldig<br />
5
GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
eingeweihte Holocaustmahnmal gehören<br />
nun in die stadtpolitische Landschaft der<br />
Hauptstadt. An sich sind Gedenkorte ein<br />
wichtiger Bestandteil im Kampf gegen das<br />
Totschweigen und Vergessen; gegen all die<br />
Ausblendungen, welche die Geschichte des<br />
Nationalsozialismus in Deutschland begleiten.<br />
Doch der offizielle Umgang mit diesen<br />
Orten ist ein funktionalisierender: Die Erinnerung<br />
und das Gedenken werden in feste<br />
Ritualakte gegossen – an bestimmten Tagen,<br />
an bestimmten Orten, vor bestimmtem Publikum.<br />
Die Zuweisung historisch nicht zurechtbiegbarer<br />
Ereignisse an einen eigens dafür<br />
vorgesehenen Ort geht mit einer Auskoppelung<br />
der Erinnerung aus dem politischen<br />
Alltagsgeschäft einher. Die Frage nach den<br />
Ursachen für den Nationalsozialismus werden<br />
zwar gestellt, aber in entpolitisierte<br />
Formen gepresst und mutieren zu Appellen<br />
gegen »Gewalt und Extremismus«. Konsequenzen<br />
aus diesen Fragen lassen sich nicht<br />
finden und werden mit Sorgfalt vermieden.<br />
Die wahren Opfer sind »Wir«?<br />
Neben der offiziellen Rethorik sind schon<br />
länger, eher am Rande der Aufmerksamkeit,<br />
gesellschaftliche Umdeutungsstrategien<br />
aktiv: vom Zweiten Weltkrieg bleibt die<br />
Erinnerung an die Bombardierung Dresdens,<br />
deren Bevölkerung plötzlich synonym<br />
für das Leiden der Deutschen an der Geschichte<br />
steht. In jeder Familie finden sich<br />
Nicht-Mitmacher im Nationalsozialismus,<br />
bzw. die Irgendwie-doch-Mitmacher trugen<br />
selbstredend keine Schuld an Verbrechen.<br />
So entsteht das Bild eines unter dem<br />
Joch der Nazis geknechteten Deutschlands,<br />
das wenn nicht voll Widerstandskämpfer,<br />
so zumindest reich an inneren Emigranten<br />
war, die nach der Befreiung das harte<br />
Los der Nachkriegszeit zu erleiden hatten.<br />
Sozusagen ein doppeltes Leid, hinter dem<br />
die Geschichte der 6 Millionen ermordeten<br />
Juden, der 22 Millionen Toten der Sowjetunion<br />
und des zerstörten Europa verblassen.<br />
Nun, wo die TäterInnengeneration endgültig<br />
am Aussterben ist und ihr anhaltendes<br />
Schweigen zu den eigenen Taten zur festen<br />
Lücke im gesellschaftlichen Bewusstsein<br />
wird, verlagert sich die Erinnerung in<br />
die staatliche Keimzelle der Familie. Dort<br />
erfindet sich die nationale Kollektivität in<br />
der Schaffung eines versöhnlerischen Mythos<br />
neu: letztlich waren »wir« doch alle<br />
Opfer der Nazis, verführt, verloren und<br />
betrogen. Dresden und Auschwitz werden<br />
in einem Atemzug genannt – es gibt nur<br />
noch Opfer und neben Hitler kaum Täter.<br />
Die noch vor 10 Jahren hitzig geführte Debatte<br />
um kollektive Schuld, die die Wehrmachtsausstellung<br />
auslöste, scheint beerdigt<br />
unter der Inszenierung einer bewusst<br />
diffus gehaltenen Gedenkpolitik, die auf<br />
fruchtbaren Nährboden in der Gesellschaft<br />
stößt. Direkter Ausdruck dieser Tendenz<br />
sind kulturelle Produkte wie der Film »Der<br />
Untergang«, Romane wie »Der Brand«<br />
und Ausstellungen wie die Flick-Collection<br />
in <strong>Berlin</strong>. Sie alle verbindet eine Geste der<br />
Versöhnung mit sich selbst. Der Faschismus<br />
wird zur Folie, auf dem sich individuel-<br />
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GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
<strong>8.</strong> Mai: Ein Tag an dem allen gedankt werden sollte, die die Befreiung vom deutschen<br />
Faschismus mit durchgesetzt haben.<br />
les und tragisches Schicksal nachzeichnen<br />
lässt; eine dramatische und schaurig-schöne<br />
Kulisse menschlichen Leids. Nur scheinbar<br />
fällt der neue Film über Sophie Scholl<br />
aus jener Tendenz heraus. Bei genauerem<br />
Hinsehen entdeckt man lediglich eine weitere<br />
Facette dieses Zusammenhangs: der<br />
Beweis wird angetreten, dass es auch in<br />
Deutschland Widerstand gab; jung, schön<br />
und mutig wird dem Bösen getrotzt. Man<br />
kann sich reibungslos mit der historischen<br />
Figur identifizieren, ohne Fragen nach der<br />
Konsequenz für das Hier und Jetzt stellen<br />
zu müssen. Und nicht zufällig stößt der Film<br />
»Grauzone«, der an den Verbrennungsöfen<br />
von Auschwitz spielt und das Grauen<br />
der Mordmaschinerie zeigt, auf eine Wand<br />
des Schweigens und der kulturellen Missachtung<br />
– zu unbequem, zu schrecklich,<br />
zu unversöhnlerisch macht sich der Blick in<br />
die Geschichte auf. Wenn Integration nicht<br />
funktioniert, arbeitet die Verdrängung...<br />
Welcome to Reality<br />
Vollkommen widersprüchlich wird die offizielle<br />
Geschichtsrethorik, wenn man sie<br />
7
GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
mit den realen politischen Verhältnissen abgleicht,<br />
die hier herrschen: wir stoßen auf<br />
eine immer rigidere Abschottungspolitik<br />
gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden;<br />
wir stoßen auf den aktiven Ausbau der<br />
Festung Europa mit vom deutschen Innenminister<br />
vorgeschlagenen »Auffanglagern«<br />
für Flüchtlinge entlang der Außengrenzen;<br />
auf eine zunehmende Militarisierung der<br />
Außenpolitik. Wir finden im Inneren einen<br />
sich stetig ausbauenden Sicherheits- und<br />
Überwachungsstaat; wir finden einen rassistischen<br />
Grundkonsens in allen Teilen der<br />
Gesellschaft und die wachsende Bereitschaft,<br />
neofaschistische Parteien zu wählen.<br />
Wir sind konfrontiert mit Mechanismen<br />
der Ausgrenzung, die eine permanente<br />
Ungleichheit schaffen – eine Ungleichheit<br />
mit verschiedensten Abgrenzungslinien:<br />
zwischen deutsch und nicht-deutsch, zwischen<br />
weiß und nicht-weiß, zwischen arm<br />
und reich. Diese Linien ziehen sich durch<br />
Klasse, Hautfarbe und Geschlecht, sie sind<br />
Bestandteil der kapitalistischen Logik von<br />
Gesellschaftsorganisation. Und wenn dieser<br />
Zusammenhang nicht mit thematisiert wird,<br />
wenn es um die Geschichte des Nationalsozialismus<br />
geht, dann schließt jedes persönlich<br />
empfundene Entsetzen die Augen vor den<br />
Wurzeln vom Faschismus. Dann fällt es nicht<br />
schwer, zu erinnern und zugleich Menschen<br />
in den Tod abzuschieben; dann gedenkt man<br />
vor laufenden Kameras und beteiligt sich an<br />
der globalen Kriegsmaschinerie, dann zeigt<br />
man Betroffenheit und wartet, bis die letzten<br />
ZwangsarbeiterInnen gestorben sind.<br />
Die sich durch die Geschichte der BRD<br />
durchziehende Nicht-Bereitschaft, eine noch<br />
so kleine Entschädigung für die Sklavenarbeit<br />
im dritten Reich zu zahlen, spricht eine<br />
deutliche Sprache: 13,5 Millionen Menschen<br />
wurden zwischen 1939 und 1945 nach<br />
Deutschland verschleppt und zur Arbeit gezwungen.<br />
Allein die in dieser Zeit vorenthaltenen<br />
Lohngelder werden auf umgerechnet<br />
über 90 Milliarden Euro geschätzt. Bis heute<br />
warten die letzten Überlebenden auf Entschädigung,<br />
die an sich nur einen symbolischen<br />
Charakter aufweist – pro Person stehen 370<br />
Euro zur Debatte. Dies ist keine Ignoranz,<br />
dies ist eine weitere Verhöhnung der Opfer<br />
des Nationalsozialismus und trauriger Ausdruck<br />
davon, wie wenig ernst die Inszenierung<br />
des Gedenkens wirklich gemeint ist.<br />
Uns jedoch geht es um die Einlösung des<br />
Schwurs von Buchenwald: »Die Vernichtung<br />
des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere<br />
Losung«.<br />
8
GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
Geschichte wird gemacht, es geht voran...<br />
Der <strong>8.</strong> Mai steht für die militärische Zerschlagung<br />
und die bedingungslose Kapitulation<br />
Nazi-Deutschlands. Er steht für die Befreiung<br />
der Konzentrationslager, der ZwangsarbeiterInnen,<br />
für die Beendigung des Krieges,<br />
der 50 Millionen Leben gekostet hatte.<br />
Er steht für das Ende der Barbarei des Nationalsozialismus,<br />
für das Ende der Shoa. Es<br />
ist ein Tag, an dem all denjenigen gedankt<br />
werden sollte, die diese Befreiung durchgesetzt<br />
haben und all derer gedacht, die Opfer<br />
des deutschen Vernichtungswahns wurden.<br />
Wir wenden uns gegen eine Instrumentalisierung<br />
des Erinnerns und Gedenkens,<br />
gegen eine Einverleibung in die menschenverachtende<br />
Politik neoliberaler Staatslogik.<br />
In unseren Augen ist Geschichte nicht abschließbar,<br />
sie ist und bleibt lebendig und<br />
prägender Faktor gesellschaftlichen Zusammenlebens.<br />
Sie darf weder relativiert, noch<br />
in feste Ritualakte zementiert werden, sondern<br />
muss als offenes Verhältnis in jedem<br />
gesellschaftlichen Feld präsent sein. Dazu<br />
gehört die bedingungslose Anerkennung von<br />
Schuld und die Übernahme der politischen<br />
Verantwortung. Dazu gehört die sofortige<br />
Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus.<br />
Dazu gehört, den Trennungsstrich<br />
zwischen Tätern und Opfern klar zu ziehen.<br />
Dazu gehört, den Zusammenhang zwischen<br />
Kapitalismus und dem Faschismus als einer<br />
Herrschaftsoption zu erkennen. Dazu gehört,<br />
gegen Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus<br />
und Krieg Widerstand zu leisten, und<br />
zwar auf allen Ebenen – mit allen Mitteln.<br />
<strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Dresden am 13. Februar 2005. Auf großen<br />
Plakatschildern der Stadtverwaltung<br />
stehen die Namen verschiedener<br />
bombardierter Städte.<br />
9
GESCHICHTE WIRD GEMACHT<br />
Dresden = Warschau – oder – wie Täter zu Opfern werden.<br />
Dresden am 13. Februar 2005. Die Stadt zeigt Flagge. Auf großen Plakatschildern<br />
der Stadtverwaltung stehen die Namen der Städte: Bagdad, Coventry, Grosny,<br />
Guernica, Hamburg Hiroshima, Leningrad, Monrovia, New York, Sarajevo und<br />
Warschau... und dann, hervorstechend aus der Reihe, in weißer Schrift: Dresden<br />
1945. Was haben diese Städtenamen gemeinsam? Es gab Kriege und Terror, es gab<br />
Zerstörung und Tote. So viel will uns das Plakat sagen. Von den Nazis völlig zerstörte<br />
Städte wie Guernica, Leningrad und Warschau werden als Symbol gleichgesetzt<br />
mit Dresden und Hamburg, die von den Alliierten zur Beendigung des Faschismus<br />
bombardiert wurden.<br />
Es läuten alle Glocken an dem Tag - ein Gedenken an die Toten Dresdens als Inszenierung<br />
mit Live-Übertragung. Diese Inszenierung ist Ausdruck des Kampfes um die<br />
Geschichte: wenn es gelingt die deutsche Bevölkerung als die Opfer des Krieges zu<br />
installieren, tritt die Schuldfrage in den Hintergrund. In Dresden läuten die Glocken<br />
nicht am Jahrestag des Überfalls der Nazis auf Polen, nicht anlässlich der Räumung<br />
des Warschauer Ghettos und der Liquidierung seiner jüdischen Bevölkerung,<br />
nicht zu Ehren der Befreiung von Auschwitz und Buchenwald. Sie läuten nicht aus<br />
Achtung vor den Opfern des Nationalsozialismus. Im Gegenteil, sie läuten für das<br />
Ansehen Deutschlands, für die Beendigung des Stellens der Schuldfrage. Dass hier<br />
die Neonazis einen geeigneten Anknüpfungspunkt für ihre Geschichtsschreibung sehen,<br />
ist nicht durch betroffene Naivität und Tragen der weißen Rose zu verhindern,<br />
sondern durch das Beharren auf der Tatsache, dass Dresden nicht Warschau ist.<br />
10
UNRECHT IN ZAHLEN<br />
UNRECHT IN ZAHLEN<br />
Die »Entschädigung« der NS-ZwangsarbeiterInnen<br />
5 Milliarden Euro. Die »Entschädigung«<br />
Das war die Summe, die Bundesregierung<br />
und deutsche Wirtschaft nach mühseligen<br />
Verhandlungen im Jahr 2000 aufbrachten,<br />
um die noch lebenden nichtdeutschen<br />
ZwangsarbeiterInnen des Nazireiches zu<br />
»entschädigen«. Das entsprechende Gesetz<br />
aus dem Jahr 2000 erkennt immerhin an,<br />
»dass der nationalsozialistische Staat Sklaven-<br />
und Zwangsarbeitern durch Deportation,<br />
Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur<br />
Vernichtung durch Arbeit und durch eine<br />
Vielzahl weiterer Menschenrechtsverletzungen<br />
schweres Unrecht zugefügt hat«.<br />
Eine satte Summe, ein paar nette Worte.<br />
War es das? Kann Deutschland, wenn<br />
der letzte Euro ausgezahlt ist, endlich einen<br />
weiteren Schlussstrich unter die nationalsozialistische<br />
Vergangenheit ziehen?<br />
Sind die Opfer jetzt »entschädigt«?<br />
13,5 Millionen. Die Opfer<br />
Jene Menschen, die im Zweiten Weltkrieg<br />
insgesamt aus den vom »Dritten Reich« eroberten<br />
Ländern nach Deutschland verschleppt<br />
wurden und zur Arbeit für deutschen Unternehmen<br />
und Behörden gezwungen wurden –<br />
als KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilpersonen<br />
aus den besetzten Ländern. Auf<br />
dem Höhepunkt des »Ausländereinsatzes«,<br />
wie es im Amtsdeutsch hieß, stellten auf<br />
dem Gebiet des Deutschen Reiches etwa<br />
8,3 Millionen ZwangsarbeiterInnen beinahe<br />
jede 3. Arbeitskraft. Wer 1944 mit der S-<br />
Bahn durch <strong>Berlin</strong> fuhr, sah, wie sich der als<br />
französischer Zwangsarbeiter verschleppte<br />
Schriftsteller Francois Cavanna erinnert, vor<br />
allem eins: Barackenlager für das Heer der<br />
weitgehend entrechteten und in eine rassistische<br />
Hierarchie der »Arbeitsvölker« gepressten<br />
Menschen aus allen Teilen Europas.<br />
Der nach Millionen zählende Einsatz Nichtdeutscher<br />
als ZwangsarbeiterInnen war eines<br />
der Verbrechen, das die Deutschen im<br />
»Dritten Reich« gemeinsam und arbeitsteilig<br />
begingen. Allein geschätzte 2,7 Millionen<br />
verschleppte Menschen überlebten ihren<br />
Aufenthalt in Nazideutschland nicht. Völlig<br />
unangemessen ist daher die nun geleistete<br />
»Entschädigung«: für jeden damals verschleppten<br />
Menschen werden jetzt ungefähr<br />
370 Euro fällig. Große Opfergruppen – die<br />
Kriegsgefangenen und die italienischen<br />
Militärinternierten etwa – wurden erst gar<br />
nicht in die Entschädigungszahlungen<br />
einbezogen. Eine billig erkaufter Schlussstrich,<br />
den zudem nur wenige der Opfer<br />
noch erleben durften. Allein die 1939 bis<br />
1945 den ZwangsarbeiterInnen vorenthaltenen<br />
Lohngelder werden auf umgerechnet<br />
über 90 Milliarden Euro geschätzt.<br />
500.000 – Die TäterInnen<br />
Jene Deutschen, die zwischen 1939 und<br />
1945 direkt oder indirekt an der Umsetzung<br />
des »Ausländereinsatzes« beteiligt waren:<br />
als »Lagerführer« oder »Werkschutzange-<br />
11
UNRECHT IN ZAHLEN<br />
höriger«, als Sachbearbeiter im Arbeitsamt<br />
oder bei der Krankenkasse. Der Einsatz der<br />
ZwangsarbeiterInnen war in der Mitte der<br />
deutschen Kriegsgesellschaft verankert. Er<br />
war ein Verbrechen, das nicht »irgendwo<br />
im Osten« stattfand, sondern als »Apartheid<br />
nebenan« (Ulrich Herbert, siehe Lesetip)<br />
den VolksgenossInnen einen Vorgeschmack<br />
auf die Utopie eines siegreichen deutschen<br />
»Rassenstaates« gab. Nichts anderes war<br />
die Realität der Zwangsarbeit: kooperativ<br />
organisierte Ausbeutung und Verelendung<br />
von Millionen ausländischen Menschen inmitten<br />
einer Gesellschaft, die bestenfalls<br />
zusah, im Regelfall aber profitierte und nur<br />
in Ausnahmefällen die Verhaltensmuster der<br />
Mehrheit durchbrach. Der deutsche Blick auf<br />
die ZwangsarbeiterInnen war so normal wie<br />
barbarisch. Zu sprechen ist beispielsweise<br />
von einem Bauernfunktionär, der schon<br />
Anfang 1940 den sächsischen Gauleiter<br />
darum bat, »schärfstens« gegen die gerade<br />
ins Land verschleppten polnischen Kriegsgefangenen<br />
vorzugehen, denen er pauschal<br />
»Arbeitsunwilligkeit« unterstellte. Oder von<br />
einem Sachbearbeiter beim Gauarbeitsamt<br />
<strong>Berlin</strong>, der 1944 erklärte, dass man<br />
den ZwangsarbeiterInnen in einem großen<br />
<strong>Berlin</strong>er Lager auch weiter keine Strohsäcke<br />
und Decken zur Verfügung stellen könne,<br />
da man sonst der Ungezieferplage nicht<br />
Herr werde. Genauso exemplarisch war ein<br />
Reichsbahnbeamter, der 1943 zwei sowjetische<br />
Kriegsgefangene beim Vergraben<br />
eines Gegenstandes an einem Bahndamm<br />
beobachtete, nicht lange fackelte und Meldung<br />
erstattete. Es handelte sich um einen<br />
Keilriemen, der die beiden Gefangenen<br />
ins KZ brachte. Er wusste genauso, was<br />
er tat, wie die Referenten in Ministerien,<br />
Krankenkassen und bei der »Deutschen Arbeitsfront«,<br />
die sich bis zum Kriegsende in<br />
gewichtigen Schriftwechseln darum stritten,<br />
wer die Kosten für arbeitsunfähig gewordene<br />
ZwangsarbeiterInnen zu übernehmen<br />
habe, während diese zu Zehntausenden in<br />
sogenannten »Durchgangslagern« zu Grunde<br />
gingen. Es ging immer um den Grundsatz<br />
der Profitmaximierung. Ihren einzigen<br />
»Wert« für die Deutschen verloren die<br />
ZwangsarbeiterInnen mit ihrer Arbeitskraft.<br />
12 Milliarden Reichsmark. Die Profiteure<br />
Auf diese Summe lassen sich in etwa die<br />
Gewinne schätzen, die allein der deutsche<br />
Staatshaushalt und die deutschen Sozialversicherungen<br />
im Zweiten Weltkrieg aus<br />
dem »Ausländereinsatz« schlugen. Weil<br />
ausländische ZivilarbeiterInnen, auch wenn<br />
sie aus Polen oder der Sowjetunion kamen,<br />
»ordnungsgemäß« Steuern auf ihren Hungerlohn<br />
zu zahlen hatten, nur eben einen<br />
mehr als doppelt so hohen Anteil wie die<br />
deutschen »VolksgenossInnen«. Weil den<br />
zivilen ZwangsarbeiterInnen ebenfalls Beiträge<br />
zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung<br />
abgezogen wurden, auch<br />
wenn sie nie einen Pfennig an Leistungen<br />
erhielten. Die Hauptprofiteure des »Ausländereinsatzes«<br />
saßen zweifellos in den<br />
Unternehmen, die von der Zwangsarbeit<br />
profitierten. Aber die Profiteure saßen eben<br />
12
UNRECHT IN ZAHLEN<br />
auch in jeder deutschen Wohnstube. Die<br />
deutschen RentnerInnen konnten sich mitten<br />
im Krieg über satte Rentenerhöhungen<br />
freuen. Und Steuererhöhungen für die deutschen<br />
Arbeiterschaft konnte die NS-Führung<br />
getrost bis zum Kriegsende zurückweisen,<br />
solange andere die Rechnung zahlten.<br />
Erzwungenes Unrecht – deutsche<br />
Normalzustände<br />
Wer also die Frage stellt, ob die geleisteten<br />
Zahlungen tatsächlich eine angemessene<br />
Entschädigung darstellen, muss schnell feststellen,<br />
dass sie kaum mehr als ein Tropfen<br />
auf den heißen Stein sind. Selbst dieser war<br />
nur unter massivem Druck auf die Umsatzund<br />
Profitinteressen der auf Export orientierten<br />
Konzerne möglich, die Kampagnen<br />
und Imageverluste fürchteten. Sie gründeten<br />
den Stiftungsfonds, finanzierten ihn an und<br />
erzwangen gemeinsam mit der rot-grünen<br />
Regierung einen vorläufigen »Rechtsfrieden«<br />
gegen etwaige individuell vorgebrachte<br />
Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter.<br />
Mit Atem beraubendem Zynismus<br />
wurden die Zahlungen wochen-, monate- und<br />
jahrelang hinausgezögert, während die Anspruchsberechtigten<br />
täglich weniger wurden.<br />
Mit Ausdauer wurde in den Verhandlungen<br />
jede Zusage mit einer wüsten Erpressung an<br />
die Opfer, ihre Verbände und Anwälte verbunden.<br />
Das alles geschah in einer Gesellschaft,<br />
die jenseits der Feuilletonspalten ihr<br />
Desinteresse kaum verbergen konnte. Dass<br />
Unrecht nicht in Zahlen aufzurechnen sei<br />
und nun endlich Ruhe einkehren solle, war<br />
da noch die harmlosere Variante der Ignoranz.<br />
Ein »Schlussstrich« sollte her, nicht nur<br />
für die deutsche Wirtschaft. Denn den nie<br />
zurückgezahlten Profiten, die eine ganze<br />
Gesellschaft aus der Zwangsarbeit schlug,<br />
entsprachen die stillschweigend integrierten<br />
reaktionären, xenophoben und antikommunistischen<br />
Kontinuitäten, die aus dem »Dritten<br />
Reich« in die deutschen Normalzustände der<br />
Nachkriegszeit mündeten. Die Weigerung<br />
einer Gesellschaft, sich an die verbrecherische<br />
Normalität des Nationalsozialismus zu<br />
erinnern, zu dem auch der »Ausländereinsatzes«<br />
gehört, war eine Voraussetzung für<br />
die umstandslose Reproduktion des gesellschaftlich<br />
verankerten Rassismus in der BRD.<br />
Aus dem selben Grund ist 60 Jahre nach<br />
Kriegsende immer noch keine angemessene<br />
Entschädigung für die millionenfache<br />
Zwangsarbeit geleistet worden. Das inszenierte<br />
Gedenken an die nationalsozialistischen<br />
Verbrechen bleibt aber eine leere<br />
Geste, solange die Qualität der verübten<br />
Verbrechen ignoriert wird, solange die Verantwortlichen<br />
nicht in ihrer Gänze benannt<br />
und nach Möglichkeit zur Verantwortung gezogen<br />
werden, und solange das Leiden der<br />
Überlebenden und ihr Anspruch auf Entschädigung<br />
nicht angemessen gewürdigt wird.<br />
<strong>Antifaschistische</strong> <strong>Linke</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Lesetip:<br />
Ulrich Herbert, Fremdarbeiter: Politik und Praxis<br />
des »Ausländereinsatzes« in der Kriegswirtschaft<br />
des »Dritten Reiches«, Bonn 2001.<br />
Internet: www.ns-opfer-entschaedigen.de<br />
13
UNRECHT IN ZAHLEN<br />
Vom Mythos des Wirtschaftswunders in West-Deutschland nach 1945 oder:<br />
Wo ist eigentlich das Nazigeld geblieben?<br />
Der Mythos:<br />
Nach Kriegsende versammelten sich die reuigen Deutschen in den Ruinen, um<br />
innerhalb kürzester Zeit eine fl orierende Wirtschaft neu aufzubauen.Trümmerfrauen<br />
zeigten was in ihnen steckt – aus Steinen und Schutt wurde die spätere Bundesrepublik<br />
aufgebaut. Von Null angefangen, mit Disziplin, Entsagung und Fleiß – merkwürdig<br />
bekannt klingende Tugenden.<br />
In zahlreichen Schilderungen von Firmengeschichten, z.B. aus der Automobilindustrie,<br />
wird der Aufbau aus eigener Kraft ebenso beschrieben. Mercedes umschreibt<br />
1945 mit: »Aufbau: Nach einer vierwöchigen (!) Stilllegung des Werkes und einer<br />
Besetzung durch die Franzosen beginnen 1.240 Mitarbeiter im Mai mit dem Wiederaufbau.«<br />
Doch wo kam das Geld her, wo steckten die Gewinne aus der nationalsozialistischen<br />
Vernichtungsmaschinerie, wo steckte der Profit aus Arisierung und Zwangsarbeit?<br />
Im Fall Mercedes wurden die Wege der Nazigelder recherchiert. »Nazigeld wurde<br />
gewaschen über den Umweg Zürich und Buenos Aires. Mit fingierten Zahlungen,<br />
geschmuggeltem Bargeld. (...) Ein ausführendes Unternehmen war: Daimler-Benz<br />
Untertürkheim.« (Gaby Weber, siehe Lesetipp). Nicht nur das Geld wurde über Buenos<br />
Aires transferiert und fl oss zurück in die Werke in Deutschland, auch führende<br />
Nazis und Kriegsverbrecher selbst konnten über die Kontakte nach Lateinamerika<br />
geschleust werden. In den dortigen Werken wurden sie als »Experten« eingestellt.<br />
Der Mythos vom eigenen Aufbau beinhaltet die Demonstration der späten Überlegenheit<br />
der »fl eißigen Deutschen«. Doch das vermeintliche »Wirtschaftswunder«<br />
fand nicht trotz, sondern wegen der Profite aus dem Nationalsozialismus statt.<br />
Lesetipp:<br />
Gaby Weber: Daimler-Benz und die Argentinien- Connection. Von Rattenlinien und Nazigeldern,<br />
erschienen Oktober 2004 bei Assoziation A.<br />
14
INTERVIEW<br />
INTERVIEW<br />
Die Schwierigkeiten antifaschistischer<br />
Gedenkpolitik nach 1989/90<br />
? Guten Tag.Vielleicht stellt Du Dich unseren<br />
LeserInnen zunächst kurz vor.<br />
! Ich bin in der Gruppe »Freundinnen des<br />
Sachsenhausenkomitees« aktiv. Seit mehreren<br />
Jahren versuchen wir, die Arbeit des Sachsenhausenkomitees,<br />
d.h. der Organisation<br />
der deutschen Häftlinge des KZ Sachsenhausen,<br />
zu unterstützen. Die Antworten in diesem<br />
Interview geben meine Meinung wieder,<br />
sind kein abgestimmter Gruppenstandpunkt.<br />
? Es ist sehr offensichtlich, dass gerade die<br />
ostdeutschen Gedenkstätten sowohl in ihrer<br />
Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit als<br />
auch in ihren Aufgaben und Zielstellungen<br />
seit der deutsch-deutschen Vereinigung<br />
1990 einen rapiden Wandel erlebt haben.<br />
Dieser hat alle Bereiche ihrer Tätigkeiten erfasst,<br />
so dass insgesamt oft von einem »Paradigmenwechsel«<br />
gesprochen wird. Wodurch<br />
zeichnet sich dieser aus und welche<br />
spezifischen Veränderungen konnten seit<br />
dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung<br />
beobachtet werden?<br />
! Die Gedenkstätten in der DDR hat ein besonderes<br />
Faktum ausgezeichnet: sie wurden<br />
von Angehörigen einer Opfergruppe errichtet,<br />
die auf dem Gebiet der DDR nach 1945<br />
von der Roten Armee die Macht übernahm,<br />
den Kommunisten. Die Gedenkstätten hatten<br />
die Funktion, die Bevölkerung durch Aufklärung<br />
über die nationalsozialistischen Verbrechen<br />
zu erziehen und die Machthabenden<br />
zu legitimieren. Theoretische Grundlage<br />
war dabei die Faschismusanalyse, die wir<br />
heute mit dem Namen Dimitroff verbinden.<br />
Alle Unzulänglichkeiten der DDR-Gedenkstätten,<br />
die wir heute kritikwürdig finden,<br />
waren Resultate dieser Voraussetzungen.<br />
Aber bei allen Unzulänglichkeiten darf nicht<br />
vergessen werden: die Gedenkstätten sind<br />
von Überlebenden der KZ mit Unterstützung<br />
eines Staates, den sie als den ihren betrachteten,<br />
eingerichtet worden und das verglichen<br />
mit Westdeutschland sehr früh. Viele<br />
Überlebende, auch aus dem Ausland, sehen<br />
diese Gedenkstätten als »ihre« an. Nach<br />
1990 hat in den Gedenkstätten ein Bildersturm<br />
und Personalaustausch stattgefunden.<br />
Die Delegitimierung der DDR sah ein sehr<br />
großer Teil des neuen Leitungspersonals als<br />
seine erste Aufgabe an. Dies schlug sich in<br />
erster Linie in der veränderten Darstellung<br />
des kommunistischen Widerstandes nieder.<br />
Der Wechsel zu Rot-Grün hat sich m.E. nicht<br />
als Zäsur in den Gedenkstätten bemerkbar<br />
gemacht. Eher sind die Auswirkungen des<br />
veränderten gesamtgesellschaftlichen Geschichts-<br />
und Gedenkdiskurses zu beobachten.<br />
Dass ein deutscher Bundeskanzler auf<br />
einer zentralen Gedenkveranstaltung für<br />
die Befreiung der KZ in Buchenwald spricht<br />
und Joseph Fischer, der den Angriffskrieg<br />
gegen Jugoslawien mit den »Lehren aus<br />
Auschwitz« rechtfertigte, auf der Gedenk-<br />
15
INTERVIEW<br />
veranstaltung in Sachsenhausen ebenfalls<br />
spricht, ist Markstein einer Entwicklung, die<br />
außerhalb der Gedenkstätten passiert ist.<br />
? Insbesondere Vertreter von Opferverbänden<br />
protestieren gegen die gestalterischen<br />
und inhaltlichen Veränderungen und mahnen<br />
die Erhaltung des »antifaschistischen<br />
Charakters« der Gedenkstätten an. Diesen<br />
sehen sie vor allem durch eine Neubewertung<br />
der Rolle von KommunistInnen in den<br />
Konzentrationslagern sowie durch eine politisch<br />
forcierte Gleichbehandlung der NS-<br />
Opfer mit den Opfern der stalinistischen<br />
Diktatur in Verfolgung der Antitotalitarismustheorie<br />
bedroht. Befürchtet Ihr durch den<br />
Veränderungsprozess in der Gedenkstättenpolitik<br />
womöglich eine Relativierung der nationalsozialistischen<br />
Verbrechen?<br />
! Das hängt von der konkreten Situation<br />
in den jeweiligen Gedenkstätten ab. Das<br />
Schlagwort von der »Relativierung der nationalsozialistischen<br />
Verbrechen« greift mir<br />
viel zu kurz bei der Beschreibung dessen,<br />
was passiert. In Sachsen z.B., wo das Gedenkstättengesetz<br />
»die Opfer beider Diktaturen«<br />
gleichsetzt, sieht die Praxis so aus,<br />
dass die »Opfer« der sowjetischen Repressionsorgane<br />
und der DDR, d.h. in überwiegender<br />
Anzahl Nazis, staatlicherseits und<br />
durch private Initiativen geehrt werden,<br />
während der Umgang mit den Überlebenden<br />
Opfern des Nationalsozialismus und<br />
WiderstandskämpferInnen oft schlichtweg<br />
demütigend ist. Hier findet sich dann auch<br />
oft eine plumpe Gleichsetzung von der DDR<br />
mit dem 3. Reich oder gar eine Verharmlosung<br />
von NS-Verbrechen. In Brandenburg<br />
hingegen wird zwar auch der »Opfer der<br />
Speziallager« (vom NKWD aufgrund internationaler<br />
Vereinbarungen zwischen den<br />
Alliierten eingerichtete Internierungslager<br />
für zivile Funktionsträger des 3. Reiches oder<br />
potentielle Feinde der Besatzungsmacht, oft<br />
an Orten ehemaliger KZ, so z.B. in Sachsenhausen)<br />
gedacht, aber es hat nicht diese<br />
Priorität. Hier findet eher die rot-grüne<br />
Nutzbarmachung der deutschen Vergangenheit<br />
für die Zukunft statt, die Integration<br />
der NS-Verbrechen in die deutsche Identität.<br />
? Die Diskussion über die Zukunft des Gedenkens<br />
und damit auch die Zukunft von<br />
Gedenkstätten wurde selten so lebhaft geführt<br />
wie heute, auch die Resonanz in der<br />
Öffentlichkeit ist ungewöhnlich breit. Worauf<br />
führt Ihr dieses Interesse zurück?<br />
! Einmal häufen sich gerade die 60. Jahrestage,<br />
dann gibt es mit dem Holocaustmahnmal<br />
und den Auseinandersetzungen um die<br />
Topographie des Terrors und das Mahnmal<br />
für die Sinti und Roma in <strong>Berlin</strong> genug mediale<br />
Anknüpfungspunkte. Zum anderen setzen<br />
sich mittlerweile die Nachfahren der Täter<br />
darüber auseinander, wie und wem hierzulande<br />
künftig gedacht werden soll. Das Beschweigen<br />
des NS, dass noch die Hauptverteidigungsstrategie<br />
der Tätergeneration war,<br />
hat ein Ende. Das Bekenntnis zur deutschen<br />
Verantwortung für den Holocaust und den<br />
16
INTERVIEW<br />
NS-Terror ist zum festen Bestandteil der staatlich<br />
geprägten Erinnerungskultur geworden.<br />
? Die NS-Herrschaft beruhte nicht nur auf<br />
dem Terror der SA, SS und Gestapo. Da die<br />
Deutschen an der nationalsozialistischen<br />
Macht partizipierten und sie im Alltag der<br />
Volksgemeinschaft durch Ausgrenzungsprozesse<br />
von Jüdinnen und Juden, Sinti und<br />
Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten,<br />
Homosexuelle, sogenannte Asoziale und<br />
andere Opfergruppen aktiv mitgestalteten,<br />
müsste vor allem in Gedenkstätten nach den<br />
vielschichtigen Motiven des »Mitmachens«<br />
im Nationalsozialismus gefragt werden.<br />
Seht ihr dabei bisher die Rolle der deutschen<br />
Bevölkerung ausreichend berücksichtigt?<br />
! Die Beteiligung der deutschen Bevölkerung<br />
wird in Gedenkstätten thematisiert. In<br />
Sachsenhausen z.B. gab es eine Ausstellung<br />
zum Verhältnis der Stadt Oranienburg zum<br />
KZ. Das ist noch ausbaufähig. Andererseits<br />
wird heute – im Gegensatz zur DDR-Zeit –<br />
kein Schwerpunkt mehr auf die Ausbeutung<br />
von KZ-Häftlingen durch z.T. heute<br />
noch bestehende Unternehmen gelegt.<br />
? In welchem Verhältnis stehen Eurer Meinung<br />
nach das Gedenken in Gedenkstätten<br />
mit dem öffentlichen Gedenken, wie z.B. am<br />
13. Februar in Dresden oder auch am <strong>8.</strong><br />
Mai in <strong>Berlin</strong>?<br />
! Das von Euch angesprochene öffentliche<br />
Gedenken macht sich an Jahrestagen fest,<br />
d.h. es gibt – z.B. in Dresden – einmal jährlich<br />
einen ausgeprägten Gedenkrummel.<br />
Und aktuell stehen dabei meist die Leiden der<br />
Deutschen, d.h. der Täter im Mittelpunkt. In<br />
den Gedenkstätten findet die tägliche »Gedenkarbeit«<br />
statt, trotz aller Kritik an der Arbeit<br />
der Gedenkstätten ist es ein Gedenken<br />
an die Opfer des NS. Das Geschehen in den<br />
Gedenkstätten wird m.E. eher von den Diskursen<br />
außerhalb der Gedenkstätten beeinfl<br />
usst, als dass aus den Gedenkstätten heraus<br />
das öffentliche Gedenken beeinfl usst wird.<br />
? Welche Rolle sollten Geschichtsarbeit sowie<br />
Gedenkstättenarbeit zur Vermittlung<br />
eines aktiv anzuwendenden Geschichtsbewusstseins<br />
Eures Erachtens nach eigentlich<br />
spielen? Welche Voraussetzungen müssten<br />
dafür erfüllt werden?<br />
! Darüber diskutieren wir noch. Unter anderem<br />
auf der von der Lagergemeinschaft<br />
Ravensbrück/Freundeskreis e.V. und den<br />
Freundinnen des Sachsenhausenkomitees<br />
organisierten vom 17.06. – 19.06.2005<br />
in Potsdam stattfindenden Tagung »Perspektiven<br />
antifaschistischer Gedenkarbeit«.<br />
Wir laden zu dieser Tagung alle Gruppen<br />
und Personen ein, die im Sinne der Überlebenden<br />
der KZ Erinnerungspolitik gestalten,<br />
sich zukünftig für ihre politischen<br />
Forderungen einsetzen, sowie die Veränderungen<br />
in der politischen Ausrichtung der<br />
Gedenkstätten kritisch refl ektieren wollen.<br />
Informationen gibt es unter www.ravensbrueckblaetter.de/aktuelles.html<br />
17
DAS MASSAKER VON DISTOMO<br />
DAS MASSAKER VON DISTOMO<br />
1000 Jahre keine Entschädigung?<br />
Am 10. Juni 2005 werden die Bewohner<br />
von Distomo zum 61. Mal der 218 Menschen<br />
gedenken, die dort 1944 von einer<br />
SS-Einheit ermordetet wurden. Die Bundesregierung<br />
verweigert auch 5 Jahre nach der<br />
rechtskräftigen Verurteilung Deutschlands<br />
durch den obersten griechischen Gerichtshof<br />
die Zahlung der Entschädigung an Überlebende<br />
und Hinterbliebene des Massakers.<br />
Am 10. Juni 1944 verübten Angehörige der<br />
4. SS-Polizei-Division eines der grausamsten<br />
Massaker der deutschen Besatzungszeit<br />
in Griechenland, in der Ortschaft Distomo,<br />
nordwestlich von Athen in der Nähe von<br />
Delphi gelegen. Die SS-Einheit durchsuchte<br />
die dortige Gebirgsregion nach Partisanen,<br />
als eine Kolonne in der Nähe von<br />
Distomo von Partisanen angegriffen wurde.<br />
Daraufhin zogen sich die SS-Soldaten<br />
nach Distomo zurück und ermordeten<br />
dort zunächst 12 als Geiseln mitgeführte<br />
Gefangene. Danach übten sie Rache<br />
an der Bevölkerung des Ortes. Das Dorf<br />
wurde umzingelt, abgeriegelt und durchsucht.<br />
Wer nicht in die Berge gefl ohen<br />
war, wurde getötet. Insgesamt 218 Menschen,<br />
darunter Kinder, Frauen, Alte, sogar<br />
Säuglinge wurden von den Deutschen<br />
auf bestialische Weise ermordet. Das Dorf<br />
wurde niedergebrannt, das Vieh getötet,<br />
Lebensmittel wurden geraubt oder zerstört.<br />
Massaker wie in Distomo wurden systematisch<br />
verübt. Deutsche Truppen der SS<br />
und der Wehrmacht begingen während<br />
des Zweiten Weltkriegs ungezählte Verbrechen.Die<br />
Kriegsführung der Deutschen –<br />
vor allem in Ost- und Südosteuropa sowie<br />
gegen die Sowjetunion – kannte keine<br />
Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung.<br />
Die Vernichtung jüdischer und anderer als<br />
»rassisch minderwertig« ausgemachter<br />
Menschen war vielmehr integraler Bestandteil<br />
der Kriegführung. Aber auch in<br />
den westeuropäischen Ländern wurden<br />
anfängliche Beschränkungen aufgehoben,<br />
je erfolgreicher sich dort Widerstand gegen<br />
die Besatzer formierte und je näher<br />
die Niederlage Nazi-Deutschlands rückte.<br />
Die Massaker von Distomo und Kalavryta in<br />
Griechenland, von Lidice in Tschechien, Oradour-sur-Glance<br />
in Frankreich, Sant’ Anna<br />
di Stazzema in Italien stehen stellvertretend<br />
für die Grausamkeit der deutschen Besatzer.<br />
Doch der millionenfache Mord hatte nach<br />
der Zerschlagung der nationalsozialistischen<br />
Herrschaft für das Nachkriegdeutschland<br />
kaum Konsequenzen. Nur wenige<br />
Täter wurden verfolgt, die Opfer der Massaker<br />
von SS und Wehrmacht blieben bis<br />
heute weitgehend ohne Entschädigung. Die<br />
Verantwortlichen für das Verbrechen von<br />
Distomo wurden nie zur Rechenschaft gezogen.<br />
Sämtliche Forderungen gegenüber der<br />
deutschen Regierung nach Anerkennung der<br />
18
DAS MASSAKER VON DISTOMO<br />
Distomo am 10. Juni 1944.<br />
Verbrechen und angemessenen<br />
Entschädigungsleistungen,<br />
die vornehmlich seit der deutschen<br />
Wiedervereinigung<br />
erhoben wurden, werden<br />
von der Bundesregierung<br />
kategorisch zurück gewiesen.<br />
Diese Weigerung, auch nur in<br />
Verhandlungen einzutreten,<br />
führte zu einer Welle von Klagen<br />
gegen die Bundesrepublik<br />
Deutschland, vor allem vor<br />
griechischen Gerichten. Im<br />
Fall Distomo gelang dabei ein spektakulärer<br />
Erfolg. Deutschland wurde im April 2000<br />
vom obersten griechischen Gerichtshof, dem<br />
Areopag, rechtskräftig zur Zahlung von ca.<br />
28 Mio. Euro verurteilt, dennoch hat <strong>Berlin</strong><br />
bis heute keinen Cent gezahlt. Mit politischdiplomatischem<br />
Druck wurde die griechische<br />
Regierung erfolgreich genötigt, die<br />
Vollstreckung gegen Deutschland aus dem<br />
Distomo-Urteil zu unterbinden.<br />
In einem Parallelverfahren in der Bundesrepublik<br />
entschied der Bundesgerichtshof<br />
im Juni 2003 – unter Verweis auf die<br />
Rechtslage des Jahres 1944 (!) –, dass<br />
es keinen individuellen Anspruch auf Entschädigung<br />
gebe. Gegen dieses Urteil<br />
wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen.<br />
Wie die juristische Auseinandersetzung<br />
letztlich wohl vor europäischen<br />
Gerichten enden wird, ist derzeit offen.<br />
Von der gegenwärtigen Bundesregierung<br />
wird zwar öffentlich »Trauer und Scham«<br />
bekundet, wie es auch Ex-Bundespräsident<br />
Rau in Kalavryta im Jahr 2000 vormachte.<br />
An der Haltung zur Entschädigungsfrage<br />
hat sich aber nichts geändert. Der<br />
deutsche Botschafter in Athen, Albert Spiegel,<br />
mußte daher am Abend vor dem 60.<br />
Jahrestag in Distomo vor Pappschilder und<br />
unseren Transparenten sprechen: Für die<br />
sofortige Entschädigung griechischer NS-<br />
Opfer!<br />
AK Distomo, Hamburg<br />
Kontakt: ak-distomo@zeromail.org<br />
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/<br />
ak-distomo/<br />
19
HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN.<br />
HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN.<br />
Die »Flick Collection« wird geschlossen<br />
<strong>Berlin</strong> hat jetzt eine staatlich sanktionierte<br />
erste Adresse für zeitgenössische Kunst, die<br />
in verschiedener Hinsicht monumental zu<br />
nennen ist. Die »Friedrich Christian Flick Collection«<br />
ist ein temporäres Denkmal für den<br />
Flickreichtum, ein ausgestellter Konsumakt<br />
postavantgardistischer Kunst, der sich aus<br />
Geld speist, das mit der Kriegs- und Vernichtungsmaschine<br />
der Nazis erworben wurde.<br />
1944 arbeiteten bei Flick fast 50.000<br />
Zwangsarbeiter/innen, Kriegsgefangene<br />
und KZ-Häftlinge. Der Enkel handelt im<br />
Sinne des Großvaters, wenn er sich weigert,<br />
die Überlebenden zu entschädigen.<br />
Es geht weder darum, dass Flick keine<br />
Kunst sammeln oder zeigen dürfe, noch<br />
darum, die Frage der NS- und Arisierungsgewinne<br />
allein an seiner Person zu<br />
verhandeln. Es geht um das Normalisierungsregime<br />
der Neuen Mitte, für das die<br />
»Friedrich Christian Flick Collection« als ein<br />
zentrales und aktuelles Symptom einsteht.<br />
20<br />
Das heißt, es geht um eine spezifische politische<br />
Anordnung. Der Enkel eines der<br />
größten Nazi-Industriellen hat sich nicht<br />
an den Entschädigungszahlungen beteiligt,<br />
die ohnehin weit unter den Gewinnmargen<br />
der Nazis liegen und – auch das sollte man<br />
nicht vergessen, wenn man über die Stiftungsinitiative<br />
der Industrie spricht – aus<br />
rein ökonomischem Kalkül aufgrund der in<br />
den USA anhängigen Sammelklagen geleistet<br />
wurden. Flick aber hat gar nicht an die<br />
Überlebenden gezahlt, nicht als er in den<br />
70er Jahren an der Konzernspitze des familiären<br />
Unternehmens stand, und auch heute<br />
nicht. Nach Herrenart behält er sich selber<br />
vor, wie er entschädigt; und so hat er eine<br />
gegen Rassismus gerichtete Stiftung gegründet.<br />
Dieser Enkel hat eine Kunstsammlung.<br />
Es ist eine der größten privaten Sammlungen<br />
zeitgenössischer Kunst dieser Art. Auch<br />
das ist Teil der Anordnung, der geile Kick<br />
der Überdimensionalität, der zur Logik des<br />
neuen Hauptstadtkulturspektakels gehört.<br />
Ganz vorne dran sein, Rot-Rot, Rot-Grün,<br />
sie wollen weg vom Kreissparkassenimage<br />
ihrer Kulturpolitik und eine gewisse Radikalität<br />
des Neuen und Unkonventionellen<br />
mitrepräsentieren. Das gibt dem Normalisierungseffekt,<br />
jenem Willen, es egal sein<br />
zu lassen, ob Flick Entschädigung an die<br />
Überlebenden von Zwangsarbeit und Holocaust<br />
zahlt oder nicht, einen spezifischen<br />
Schub. Schließlich schenkt dieser Enkel der<br />
Sammlung seinen Namen. Die Stadt gibt<br />
ihm für sieben Jahre ein staatliches Museum<br />
und einen kulturpolitischen Siegerkranz. Der<br />
Bundeskanzler kommt zur Eröffnung. Diese<br />
Anordnung soll geschlossen werden. Und<br />
dazu gehört auch die Ausstellung selber.<br />
1997 schrieb Friedrich Christian Flick an<br />
seinen Onkel, er plane, »mit einem Kunstmuseum<br />
den Namen der Familie auf eine<br />
dauerhaft positive Ebene zu stellen«. Um<br />
die Struktur dieses Themenwechsels geht es:
HIER UND JETZT ZUFRIEDEN SEIN.<br />
von der Erinnerung an Vernichtung durch<br />
Arbeit im Nationalsozialismus zur Rezeption<br />
zeitgenössischer Kunst im Hamburger<br />
Bahnhof. Von kulturpolitischer Seite wurde<br />
dieser Themenwechsel affirmiert, den<br />
Flick so gelungen mit dem Projekt »Mein<br />
Name soll schöner werden« verbindet.<br />
2001, 2002 scheiterte in Zürich Flicks Ausstellungsprojekt<br />
am Protest von Theaterleuten.<br />
Danach sagte Flick auch seine Probeschau<br />
in München ab, die, interessant platziert, im<br />
Haus der Kunst stattfinden sollte, das 1933<br />
von Hitlers Architekten Paul Ludwig Troost<br />
entworfen worden ist und in dem bis 1944<br />
jährlich die so genannten »Großen deutschen<br />
Kunstausstellungen« stattfanden. Vitali,<br />
der damalige Leiter des Hauses der Kunst,<br />
sagte, die Sammlung zu zeigen, sei eine<br />
sinnvolle Entscheidung, um die Art zu tilgen,<br />
wie das Vermögen zustande gekommen ist.<br />
Echo Kulturstaatsministerin Weiss: Die Ausstellung<br />
schließe einen Teil der Wunden,<br />
die die Nazi-Zeit in <strong>Berlin</strong> gerissen hätte.<br />
So wird der Kunst Substanz und Wesen zugesprochen,<br />
eine aus sich selbst schöpfende<br />
Kraft, die Wunden schließt und das Publikum<br />
ergreift. Aber keine Kunst ist an sich gut oder<br />
schlecht. Jede Arbeit ist die Summe ihrer Teile.<br />
Dazu zählen auch die Entstehungsbedingungen.<br />
Das absurde Heilungsversprechen<br />
von Christina Weiss zeigt einen Zirkelschluss<br />
an. Die Nazis nahmen den Deutschen die<br />
fortschrittliche Kunst, einer der Enkel aber<br />
gibt mit seinem ererbten Geld ein Stück davon<br />
wieder zurück. So versöhnen die Deutschen<br />
sich mit sich selbst. Die Opfer sind<br />
draußen. Als List der Geschichte fasst eine<br />
Arbeit in der Sammlung diese Selbstversöhnung<br />
zusammen: »Hier und jetzt zufrieden<br />
sein«. Der Titel von Wolfgang Tillmans und<br />
Isa Genzkens Bildinstallation von der Anwesenheit<br />
des gerade vergangenen Glücks<br />
noch im leeren Raum der Afterhour, ist ungewollt<br />
Programm: Postavantgarde und ein<br />
staatlich unterstützter Normalisierungsanspruch<br />
gehen eine unheimliche Synthese ein.<br />
Erst im letzten Moment geriet die <strong>Berlin</strong>er<br />
»Flick Collection« durch die Intervention<br />
von Salomon Korn und Michael Fürst, Mitgliedern<br />
der Jüdischen Gemeinde, stärker<br />
in die Kritik. Im Juni diesen Jahres drängte<br />
Staatsministerin Weiss die Stiftung mit dem<br />
seltsamen Namen Preußischer Kulturbesitz,<br />
weich und professionell auf die Problemlage<br />
zu reagieren. Sie forderte zu Publikationen<br />
oder Begleitveranstaltungen auf. Das ist ein<br />
weiteres Spezifikum. Das sozialdemokratische<br />
Normalisierungsprojekt folgt nicht der<br />
Logik von Bitburg, wo Kohl mit Reagan in<br />
der Nähe von SS-Gräbern sich zum Handschlag<br />
traf. Mit Distanz zum Wertekonservatismus,<br />
mit Distanz zum sekundären Antisemitismus<br />
von Walser oder Syberberg, mit<br />
einer an den letzten Erfahrungsresten von<br />
1968 geschulten Diskursfreudigkeit wird<br />
eine »Ja, aber«-Struktur in Gang gesetzt:<br />
Ja, der Nationalsozialismus war unerträglich,<br />
aber das soll uns von nichts mehr abhalten<br />
und auch zu nichts mehr motivieren.<br />
Gegen dieses Normalisierungsregime der<br />
neuen Mitte richtet sich die Arbeit der Flickconnection.<br />
Katja Diefenbach<br />
siehe: www.fl ickconnection.de<br />
21
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
MUSIKQUOTE UND<br />
NORMALISIERUNGSREGIME<br />
Deutschland im Herbst 2004: Eine Gruppe<br />
Musiker fordert anlässlich der PopKomm die<br />
Einführung einer Radio-Quote. Die großen<br />
deutschen Medien stellen sich der Initiative,<br />
die sich wie ein who is who heimischer<br />
Chart-Musik liest und auf der u.a. Udo Lindenberg,<br />
Inga Humpe (2raumwohnung),<br />
Emanuel Fialik (Rammstein), Jan Eissfeldt<br />
(Beginner) und Max Herre (Freundeskreis)<br />
zu finden sind, bereitwillig als Resonanzkörper<br />
zur Verfügung. Wenige Wochen später<br />
beschließt der Bundestag mit den Stimmen<br />
der rot-grünen Mehrheit eine Selbstverpfl<br />
ichtungs-Aufforderung an die privaten<br />
und öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme.<br />
Eine Quote von 35 Prozent deutscher<br />
Musikproduktion, so der Beschluss,<br />
solle von den Sendern gespielt werden.<br />
Es ist ein interessantes Detail, dass sich ausgerechnet<br />
Bundestagspräsidentin Antje Vollmer<br />
besonders für die Quote einsetzt. In einem<br />
Interview mit der Süddeutschen Zeitung<br />
erklärt sie: »Ich bin viel im Auto unterwegs<br />
und kann das Radio nicht mehr ertragen -<br />
immer die gleichen Lieder von den gleichen<br />
paar weltweit erfolgreichen Bands.« Es stellt<br />
sich in diesem Zusammenhang natürlich sofort<br />
die Frage, warum eine Deutschquote etwas<br />
an der mangelhaften Qualität des Radios<br />
ändern sollte. Wenn der Hinweis mit dem<br />
Niveau irgendwie ernst gemeint wäre, dürfte<br />
man keine Quote für deutsche Produktionen,<br />
sondern einen Mindestanteil konzeptioneller,<br />
nicht sofort eingängiger Musik fordern.<br />
Doch darum geht es eben genau nicht.<br />
Und auch nicht um die Förderung kleiner,<br />
lokaler Musikproduktionen, wie manche<br />
Musiker und Laber-Macher behaupten und<br />
vielleicht sogar glauben. Stattdessen sprach<br />
die Antragstellerin im Bundestag, die Abgeordnete<br />
Griefahn (SPD), ebenso wie die<br />
den Aufruf unterzeichnenden Musiker von<br />
einem Mindestanteil »deutschsprachiger<br />
bzw. in Deutschland produzierter Musik im<br />
Programm«. Ein eigentümliches Anliegen:<br />
warum das Deutsche, das auf über 100 Millionen<br />
MuttersprachlerInnen zählen kann,<br />
Reservatschutz benötigt, können letztlich<br />
wohl nur diejenigen verstehen, die immer<br />
schon von der Angst umgetrieben wurden,<br />
Deutschland könnte zu kurz zu kommen.<br />
Geht es hingegen schlicht um den Produktionsstandort<br />
Deutschland, wie der zweite Teil<br />
der Forderung nahe legt, dann handelt es<br />
sich bei der Quoteninitiative einfach um eine<br />
protektionistische Maßnahme, die ziemlich<br />
muffig nach »Deutsche kauft deutsch.«<br />
klingt. Im Fall der Musik zieht noch nicht<br />
einmal das ökologische Argument. Anders<br />
als Butter oder Äpfel verursachen Songs<br />
22
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
Collection der Modemacherin Eva Gronbach.<br />
keine unnötigen Transportkosten, wenn sie<br />
weit entfernt hergestellt werden. Was also<br />
wäre der einzige echte Unterschied zwischen<br />
einer Kelleraufnahme in <strong>Berlin</strong> und einer<br />
in Los Angeles oder Budapest? Genau:<br />
Dass im ersten Fall deutsche Arbeitsplätze<br />
geschützt und deutsche Betriebe gestärkt<br />
würden. Doch obwohl alle Beteiligten wissen,<br />
dass sich Pop über Szenen und nicht<br />
über Nationalität unterscheidet, wird die<br />
nationale Produktion ständig als Schutz<br />
kultureller Identität und Vielfalt imaginiert.<br />
Normalisierungsregime<br />
Die eigentliche Absicht des Unterfangens –<br />
die Steigerung von Marktanteilen – ist so<br />
offensichtlich, dass einem die ganze Trashigkeit<br />
der Pop-Welt noch einmal vor Augen<br />
geführt wird. Was die Angelegenheit<br />
allerdings weniger spaßig macht, ist die<br />
Tatsache, dass mit dieser Trashigkeit eine<br />
politische Positionierung einhergeht. Das<br />
Quoten-Projekt steht nicht isoliert da, es<br />
befindet sich im Kontext eines auf den verschiedensten<br />
Ebenen ablaufenden gesell-<br />
23
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
schaftlichen Modernisierungs- und Normalisierungsprozesses.<br />
Standortlogik bestimmt<br />
zusehends das politische Denken, die deutsche<br />
Geschichte wird – wie die Walser-Debatte<br />
ebenso wie die staatliche Präsentation<br />
der Flick-Collection gezeigt hat – uminterpretiert,<br />
außenpolitisch drängt Deutschland<br />
auf die Bühne der Weltordnungsmächte<br />
zurück, und nach innen wird der neoliberale<br />
Umbau des Sozialstaats forciert.<br />
Dieser Prozess, bei dem sich immer wieder<br />
des Motivs ›Deutschland‹ vergewissert wird,<br />
ist bemerkenswerter Weise vor allem seit<br />
der rotgrünen Regierungsübernahme vorangebracht<br />
worden und zeichnet sich durch<br />
ein produktives Zusammenwirken von Popkultur<br />
und Politik aus. Offensichtlich identifizieren<br />
sich wachsende Teile der Popkultur<br />
in Deutschland mit Logik und Zielen der politischen<br />
Eliten. So schieben sich die Dinge<br />
auf eigentümliche Weise zusammen. Sönke<br />
Wortmann dreht einen Blockbuster namens<br />
»Das Wunder von Bern«, der gleichzeitig<br />
unterhalten und die Geschichtserzählung<br />
der vermeintlichen deutschen Wiedergeburt<br />
1954 ins kollektive Bewusstsein der<br />
Bevölkerung schweißen will. Der Film, der<br />
mit Sicherheit mehr gesellschaftliche Mobilisierung<br />
bewirkt hat als Köhlers oder<br />
Schröders Appelle, wird in einigen SPDregierten<br />
Bundesländern den Schulklassen<br />
zum Besuch empfohlen, während der<br />
Bundeskanzler etwa zeitgleich die WM in<br />
der Schweiz als jenen Moment beschreibt,<br />
in dem er sich zum ersten Mal in seinem<br />
Leben freuen konnte, Deutscher zu sein.<br />
Ebenfalls 2003 gestaltet die Modemacherin<br />
Eva Gronbach eine zwischen hippiesk<br />
und neo-wave angesiedelte Collection mit<br />
Bundesadler und Nationalfarben darauf.<br />
Ihre »neue deutsche Polizeiuniform«, wie<br />
die Collection heißt, wird multikulturell<br />
präsentiert – die Models sind unterschiedlicher<br />
Hautfarbe und tragen zum Teil Rasta-Frisuren,<br />
was Weltoffenheit und Re-Interpretationsmöglichkeiten<br />
des Nationalen<br />
»Mieze«, Sängerin der Band MIA bei Filmaufnahmen.<br />
24
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
Für die ›kulturelle <strong>Linke</strong>‹ lassen sich ähnliche<br />
Zusammenhänge herstellen. Einiges davon<br />
ist bereits häufiger selbstkritisch diskutiert<br />
worden. Das neoliberale Ich-Unternehmertum<br />
wurde im Kunst- und Literaturbetrieb<br />
mitgeboren und ist dort heute wahrscheinlich<br />
durchgesetzter als in vielen anderen<br />
Wirtschaftsbereichen. Flache Hierarchien<br />
und permanente Kommunikation, auf die<br />
viele Unternehmen heute so großen Wert<br />
legen, wurden von politischen Aktivisten<br />
in Subkultur-Kontexten entwickelt und ausprobiert.<br />
Der Kapitalismus besitzt eine beeindruckende<br />
Fähigkeit, sich Wissen und<br />
Erfahrungen anzueignen und in Wert zu<br />
setzen. Man kann sich dabei mit ganz unsignalisieren<br />
soll. Doch bei aller angeblichen<br />
Öffnung, der Kern der Inszenierung<br />
ist das Bekenntnis zum Deutschsein. Und<br />
noch deutlicher schließlich die <strong>Berlin</strong>er Band<br />
MIA: Vor zwei Jahren noch am Revolutionären<br />
1. Mai in <strong>Berlin</strong> zu hören, finden<br />
die alternativen Musiker Deutschland wegen<br />
dessen Nicht-Beteiligung am Golfkrieg<br />
2003 plötzlich so gut, dass sie ein neues<br />
Verhältnis zum Vaterland ausrufen. Seit empörten<br />
Protesten gefällt sich die Band nun<br />
in der Rolle der Tabubrecher – ganz so, als<br />
sei die deutsche Gesellschaft im Kern nicht<br />
schon immer nationalistisch gewesen und<br />
als habe der nationale Konsens 1989 nicht<br />
sowieso einen gewaltigen Schub erhalten.<br />
In diesen Kontext reihen sich, gewollt oder<br />
ungewollt, auch die Initiative für eine Musikquote<br />
und ihre Unterstützer ein – unter<br />
ihnen Leute wie Jan Eissfeldt (Beginner) und<br />
Max Herre (Freundeskreis), die vom Publikum<br />
(möglicherweise aufgrund eines Missverständnisses)<br />
bislang für links und systemkritisch<br />
gehalten wurden. Man muss keine<br />
Textexegese betreiben, um zu erkennen,<br />
dass sich eine Quotenunterstützung nicht mit<br />
Eissfeldts oder Herres politischen Statements<br />
bzw. Inszenierungen vereinbaren lässt. Die<br />
Deutschquote ist die Umsetzung von Standort-<br />
und Identitätslogik in der Pop-Musik.<br />
Alternativ-Welten<br />
Mittlerweile dürfte sich herumgesprochen<br />
haben, dass die historische Funktion europäischer<br />
Sozialdemokratien im letzten Jahr-<br />
hundert immer wieder darin bestanden hat,<br />
jene Modernisierungen hervorzubringen, zu<br />
denen die Rechte aus historischen und Klassen-Beschränkungen<br />
nicht in der Lage war.<br />
Rot-Grün (und auf regionaler Ebene auch<br />
die PDS mit ihren Regierungsbeteiligung)<br />
hat diese These seit 1998 vielfach bestätigt.<br />
Auch eine Kohl- oder Stoiber-Regierung hätte<br />
sich möglicherweise an einem Angriffskrieg<br />
gegen Jugoslawien beteiligt. Aber sie<br />
hätte diesen mit Sicherheit nicht – wie der<br />
Grüne Fischer – mit Auschwitz legitimieren<br />
und damit die Judenvernichtung für die<br />
Rückkehr Deutschlands auf die Bühne der<br />
Weltordnungspolitik in Wert setzen können.<br />
Das rotgrüne Gespann kann eine Wende<br />
nach rechts befördern, gerade weil es ununterbrochen<br />
von sozialer Gerechtigkeit, historischer<br />
Schuld und Menschenrechten spricht.<br />
25
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
DJ Paul van Dyks:<br />
»Wir sind Wir«<br />
terschiedlichen Haltungen an der rotgrünen<br />
Standortmodernisierung beteiligen: aus Ignoranz,<br />
Opportunismus, Gleichgültigkeit,<br />
Geschäftsinteresse, verletztem Selbstwertgefühl<br />
oder tatsächlich nationaler Inbrunst.<br />
Interessant ist zu beobachten, wie völlig unterschiedliche<br />
Statements, Bestrebungen und<br />
Interessen zusammenkommen und einen<br />
bestimmten Prozess vorantreiben können.<br />
Wie weit das Begehren im Pop dazuzugehören<br />
und mit anzupacken mittlerweile reicht,<br />
zeigt v.a. DJ Paul van Dyks Wir sind Wir: »Ich<br />
frag, ich frag mich, wer wir sind. Wir sind<br />
wir! Wir stehen hier! Aufgeteilt, besiegt und<br />
doch, schließlich leben wir ja noch.« Der Text<br />
findet seinen Höhepunkt in dem stolzen Ausruf:<br />
»Aus Asche haben wir Gold gemacht.«<br />
Selbstverständlich ist das nicht auf die Goldzähne<br />
gemünzt, die in den Krematorien von<br />
Auschwitz und Buchenwald aus den Öfen<br />
geholt wurden, sondern an das Wirtschaftswunder<br />
in einem zerbombten Land erinnern.<br />
Doch die Ignoranz, die sich in solchen<br />
Aussagen widerspiegelt, ist kaum harmloser<br />
als die aktive Umdeutung der Deutschen<br />
als Opfer eines »Bomben-Holocausts«.<br />
Der Witz an diesen vielen kleinen Re-Interpretationsbewegungen<br />
ist, dass die politische<br />
Rechte, die sich seit langem Ähnliches<br />
wünscht, nämlich eine Identifikation mit<br />
Deutschland ohne historische Beschrän-<br />
26
MUSIKQUOTE UND NORMALISIERUNGSREGIME<br />
kung, diesen Prozess nicht gesellschaftlich<br />
breit hätte durchsetzen können. Wirklich<br />
relevant wird die Entwicklung erst dadurch,<br />
dass Leute wie Paul van Dyk, MIA, Eva<br />
Gronebach oder Sönke Wortmann, die des<br />
Rechtsseins unverdächtig sind, vergleichbare<br />
Positionen vertreten. Nicht weil sie Nazis<br />
wären, sondern gerade weil sie keine<br />
Nazis sind. Musiker, Modemacherinnen<br />
und Regisseure refl ektieren mit ihren Statements<br />
gesellschaftliche Stimmungen, aber<br />
setzen sie auch massiv mit durch, und auf<br />
diese Weise schieben sich die Dinge ungeplant<br />
und doch hocheffizient zusammen.<br />
Die sich abzeichnende Allianz zwischen<br />
Pop und Politik ist auch mit politischer Korrektheit<br />
nicht aufzubrechen. In Zeiten, in denen<br />
jedes noch so radikal daherkommende<br />
Nein wahlweise in Spielpläne integriert, als<br />
trendiger Distinktionsgewinn begrüßt oder<br />
schlichtweg als Vermarktungsstrategie genutzt<br />
werden kann, ist eine aktivistischere<br />
und facettenreichere Haltung gefragt. Ein<br />
sinnvoller Ausgangspunkt für eine kulturelle<br />
Praxis, die nicht mit den Interessen der Eliten<br />
paktiert, könnte allerdings die Erkenntnis<br />
sein, dass die Modernisierung nach rechts in<br />
Deutschland gerade auch von alternativen<br />
kulturellen und politischen Milieus mitproduziert<br />
worden ist. Es muss gelingen, solche<br />
Legitimationsproduktionen zu unterbrechen,<br />
ohne dabei in öde Personalisierungen zu<br />
verfallen. Man kann, wie die Quotendebatte<br />
gezeigt hat, auch Teil eines Prozesses werden,<br />
ohne ihn zu wollen, ja sogar ohne ihn<br />
überhaupt wahrzunehmen. Und das ist letztlich<br />
das viel gravierendere Problem: Standortargumente,<br />
Ärmelhochkrempeln, der<br />
Wunsch nach Anerkennung oder einfach<br />
geregeltem Einkommen – all das schiebt sich<br />
zusammen und formt ein neues Ganzes.<br />
Raul Zelik<br />
Diefenbach, Katja: Die Politisierung des Lebens.<br />
Einige Anmerkungen zur Frage, wie man<br />
politisch wird, ohne Politik zu machen, und<br />
auf welche Schwierigkeiten man dabei stößt,<br />
(http://www.exargentina.org/_txt/krise_kdiefenbach_lapolvida_de.html)<br />
Diederichsen, Diedrich: Die Kraft der Negation.<br />
Eröffnungsvortrag zum Festival ›Die Kraft der<br />
Negation‹, (http://www.zmi.uni-giessen.de/<br />
pdf/diederichsen_negation.pdf), Sommer 2002<br />
German Sounds – Das deutsche Musikexportbüro<br />
(http://www.germansounds.de)<br />
Halblizel, Markus: Die Hamburger Tafelrunde –<br />
Gespräch über die Musikquote, in: Spex 11/<br />
2004<br />
Peitz, Dirk: Pro Musikquote: »Das Radio ist unerträglich«,<br />
Interview mit Antje Vollmer, kulturpolitische<br />
Sprecherin der Grünen, in: Süddeutsche<br />
Zeitung, 09.09.2004<br />
Zelik, Raul: Too sexy for the Führerbunker. Eine<br />
neue Generation deutscher Pop-Musiker entdeckt<br />
die nationale Pose, in: Freitag, 30.1.2004<br />
(http://www.raulzelik.net/textarchiv/feuileton/<br />
fuehrer.htm)<br />
Zifonun, Darius: Me and the Devil Blues. Vom<br />
Pakt zwischen Pop und Staat, in: Spex 11/ 2004<br />
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auf sozial“ wurde nachgedruckt<br />
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Die erste Auflage der Broschüre „Faschisten machen<br />
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