Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
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entsprechen einan<strong>der</strong> nicht; es gibt Hinweise darauf, daß die Optionen nur von<br />
wenigen tatsächlich realisiert werden. 7<br />
Die Dialektik, die zum Begriff <strong>der</strong> Individualität gehört, wird deutlich, wenn man die<br />
Voraussetzungen bedenkt, die schon in <strong>der</strong> Vorstellung von einer Wahl enthalten<br />
sind. Es bedarf nicht nur <strong>der</strong> Alternativen, die ich habe, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Maßstäbe,<br />
mit denen ich sie bewerte. Solche Maßstäbe sind aber nicht durch ein isoliertes<br />
Individuum herzustellen, son<strong>der</strong>n entstehen in <strong>der</strong> Einbindung in einen sozialen<br />
Zusammenhang. Wenn das Autonomieideal mittlerweile zu einer generellen Reserve<br />
gegen institutionelle Bindungen geworden ist, dann gefährdet das Individualität, weil<br />
alles gleich gültig und damit gleichgültig zu werden droht.<br />
Ralf Dahrendorf hat darum auf die Bedeutung <strong>der</strong> Koordinaten hingewiesen,<br />
innerhalb <strong>der</strong>er Optionen erst Sinn ergeben. 8 Um überhaupt wählen zu können – und<br />
nicht zufällig <strong>der</strong> erstbesten Verlockung zu erliegen – braucht es Kriterien. Nach<br />
Dahrendorfs Analyse sind solche Kriterien oft genug aber gerade nicht vorhanden. Er<br />
sieht ein zentrales Dilemma <strong>der</strong> gegenwärtigen Kultur darin, daß sie „manchen – vor<br />
allem jungen Menschen – immer mehr Wahlmöglichkeiten zu offerieren scheint, ohne<br />
ihnen doch Entscheidungshilfe zu geben bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> Frage, welche<br />
Bedeutung es denn hätte, diese und nicht jene Option zu wählen.“ 9 Sinnvoll mit den<br />
Optionen umgehen setzt voraus, was Dahrendorf ‚Ligaturen’ nennt: Verbindlichkeiten<br />
und Bindungen. Im Begriff ‚Ligaturen’ klingen ‚Obligationen’, Verpflichtungen, an,<br />
aber auch ‚Religion’: Wenn Individualität diese Bindungen braucht, woher können sie<br />
unter den gegenwärtigen Bedingungen kommen? Mir scheint offenkundig, daß dies<br />
nicht restaurativ und rückwärtsgewandt geschehen kann. Kann es aber solche<br />
Ligaturen geben, die jenseits aller Nostalgie und jenseits aller Bevormundung<br />
Identifikationen ermöglichen, die tragen können und Halt geben? 10<br />
Dahrendorf erinnert nicht umsonst an die Bedeutung <strong>der</strong> Religion als eines <strong>der</strong><br />
wichtigen Systeme, die die Sinndimensionen im Leben eines Menschen tragen. Für<br />
die Gegenwartskultur ist bezeichnend, daß Religion durchaus akzeptiert ist; die<br />
Nachmo<strong>der</strong>ne ist keineswegs religionsfeindlich. Ihre Toleranz o<strong>der</strong> gar Sympathie für<br />
Religion basiert freilich darauf, daß man in Distanz bleiben will: Man ist durchaus<br />
bereit, sich auf religiöse Vorstellungen und Erfahrungen einzulassen, aber doch so,<br />
daß man sich auch je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> herausziehen kann. Diese Distanz ist aber nicht<br />
identisch mit religiöser Freiheit, son<strong>der</strong>n nur ein Teil von ihr. Zum Sinn von Religion<br />
gehören Verbindlichkeit und Gewißheit; sie sind Voraussetzung <strong>der</strong> Ausbildung einer<br />
starken Identität, die untrennbar mit Individualität verbunden ist. 11 Darum bedarf es<br />
auch postmo<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gewißheiten. 12 Die Entmächtigung <strong>der</strong> etablierten <strong>Institut</strong>ionen<br />
7<br />
Vgl. Pollack, Detlef: Zur neueren religionssoziologischen Diskussion des<br />
Säkularisierungstheorems; in: Dialog <strong>der</strong> Religionen 5/1995, 114–121.<br />
8<br />
Dahrendorf, Ralf: Das Zerbrechen <strong>der</strong> Ligaturen und die Utopie <strong>der</strong> Weltbürgergesellschaft; in:<br />
Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck und<br />
Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Aufl. Frankfurt/M. 1994, 421–436, 423.<br />
9<br />
Ebd.<br />
10<br />
Vgl. dazu Kroeger, Matthias: Die Notwendigkeit <strong>der</strong> unakzeptablen Kirche, München 1997.<br />
11<br />
Vgl. dazu Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung <strong>der</strong> neuzeitlichen Identität.<br />
Übersetzt von Joachim Schulte, 1. Aufl. Frankfurt/Main 1994, 17 u.ö.<br />
12<br />
Es wäre ein eigenes Thema, die Gewißheiten und Verbindlichkeiten, die dem postmo<strong>der</strong>nen<br />
Wahrheitsbewußtsein zugrunde liegen, und die starken Wertungen, die hinter <strong>der</strong> scheinbaren<br />
Wertepluralität liegen, zu untersuchen.