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Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW

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- 52 -<br />

‚Individualität’ und ‚Selbstbestimmung’ können als Leitbegriffe <strong>der</strong> Gegenwartskultur<br />

gelten. Wenn in <strong>der</strong> religionspädagogischen Diskussion gegen alle institutionelle<br />

Vereinnahmung die Individualität <strong>der</strong> Schüler betont wird, dann steht das in Einklang<br />

mit einer gesellschaftlich vorherrschenden Orientierung. Hier manifestiert sich ein<br />

Ideal, das zu den Grundlagen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie gehört; die Termini sind<br />

aber auch empirisch offensichtlich von einiger Erklärungskraft, was dazu führt, daß in<br />

<strong>der</strong> Religionssoziologie das Konzept <strong>der</strong> Säkularisierung zunehmend abgelöst wird<br />

von dem <strong>der</strong> „Individualisierung“, wie es vor allem von Ulrich Beck vertreten wird.<br />

Der Blick auf die soziologische Diskussion zeigt allerdings auch, daß<br />

„Individualisierung“ nicht identisch ist mit einer Zunahme von individueller Freiheit<br />

und Selbstbestimmung. Aus dem soziologischen Befund einer „Individualisierung“<br />

läßt sich eine wachsende Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht unmittelbar ableiten.<br />

Mit <strong>der</strong> Vermehrung von Wahlmöglichkeiten und individuellen Lebensentwürfen ist<br />

die Belastung gestiegen, mit diesem Mehr an Optionen auch sinnvoll umzugehen.<br />

Wenn das aber nicht gelingt, dann ist das Resultat nicht ein Mehr an Freiheit,<br />

son<strong>der</strong>n umgekehrt eine umso größere Abhängigkeit von Strukturen, die man nicht<br />

durchschaut. 4 Das führt in eine paradoxe Situation, die an den Schülern<br />

wahrgenommen werden kann. Sie wollen ihre Individualität zeigen und tun das,<br />

indem sie die Markenkleidung tragen, die gerade angesagt ist; sie wollen sich selbst<br />

ausdrücken, indem sie die Events aufsuchen, in denen sie selbst sein wollen und<br />

sind dabei doch Konsumenten einer Erlebnisindustrie. Weil „Individualisierung“ noch<br />

nicht Individualität ist, brauchen sie Hilfe; die Bildung <strong>der</strong> Individualität und gerade<br />

auch <strong>der</strong> religiösen Individualität erweist sich als Aufgabe und ist keine schlichte<br />

Faktizität.<br />

„Individualisierung“ heißt also zunächst nur, daß die traditionellen <strong>Institut</strong>ionen an<br />

Bedeutung für die Sozialisationsvorgänge verlieren. 5 Dies betrifft alle <strong>Institut</strong>ionen, zu<br />

<strong>der</strong>en Sinn Bindungen gehören: Gewerkschaften, Parteien, Vereine und so<br />

offenkundig auch und gerade die Kirchen. Mit dem Bedeutungsverlust <strong>der</strong><br />

<strong>Institut</strong>ionen geht einher, daß tradierte Gewißheiten und Verbindlichkeiten sich<br />

auflösen. Der Bedeutungsschwund <strong>der</strong> traditionellen Verbindlichkeiten läßt sich<br />

verschieden deuten: Man kann hier eine Befreiung von überkommenen Beengungen<br />

sehen, man kann aber auch den Verlust an identitätsstützenden und -sichernden<br />

Funktionen beklagen. Beides gehört zum sozialen Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“,<br />

<strong>der</strong> darum ambivalent bleibt. Es sind, wie Beck prägnant formuliert, „riskante<br />

Freiheiten“. 6 Wenn Becks These zutrifft, daß die Gegenwart durch ein<br />

Reflexivwerden <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gekennzeichnet ist, dann hängt alles davon ab, ob es<br />

den Individuen auch gelingt, die notwendigen Reflexionsleistungen zu erbringen. Der<br />

Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“ bedarf <strong>der</strong> starken Individuen; aber wie entstehen<br />

solche starken Individuen? Das wird im Individualisierungstheorem kaum bedacht.<br />

Die objektive Zunahme von Wahlmöglichkeiten und die subjektive Fähigkeit<br />

4<br />

Vgl. Michael Küggeler, „Ein weites Feld ...“ Religiöse Individualisierung als Forschungsthema,<br />

in: Karl Gabriel, Religiöse Individualisierung und Säkularisierung. Biographie und Gruppe als<br />

Bezugspunkt mo<strong>der</strong>ner Religiosität, Gütersloh 1996, 215–235, 217.<br />

5<br />

Henkys/ Schweitzer, Atheismus-Religion-Indifferenz, 497.<br />

6<br />

Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck<br />

und Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Auflage Frankfurt/M. 1994.

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