Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
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‚Individualität’ und ‚Selbstbestimmung’ können als Leitbegriffe <strong>der</strong> Gegenwartskultur<br />
gelten. Wenn in <strong>der</strong> religionspädagogischen Diskussion gegen alle institutionelle<br />
Vereinnahmung die Individualität <strong>der</strong> Schüler betont wird, dann steht das in Einklang<br />
mit einer gesellschaftlich vorherrschenden Orientierung. Hier manifestiert sich ein<br />
Ideal, das zu den Grundlagen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie gehört; die Termini sind<br />
aber auch empirisch offensichtlich von einiger Erklärungskraft, was dazu führt, daß in<br />
<strong>der</strong> Religionssoziologie das Konzept <strong>der</strong> Säkularisierung zunehmend abgelöst wird<br />
von dem <strong>der</strong> „Individualisierung“, wie es vor allem von Ulrich Beck vertreten wird.<br />
Der Blick auf die soziologische Diskussion zeigt allerdings auch, daß<br />
„Individualisierung“ nicht identisch ist mit einer Zunahme von individueller Freiheit<br />
und Selbstbestimmung. Aus dem soziologischen Befund einer „Individualisierung“<br />
läßt sich eine wachsende Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht unmittelbar ableiten.<br />
Mit <strong>der</strong> Vermehrung von Wahlmöglichkeiten und individuellen Lebensentwürfen ist<br />
die Belastung gestiegen, mit diesem Mehr an Optionen auch sinnvoll umzugehen.<br />
Wenn das aber nicht gelingt, dann ist das Resultat nicht ein Mehr an Freiheit,<br />
son<strong>der</strong>n umgekehrt eine umso größere Abhängigkeit von Strukturen, die man nicht<br />
durchschaut. 4 Das führt in eine paradoxe Situation, die an den Schülern<br />
wahrgenommen werden kann. Sie wollen ihre Individualität zeigen und tun das,<br />
indem sie die Markenkleidung tragen, die gerade angesagt ist; sie wollen sich selbst<br />
ausdrücken, indem sie die Events aufsuchen, in denen sie selbst sein wollen und<br />
sind dabei doch Konsumenten einer Erlebnisindustrie. Weil „Individualisierung“ noch<br />
nicht Individualität ist, brauchen sie Hilfe; die Bildung <strong>der</strong> Individualität und gerade<br />
auch <strong>der</strong> religiösen Individualität erweist sich als Aufgabe und ist keine schlichte<br />
Faktizität.<br />
„Individualisierung“ heißt also zunächst nur, daß die traditionellen <strong>Institut</strong>ionen an<br />
Bedeutung für die Sozialisationsvorgänge verlieren. 5 Dies betrifft alle <strong>Institut</strong>ionen, zu<br />
<strong>der</strong>en Sinn Bindungen gehören: Gewerkschaften, Parteien, Vereine und so<br />
offenkundig auch und gerade die Kirchen. Mit dem Bedeutungsverlust <strong>der</strong><br />
<strong>Institut</strong>ionen geht einher, daß tradierte Gewißheiten und Verbindlichkeiten sich<br />
auflösen. Der Bedeutungsschwund <strong>der</strong> traditionellen Verbindlichkeiten läßt sich<br />
verschieden deuten: Man kann hier eine Befreiung von überkommenen Beengungen<br />
sehen, man kann aber auch den Verlust an identitätsstützenden und -sichernden<br />
Funktionen beklagen. Beides gehört zum sozialen Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“,<br />
<strong>der</strong> darum ambivalent bleibt. Es sind, wie Beck prägnant formuliert, „riskante<br />
Freiheiten“. 6 Wenn Becks These zutrifft, daß die Gegenwart durch ein<br />
Reflexivwerden <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gekennzeichnet ist, dann hängt alles davon ab, ob es<br />
den Individuen auch gelingt, die notwendigen Reflexionsleistungen zu erbringen. Der<br />
Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“ bedarf <strong>der</strong> starken Individuen; aber wie entstehen<br />
solche starken Individuen? Das wird im Individualisierungstheorem kaum bedacht.<br />
Die objektive Zunahme von Wahlmöglichkeiten und die subjektive Fähigkeit<br />
4<br />
Vgl. Michael Küggeler, „Ein weites Feld ...“ Religiöse Individualisierung als Forschungsthema,<br />
in: Karl Gabriel, Religiöse Individualisierung und Säkularisierung. Biographie und Gruppe als<br />
Bezugspunkt mo<strong>der</strong>ner Religiosität, Gütersloh 1996, 215–235, 217.<br />
5<br />
Henkys/ Schweitzer, Atheismus-Religion-Indifferenz, 497.<br />
6<br />
Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck<br />
und Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Auflage Frankfurt/M. 1994.