Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW

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- 33 - Exklusionskarrieren bedeutet, so ist dies bei weiterführenden Schulabschlüssen zwar unwahrscheinlicher, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen. - Auch für jene, die schulisch investieren, sich anstrengen und mittlere oder höhere schulische Abschlüsse erreichen, ist damit keineswegs die Sicherheit verbunden, dass sie auch weitere Bildungs- und berufliche Möglichkeiten realisieren können, weil es zugleich zu einer „Inflationierung“ der höheren Bildungszertifikate kommt und sich damit der Wettbewerb um weitere Lebenschancen nun auch zwischen Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen abspielt (vgl. Bourdieu u.a. 1997). - Vor diesem Hintergrund wird es immer bedeutsamer, sich in der Schule und im Unterricht anzustrengen: Schuldistanz ist gleichbedeutend mit der Anbahnung von Ausschlusskarrieren. Und im oberen Bildungssegment ist das Abitur allein immer weniger hinreichend, um umfassende Möglichkeiten zu eröffnen: Es kommt immer stärker auf die Qualität des Abiturs, den Abiturdurchschnitt, den Besuch exklusiver Schulen mit gutem Ruf, hohem Sozialkapital der Eltern und Schüler, zahlreichen kulturellen und informellen Bildungsmöglichkeiten, verbunden mit Auslandsaufenthalten etc. an. Zugespitzt formuliert: Für die weitere Einmündung in privilegierte Bildungs- und Berufslaufbahnen macht nicht mehr der Besuch des Gymnasiums den Unterschied aus, sondern es kommt auf den Unterschied in der höheren Bildung an – von der Distinktion des Gymnasialen zur Distinktion im Gymnasialen. Kurz: Jugendliche sind damit konfrontiert, stärker in schulische Bildung investieren zu müssen, gezielt besonders gute und anregungsreiche Schulen auszusuchen und auch neben der Schule weitere Bildungsanstrengungen zu unternehmen. Gleichzeitig steigt die Ungewissheit – selbst bei weiterführenden Schulabschlüssen – ob sich dies auch lohnt und welche weiteren Bildungswege und Lebensentwürfe gangbar und realisierbar sind. Damit wächst auch die Notwendigkeit für Jugendliche sowohl über umfassendes biographisches Orientierungswissen verfügen zu können als auch eine beratende Begleitung bei der Gestaltung von Bildungsbiographien zu besitzen. Von der Schule als Chance zur Schule als Risiko – oder: Die Kosten des schulisch geforderten erfolgszentrierten Erwerbsmenschen - Damit geht einher, dass die Schule – neben den Freiräumen die sie eröffnet – auch immer deutlicher als Belastungsraum für Jugendliche in Erscheinung tritt, nicht zuletzt deswegen, weil individuelle Leistung, gerade auch im Zuge der Diskussion um PISA und Bildungsstandards, immer stärker zum Kernelement des Schulischen wird. - Dies lässt sich in Zahlen ausdrücken: Fast 40 % der 15-jährigen Schüler weisen in Form von Rückstellungen, Klassenwiederholungen oder Abstufungen Misserfolgs- oder Versagenskarrieren auf, davon fast 10 % mit mehrfachen Scheiternserfahrungen (Schümer 2005). Dabei ist der Wechsel zwischen Schulformen in der Regel ein Abstieg: PISA ermittelt ein Verhältnis von 1 : 5 für Aufstieg und Abstieg zwischen Schulformen (Länderdifferenz). Insbesondere die Hauptschule wird im Laufe der Sekundarstufe I zum Ort, an dem sich Jugendliche mit Versagenskarrieren „sammeln“: Fast zwei Drittel der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind dadurch gekennzeichnet, gegenüber gut 40 % der Realschüler und lediglich 15 % der Gymnasiasten (ebd.). Dabei sind Jungen, Jugendliche aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Milieus

- 34 - sowie spezifische Migrantenjugendliche besonders deutlich betroffen (vgl. Cortina u.a. 2003, Ditton 2004, Helsper/Hummrich 2005). - Für bereits benachteiligte und belastete Jugendliche kommt es zu einer „doppelten Benachteiligung“: Gundel Schümer (2004) kommt in einer vertiefenden Auswertung der PISA-Daten zum Ergebnis, dass sich insbesondere in Hauptschulen, aber zum Teil auch in Gesamtschulen Jugendliche in Klassen sammeln, die durch schulische und außerschulische Versagenserfahrungen, lebensgeschichtlich entstandene Problembelastungen, schwierige soziale und familiäre Rahmenbedingungen besonders betroffen sind. Dadurch kommt es zu einer doppelten Benachteiligung: Schon ökonomisch, sozial und kulturell marginalisierte Jugendliche mit familiären und schulischen Problemaufschichtungen finden sich in diesen Klassen zusammen, so dass eine äußerst belastete Lernatmosphäre entsteht, die im Vergleich mit gemischteren Klassen und Lerngruppen zur nochmaligen Benachteiligung in der Lernentwicklung und Kompetenzentfaltung für diese Jugendlichen beiträgt. - In diesem Zusammenhang werden im Zuge sozialer Entmischungen, neuer Armut und destabilisierter Wohnregionen spezifische Schulen massiv mit Jugendlichen konfrontiert, die eine Kumulation von Problemlagen mit- und in die Schule einbringen, so dass Schulen selbst zum Risikoraum werden. Damit geht einher, dass aus diesen schulischen Problembelastungen verstärkte Schuldistanz, Schulverweigerung und -flucht, das umfassende Scheitern von Bildungskarrieren resultieren kann. Daraus resultieren für diese Schulen und insbesondere die Lehrkräfte Herausforderungen besonderer Art, die nur unter spezifischen Bedingungen bewältigt werden können (vgl. Melzer, Wolfgang/Ehniger, Franz/Schubarth, Wilfried 2004, Helsper u.a. 2006). - Das stark gegliederte und früh selektierende deutsche Schulsystem lässt zudem selektionsbedingte Lern- und Bildungsmilieus entstehen: Im Verlauf der Sekundarstufe I erfahren Jugendliche mit ähnlichen kognitiven Voraussetzungen und Kompetenzen in den unterschiedlichen Schulformen eine unterschiedliche Förderung, so dass sich ihre Kompetenzen gegen Ende der Sekundarstufe I deutlich auseinander entwickelt haben. Dies gilt zudem für Jugendliche aus dem oberen und dem unteren Viertel der Sozialstruktur, wie PISA verdeutlichen konnte (vgl. Baumert u.a. 2001, Baumert u.a. 2006). - Neben diese „objektiven“ Versagens- und Benachteiligungserfahrungen, treten damit einhergehende Belastungen: Die Bielefelder Studien zu jugendlicher Problem-, Stress-, Sucht- und psychosomatischen Belastung von Hurrelmann u.a. verdeutlichen, dass mit schulischen Leistungsproblemen, mit Schulversagen, aber auch mit der Angst vor Leistungsversagen durchgängig höhere Belastungen in Form von Drogen und Sucht, von Stress-, psychosomatischen Phänomenen aber auch von Zukunftsangst für Jugendliche verbunden sind. Dies zeigt sich auch in den Längsschnittstudien von Fend und der jüngsten Studie zur jugendlichen Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (vgl. Bilz/Hähne/Melzer 2003, Hurrelmann/Mansel 1998, Fend 2000). - Dabei sind spezifische Gruppen von Jugendlichen besonders betroffen: 1. mehrfach scheiternde Jugendliche mit teilweise dramatischen Karrieren schulischen Scheiterns; 2. Jugendliche, die sich über Jahre immer wieder mit drohendem Scheitern konfrontiert sehen, sich gerade so „über Wasser halten“ und dies als Langzeitstress erfahren; 3. zum Teil sehr gute und leistungsstarke Jugendliche aus Familien mit höchsten Bildungserwartungen und starkem Leistungsdruck, so dass die Familie als kompensatorisches, emotional

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sowie spezifische Migrantenjugendliche beson<strong>der</strong>s deutlich betroffen (vgl.<br />

Cortina u.a. 2003, Ditton 2004, Helsper/Hummrich 2005).<br />

- Für bereits benachteiligte und belastete Jugendliche kommt es zu einer<br />

„doppelten Benachteiligung“: Gundel Schümer (2004) kommt in einer<br />

vertiefenden Auswertung <strong>der</strong> PISA-Daten zum Ergebnis, dass sich insbeson<strong>der</strong>e<br />

in Hauptschulen, aber zum Teil auch in Gesamtschulen Jugendliche in Klassen<br />

sammeln, die durch schulische und außerschulische Versagenserfahrungen,<br />

lebensgeschichtlich entstandene Problembelastungen, schwierige soziale und<br />

familiäre Rahmenbedingungen beson<strong>der</strong>s betroffen sind. Dadurch kommt es zu<br />

einer doppelten Benachteiligung: Schon ökonomisch, sozial und kulturell<br />

marginalisierte Jugendliche mit familiären und schulischen<br />

Problemaufschichtungen finden sich in diesen Klassen zusammen, so dass eine<br />

äußerst belastete Lernatmosphäre entsteht, die im Vergleich mit gemischteren<br />

Klassen und Lerngruppen zur nochmaligen Benachteiligung in <strong>der</strong><br />

Lernentwicklung und Kompetenzentfaltung für diese Jugendlichen beiträgt.<br />

- In diesem Zusammenhang werden im Zuge sozialer Entmischungen, neuer<br />

Armut und destabilisierter Wohnregionen spezifische Schulen massiv mit<br />

Jugendlichen konfrontiert, die eine Kumulation von Problemlagen mit- und in die<br />

Schule einbringen, so dass Schulen selbst zum Risikoraum werden. Damit geht<br />

einher, dass aus diesen schulischen Problembelastungen verstärkte<br />

Schuldistanz, Schulverweigerung und -flucht, das umfassende Scheitern von<br />

Bildungskarrieren resultieren kann. Daraus resultieren für diese Schulen und<br />

insbeson<strong>der</strong>e die Lehrkräfte Herausfor<strong>der</strong>ungen beson<strong>der</strong>er Art, die nur unter<br />

spezifischen Bedingungen bewältigt werden können (vgl. Melzer,<br />

Wolfgang/Ehniger, Franz/Schubarth, Wilfried 2004, Helsper u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Das stark geglie<strong>der</strong>te und früh selektierende deutsche Schulsystem lässt zudem<br />

selektionsbedingte Lern- und Bildungsmilieus entstehen: Im Verlauf <strong>der</strong><br />

Sekundarstufe I erfahren Jugendliche mit ähnlichen kognitiven Voraussetzungen<br />

und Kompetenzen in den unterschiedlichen Schulformen eine unterschiedliche<br />

För<strong>der</strong>ung, so dass sich ihre Kompetenzen gegen Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />

deutlich auseinan<strong>der</strong> entwickelt haben. Dies gilt zudem für Jugendliche aus dem<br />

oberen und dem unteren Viertel <strong>der</strong> Sozialstruktur, wie PISA verdeutlichen<br />

konnte (vgl. Baumert u.a. 2001, Baumert u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Neben diese „objektiven“ Versagens- und Benachteiligungserfahrungen, treten<br />

damit einhergehende Belastungen: Die Bielefel<strong>der</strong> Studien zu jugendlicher<br />

Problem-, Stress-, Sucht- und psychosomatischen Belastung von Hurrelmann<br />

u.a. verdeutlichen, dass mit schulischen Leistungsproblemen, mit<br />

Schulversagen, aber auch mit <strong>der</strong> Angst vor Leistungsversagen durchgängig<br />

höhere Belastungen in Form von Drogen und Sucht, von Stress-,<br />

psychosomatischen Phänomenen aber auch von Zukunftsangst für Jugendliche<br />

verbunden sind. Dies zeigt sich auch in den Längsschnittstudien von Fend und<br />

<strong>der</strong> jüngsten Studie zur jugendlichen Gesundheit <strong>der</strong><br />

Weltgesundheitsorganisation (vgl. Bilz/Hähne/Melzer 2003, Hurrelmann/Mansel<br />

1998, Fend 2000).<br />

- Dabei sind spezifische Gruppen von Jugendlichen beson<strong>der</strong>s betroffen: 1.<br />

mehrfach scheiternde Jugendliche mit teilweise dramatischen Karrieren<br />

schulischen Scheiterns; 2. Jugendliche, die sich über Jahre immer wie<strong>der</strong> mit<br />

drohendem Scheitern konfrontiert sehen, sich gerade so „über Wasser halten“<br />

und dies als Langzeitstress erfahren; 3. zum Teil sehr gute und leistungsstarke<br />

Jugendliche aus Familien mit höchsten Bildungserwartungen und starkem<br />

Leistungsdruck, so dass die Familie als kompensatorisches, emotional

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