Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW

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01.12.2014 Aufrufe

- 31 - gefeierter Abiturredner der Schüler mit einer zugleich mehr als krisengeschüttelten Schülerbiographie. Diese wurzelt zum einen in der hoch ambivalenten Platzierung in seiner Familie und den Erfahrungen der Mitarbeit im elterlichen Restaurant, aus denen der Wunsch resultiert, dem zu entkommen: „auch (.) äh bei meinem Bruder war extrem früh klar dat wir Akademiker werden wolln extrem früh weil wir nich dat Leben haben wollten von ma-unseren Eltern und von den andern Leuten die wir kennengelernt haben nich dieset stundenlange Rumstehn (.) dieset stundelange rumstehn und den Leuten in den Arsch zu kriechen boahh dat war das schlimmste den Leuten in den Arsch zu kriechen...“ Tobias erleidet somit einen doppelten Zwang und darin wiederum, eine Beschämung: Er ist stark in die Bedienung im elterlichen Restaurant eingebunden und muss dabei auch die Form wahren, erlebt dies als demütigende Unterwürfigkeit und mangelnde Würde auf Seiten seiner Eltern, was durch den Migrantenstatus zusätzlich verschärft wird und bei ihm als „soziale Scham“ in Erscheinung tritt. So erfährt er die Familie als beschränkende Enge und will zusammen mit seinem Bruder diesem „Kerker“ entfliehen: „das Restaurant nenn ich immer noch der Kerker der sich Familie nennt“. Tobias Silone findet am Märkischen Gymnasium eine engagierte Lehrerschaft, deren Bildungsideale um Reflexion, Kritikfähigkeit und soziales Engagement kreisen. Hier findet er zum einen intellektuelle Anregungen („extrem viel gelernt“) und ein umfassendes Konzept eines kritischen, sich einmischenden politischen Bürgers, das die Lehrer verkörpern und fordern (vgl. Helsper u.a. 2006). Und zum anderen eine Toleranz gegenüber expressiven, ekstatischen Formen jugendlichen Protestes und subkultureller Aktivitäten, in die er zeitweise stark eingebunden ist, so dass er – auch in einer Krisensituation, in der ihm die Verweisung von der Schule droht – Anwälte auf Seiten der Lehrer findet, die für ihn bürgen. In der Oberstufe beschließt er, sich aus den überbordenden jugendkulturellen Aktivitäten stärker zurückzuziehen. Insbesondere der Lehrer Heinrich, sein Sozialkundelehrer, wird für ihn – ohne dessen direktes Wissen – zu einer zentralen Bezugsperson, indem er Tobias durch sein breites Wissen, seine kritische Reflexivität, sein authentisches soziales und politisches Engagement beeindruckt. Tobias abonniert, ohne Wissen seiner Lehrer oder Anderer, den Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung und stellt, kein schlechter Schüler mit im Schnitt Zweien und Dreien, den Antrag, die zwölfte Klasse freiwillig wiederholen zu dürfen, um dem Abiturdurchschnitt für ein Medizinstudium nahe zu kommen. Auch Herr Steinke, den er anschließend als Sozialwissenschaftslehrer erhält, wird ganz ähnlich wie der Lehrer Heinrich beschrieben: umfassend wissend, kritisch, unnachgiebig reflexiv, bohrend und nachfragend. In einer zentralen Unterrichtsszene ist Tobias der einzige, der über detailliertes Wissen zu den Geschwistern Scholl verfügt und gibt dem Lehrer Steinke zu erkennen, dass er regelmäßig verschiedene anspruchsvolle Zeitungen ebenso wie historische und aktuelle politische und sozialwissenschaftliche Bücher liest. Darüber erhält er dessen umfassende Anerkennung. Diese Anerkennung, dass Andere merken, wie Tobias formuliert, dass jemand vor ihnen steht „der wirklich gebildet ist“, ist für ihn äußerst bedeutsam. So wird er auch im elterlichen Restaurant dadurch ein Anderer, indem er mit ausgesuchten gebildeten Gästen gezielt das Gespräch sucht: „ist natürlich toll wenn de dann im Restaurant (.) Ärzte Professoren Lehrer oder sonst wer sitzen und man natürlich geschätzt wird und die Leute fragen ‚ach wo ist denn der Sohnemann wo isn der Junior’ der hat uns letztens was Tolles erzählt (.) is natürlich toll...“.

- 32 - Die Abiturrede, die das Thema Fremdheit und Interkulturalität im Rahmen schulischer Bildung zum Thema hat – und die ihm umfassende Anerkennung der Lehrer einbringt, bis hin zum Unglauben, dass er der Verfasser sei (Eltern recherchieren im Internet nach der Rede) – ist seine eigentliche Abiturprüfung. Darin reflektiert er implizit die eigene Bildungsbiographie als Fremder im Rahmen seiner Schule, die ihm zugleich entscheidende Transformationswege und neue Möglichkeiten eröffnet, in einer anspruchsvollen, intellektuell überzeugenden und sehr reflektierten Form. In der gleichen Studie konnten wir für die von uns exemplarisch untersuchte Hauptschule herausarbeiten, welche existenzielle Bedeutung Lehrer dieser Hauptschule für die äußerst stützungsbedürftige und problembelastete Schülerschaft besaßen und Schülern durch ihre pädagogische Kultur der Anerkennung überhaupt noch Bildungsoptionen offen hielten (vgl. Helsper u.a. 2006, Wiezorek/Helsper 2006, Wiezorek 2006). Schule und Lehrer bleiben also durchaus – wenn eventuell auch in neuen Formen – bedeutsam für die Bildungsprozesse der Schüler. Betrachten wir nun genauer die Wandlungen im Verhältnis von Schule und Jugend, die ich im Folgenden stichpunktartig skizzieren möchte: Vom Bildungsprivileg zum Bildungszwang - Bis in die 1960er Jahre hinein galt: Höhere Bildung war das Privileg weniger, was darin zum Ausdruck kam, dass noch rund vier Fünftel aller Schüler die Volksschule besuchten. - Der gravierende Wandlungsprozess innerhalb von vier Jahrzehnten lässt sich daran ablesen, dass nur noch ca. ein gutes Fünftel eines Jahrganges – wenn auch mit großen Unterschieden zwischen den Bundesländern – die Hauptschule besucht. Die ehemals selbstverständliche Normalschullaufbahn wird damit heute zu einer schulischen Exklusionskarriere. Um Berufe erlernen und in sie einmünden zu können, für die vor vier Jahrzehnten noch ein Hauptschulabschluss ausreichte, ist heute mindestens der Realschulabschluss, wenn nicht das Abitur erforderlich. - Damit geht ein Zwang zur weiterführenden Bildung einher: Für Jugendliche ist der mittlere Bildungsabschluss inzwischen der notwendige Abschluss um überhaupt weiterführende Bildungs- und berufliche Optionen offen halten zu können. Kurz: Wenn Jugendliche berufliche Zukunftsaussichten haben wollen, müssen sie an weiterführender Bildung partizipieren, so dass erweiterte Bildung zunehmend mit Zwang und Druck verbunden ist. Sie wird vom exklusiven Privileg zu einem notwendigen Erfordernis der zukünftigen Selbsterhaltung für Jugendliche. Vom Bildungsversprechen zum Bildungsparadoxon - Mit dieser Entwicklung geht einher, dass Jugendliche immer mehr in Bildung investieren müssen, immer stärker in das „schulische Spiel“ involviert sein müssen, ohne sich aber sicher sein zu können, dass dies auch Zukunftsoptionen eröffnet. - Wenn für Jugendliche, die schulisch versagen oder unter dem mittleren Bildungsabschluss bleiben, dies per se die wahrscheinliche Anbahnung von

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Die Abiturrede, die das Thema Fremdheit und Interkulturalität im Rahmen schulischer<br />

Bildung zum Thema hat – und die ihm umfassende Anerkennung <strong>der</strong> Lehrer<br />

einbringt, bis hin zum Unglauben, dass er <strong>der</strong> Verfasser sei (Eltern recherchieren im<br />

Internet nach <strong>der</strong> Rede) – ist seine eigentliche Abiturprüfung. Darin reflektiert er<br />

implizit die eigene Bildungsbiographie als Frem<strong>der</strong> im Rahmen seiner Schule, die<br />

ihm zugleich entscheidende Transformationswege und neue Möglichkeiten eröffnet,<br />

in einer anspruchsvollen, intellektuell überzeugenden und sehr reflektierten Form.<br />

In <strong>der</strong> gleichen Studie konnten wir für die von uns exemplarisch untersuchte<br />

Hauptschule herausarbeiten, welche existenzielle Bedeutung Lehrer dieser<br />

Hauptschule für die äußerst stützungsbedürftige und problembelastete Schülerschaft<br />

besaßen und Schülern durch ihre pädagogische Kultur <strong>der</strong> Anerkennung überhaupt<br />

noch Bildungsoptionen offen hielten (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>, Wiezorek/Helsper <strong>2006</strong>,<br />

Wiezorek <strong>2006</strong>).<br />

Schule und Lehrer bleiben also durchaus – wenn eventuell auch in neuen Formen –<br />

bedeutsam für die Bildungsprozesse <strong>der</strong> Schüler. Betrachten wir nun genauer die<br />

Wandlungen im Verhältnis von Schule und Jugend, die ich im Folgenden<br />

stichpunktartig skizzieren möchte:<br />

Vom Bildungsprivileg zum Bildungszwang<br />

- Bis in die 1960er Jahre hinein galt: Höhere Bildung war das Privileg weniger, was<br />

darin zum Ausdruck kam, dass noch rund vier Fünftel aller Schüler die<br />

Volksschule besuchten.<br />

- Der gravierende Wandlungsprozess innerhalb von vier Jahrzehnten lässt sich<br />

daran ablesen, dass nur noch ca. ein gutes Fünftel eines Jahrganges – wenn<br />

auch mit großen Unterschieden zwischen den Bundeslän<strong>der</strong>n – die Hauptschule<br />

besucht. Die ehemals selbstverständliche Normalschullaufbahn wird damit heute<br />

zu einer schulischen Exklusionskarriere. Um Berufe erlernen und in sie<br />

einmünden zu können, für die vor vier Jahrzehnten noch ein<br />

Hauptschulabschluss ausreichte, ist heute mindestens <strong>der</strong> Realschulabschluss,<br />

wenn nicht das Abitur erfor<strong>der</strong>lich.<br />

- Damit geht ein Zwang zur weiterführenden Bildung einher: Für Jugendliche ist<br />

<strong>der</strong> mittlere Bildungsabschluss inzwischen <strong>der</strong> notwendige Abschluss um<br />

überhaupt weiterführende Bildungs- und berufliche Optionen offen halten zu<br />

können.<br />

Kurz: Wenn Jugendliche berufliche Zukunftsaussichten haben wollen, müssen sie an<br />

weiterführen<strong>der</strong> Bildung partizipieren, so dass erweiterte Bildung zunehmend mit<br />

Zwang und Druck verbunden ist. Sie wird vom exklusiven Privileg zu einem<br />

notwendigen Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> zukünftigen Selbsterhaltung für Jugendliche.<br />

Vom Bildungsversprechen zum Bildungsparadoxon<br />

- Mit dieser Entwicklung geht einher, dass Jugendliche immer mehr in Bildung<br />

investieren müssen, immer stärker in das „schulische Spiel“ involviert sein<br />

müssen, ohne sich aber sicher sein zu können, dass dies auch Zukunftsoptionen<br />

eröffnet.<br />

- Wenn für Jugendliche, die schulisch versagen o<strong>der</strong> unter dem mittleren<br />

Bildungsabschluss bleiben, dies per se die wahrscheinliche Anbahnung von

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