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Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW

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gefeierter Abiturredner <strong>der</strong> Schüler mit einer zugleich mehr als krisengeschüttelten<br />

Schülerbiographie. Diese wurzelt zum einen in <strong>der</strong> hoch ambivalenten Platzierung in<br />

seiner Familie und den Erfahrungen <strong>der</strong> Mitarbeit im elterlichen Restaurant, aus<br />

denen <strong>der</strong> Wunsch resultiert, dem zu entkommen:<br />

„auch (.) äh bei meinem Bru<strong>der</strong> war extrem früh klar dat wir Akademiker werden<br />

wolln extrem früh weil wir nich dat Leben haben wollten von ma-unseren Eltern und<br />

von den an<strong>der</strong>n Leuten die wir kennengelernt haben nich dieset stundenlange<br />

Rumstehn (.) dieset stundelange rumstehn und den Leuten in den Arsch zu kriechen<br />

boahh dat war das schlimmste den Leuten in den Arsch zu kriechen...“<br />

Tobias erleidet somit einen doppelten Zwang und darin wie<strong>der</strong>um, eine<br />

Beschämung: Er ist stark in die Bedienung im elterlichen Restaurant eingebunden<br />

und muss dabei auch die Form wahren, erlebt dies als demütigende Unterwürfigkeit<br />

und mangelnde Würde auf Seiten seiner Eltern, was durch den Migrantenstatus<br />

zusätzlich verschärft wird und bei ihm als „soziale Scham“ in Erscheinung tritt. So<br />

erfährt er die Familie als beschränkende Enge und will zusammen mit seinem Bru<strong>der</strong><br />

diesem „Kerker“ entfliehen: „das Restaurant nenn ich immer noch <strong>der</strong> Kerker <strong>der</strong> sich<br />

Familie nennt“.<br />

Tobias Silone findet am Märkischen Gymnasium eine engagierte Lehrerschaft, <strong>der</strong>en<br />

Bildungsideale um Reflexion, Kritikfähigkeit und soziales Engagement kreisen. Hier<br />

findet er zum einen intellektuelle Anregungen („extrem viel gelernt“) und ein<br />

umfassendes Konzept eines kritischen, sich einmischenden politischen Bürgers, das<br />

die Lehrer verkörpern und for<strong>der</strong>n (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>). Und zum an<strong>der</strong>en eine<br />

Toleranz gegenüber expressiven, ekstatischen Formen jugendlichen Protestes und<br />

subkultureller Aktivitäten, in die er zeitweise stark eingebunden ist, so dass er – auch<br />

in einer Krisensituation, in <strong>der</strong> ihm die Verweisung von <strong>der</strong> Schule droht – Anwälte<br />

auf Seiten <strong>der</strong> Lehrer findet, die für ihn bürgen. In <strong>der</strong> Oberstufe beschließt er, sich<br />

aus den überbordenden jugendkulturellen Aktivitäten stärker zurückzuziehen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Lehrer Heinrich, sein Sozialkundelehrer, wird für ihn – ohne<br />

dessen direktes Wissen – zu einer zentralen Bezugsperson, indem er Tobias durch<br />

sein breites Wissen, seine kritische Reflexivität, sein authentisches soziales und<br />

politisches Engagement beeindruckt. Tobias abonniert, ohne Wissen seiner Lehrer<br />

o<strong>der</strong> An<strong>der</strong>er, den Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung und stellt, kein<br />

schlechter Schüler mit im Schnitt Zweien und Dreien, den Antrag, die zwölfte Klasse<br />

freiwillig wie<strong>der</strong>holen zu dürfen, um dem Abiturdurchschnitt für ein Medizinstudium<br />

nahe zu kommen. Auch Herr Steinke, den er anschließend als<br />

Sozialwissenschaftslehrer erhält, wird ganz ähnlich wie <strong>der</strong> Lehrer Heinrich<br />

beschrieben: umfassend wissend, kritisch, unnachgiebig reflexiv, bohrend und<br />

nachfragend. In einer zentralen Unterrichtsszene ist Tobias <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> über<br />

detailliertes Wissen zu den Geschwistern Scholl verfügt und gibt dem Lehrer Steinke<br />

zu erkennen, dass er regelmäßig verschiedene anspruchsvolle Zeitungen ebenso<br />

wie historische und aktuelle politische und sozialwissenschaftliche Bücher liest.<br />

Darüber erhält er dessen umfassende Anerkennung. Diese Anerkennung, dass<br />

An<strong>der</strong>e merken, wie Tobias formuliert, dass jemand vor ihnen steht „<strong>der</strong> wirklich<br />

gebildet ist“, ist für ihn äußerst bedeutsam. So wird er auch im elterlichen Restaurant<br />

dadurch ein An<strong>der</strong>er, indem er mit ausgesuchten gebildeten Gästen gezielt das<br />

Gespräch sucht:<br />

„ist natürlich toll wenn de dann im Restaurant (.) Ärzte Professoren Lehrer o<strong>der</strong><br />

sonst wer sitzen und man natürlich geschätzt wird und die Leute fragen ‚ach wo ist<br />

denn <strong>der</strong> Sohnemann wo isn <strong>der</strong> Junior’ <strong>der</strong> hat uns letztens was Tolles erzählt (.) is<br />

natürlich toll...“.

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