Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
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Bertolt Brechts berühmter Geschichte von Herrn Keuner sollen wir nicht unseren<br />
Entwurf vom an<strong>der</strong>en Menschen lieben, son<strong>der</strong>n den an<strong>der</strong>en Menschen selbst.<br />
Pädagogen dagegen neigen dazu, unter Umständen sogar unter Berufung auf Bertolt<br />
Brecht, es sei durchaus in Ordnung, wenn wir uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen<br />
Entwurf machen; denn immerhin wollten wir ja nicht, dass er diesem Entwurf gleich,<br />
son<strong>der</strong>n nur, dass er ihm ähnlich werde. Ich habe Bertolt Brecht an<strong>der</strong>s verstanden;<br />
er will uns überhaupt davor bewahren, uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen Entwurf zu<br />
machen und unsere Liebe auf diesen zu richten. Unsere Liebe soll diesem Menschen<br />
selbst gelten; dazu aber gehört, dass wir auch das Geheimnis gelten lassen, das<br />
je<strong>der</strong> menschlichen Person innewohnt, und es uns versagen, dieses Geheimnis in<br />
einem Entwurf von dieser Person aufzulösen.<br />
Gerade von dieser Einsicht aus muss man pointiert festhalten: In <strong>der</strong> Schule werden<br />
nicht Fächer o<strong>der</strong> Stoffe unterrichtet, son<strong>der</strong>n junge Menschen. Lehrerinnen und<br />
Lehrer wissen deshalb, dass es entscheidend darauf ankommt, eine pädagogische<br />
Beziehung zu den Schülern zu entwickeln, und dass diese Beziehung von Empathie,<br />
von Interesse an <strong>der</strong> Person <strong>der</strong> Schüler getragen sein muss. Wem die Schüler<br />
gleichgültig sind o<strong>der</strong> wer sich gar durch sie gestört o<strong>der</strong> belästigt fühlt, hat verloren,<br />
bevor <strong>der</strong> Unterricht angefangen hat. Aber auch <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> einen Entwurf des<br />
Schülers vor Augen hat, dem dieser ähnlich werden soll, kann die Möglichkeiten<br />
einengen, die in ihm liegen. Diesen Möglichkeitsraum mit Schülern zu erkunden und<br />
nicht an ihnen vorbei – das ist wohl die größte Kunst bei Bilden als Beruf.<br />
3. Lehrerinnen und Lehrer brauchen eine geklärte Identität.<br />
Das Aufwachsen von Kin<strong>der</strong>n, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vollzieht sich<br />
heute im Nebeneinan<strong>der</strong> von verschiedenartigen, teilweise kontroversen<br />
Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen. Die<br />
öffentliche Schule für alle ist eine Pflichtveranstaltung des Staates für Kin<strong>der</strong>,<br />
Jugendliche und junge Erwachsene <strong>der</strong> verschiedensten sozialen, kulturellen,<br />
weltanschaulichen und religiösen Herkunft. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich<br />
indifferent aus unserer geistigen Situation heraushalten kann. Als Grundsatz gilt<br />
vielmehr, die plurale Wirklichkeit anzuerkennen und die Schüler und Schülerinnen mit<br />
ihr in pädagogisch besonnener Weise vertraut zu machen. Mehr noch: In einer<br />
demokratischen Gesellschaft nimmt die Schule ihren Auftrag nur wahr, wenn sie die<br />
nachwachsende Generation befähigt, Positionen einzunehmen und im<br />
Meinungsstreit auszutragen. In dem Spannungsgefüge, fremde Überzeugungen zu<br />
verstehen und zugleich eine eigene Auffassung zu entwickeln, soll je<strong>der</strong> seine<br />
Identität finden, die ihn in die Lage versetzt, begründet zu urteilen und Verantwortung<br />
zu übernehmen. Dem Religionsunterricht kommt hier eine beson<strong>der</strong>e Aufgabe zu. Mit<br />
dieser Zielgebung wird die Schule ihrem Auftrag nach kompensatorischem Lernen<br />
gerecht, indem sie das zum Lerninhalt macht, was nicht mehr selbstverständlich<br />
gelernt wird, aber für das Leben in Gemeinschaft notwendig ist.<br />
In dem Maße, in dem sich die Schule nicht nur als Unterrichtsanstalt versteht,<br />
werden die Lehrenden als Personen wichtig. Identifikatorisches Lernen wird durch<br />
die Glaubwürdigkeit eindrucksvoller Vorbil<strong>der</strong> ausgelöst. Sie machen Überzeugungen<br />
transparent. Indem Menschen für diese Überzeugungen einstehen, können sie<br />
an<strong>der</strong>en helfen, sich selbst ein eigenes Urteil zu bilden. Offene Lernprozesse lassen<br />
identifikatorische Angebote zu, sofern den Heranwachsenden <strong>der</strong> Spielraum bleibt,<br />
ihren individuellen Lernweg mitzugestalten. Es ist zwar offensichtlich schwieriger