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Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW

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Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort 1<br />

Programmübersicht 2<br />

Präses Alfred Buß<br />

Begrüßungsansprache 3<br />

Ministerin Barbara Sommer<br />

Grußwort 5<br />

Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />

Bilden als Beruf – Lehrer sein in evangelischer Perspektive 8<br />

Prof. Dr. Werner Helsper<br />

Verän<strong>der</strong>te Jugend – verän<strong>der</strong>te Schule:<br />

Aufgaben und Herausfor<strong>der</strong>ungen für den Lehrer(innen)beruf 20<br />

Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />

Religiöse Individualität und Christusbekenntnis.<br />

Theologische und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht 46<br />

Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong>:<br />

Schule mit Profil –<br />

christliche Präsenz (in <strong>der</strong> Schule) nicht allein im Religionsunterricht 58<br />

Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />

Wie gut sind evangelische Schulen? 79<br />

Präses Alfred Buß<br />

Predigt über 2. Korinther 3, 17 95<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Autorinnen und Autoren 99


- 2 -<br />

Vorwort<br />

Erstmals fand am 10. März <strong>2006</strong> in Dortmund ein „Tag für Lehrerinnen und Lehrer in<br />

<strong>der</strong> Evangelischen Kirche von Westfalen“ statt. Unter dem Motto „Wo <strong>der</strong> Geist des<br />

Herrn ist, da ist Freiheit“ trafen sich mehr als tausend Pädagogen und an<strong>der</strong>e an<br />

Bildung, Schule und Erziehung Interessierte, um in acht thematisch unterschiedlichen<br />

Foren, zahlreichen Workshops und auf einem Markt <strong>der</strong> Möglichkeiten über<br />

grundlegende Fragen von Religion und Bildung nachzudenken und sich über Schule,<br />

Erziehung und Beratung zu informieren. Es war eine Art „Bildungskirchentag“, <strong>der</strong><br />

den beson<strong>der</strong>en Stellenwert von Schule und Bildung für die Evangelische Kirche<br />

zum Ausdruck brachte, und zugleich ein Tag <strong>der</strong> Wertschätzung für die Arbeit <strong>der</strong><br />

Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Dass dieses Zeichen von den<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch so verstanden wurde, zeigt das überaus<br />

positive Echo, das <strong>der</strong> erste „<strong>Lehrertag</strong>“ ausgelöst hat:<br />

• „So viel Anerkennung, das tut mal richtig gut.“<br />

• „Allein die Tatsache, dass jede und je<strong>der</strong> spürte: Unserer Arbeit wird ein hoher<br />

Stellenwert beigemessen, sie ist in aller Unvollkommenheit wichtig! ermutigte und<br />

schenkte neues Selbstvertrauen.“<br />

• „Ich fand die Initiative für einen solchen Tag echt toll und hoffe, dass er wie<strong>der</strong>holt<br />

wird.“<br />

Deutlich wurde <strong>der</strong> Wunsch geäußert, dass diese Veranstaltung kein einmaliges<br />

Ereignis bleiben dürfe und in absehbarer Zeit wie<strong>der</strong>holt werden sollte.<br />

Voraussichtlich wird es im Jahr 2009 daher einen zweiten <strong>Lehrertag</strong> geben.<br />

Zugleich wurde von vielen Teilnehmenden, die am 10. März <strong>2006</strong> in Dortmund dabei<br />

waren, auch <strong>der</strong> Wunsch geäußert, ihnen den Eröffnungsvortrag von Bischof Huber,<br />

die Ansprachen von Präses Buß und einige Hauptvorträge aus den Foren in Form<br />

einer Dokumentation zugänglich zu machen. Dieser Bitte kommen wir hiermit nach.<br />

Wir verbinden damit die Hoffnung, dass die Anstöße und Anregungen des Tages in<br />

den Schulen und Gemeinden weiterwirken. Gern dürfen Sie zu diesem Zweck die<br />

Beiträge dieses Heftes vervielfältigen und an<strong>der</strong>en Interessierten zugänglich<br />

machen. Selbstverständlich können Sie auch weitere Exemplare dieser<br />

Dokumentation im Pädagogischen <strong>Institut</strong> anfor<strong>der</strong>n.<br />

Für den Vorbereitungskreis<br />

des ersten „<strong>Lehrertag</strong>es“<br />

Direktor des Pädagogischen <strong>Institut</strong>s


- 3 -<br />

09.30 Uhr Auftaktveranstaltung in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />

Präses Alfred Buß<br />

Ministerin Barbara Sommer<br />

10.00 Uhr Hauptvortrag<br />

„Bilden als Beruf.“<br />

Lehrersein in evangelischer Perspektive<br />

Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />

11.00 Uh Foren und Workshops<br />

• Schule im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

• Lehrerberuf heute<br />

Prof. Dr. Werner Helsper<br />

• Religionsunterricht<br />

Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />

• Schule und Kirchengemeinde<br />

Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong><br />

• Schule – Gottesdienst – Spiritualität – Seelsorge<br />

• Evangelische Schulen<br />

Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />

• Herausfor<strong>der</strong>ung Schule und Erziehung<br />

• Evangelisches Bildungsverständnis<br />

Markt <strong>der</strong> Möglichkeiten<br />

14.00 Uhr Dichterlesung in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />

„Mit dem Wort am Leben hängen.<br />

Prosa und Gedichte aus vierzig Jahren“<br />

Reiner Kunze<br />

16.30 Uhr Schlussgottesdienst in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />

„Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“<br />

Präses Alfred Buß


- 4 -<br />

Präses Alfred Buß<br />

Begrüßungsansprache<br />

„Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ Mit diesem Wort des Paulus aus<br />

dem 2. Brief an die Korinther (Kapitel 2,Vers 17) begrüße ich Sie alle ganz herzlich<br />

und heiße Sie in <strong>der</strong> Reinoldikirche willkommen. Wir haben Sie, die in Westfalen<br />

lebenden und arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer eingeladen, um mit Ihnen<br />

gemeinsam über Ihren Beruf nachzudenken, Sorgen und Probleme anzusprechen,<br />

aber auch Visionen für die Zukunft <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler zu entwerfen,<br />

Hoffnung zu wecken und über den engeren Bereich <strong>der</strong> Schulspezialisten hinaus<br />

eine größere Öffentlichkeit um Wertschätzung Ihrer alltäglichen Arbeit in den Schulen<br />

zu bitten. Als veranstaltende <strong>EKvW</strong> werden wir dabei von <strong>der</strong> Mitte unseres<br />

Glaubens aus argumentieren, für die das Symbol des Kreuzes steht. Vom Kreuz her<br />

wie<strong>der</strong>holen wir nicht einfach das, was ohnehin alle denken. Das Kreuz ist für uns<br />

das Zeichen, dass <strong>der</strong> Schöpfer <strong>der</strong> Welt sich auf die Nie<strong>der</strong>ungen unserer<br />

menschlichen Verhältnisse eingelassen hat und einlässt. Insofern verweist das Motto<br />

„Kreuz und Quer“ auf eine Grundstruktur unseres Redens und Handelns und hält<br />

uns zugleich offen für überraschende, in <strong>der</strong> Freiheit des Geistes begründete und<br />

sich neu einstellende Einsichten und Erfahrungen an diesem Tag und in unserem<br />

weiteren beruflichen und persönlichen Leben.<br />

Mehr als zuvor müssen wir um <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen und damit um <strong>der</strong><br />

Zukunft unserer Gesellschaft willen Bildung als Zentralaufgabe begreifen. In dieser<br />

von Kohleför<strong>der</strong>ung und Stahlproduktion geprägten Region lagen die Schätze lange<br />

Zeit vor allem unter <strong>der</strong> Erde. Heute aber gilt es viel mehr, die Begabungen von<br />

Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu entdecken, zu för<strong>der</strong>n, zu entwickeln und wachsen zu<br />

lassen, als weiter nach verborgenen Schätzen unter <strong>der</strong> Erde zu suchen.<br />

Das Bewusstsein um die Notwendigkeit von Bildungsreformen und um vermehrter<br />

Anstrengungen für eine höhere Bildungsqualität in allen Bereichen <strong>der</strong> schulischen<br />

und beruflichen Bildung eint die Menschen in diesem Land über Parteigrenzen und<br />

konfessionelle religiöse Prägungen hinweg. Frau Ministerin, Ihre Regierung weiß,<br />

dass die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Menschen im Land Vorfahrt für Bildung<br />

wünscht. Ihre Regierung soll auch wissen, dass sie dabei die volle Unterstützung <strong>der</strong><br />

Evangelischen Kirche erfährt. Wir würdigen ausdrücklich Anstrengungen und<br />

finanzielle Aufwendungen, die Ihre Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit<br />

unternommen hat. Wir sind allerdings auch davon überzeugt, dass Bildung ohne<br />

hervorragend ausgebildete, ohne sich immer neu fortbildende, ohne bestens<br />

motivierte, ohne begeisterte Lehrerinnen und Lehrer nicht gelingen kann. Keine<br />

Schule wird bei Kin<strong>der</strong>n fruchten, wenn die Lehrerinnen o<strong>der</strong> Lehrer ohne Esprit<br />

unterrichten o<strong>der</strong> gar an <strong>der</strong> Aufgabe verzagen. Ohne den Impetus <strong>der</strong> Lehrerinnen<br />

und Lehrer wird jede Reform im Bildungs- und Schulsystem scheitern.<br />

Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, brauchen für Ihre Arbeit, Unterstützung, Stärkung,<br />

Ermutigung, wenn sich die Qualität von Schulen und des alltäglichen Unterrichts<br />

wirklich verbessern soll und wenn wir dann auch im internationalen Vergleich wie<strong>der</strong><br />

bessere Ergebnisse erzielen wollen.<br />

Dabei ist natürlich auch auf Zahlen zu achten: auf die Zahl <strong>der</strong> Lehrerinnen und<br />

Lehrer insgesamt, auf die Zahl <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler in einer Klasse, auf die<br />

Zahl <strong>der</strong> Pflichtstunden für Lehrer und für Schüler, auf die tatsächlich erteilten und


- 5 -<br />

auf die wirklich ausgefallenen Stunden, auf die Bezahlung von Lehrerinnen und<br />

Lehrern, – und sicher ist auch auf den Umgang mit Zahlen im Unterricht selbst Wert<br />

zu legen, also auf die Fertigkeiten des Rechnens und <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Kompetenzen im weiteren Sinn, auch auf die Zahl <strong>der</strong><br />

gelesenen Texte und Bücher und die Menge des erworbenen Wissens sowie das<br />

messbare Niveau <strong>der</strong> erreichten Standards in den sprachlich-literarischen und<br />

historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereichen. Der verantwortliche<br />

Umgang mit Zahlen und Buchstaben ist überall selbstverständlich notwendig, wo<br />

Schule funktionieren soll.<br />

Aber auch bestens funktionierende Schulen degenerieren zu seelenlosen<br />

Lernfabriken, wenn in ihnen nicht begeisterte Lehrerinnen und Lehrer wirken, die<br />

selber nach Orientierung fragen und Schülern Orientierung geben wollen. Sie, meine<br />

sehr verehrten Damen und Herren in den Lehrerzimmern und Klassenräumen<br />

unserer Schulen, in den Hochschulen und Ausbildungsseminaren und in den<br />

Schulbehörden, haben die Chance und Möglichkeit, Schulen als „Häuser des<br />

Lebens und Lernens“ zu gestalten, wie es eine Denkschrift zur Schule <strong>der</strong> Zukunft<br />

vor einigen Jahren formuliert hat. Um diese Chance wahrnehmen zu können,<br />

brauchen Sie die Unterstützung <strong>der</strong> Politik, die Mitarbeit <strong>der</strong> Eltern, die Solidarität <strong>der</strong><br />

ganzen Gesellschaft. Wir hoffen, dass Sie nach diesem Tag heute mit Rückenwind in<br />

die Schulen zurückkehren.<br />

Der Ratsvorsitzende <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Professor Dr.<br />

Wolfgang Huber, wird gleich aus evangelischer Perspektive über das Lehrersein<br />

sprechen: „Bilden als Beruf“. Über das weitere Programm des Tages sind Sie<br />

informiert. Ich danke allen, wirklich allen, die diesen Tag engagiert vorbereitet haben<br />

und durchführen. Ich begrüße die Schülerinnen und Schüler, die heute gekommen<br />

sind, die big-band des Sö<strong>der</strong>blom-Gymnasiums Espelkamp, die heute hier<br />

vertretenen Eltern. Und nicht zuletzt begrüße ich sehr herzlich alle Lehrerinnen und<br />

Lehrer. Schön, dass Sie alle da sind!<br />

Und dann freuen wir uns auf den exemplarischen Beitrag von Reiner Kunze, <strong>der</strong> ja<br />

nicht nur „schön“ schreiben und reden kann, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> es so häufig verstanden hat<br />

in den vergangenen Jahrzehnten, uns Deutschen in Ost und West mit seiner Prosa<br />

und mit seinen Gedichten neue Achtsamkeit, neuen Mut, neue Lebenszuversicht zu<br />

„vermitteln“ – o<strong>der</strong> darf ich sagen: „einzuhauchen“? Damit sind wir wie<strong>der</strong> bei dem<br />

Leitwort dieses Tages und bei dem Geist, von dem Paulus schreibt. Ausdrücklich<br />

werden wir darauf im Gottesdienst zum Abschluss des Tages hier in <strong>der</strong><br />

Reinoldikirche Bezug nehmen. Uns allen wünsche ich, dass ein Hauch des Geistes<br />

und <strong>der</strong> Freiheit des Glaubens diesen ganzen Tag durchzieht – und dass wir etwas<br />

von diesem Durchzug und frischen Wind zu spüren bekommen.


- 6 -<br />

Ministerin Barbara Sommer<br />

Grußwort<br />

In <strong>der</strong> DDR wurde jedes Jahr am 12. Juni <strong>der</strong> „Tag des Lehrers“ gefeiert; an diesem<br />

Tag wurde <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Leistungen <strong>der</strong> Lehrenden gedacht und vorbildliche<br />

Pädagogen wurden ausgezeichnet. Ich will nun wirklich nicht <strong>der</strong>artige Ehrungen<br />

fortsetzen. Die heutige Veranstaltung heißt ja auch „Tag für Lehrerinnen und Lehrer“<br />

und sie ist natürlich nicht sozialistisch ausgerichtet.<br />

Dennoch glaube ich, dass es sinnvoll ist, wenn <strong>der</strong> heutige Tag nicht nur <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zukünftigen Anfor<strong>der</strong>ungen dient, son<strong>der</strong>n auch als Tag des<br />

Dankes und <strong>der</strong> Anerkennung für die schwierige Arbeit gesehen wird. Wir wollen<br />

nicht einzelne beson<strong>der</strong>s hervorheben, son<strong>der</strong>n allen Dank sagen und ihnen die<br />

gebührende Anerkennung zollen für die schwierige Arbeit, die sie jeden Tag leisten.<br />

Das öffentliche Bild <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> des Lehrers hat sich gottlob deutlich<br />

gewandelt: Es liegt zwar in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Sache, dass sich Schülerinnen und Schüler<br />

immer einmal wie<strong>der</strong> über ihre Lehrer ärgern – das ist ja umgekehrt auch so. Bei aller<br />

Kritik wird aber doch zunehmend die hohe Verantwortung und die Schwierigkeit <strong>der</strong><br />

Arbeit anerkannt. Denn nicht umsonst sagen viele: Lehrer möchte ich nicht sein. Sie<br />

sehen zu Recht die Belastungen und den Stress des Lehrerberufs. Ich habe den<br />

Eindruck: Das wird auch von einer breiten Öffentlichkeit inzwischen gesehen! Und<br />

diesen Wandel finde ich höchst überfällig!<br />

Die romantisierende Verklärung <strong>der</strong> Lehrer aus <strong>der</strong> Feuerzangenbowle ist <strong>der</strong><br />

Einsicht gewichen, dass nur eine hohe Professionalität <strong>der</strong> Lehrkräfte eine tragfähige<br />

Bildung und Ausbildung <strong>der</strong> jungen Menschen sichert.<br />

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfüllen Ihre Aufgaben mit hohem Engagement<br />

und persönlichen Einsatz. Das ist mir sehr wohl bewusst und ich weiß, dass das<br />

auch den meisten Eltern und den meisten Schülerinnen und Schülern deutlich ist.<br />

Deshalb nutze ich gerne die Gelegenheit, um Ihnen Dank und Anerkennung<br />

auszusprechen.<br />

Die verschiedenen Arbeitsgruppen des heutigen Tages zeigen, wie vielfältig die<br />

neuen Aufgaben- und Problemstellungen sind, denen wir uns gemeinsam – Schule<br />

und Ministerium – zu stellen haben. Aber ich denke, die Breite <strong>der</strong><br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen zeigt, wie sehr wir mit unserer Arbeit in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

und <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklung stehen. Sie macht auch deutlich, dass wir<br />

diese Entwicklung mitgestalten und mitgestalten müssen – im Interesse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

und Jugendlichen und im Interesse einer zukunftsfähigen Gesellschaft.<br />

Sie wissen: Mir geht es in allererster Linie darum,<br />

o wie wir unsere Kin<strong>der</strong> angemessen zum Lernen herausfor<strong>der</strong>n und sie för<strong>der</strong>n<br />

können,<br />

o wie wir sie in die Lage versetzen, ihre jeweilige Zukunft zu meistern,<br />

o wie wir ihre Talente för<strong>der</strong>n, ihre Stärken entwickeln,<br />

und<br />

o ihre Schwächen vermin<strong>der</strong>n können.<br />

Der Ausgangspunkt meiner Politik ist es, das Wohl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen als<br />

Maßstab aller Dinge zu betrachten.


- 7 -<br />

Ich lasse mich dabei leiten von einem christlichen Menschenbild, das jeden<br />

Einzelnen als einzigartiges Individuum von Gott geschaffen – und zwar so und nicht<br />

an<strong>der</strong>s geschaffen – sieht:<br />

So wie je<strong>der</strong> Einzelne ausgestattet ist mit Talenten, Fähigkeiten und Fertigkeiten, tritt<br />

er uns als Schüler o<strong>der</strong> als Schülerin entgegen. So haben wir sie o<strong>der</strong> ihn<br />

anzunehmen. Daran haben wir unser pädagogisches Bemühen auszurichten.<br />

Leitbild ist deshalb nicht eine idealisierte, quasi abstrakte Persönlichkeit, die es<br />

anzustreben gilt, son<strong>der</strong>n die umfassende För<strong>der</strong>ung des Einzelnen zu seinem<br />

Besten.<br />

Ich sehe in <strong>der</strong> Verschiedenartigkeit <strong>der</strong> Menschen, und gerade auch <strong>der</strong> jungen<br />

Menschen, ein hohes Gut: Eines, das „den Menschen ausmacht“, den wir<br />

aufzunehmen und zu för<strong>der</strong>n haben.<br />

Mein Ziel ist <strong>der</strong> begabungsgerechte Unterricht. Nur er wird die Talente unserer<br />

Kin<strong>der</strong> entdecken, entwickeln und entfalten. Nur er wird dem einzelnen Kind gerecht<br />

werden. Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Schule meint deshalb nicht eine gleichmacherische,<br />

systembezogene Gerechtigkeit: Sie fragt vielmehr danach, was dem einzelnen Kind<br />

gerecht wird.<br />

Von großer Bedeutung ist für mich weiter die früher selbstverständliche Verbindung<br />

zwischen Bildung und Erziehung.<br />

Diese Selbstverständlichkeit scheinen wir heute nicht mehr so klar im Blick zu haben.<br />

Wir sehen unsere heutige Welt viel mehr von „Sachlogiken“,<br />

„Globalisierungserfor<strong>der</strong>nissen“ o<strong>der</strong> ökonomischer Rationalität geprägt als von <strong>der</strong><br />

christlichen Grundüberzeugung. Wettbewerbsdenken und Effizienzsteigerung<br />

scheinen sich zu den Götzen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaften entwickelt zu<br />

haben, an denen sich Alles und Je<strong>der</strong> ununterbrochen auszurichten hat.<br />

Dem will ich entschieden entgegen treten.<br />

Nicht, weil ich die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft nicht erkenne, son<strong>der</strong>n<br />

weil ich <strong>der</strong> Überzeugung bin, dass eine Gesellschaft und auch eine Ökonomie <strong>der</strong><br />

Zukunft ohne Menschen mit Bildung nicht lebensfähig und natürlich auch nicht<br />

lebenswert ist. Denn nur Bildung, die den ganzen Menschen im Blick hat, erlaubt die<br />

Einordnung von Gelerntem o<strong>der</strong> erlaubt die Bewertung von Behauptungen und kann<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen gerechtfertigt erscheinen lassen. Und aus dieser Sichtweise ergibt<br />

sich auch <strong>der</strong>en ökonomische Bedeutung: Reflexion und Kritik sind Grundelemente<br />

einer freien und wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaft.<br />

Wir wollen das Erziehungsthema wie<strong>der</strong> in das Licht <strong>der</strong> Öffentlichkeit rücken: Aber<br />

natürlich nicht mit simplen Rezepten wie sie in Fernsehsendungen wie „Super<br />

Nanny“ präsentiert wurden, son<strong>der</strong>n differenzierter, kindgerechter und damit letztlich<br />

auch zum Wohle <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Gleichzeitig gilt, dass wir die schulische Erziehungsarbeit nicht als zusätzliche<br />

Aufgabe verstehen dürfen, son<strong>der</strong>n als wesentlichen Bestandteil des Lehrerberufs.


- 8 -<br />

Es ist und bleibt eine falsche Sicht auf die Dinge, wenn Lehrkräfte sagen, sie seien<br />

Chemiker o<strong>der</strong> Mathematiker o<strong>der</strong> Germanisten! Sie unterrichten nicht Fächer,<br />

son<strong>der</strong>n Kin<strong>der</strong>!<br />

Sie sind vor allem an<strong>der</strong>en Lehrkräfte und För<strong>der</strong>er – und auch For<strong>der</strong>er – <strong>der</strong><br />

Schülerinnen und Schüler! Sie sind als Menschen und als Fachleute Vorbil<strong>der</strong> für die<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen. Sie sind als fachkundige und pädagogisch ausgebildete<br />

Erwachsene Begleiter und auch Korrektiv kindlicher o<strong>der</strong> jugendlicher Entwicklung.<br />

Allerdings: Sie sind nicht unfehlbar. Ihre fachliche und menschliche Kritikbereitschaft<br />

muss gepaart sein mit ihrer Bereitschaft zu angemessener Selbstreflexion und<br />

Selbstkritik.<br />

Ich weiß, dass Lehrer heute noch viel zu oft als Einzelkämpfer agieren – und so den<br />

Erfolg ihrer Klasse, vielmehr aber noch den Misserfolg <strong>der</strong> Klasse als eigenes<br />

Verdienst o<strong>der</strong> eben eigenes Versagen erleben.<br />

Wir sollten vielmehr die Chancen nutzen, die im konstruktiven kollegialen Austausch,<br />

in <strong>der</strong> gegenseitigen Beratung und Hilfestellung liegen.<br />

Der heutige Tag kann, nein: er soll dazu beitragen. Im Meinungsaustausch, im<br />

gegenseitigen Befragen und im gegenseitigen Erkennen können wir erfahren, 'nicht<br />

allein gelassen zu sein', wie es Präses Buß in seinem Einleitungswort geschrieben<br />

hat.<br />

Ihm und allen Organisatoren dieser Veranstaltung will ich bereits im Voraus danken.<br />

Ich wünsche uns allen einen anregenden, wirklich gemeinsamen Tag, aus dem wir<br />

mit neuer Kraft und neuer Stärke hervorgehen!


- 9 -<br />

Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />

Bilden als Beruf – Lehrer sein in evangelischer Perspektive<br />

I.<br />

„Bilden als Beruf“ – damit verbinden sich für jeden und jede von Ihnen sehr<br />

unterschiedliche Assoziationen, Erfahrungen und Haltungen. Die Internet-<br />

Suchmaschine „Google“ findet bei einer Eingabe des Stichwortes „Lehrerbildung“<br />

immerhin über 2,2 Millionen Verweise. Aber trotz <strong>der</strong> Fülle: scheinbar ist klar, was mit<br />

Lehrersein und Lehrerbildung gemeint ist. Die Kultusministerkonferenz hat im Jahr<br />

2004 Standards für die Lehrerbildung verabschiedet, in denen sie die folgenden, von<br />

<strong>der</strong> Kultusministerkonferenz und den Lehrerverbänden gemeinsam formulierten Ziele<br />

aufgreift:<br />

1. Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen. Ihre<br />

Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete<br />

Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre<br />

individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von<br />

Lehrkräften entscheidet sich an <strong>der</strong> Qualität ihres Unterrichts.<br />

2. Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass die Erziehungsaufgabe in <strong>der</strong><br />

Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist. Dies gelingt umso<br />

besser, je enger die Zusammenarbeit mit den Eltern gestaltet wird. Beide Seiten<br />

müssen sich verständigen und gemeinsam bereit sein, konstruktive Lösungen zu<br />

finden, wenn es zu Erziehungsproblemen kommt o<strong>der</strong> Lernprozesse misslingen.<br />

3. Lehrerinnen und Lehrer üben ihre Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im<br />

Unterricht und bei <strong>der</strong> Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und<br />

Berufswege kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst aus. Dafür sind hohe<br />

pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften<br />

erfor<strong>der</strong>lich.<br />

4. Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen<br />

wie in an<strong>der</strong>en Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen<br />

Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu<br />

berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer Kontakte zu<br />

außerschulischen <strong>Institut</strong>ionen sowie zur Arbeitswelt generell pflegen.<br />

5. Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an <strong>der</strong> Schulentwicklung, an <strong>der</strong><br />

Gestaltung einer lernför<strong>der</strong>lichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas.<br />

Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an internen und externen<br />

Evaluationen.<br />

Diese Punkte beschreiben einen sehr weiten Horizont gelingenden Lehrer-Seins und<br />

beruflicher Professionalität. Der Alltag von Lehrkräften sieht dagegen oft an<strong>der</strong>s aus:<br />

Durch das schlechte Abschneiden bei internationalen Vergleichsstudien lastet auf<br />

Schule und Lehrern ein immenser öffentlicher und politischer Druck. Reformen im<br />

Schuljahrestakt verän<strong>der</strong>n die Arbeitsbedingungen tiefgreifend. Einerseits werden<br />

Stundenzahlen und Klassengrößen erhöht, Aufgaben durch Schul-, Unterrichts-, und<br />

Programmentwicklung erweitert und Lehrkräfte auf differenzierte För<strong>der</strong>maßnahmen<br />

und Vergleichsarbeiten, Evaluation und Kontrolle verpflichtet. An<strong>der</strong>erseits werden<br />

finanzielle Ressourcen vermin<strong>der</strong>t und Gehälter gekürzt.


- 10 -<br />

Die Karikatur des Lehrerberufs als des am besten bezahlten Halbtagsjobs <strong>der</strong><br />

Republik sollte schon lange überholt sein, im Bild <strong>der</strong> Lehrer in <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist<br />

sie nicht selten noch virulent. Lehrerhasser machen sie zur Projektionsfläche eigener<br />

Aggressionen. Das könnte vielleicht durchaus auch Anlass für einen Karikaturenstreit<br />

sein, <strong>der</strong> dann freilich ganz an<strong>der</strong>s durchzufechten wäre als <strong>der</strong> Karikaturenstreit,<br />

den wir gegenwärtig erleben.<br />

Vielleicht liegt auch in einem verbreiteten Mangel an Anerkennung und<br />

Wertschätzung für den Beruf <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers einer <strong>der</strong> Gründe für das<br />

mäßige deutsche Abschneiden bei den PISA-Untersuchungen. Im PISA-Wun<strong>der</strong>land<br />

Finnland beispielsweise verfügt <strong>der</strong> Lehrerberuf über höchste gesellschaftliche<br />

Anerkennung. Demgemäß sind es oft die Besten und Fähigsten eines Jahrgangs, die<br />

Lehrer werden.<br />

Neben den Schwierigkeiten, die sich aus einen Mangel an gesellschaftlicher Achtung<br />

und Unterstützung dieses Berufs ergeben, stehen die Lehrkräfte vor großen<br />

pädagogischen Herausfor<strong>der</strong>ungen, von denen ich einige nennen will.<br />

- Lernverhalten und Lernbedingungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler verän<strong>der</strong>n sich,<br />

vor allem unter dem Einfluss von Medien und neuen Technologien.<br />

- Das Sozialverhalten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler ist im Umbruch. Zu nennen sind<br />

beispielsweise Defizite in <strong>der</strong> Bereitschaft und Fähigkeit zu Kommunikation und<br />

Verständigung sowie mangelnde Toleranzbereitschaft und fehlende<br />

Umgangsformen.<br />

- Viele Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erleben Krisen, die durch familiäre Umbrüche<br />

verursacht sind.<br />

- Gesamtgesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierungs- und Globalisierungsprozesse wirken<br />

sich verunsichernd auf Orientierung und Verhalten Jugendlicher aus; das verbindet<br />

sich oft mit einem Rückgang <strong>der</strong> Anstrengungsbereitschaft, weil Jugendliche daran<br />

zweifeln, dass diese Anstrengung für irgend etwas nütze ist.<br />

- Verschärfte wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausleseprozesse vermin<strong>der</strong>n die<br />

künftigen beruflichen Chancen vieler Kin<strong>der</strong> und Jugendlicher und begünstigen<br />

konkurrenzorientierte Verhaltensweisen.<br />

Auf dem Hintergrund <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Bedingungen ist es verständlich, dass ein<br />

Aktionsplakat <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland große<br />

Resonanz fand, auf dem es heißt:<br />

Als Lehrer, als Lehrerin möchte ich eigentlich:<br />

- jedem einzelnen Schüler helfen – und muss ihn doch wie ein Achtundzwanzigstel<br />

Klasse behandeln,<br />

- Freude an <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> Schule haben – und empfinde sie so häufig als Last,<br />

- den Schülern wirklich Partner sein – und muss doch laufend die Autorität<br />

herausspielen,<br />

- jeden Schüler ermutigen, bestärken, loben – und kritisiere, schimpfe, drohe, strafe<br />

jeden Tag,


- 11 -<br />

- Zeit haben für die Schüler, für ihre Probleme, Hoffnungen, Wünsche – und lasse<br />

mich doch von meinen Stoffplänen hetzen,<br />

- gerade die schwächeren Schüler för<strong>der</strong>n – und finde mich damit ab, dass sie<br />

schwach begabt sind,<br />

- von Kollegen lernen – und bin froh, wenn sie aus meinem Unterricht bleiben,<br />

- meine Disziplinprobleme mit den Kollegen besprechen – und fürchte ihr Urteil,<br />

- die ganze Schule pädagogisch auf den Kopf stellen – und resigniere vor<br />

Klassenstärken, Zensuren, Erlassen,<br />

- politisch mithelfen die Schule schülergerechter zu machen – und zögere vor jedem<br />

vollen Engagement,<br />

- Erfolge sehen, durch sie Bestätigung, Lob erfahren – und spüre laufend<br />

Misserfolge, Versagen, Scheitern,<br />

- mit den Eltern eng zusammenarbeiten – und habe doch Angst vor <strong>der</strong>en<br />

Überheblichkeit, Gleichgültigkeit, Verallgemeinerung, Besserwisser-Ratschlägen,<br />

Anspruch, Überfor<strong>der</strong>ung, vor meiner Angst vor ihnen.<br />

In <strong>der</strong> Spannung zwischen gefor<strong>der</strong>ten Rahmenbedingungen und dem kritischen<br />

Blick auf die tatsächlichen, gesellschaftlichen wie persönlichen Möglichkeiten suchen<br />

wir eine evangelische Perspektive auf das Lehrer-Sein unter <strong>der</strong> Überschrift: Bilden<br />

als Beruf.<br />

II.<br />

Wenn wir im emphatischen Sinn von einem Beruf sprechen, dann reden wir von einer<br />

Schlüsselaufgabe, die sich einer Gesellschaft im Ganzen stellt. Politik beispielsweise<br />

ist ein Beruf nicht so sehr <strong>der</strong> Politiker, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft. Erst von<br />

hier aus treten die beson<strong>der</strong>en Aufgaben <strong>der</strong>er in den Blick, die Politik zu ihrem Beruf<br />

machen. So haben wir es 1985 in <strong>der</strong> Demokratie-Denkschrift <strong>der</strong> EKD formuliert und<br />

im vergangenen Jahr bekräftigt. Recht ist ein Lebenselement <strong>der</strong> ganzen<br />

Gesellschaft. Deshalb gehört die Verantwortung für das Recht ebenso zu den<br />

gesellschaftlichen Schlüsselaufgaben wie diejenige für Gesundheit. Die<br />

Verkündigung des Evangeliums ist das Anliegen <strong>der</strong> ganzen christlichen Kirche;<br />

wegen dieses ihres gemeinsamen Berufs legt sie sich fest auf den Schlüsselberuf<br />

<strong>der</strong> Pfarrerin und des Pfarrers.<br />

Bilden ist in einem ganz herausgehobenen Sinn ein Beruf <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft.<br />

Eine Gesellschaft, <strong>der</strong>en Bildungsprozesse verkümmern, verkümmert selbst. Eine<br />

Gesellschaft, die vergisst, dass die professionellen Bildungsberufe stellvertretend für<br />

sie im Ganzen wahrgenommen werden, ist eine selbstvergessene Gesellschaft. Eine<br />

Gesellschaft, die meint, sie könne sich ihren eigenen Bildungsaufgaben durch<br />

Delegation auf die Lehrerinnen und Lehrer entledigen, genügt den<br />

Minimalbedingungen einer verantwortlichen Gesellschaft nicht.<br />

Die Evangelische Kirche setzt sich dafür ein, dass Bildung als gesellschaftliches<br />

Schlüsselthema wie<strong>der</strong> ernst genommen wird. Dabei leiten uns fünf entscheidende<br />

Grundannahmen:<br />

1) Wir gehen von einem subjektorientierten Bildungsverständnis aus. Menschen sind<br />

Subjekte ihres Bildungsprozesses, nicht nur Objekte <strong>der</strong> Bildungsanstrengungen<br />

an<strong>der</strong>er.


- 12 -<br />

2) Wir gehen von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis aus.<br />

Orientierungswissen ist so wichtig wie Verfügungswissen, Glaubenswissen braucht in<br />

allen Bildungsvorgängen seinen Ort.<br />

3) Wir gehen von <strong>der</strong> Vorstellung lebenslangen Lernens aus. Bildung prägt die<br />

menschliche Biographie im Ganzen.<br />

4) Wir gehen von einem gerechtigkeitsorientieren Ansatz von Bildung aus. Wir finden<br />

uns nicht damit ab, dass Bildungsferne sich vererbt. Dieser Ansatz prägt unser<br />

Engagement in den eigenen kirchlichen Bildungseinrichtungen ebenso wie unser<br />

Engagement im staatlichen Bildungswesen.<br />

5) Wir orientieren uns am Leitbild einer gottoffenen Humanität. Der Sinn für die<br />

unantastbare Würde des Menschen und <strong>der</strong> Sinn für die Wirklichkeit Gottes gehören<br />

in unserem Verständnis zusammen. Verwurzelung in einer geklärten religiösen<br />

Identität und Dialogkultur sind uns deshalb in gleicher Weise wichtig. Das prägt unser<br />

Engagement für den Religionsunterricht wie für das pädagogische Klima im Ganzen<br />

in gleicher Weise.<br />

Beides ist in gleicher Weise notwendig. Ohne Zweifel ist gegenwärtig das<br />

Engagement für den Religionsunterricht in ganz beson<strong>der</strong>er Weise gefor<strong>der</strong>t. Ich<br />

kenne kein Unterrichtsfach, an das gegenwärtig vergleichbar hohe Erwartungen<br />

gestellt würden. Das gilt im Blick auf die Identifikation <strong>der</strong> Lehrenden mit dem Fach<br />

und seinen Inhalten, von <strong>der</strong> stets zu erneuernden Motivation <strong>der</strong> Schülerinnen und<br />

Schüler, das Fach aus freien Stücken zu bejahen, wie <strong>der</strong> Eltern, den Besuch des<br />

Faches durch ihre Kin<strong>der</strong> zu unterstützen. Es gilt für den Dialog <strong>der</strong><br />

Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit ihren Kolleginnen und Kollegen, die<br />

nicht selten dem Religionsunterricht mit großen Reserven gegenüberstehen, aber<br />

zugleich von den Religionslehrerinnen und Religionslehrern Auskunft erwarten,<br />

sobald sie ihrer eigenen Unkenntnis in elementaren Fragen des Glaubenswissens<br />

und <strong>der</strong> religiösen Bildung ansichtig werden. Ein nicht unwichtiger Teil des<br />

Religionsunterrichts findet heute in den Lehrerzimmern statt.<br />

Religion ist ein Großthema des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Die Vorstellung, dass religiöse<br />

Fragen an Bedeutung verlieren und deshalb auch an <strong>der</strong> Schule unwichtig werden,<br />

hat sich binnen weniger Jahre als unzutreffend erwiesen. Der Gedanke, dass<br />

gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung automatisch zur Säkularisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

und damit zum Verschwinden religiöser Fragen führe, führt in die Irre.<br />

Dementsprechend wächst die Bedeutung des Religionsunterrichts an den Schulen.<br />

Es ist deshalb verfehlt, wenn man auf die heutige Situation mit <strong>der</strong> Einführung eines<br />

Einheitsfachs Ethik für alle Schülerinnen und Schüler meint reagieren zu sollen. In<br />

Berlin, so <strong>der</strong>gleichen für die Sekundarstufe I – also im Berliner Fall von <strong>der</strong><br />

Jahrgangsstufe 7 an – geplant wird, muss man als Folge eine weitgehende<br />

Verdrängung des Religionsunterrichts aus diesem Bereich befürchten. Angesichts<br />

<strong>der</strong> Verdichtung des Unterrichts und <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Pflichtstundenzahl in diesen<br />

Jahrgangsstufen wird man von einer zusätzlichen Wahl des Religionsunterrichts (<strong>der</strong><br />

nicht als ordentliches Unterrichtsfach gilt) kaum ausgehen können. Dabei wird <strong>der</strong><br />

Ethikunterricht, <strong>der</strong> allen Religionen und Weltanschauungen gegenüber neutral sein<br />

soll, die Erwartung, dass Schüler in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit einer<br />

Lehrerpersönlichkeit eine eigene Position entwickeln können, nicht erfüllen können.<br />

Er wird eher an eine Art des Musikunterrichts erinnern, in dem <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> dem


- 13 -<br />

Lehrer untersagt ist, ein bestimmtes Instrument zu spielen, damit die<br />

Gleichberechtigung aller Instrumente nicht in Frage gestellt wird.<br />

Für ein umfassendes Verständnis von Bildung – unter Einschluss eines guten<br />

Religionsunterrichts und bei bewusster Pflege <strong>der</strong> Dialogkultur zwischen<br />

unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Positionen – sollte sich in<br />

meinem Verständnis die Gesellschaft im Ganzen engagieren. Sie muss insgesamt<br />

ein Interesse daran haben, dass Bildung nicht auf Ausbildung reduziert, son<strong>der</strong>n<br />

ganzheitlich wahrgenommen wird. Sie sollte im Ganzen die For<strong>der</strong>ung, dass junge<br />

Menschen auf gesellschaftliche und arbeitsweltorientierte Anfor<strong>der</strong>ungen vorbereitet<br />

werden, mit dem Wi<strong>der</strong>stand dagegen verbinden, dass Bildung im Ganzen verzweckt<br />

und ökonomisiert wird. Wir brauchen in unserer Gesellschaft insgesamt einen neuen<br />

Bildungsdiskurs. Der beson<strong>der</strong>e Beruf <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers hat in diesem<br />

Rahmen seinen Ort. Der Begriff des Berufs ist ja eine reformatorische Prägung.<br />

Luther hat darauf beharrt, dass nicht nur diejenigen von Gott in ihren Stand berufen<br />

sind, die ein beson<strong>der</strong>s heiligmäßiges Leben führen, die Mönche und Nonnen also.<br />

Son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong> Mensch führt sein Leben vor Gott. Je<strong>der</strong> ist dazu berufen, einem<br />

beson<strong>der</strong>en Auftrag Gottes zu entsprechen und darin eine Aufgabe wahrzunehmen,<br />

die dem Nächsten zu Gute kommt. Göttlicher Auftrag und Liebe zum Nächsten<br />

bestimmen die Wahrnehmung je<strong>der</strong> Tätigkeit, von <strong>der</strong> Stallmagd bis zum Fürsten,<br />

wie Luther sagen kann. Ehrenamtliche Tätigkeit und Familienarbeit sind in diesen<br />

Blick auf den Beruf gleichberechtigt einbezogen.<br />

Die stellvertretende Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Schlüsselaufgabe und<br />

die Orientierung am Auftrag Gottes wie an <strong>der</strong> Liebe zum Nächsten – das sind also<br />

die beiden Grundzüge am Begriff des Berufs, <strong>der</strong> Profession, wie sie uns bisher<br />

entgegengetreten sind. Gesellschaftliche Anerkennung, persönliche Professionalität<br />

und Einsatzbereitschaft sowie die angemessene und faire Ausgestaltung und<br />

Ausstattung des Berufs – das sind die Folgerungen, die sich aus einem solchen<br />

Ansatz ergeben. Diese Gesichtspunkte sollen im Blick bleiben, wenn ich mich<br />

vertiefend Überlegungen zur Profession <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers in<br />

evangelischer Perspektive zuwende. Dabei orientiere ich mich an dem Leitwort für<br />

den heutigen Tag, das vollständig so heißt: Der Herr ist <strong>der</strong> Geist; wo aber <strong>der</strong> Geist<br />

des Herrn ist, da ist Freiheit. Ich tue das umso lieber, als es sich dabei um ein<br />

persönliches Leitwort von mir handelt. Immerhin wurde es meiner Frau - die übrigens<br />

Lehrerin ist - und mir vor vierzig Jahren als Trauspruch mit auf den Weg gegeben.<br />

Das prägt, wie alle wissen, die Vergleichbares erlebt haben. Deshalb muss ich mich<br />

wohl auch heute trauen, mich an dieses Wort zu halten.<br />

1. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiheit und för<strong>der</strong>n Freiheit.<br />

Das evangelische Bildungs- und Erziehungsverständnis ist vom Gedanken <strong>der</strong><br />

Freiheit geprägt. Das hat die EKD-Synode in Berlin-Spandau in ihrem legendären<br />

Wort zur Schulfrage 1958, vor bald einem halben Jahrhun<strong>der</strong>t also, erklärt. Sie hat<br />

sich auf die Freiheit berufen, zu <strong>der</strong> allein Christus befreit, und sich zu einem freien<br />

Dienst an einer freien Schule bereit erklärt.<br />

Das sind starke Worte. Denn man darf nicht vergessen: Das war eine Zeit, in <strong>der</strong> in<br />

den Schulen die Prügelstrafe noch an <strong>der</strong> Tagesordnung war und in vielen Heimen<br />

und Erziehungsanstalten – auch in evangelischer Trägerschaft – eine erschreckende<br />

Unfreiheit herrschte. Erst jetzt finden etliche Betroffene den Mut und die Kraft, über


- 14 -<br />

das dort Erlittene zu sprechen. Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber<br />

wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim<br />

Namen genannt wird, wird die Würde <strong>der</strong> betroffenen Menschen heute genauso<br />

verletzt wie damals. Das Wort <strong>der</strong> evangelischen Kirche zur Schulfrage atmet einen<br />

an<strong>der</strong>en Geist. Es stellt eine Absage an alle geschlossenen, totalitären und<br />

weltanschaulich-religiös überhöhten Bildungs- und Erziehungskonzepte dar – auch<br />

an alle mo<strong>der</strong>nen Zwänge funktionaler Verwertbarkeit von Bildungsleistungen.<br />

Dieser Ansatz reicht bis in die Zeit <strong>der</strong> Bekennenden Kirche zurück. Allerdings muss<br />

man sich auch deutlich machen, welches Verständnis von Freiheit dabei im Blick<br />

war. Exemplarisch kann man sich das an Überlegungen Dietrich Bonhoeffers<br />

verdeutlichen, dessen einhun<strong>der</strong>tsten Geburtstag wir vor einem Monat begangen<br />

haben. Das Leitbild, das er entwirft, ist durch verantwortete und verantwortliche<br />

Freiheit geprägt. Ein an<strong>der</strong>es Verständnis von Freiheit ist also leitend als dasjenige,<br />

das in den letzten Jahrzehnten unter <strong>der</strong> Vorherrschaft individualistischer Kategorien<br />

entworfen worden ist. Freiheit wird in diesem Leitbild niemals als nur je eigene<br />

Freiheit verstanden. Vielmehr muss gefragt werden, ob <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> eigenen<br />

Freiheit auch gegenüber dem an<strong>der</strong>en verantwortet werden kann. Auf seine Freiheit<br />

Rücksicht zu nehmen, gilt nicht als Einschränkung <strong>der</strong> eigenen Freiheit, son<strong>der</strong>n als<br />

<strong>der</strong>en<br />

angemessener, nämlich verantwortlicher Gebrauch. Eines <strong>der</strong> Beispiele Dietrich<br />

Bonhoeffers bezieht sich ausdrücklich auf den pädagogischen Bereich. Ein Schüler,<br />

<strong>der</strong> von seinem Lehrer – unter Missachtung jeglichen pädagogischen Taktes – vor<br />

<strong>der</strong> Klasse gefragt wird, ob sein Vater oft betrunken nach Hause komme, reagiert, so<br />

Bonhoeffer, angemessen, wenn er diese Frage verneint. Denn er muss einen<br />

Lebenszusammenhang schützen, in den <strong>der</strong> Lehrer in unangemessener Weise<br />

eingedrungen ist. Die Verweigerung <strong>der</strong> – an sich zutreffenden – Auskunft ist die<br />

einzige Form, in <strong>der</strong> er nicht nur die eigene Freiheit, son<strong>der</strong>n auch die Freiheit seiner<br />

Nächsten wahren kann. Dieses Leitbild verantworteter und verantwortlicher Freiheit<br />

muss auch das Ethos des Lehrerberufs prägen. Das ist gewiss ein hoher Anspruch,<br />

<strong>der</strong> nicht in je<strong>der</strong> Situation und auch nicht von je<strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> jedem Lehrer<br />

eingelöst werden kann.<br />

Je<strong>der</strong> kennt aus seiner Schülerbiographie überfor<strong>der</strong>te Lehrkräfte, bei denen<br />

sarkastische Bemerkungen, ironische Herabsetzungen, subtile Drohungen an <strong>der</strong><br />

Tagesordnung waren, o<strong>der</strong> solche, die ihren Narzissmus ungehemmt an den<br />

Schülerinnen und Schülern ausagierten. Auch Sie kennen Ihre Kollegien. Und wer<br />

ehrlich ist, wird sich selbst hier nicht einfach freisprechen. Und das ist gut so. Denn<br />

<strong>der</strong> unverstellte Blick <strong>der</strong> Lehrenden auf ihre eigene Unzulänglichkeit bedingt eine<br />

innere Freiheit, ohne die Lehren und Lernen nicht gelingen. Sie muss allerdings mit<br />

einer äußeren Freiheit korrespondieren, die nicht in Schulgesetzen,<br />

Organisationserlassen und<br />

Stoffplänen untergehen darf. Nur in dieser doppelten pädagogischen Freiheit können<br />

Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst,<br />

wie es die Kultusministerkonferenz ausdrückt, ausüben.<br />

2. Lehrer und Lehrerinnen brauchen ein realistisches Menschenbild.<br />

Mit Recht wünscht man dem Lehrer die Gesundheit und Kraft eines Germanen, den<br />

Scharfsinn eines Lessing, das Gemüt eines Hebbel, die Begeisterung eines<br />

Pestalozzi, die Wahrheit eines Tillich, die Beredsamkeit eines Salzmann, die


- 15 -<br />

Kenntnis eines Leibniz, die Weisheit eines Sokrates und die Liebe Jesu Christi. So<br />

soll Adolph Diesterweg das, hoffentlich augenzwinkernd, formuliert haben.<br />

Spätestens als ich den Namen Paul Tillichs las, kamen mir daran allerdings Zweifel<br />

(Diesterweg lebte von 1790 bis 1866). Aber von wem auch immer formuliert: auch<br />

ohne solche titanenhaften Ansprüche gibt es idealisierende Lehrerbil<strong>der</strong>. Sie sind<br />

Reflexe von Erfahrungen, aber auch Produkte von Wünschen und Erwartungen, sie<br />

legen sich wie ein Spinnennetz über unsere Beziehungen, bestimmen unser<br />

Verhalten und unsere Gefühle. Wer erinnert sich nicht an die liebevolle Karikatur des<br />

Physiklehrers aus <strong>der</strong> Feuerzangenbowle, <strong>der</strong> seinen Schülern die Dampfmaschine<br />

höchst anschaulich vor Augen malt? Bil<strong>der</strong> haben unterschiedliche Funktionen: Sie<br />

können bestätigen und legitimieren, sie können beschreiben und vorschreiben. Und<br />

sie hängen jeweils von <strong>der</strong> Perspektive ab, aus <strong>der</strong> sie ins Spiel gebracht werden.<br />

Ihre Kraft beziehen sie auch aus <strong>der</strong> Reduktion <strong>der</strong> Wirklichkeit auf überschaubare<br />

Strukturen. Am ehesten leuchten häufig die Bil<strong>der</strong> ein, die einzelne Züge beson<strong>der</strong>s<br />

hervortreten lassen und gar nicht erst den Anspruch erheben, die Spannungen und<br />

die Konflikthaltigkeit des Alltags einzufangen.<br />

Eine heute verbreitete Annahme ist die, das Leben sei – wenn man nur wolle – leicht<br />

zu meistern, die dazu notwendigen Potentiale seien in einem jeden Menschen<br />

vorhanden. Eine an<strong>der</strong>e Annahme ist jene, die erreichten Stützen zur Wertgebung<br />

des eigenen Lebens wie Beruf, Partnerschaft, eigenes Haus, Wohlstand, Freizeit<br />

trügen ihren Sinn hinreichend in sich selbst. Solchen unrealistischen Bil<strong>der</strong>n<br />

gegenüber ist ein Bildungsansatz zu vertreten, <strong>der</strong> eine nüchterne Analyse <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit und <strong>der</strong> menschlichen Natur im Guten wie in den Abgründen des Bösen<br />

einschließt. Die Bibel spricht davon, dass <strong>der</strong> Mensch wenig niedriger gemacht ist als<br />

Gott (Psalm 8). Darin liegt ein großartiges Potential. Gleichzeitig zeigt nur zwei<br />

Psalmen davor das Bußgebet Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach (Psalm 6),<br />

dass sich <strong>der</strong> Mensch<br />

immer wie<strong>der</strong> schmerzlich seines Unvermögens bewusst wird. Diese Maße des<br />

Menschlichen – so <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> EKD-Bildungsdenkschrift aus dem Jahr 2003 –<br />

müssen wir ehrlich und unverstellt wahrnehmen, in <strong>der</strong> Gesellschaft wie in Erziehung<br />

und Bildung. Sollten an<strong>der</strong>e Bil<strong>der</strong> dazu tendieren, den Menschen unter gnadenlose<br />

Imperative eines vermeintlichen Müssens zu zwingen, hat <strong>der</strong> christliche Glaube im<br />

Namen <strong>der</strong> jedem Menschen zugewandten Gnade Gottes zu wi<strong>der</strong>sprechen.<br />

Prinzipiell ist zwischen <strong>der</strong> Lebenslage als objektiver Gegebenheit und als<br />

subjektivem Bild zu unterscheiden. Die Lebenslage eines Menschen besteht nicht<br />

nur aus den von ihm unabhängig gegebenen Momenten (Arbeit haben o<strong>der</strong> nicht<br />

haben, behin<strong>der</strong>t sein o<strong>der</strong> nicht, Mann o<strong>der</strong> Frau sein), son<strong>der</strong>n auch daraus, wie<br />

man sich selbst sieht und deutet: die eigene Lage als Sicht dieser Lage, traditionell<br />

gesprochen als geistige Realität. Wer dies nicht berücksichtigt, verdinglicht den<br />

Menschen. Er stellt ihn und seine Lage als etwas Äußerliches und noch dazu<br />

unbeeinflussbares Schicksal hin. Gegen diese gesellschaftlich und wissenschaftlich<br />

bewirkte Selbstentfremdung (Wilhelm von Humboldt) hat ein selbst-reflexives<br />

Bildungsverständnis seit zweihun<strong>der</strong>t Jahren immer wie<strong>der</strong> aufbegehrt. Erwachsene<br />

müssen genauso wie Kin<strong>der</strong> und Jugendliche als Subjekte darauf angesprochen<br />

bleiben, dass sie sich selbst bestimmen können und dürfen.<br />

Die theoretischen Einteilungen, Kategorisierungen, Typologien helfen nur als<br />

vorläufige Suchinstrumente. Sie sollten zurückgelegt, geradezu vergessen werden,<br />

wenn je<strong>der</strong> es mit dem an<strong>der</strong>en in seiner unverwechselbaren einmaligen Lebenslage<br />

zu tun bekommt, weil er sich auf ihn ganz und gar konkret einlassen muss. Nach


- 16 -<br />

Bertolt Brechts berühmter Geschichte von Herrn Keuner sollen wir nicht unseren<br />

Entwurf vom an<strong>der</strong>en Menschen lieben, son<strong>der</strong>n den an<strong>der</strong>en Menschen selbst.<br />

Pädagogen dagegen neigen dazu, unter Umständen sogar unter Berufung auf Bertolt<br />

Brecht, es sei durchaus in Ordnung, wenn wir uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen<br />

Entwurf machen; denn immerhin wollten wir ja nicht, dass er diesem Entwurf gleich,<br />

son<strong>der</strong>n nur, dass er ihm ähnlich werde. Ich habe Bertolt Brecht an<strong>der</strong>s verstanden;<br />

er will uns überhaupt davor bewahren, uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen Entwurf zu<br />

machen und unsere Liebe auf diesen zu richten. Unsere Liebe soll diesem Menschen<br />

selbst gelten; dazu aber gehört, dass wir auch das Geheimnis gelten lassen, das<br />

je<strong>der</strong> menschlichen Person innewohnt, und es uns versagen, dieses Geheimnis in<br />

einem Entwurf von dieser Person aufzulösen.<br />

Gerade von dieser Einsicht aus muss man pointiert festhalten: In <strong>der</strong> Schule werden<br />

nicht Fächer o<strong>der</strong> Stoffe unterrichtet, son<strong>der</strong>n junge Menschen. Lehrerinnen und<br />

Lehrer wissen deshalb, dass es entscheidend darauf ankommt, eine pädagogische<br />

Beziehung zu den Schülern zu entwickeln, und dass diese Beziehung von Empathie,<br />

von Interesse an <strong>der</strong> Person <strong>der</strong> Schüler getragen sein muss. Wem die Schüler<br />

gleichgültig sind o<strong>der</strong> wer sich gar durch sie gestört o<strong>der</strong> belästigt fühlt, hat verloren,<br />

bevor <strong>der</strong> Unterricht angefangen hat. Aber auch <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> einen Entwurf des<br />

Schülers vor Augen hat, dem dieser ähnlich werden soll, kann die Möglichkeiten<br />

einengen, die in ihm liegen. Diesen Möglichkeitsraum mit Schülern zu erkunden und<br />

nicht an ihnen vorbei – das ist wohl die größte Kunst bei Bilden als Beruf.<br />

3. Lehrerinnen und Lehrer brauchen eine geklärte Identität.<br />

Das Aufwachsen von Kin<strong>der</strong>n, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vollzieht sich<br />

heute im Nebeneinan<strong>der</strong> von verschiedenartigen, teilweise kontroversen<br />

Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen. Die<br />

öffentliche Schule für alle ist eine Pflichtveranstaltung des Staates für Kin<strong>der</strong>,<br />

Jugendliche und junge Erwachsene <strong>der</strong> verschiedensten sozialen, kulturellen,<br />

weltanschaulichen und religiösen Herkunft. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich<br />

indifferent aus unserer geistigen Situation heraushalten kann. Als Grundsatz gilt<br />

vielmehr, die plurale Wirklichkeit anzuerkennen und die Schüler und Schülerinnen mit<br />

ihr in pädagogisch besonnener Weise vertraut zu machen. Mehr noch: In einer<br />

demokratischen Gesellschaft nimmt die Schule ihren Auftrag nur wahr, wenn sie die<br />

nachwachsende Generation befähigt, Positionen einzunehmen und im<br />

Meinungsstreit auszutragen. In dem Spannungsgefüge, fremde Überzeugungen zu<br />

verstehen und zugleich eine eigene Auffassung zu entwickeln, soll je<strong>der</strong> seine<br />

Identität finden, die ihn in die Lage versetzt, begründet zu urteilen und Verantwortung<br />

zu übernehmen. Dem Religionsunterricht kommt hier eine beson<strong>der</strong>e Aufgabe zu. Mit<br />

dieser Zielgebung wird die Schule ihrem Auftrag nach kompensatorischem Lernen<br />

gerecht, indem sie das zum Lerninhalt macht, was nicht mehr selbstverständlich<br />

gelernt wird, aber für das Leben in Gemeinschaft notwendig ist.<br />

In dem Maße, in dem sich die Schule nicht nur als Unterrichtsanstalt versteht,<br />

werden die Lehrenden als Personen wichtig. Identifikatorisches Lernen wird durch<br />

die Glaubwürdigkeit eindrucksvoller Vorbil<strong>der</strong> ausgelöst. Sie machen Überzeugungen<br />

transparent. Indem Menschen für diese Überzeugungen einstehen, können sie<br />

an<strong>der</strong>en helfen, sich selbst ein eigenes Urteil zu bilden. Offene Lernprozesse lassen<br />

identifikatorische Angebote zu, sofern den Heranwachsenden <strong>der</strong> Spielraum bleibt,<br />

ihren individuellen Lernweg mitzugestalten. Es ist zwar offensichtlich schwieriger


- 17 -<br />

geworden, in Lerngruppen ein Arbeitsklima herzustellen und aufrechtzuerhalten, das<br />

von Kooperation, Rücksichtnahme und gegenseitiger Toleranz geprägt ist. Aber es<br />

besteht die Möglichkeit, dass unter günstigen Voraussetzungen (Größe <strong>der</strong> Schule,<br />

Unterrichtsorganisation, Verzicht auf jeden vermeidbaren Wechsel <strong>der</strong> Lehrkräfte<br />

usw.) die Lehrerinnen und Lehrer zu bedeutungsvollen Erwachsenen werden. Mit<br />

ihnen können die Schülerinnen und Schüler die Auseinan<strong>der</strong>setzung suchen und von<br />

ihnen Orientierungshilfen auch in Bereichen erfahren, die weit über die unmittelbaren<br />

Inhalte des Fachunterrichts hinausgehen. Wer kennt nicht bewegende Biografien von<br />

Menschen, die ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin entscheidende Impulse für ihr Leben<br />

verdanken! Nicht selten ist das <strong>der</strong> Grund dafür, dass junge Erwachsene diesen<br />

Beruf selbst ergreifen wollen.<br />

Lehrerbildung ist also immer auch Menschenbildung im Sinne einer Anbahnung von<br />

Potentialität und Sinnfindung. Wichtigstes Mittel ist dabei die Schaffung einer<br />

unterrichtlichen Gesprächskultur, in <strong>der</strong> unterschiedliche Positionen wahrgenommen,<br />

reflektiert und respektiert werden. Martin Buber:<br />

Nicht <strong>der</strong> Unterricht erzieht, aber <strong>der</strong> Unterrichtende. Der gute Lehrer erzieht mit<br />

seiner Rede und mit seinem Schweigen, in den Lehrstunden und in den Pausen, im<br />

beiläufigen Gespräch, durch sein bloßes Dasein, er muss nur ein wirklich existenter<br />

Mensch sein und er muss bei seinen Schülern wirklich gegenwärtig sein; er erzieht<br />

durch Kontakt. Kontakt ist das Grundwort <strong>der</strong> Erziehung. … Es bedeutet nicht bloß<br />

Auskunftsuchen von unten und Auskunftgeben von oben, auch nicht bloß Fragen<br />

und Antworten hinüber und herüber, son<strong>der</strong>n echtes Wechselgespräch, das <strong>der</strong><br />

Lehrer zwar leiten und beherrschen, in das er aber eben doch auch mit seiner<br />

eigenen Person unmittelbar und unbefangen eintreten muss…. Das ist es, was ich<br />

das dialogische Prinzip <strong>der</strong> Erziehung nenne.<br />

Alles Lernen in schulischen Lernzusammenhängen ist jedoch in seiner Wirkung in<br />

Frage gestellt, wenn die Erfahrungen in <strong>der</strong> Alltagswelt dem schulischen Lernen<br />

wi<strong>der</strong>sprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen kritisch wahr, ob Verhalten und<br />

Reden <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer übereinstimmen. Sie vertrauen denen, die sich für<br />

sie als verlässlich, ehrlich und gerecht erweisen. Sie messen sie daran, wie sie ihr<br />

soziales Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern gestalten und ob es nicht<br />

durch ihre persönlichen Existenzvollzüge Lügen gestraft wird. Dabei erwarten die<br />

Schüler keineswegs Heilige, son<strong>der</strong>n respektieren durchaus die Brüchigkeit und<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Lebens, sofern diese nicht durch leere Formeln und<br />

ethischen Rigorismus überdeckt wird.<br />

Gleichwohl werden die hohen Erwartungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler an die<br />

Person des Lehrers bzw. <strong>der</strong> Lehrerin von diesen vielfach als persönliche<br />

Überfor<strong>der</strong>ung empfunden. Je<strong>der</strong> Lehrer muss unzählige wi<strong>der</strong>sprüchliche Strukturen<br />

und Erfahrungen aushalten. Wenn er sich davon nicht zerreiben lassen will, braucht<br />

er eine grundlegende personale Standhaftigkeit und Authentizität. In evangelischer<br />

Perspektive gewinnt er diese aus <strong>der</strong> Zusage, dass er nicht mit seinem Werk<br />

identisch ist. Er darf Fehler machen, er darf zu seinen Fehlern stehen. Er braucht<br />

keine Allmachtspose, er ist we<strong>der</strong> Retter seiner Schüler noch guter Hirte, <strong>der</strong> seine<br />

Schafe sorgsam behüten muss. Im Licht des christlichen Glaubens, gerade in seiner<br />

reformatorischen


- 18 -<br />

Gestalt, stehen Lehrende und Schüler in einer unaufhebbaren Solidarität, die sie vor<br />

wechselseitigen Leistungsüberfor<strong>der</strong>ungen schützen kann und zu einer<br />

Grundhaltung personaler Wertschätzung und gegenseitiger Vergebung ermutigt.<br />

Eine für Schüler glaubwürdige Verlässlichkeit entwickelt sich langfristig erst im<br />

pädagogischen Alltag. Eine grundlegende Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Lehrerrolle<br />

und -persönlichkeit ist jedoch schon im Studium unverzichtbar. Die herkömmliche<br />

Aufspaltung <strong>der</strong> Ausbildung in eine Erste und Zweite Phase lässt für die<br />

Studierenden nur wenig Raum, sich schon im Studium mit den Motiven ihrer<br />

Studienwahl, ihren Erwartungen und ihrer Eignung im Blick auf die künftige<br />

Berufspraxis und Berufsrolle selbstkritisch auseinan<strong>der</strong> zu setzen. Dazu gehört auch<br />

die biographische Selbstreflexion, gerade auch im Blick auf die Wahl von Bilden als<br />

Beruf, ein Nachdenken beispielsweise darüber, aus welcher Familie künftige<br />

Lehrerinnen und Lehrer selbst stammen, wie sie Erziehung im Elternhaus und in <strong>der</strong><br />

Schule erlebt haben.<br />

Solche Selbstreflexion ist ein notwendiges Element <strong>der</strong> Freiheit. Die biographischen<br />

Konsequenzen fehlen<strong>der</strong> Selbstreflexion zeigen sich in diesem – wie in an<strong>der</strong>en –<br />

Berufen sonst zu spät, wenn sich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen<br />

Erwartungen, Eignung und konkreten Anfor<strong>der</strong>ungen auftut. Nicht nur im Blick auf die<br />

jeweils individuellen Berufswege, son<strong>der</strong>n auch hinsichtlich <strong>der</strong> Inhalte und<br />

Vermittlungsformen des Studiums ist es bei Professionen im engeren Sinn des<br />

Wortes unumgänglich, die fachliche Ausbildung mit einer eingehenden Reflexion des<br />

späteren Berufsfeldes zu verschränken. Das tritt heute immer stärker in den<br />

Hintergrund, weil<br />

Professionalität nur noch als Fachlichkeit verstanden wird. Dementsprechend wird<br />

nur noch nach <strong>der</strong> Befähigung, nicht mehr aber nach <strong>der</strong> persönlichen Eignung eines<br />

Menschen für einen Beruf gefragt. Das ist einen Engführung, die sich schon längst<br />

als Irrweg erweisen hat. Aber sie prägt beispielsweise auch die Thesen <strong>der</strong><br />

Kultusministerkonferenz und <strong>der</strong> Lehrerverbände, mit denen ich diesen Vortrag<br />

begonnen habe.<br />

4. Lehrer und Lehrerinnen brauchen Zeit.<br />

Für Bildung ist das Wechselspiel zwischen persönlicher Bildungsgeschichte und<br />

Lebensgeschichte charakteristisch. Lebensgeschichtliche Gezeiten und Bildung als<br />

innere Lebensgestaltung gehören zusammen. Lehr- und Lernvorhaben können nicht<br />

ohne Schaden an den lebensgeschichtlichen Momenten vorbei geplant und<br />

durchgesetzt werden. Die Identität eines Menschen besteht letztlich aus seiner<br />

Lebensgeschichte im Ganzen.<br />

Durch die gesamte pädagogische Diskussion zieht sich wie ein roter Faden die<br />

Einsicht in die Bedeutung einer lebensphasengerechten Bildung. Dabei ist zu<br />

bedenken, dass wir auf das Lernen von Menschen nie einen direkten Zugriff haben<br />

und beanspruchen dürfen. Bildung ist ein Vorgang im Innern und damit zugleich<br />

individueller Natur. Es ist ein aktiver, letztlich selbstorganisierter Prozess des<br />

Subjekts, <strong>der</strong> allerdings angeregt werden muss.<br />

Für die geistige Selbstorganisation ist einerseits gesammelte Anstrengung,<br />

an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> schöpferische Moment eines unerwarteten Einfalls charakteristisch.<br />

In beiden Hinsichten ist Zeit einzuräumen; unter Druck und Angst kann nicht im


- 19 -<br />

gemeinten bildenden Sinn gelernt werden. Die Schulen brauchen Lehrende, die mit<br />

diesen Vorgängen vertraut sind, also mehr als nur fachwissenschaftlich ausgebildete<br />

Lehrer und Lehrerinnen. Für das Gelingen <strong>der</strong> inhaltlichen Bildungsaufgaben ist<br />

deswegen die Qualität <strong>der</strong> unterrichtlichen Feinstruktur ausschlaggebend.<br />

Beobachtungen zeigen das wachsende Interesse an verständlichem,<br />

elementarisierendem Unterricht; Untersuchungen belegen aber auch, wie sehr über<br />

die Köpfe hinweg unterrichtet wird, am Zentrum <strong>der</strong> Selbstorganisation des<br />

individuellen Bewusstseins vorbei; Bildung als innere Kultur wird so verfehlt. Folglich<br />

liegt hier <strong>der</strong> Brennpunkt für eine qualitative Unterrichtserneuerung. Wird dies nicht<br />

beherzigt, könnte sich das gegenwärtige Interesse an beschleunigtem, intensiviertem<br />

Lernen, für das beson<strong>der</strong>s informationstechnologisch investiert werden soll, dem<br />

Wortsinn nach verrechnen. Wirtschaftlichkeitsanalysen dürfen den Faktor <strong>der</strong><br />

unverrechenbaren Zeit nicht unterschlagen. Sie dürfen auch die Zeit nicht<br />

unterschlagen, die für didaktischmethodische Vielfalt gebraucht wird: in Fortbildung<br />

und Vorbereitung ebenso wie in <strong>der</strong> Durchführung. Man kann kaum überschätzen,<br />

wie stark pädagogischer Erfolg von <strong>der</strong> täglich erfahrenen Unterrichtsbeziehungsweise<br />

Lehrkunst abhängt. Deutsche Schulen brauchen eine zu<br />

Leistungen herausfor<strong>der</strong>nde und die Lust zum Lernen ansprechende Lernkultur, für<br />

die auch Zeitmaße und Interaktionsstrukturen verän<strong>der</strong>t werden müssen. Sie<br />

brauchen aber auch die Wertschätzung <strong>der</strong> Bevölkerung und vor allem <strong>der</strong> Eltern für<br />

die tägliche und oftmals schwierige Arbeit <strong>der</strong> Lehrer und Lehrerinnen.<br />

5. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Begleitung und Unterstützung.<br />

In allen Professionen ist eine regelmäßige persönliche Begleitung, Supervision und<br />

Fortbildung <strong>der</strong> handelnden Akteure selbstverständlich, ja sogar unabdingbar. Bei<br />

den Lehrkräften bleibt sie ihrer eigenen Initiative anheim gestellt. (Auch bei<br />

Pfarrerinnen und Pfarrern gibt es sie systematisch lei<strong>der</strong> nur in den ersten<br />

Amtsjahren.) Natürlich ist bereits die nicht selten ätzende und direkte Rückmeldung<br />

durch die Schüler ein wichtiges Korrektiv. Zur Weiterentwicklung von pädagogischen<br />

Kompetenzen ist für professionelle Lehrkräfte ein kritisches und för<strong>der</strong>ndes Korrektiv<br />

durch Erwachsene aber unverzichtbar.<br />

Für Karl Ernst Nipkow ist die Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Selbstdistanzierung <strong>der</strong><br />

Lehrenden deshalb so wichtig, weil sie einer Indoktrination durch Abhängig-Halten<br />

entgegenwirkt. Die Lehrerrolle ist zudem nicht mehr ausschließlich als Unterrichtsund<br />

Erziehungstätigkeit im Klassenzimmer zu definieren, son<strong>der</strong>n im Ensemble des<br />

Bildungsauftrags einer Schule. Eine professionelle Lerngemeinschaft am Ort <strong>der</strong><br />

einzelnen Schule, zwischen Fachkollegen, durch Mentoren und Mentorinnen, in<br />

kooperativen Formen <strong>der</strong> Lehrerfortbildung, in Entwicklungsprojekten kann<br />

Anerkennung und Akzeptanz durch Kollegen erbringen und das Handlungs- und<br />

Reflexionsrepertoire anreichern. Dazu gehören Formen <strong>der</strong> Supervision, <strong>der</strong><br />

Fallbesprechung in Lehrergruppen, soweit darin nicht nur psychologisches, son<strong>der</strong>n<br />

auch didaktisches und fachliches Wissen und Können thematisiert wird.<br />

Als Kirche bieten wir Lehrerinnen und Lehrern Vergewisserung, Begleitung und<br />

Zuspruch an. Unsere Kirche hat pädagogische Handlungsfel<strong>der</strong> entwickelt, die unter<br />

je unterschiedlicher Zielsetzung und Perspektive die Schülerschaft, die Lehrkräfte,<br />

die Schule sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung in den Blick nehmen. Regional<br />

und überregional hält die Kirche ein Netzwerk von <strong>Institut</strong>ionen bereit, die Beratung,<br />

Fortbildung und geistliche Begleitung gewährleisten. Qualitätssicherung, Kompetenz-


- 20 -<br />

, Unterrichts- und Schulentwicklung sind permanente Herausfor<strong>der</strong>ungen, denen sich<br />

die Kirche exemplarisch über den Religionsunterricht, aber auch weit darüber hinaus,<br />

stellt.<br />

Eine große Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Begegnung und Kooperation von Kirche und Schule<br />

stellen die Formen <strong>der</strong> evangelischen Jugendarbeit dar, die heute vor allem im Blick<br />

auf die Entwicklung zur Ganztagsschule weiterentwickelt werden müssen. Neben<br />

außerschulischen Angeboten für Schülerinnen und Schüler kommen innerschulische<br />

Angebote für einzelne Schulen, Klassen o<strong>der</strong> Jahrgangsstufen in den Blick. Hierzu<br />

gehören unter an<strong>der</strong>em Angebote <strong>der</strong> Seelsorge, <strong>der</strong> Freizeitgestaltung und <strong>der</strong><br />

Bildung als Lebensbegleitung. Sie werden angeboten von Landesjugendpfarrämtern,<br />

evangelischen Akademien, religionspädagogischen <strong>Institut</strong>en und weiteren<br />

evangelischen Einrichtungen, die Heranwachsende befähigen, ihren Lebensraum<br />

einschließlich <strong>der</strong> Schule selbstbewusst und selbstbestimmt zu gestalten o<strong>der</strong><br />

lebenslaufbezogene Entscheidungen zu treffen. Konkret wird diese Arbeit zum<br />

Beispiel in Tagen<br />

ethischer Orientierung, Religionsphilosophischen Schulprojektwochen, Religiösen<br />

Schulwochen o<strong>der</strong> Tagungen <strong>der</strong> Jungen Akademie. Darüber hinaus ist es wichtig,<br />

dass Kirchengemeinden und -kreise sowie an<strong>der</strong>e kirchliche Einrichtungen und<br />

Arbeitsfel<strong>der</strong> mit den Schulen systematisch kooperieren, Formen kontinuierlicher<br />

Zusammenarbeit sowie gegenseitiger Unterstützungssysteme auf- beziehungsweise<br />

ausbauen. Und wir müssen ehrlich eingestehen: An dieser Unterstützung <strong>der</strong> Arbeit<br />

von Lehrerinnen und Lehrern fehlt es vor Ort nicht selten.<br />

Die wachsende Eigenverantwortlichkeit von Schule macht es erfor<strong>der</strong>lich, dass<br />

Kollegien o<strong>der</strong> einzelne Lehrkräfte selbst formulieren, was sie für einen guten<br />

Unterricht und eine gute Schule halten. In einer solchen Schule dürfen Religion und<br />

Christentum nicht fehlen. Auch in dieser Hinsicht bitte ich Sie herzlich um Ihren<br />

Einsatz und Ihr Engagement.<br />

Ich habe in diesem Vortrag meinen persönlichen Bezug zur Lebenswelt <strong>der</strong> Schule<br />

deutlich gemacht. Sogar vom Beruf meiner Frau habe ich in diesem Zusammenhang<br />

gesprochen. Ich hoffe deshalb, Sie nehmen es mir ab, wenn ich sage: Ich habe<br />

großen Respekt davor, was Sie als Lehrerinnen und Lehrer in <strong>der</strong> Schule leben und<br />

leisten. Gott segne diesen wichtigen Dienst aus und in unserer Gesellschaft, diesen<br />

Dienst, für den ich keine bessere Überschrift weiß als: Bilden als Beruf.


- 21 -<br />

Prof. Dr. Werner Helsper<br />

Verän<strong>der</strong>te Jugend – verän<strong>der</strong>te Schule:<br />

Aufgaben und Herausfor<strong>der</strong>ungen für den Lehrer(innen)beruf<br />

Wenn von Herausfor<strong>der</strong>ungen – zudem von „neuen“ – für den Beruf <strong>der</strong> Lehrerin/des<br />

Lehrers gesprochen wird, dann gilt es zu bestimmen, was den Kern, gewissermaßen<br />

das „Typische“ dieses Berufes ausmacht. Dies werde ich tun, indem ich den<br />

Lehrberuf in ein Ensemble strukturell ähnlicher Berufe einfüge – in die Professionen<br />

– und danach frage, welches Stück dieses Professionsensemble – im Unterschied zu<br />

an<strong>der</strong>en Berufen – aufführt und welchen Part darin die Lehrer(innen)profession<br />

übernimmt.<br />

Ich möchte die Thematik in drei Schritten angehen:<br />

1. werde ich zentrale, zwar historisch wandelbare, aber konstitutiv mit dem<br />

Lehrerberuf einhergehende Anfor<strong>der</strong>ungen und Aufgaben bestimmen. Ich<br />

werde dies tun, indem ich den Lehrberuf als spezifische Form von<br />

Professionen bestimme.<br />

2. werde ich zentrale Verän<strong>der</strong>ungen und Verschiebungen in den Bedingungen<br />

des Aufwachsens ab <strong>der</strong> Frühadoleszenz, also etwa ab dem Beginn <strong>der</strong><br />

Sekundarstufe I skizzieren. Im Mittelpunkt stehen Verän<strong>der</strong>ungen im<br />

Verhältnis von Jugend und Schule.<br />

3. werde ich diese dann knapp auf die vorher bestimmten Struktur- o<strong>der</strong><br />

Kernaufgaben <strong>der</strong> Lehrprofession beziehen und fragen, was daraus für diese<br />

Aufgaben resultiert.<br />

Lassen Sie mich einige Bemerkungen vorausschicken: Der Lehrberuf eignet sich –<br />

wie kaum ein an<strong>der</strong>er – dazu, mit immer neuen Aufgaben und Erwartungen<br />

überbordend konfrontiert zu werden. Damit sind die Enttäuschungen bereits<br />

vorprogrammiert und die Lehrerschelte eingeläutet. So gilt es über die Grenzen des<br />

Lehrerhandelns nachzudenken: Lehrer sind nicht in <strong>der</strong> Lage, alle „Übel <strong>der</strong> Welt“<br />

und strukturell erzeugte Problemlagen zu bearbeiten. Sie sind in ihrem Kerngeschäft<br />

für die Vermittlung fachlicher und fächerübergreifen<strong>der</strong> Wissensbestände, die<br />

Ermöglichung von Bildungsprozessen und die Kompetenzentwicklung zuständig.<br />

Dies kann nicht ohne die Bezugnahme auf die Erfahrungs- und Ausgangslagen <strong>der</strong><br />

Schülerinnen und Schüler, ihre psychosozialen Voraussetzungen und<br />

Lebensbedingungen geschehen. Diese Ausbalancierung <strong>der</strong> Spannung – o<strong>der</strong> wie<br />

ich zu formulieren pflege: <strong>der</strong> Antinomie – von Person und Sache ist unabdingbar.<br />

Das ist aber etwas an<strong>der</strong>es, als Lehrer für die Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt, Sucht und<br />

Drogenkonsum, extremistische Orientierungen, Kriminalität, für die Ermöglichung von<br />

Gesundheit, demokratischen Orientierungen, sozialem Engagement etc. zentral o<strong>der</strong><br />

gar allein verantwortlich zu machen. Die Schule und das Lehrerhandeln spielen auch<br />

dafür eine Rolle – wie empirische Studien gut belegen – und deswegen ist es<br />

bedeutsam, dass Lehrkräfte mit ihrem Handeln Probleme nicht verschärfen und<br />

gewünschte Haltungen auf Seiten <strong>der</strong> Schüler in ihrer Entwicklung nicht<br />

beeinträchtigen son<strong>der</strong>n för<strong>der</strong>n. Zugleich muss aber darauf insistiert werden, dass<br />

diese Phänomene, die es zu beför<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu verhin<strong>der</strong>n gilt, in komplexen, vielfach<br />

auch außerschulischen Zusammenhängen und nicht zuletzt in übergreifenden<br />

sozialen und kulturellen gesellschaftlichen Entwicklungen wurzeln, auf die Lehrkräfte<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger gute und passende pädagogische Antworten geben können, die<br />

sie aber nicht zu verantworten haben und die sie auch nicht direkt beeinflussen<br />

können.


- 22 -<br />

1. Aufgaben des Lehrberufs als „pädagogischer Profession“<br />

Der Lehrberuf soll hier als Profession bestimmt werden: Professionen – die<br />

klassischen: etwa Medizin und Recht, Seelsorge, die neueren: etwa Therapeuten<br />

o<strong>der</strong> Pädagogen – sind durch verschiedene, für sie grundlegende Strukturmerkmale<br />

gekennzeichnet:<br />

- Sie verantworten zentrale gesellschaftliche Werte, knappe Güter, die sie<br />

„zuteilen“, herstellen o<strong>der</strong> ermöglichen: Für die Jurisprudenz die<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung o<strong>der</strong> Ermöglichung von Gerechtigkeit, für die Medizin<br />

physische Gesundheit, zumindest die Erträglichkeit von Krankheit o<strong>der</strong> auch ein<br />

menschenwürdiges Sterben, für die Geistlichen das Seelenheil <strong>der</strong> Gläubigen,<br />

für die Psychotherapeuten die psychosoziale Integrität und das Lebensglück und<br />

für Pädagogen die Vermittlung von Wissen, Können, Kompetenzen, o<strong>der</strong>: <strong>der</strong><br />

Aufbau psychischer Strukturen, die zu lebenspraktischer Autonomie und<br />

gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit führen sollen, so dass Pädagogen<br />

schließlich im Lebenslauf zunehmend überflüssig werden.<br />

- Ihre Klienten sind dadurch gekennzeichnet, dass es ihnen an diesen zentralen<br />

Werten mangelt, sie diese noch nicht besitzen o<strong>der</strong> vorübergehend bzw.<br />

grundlegend von ihnen getrennt sind. Ihnen ist – zumindest in ihrem Empfinden –<br />

von Seiten an<strong>der</strong>er Ungerechtigkeit und Leid wi<strong>der</strong>fahren; sie sind physisch<br />

beeinträchtigt, leiden Schmerzen o<strong>der</strong> sind vom Tod bedroht; sie können und<br />

wissen vieles noch nicht, das sie zur eigenständigen Lebensführung, zur<br />

gesellschaftlichen Teilhabe und Selbsterhaltung benötigen. Professionelle<br />

beziehen sich somit auf eine lebenspraktische Krise ihrer Adressaten, die es<br />

gemeinsam mit ihnen so zu lösen und zu bewältigen gilt, dass neue<br />

Handlungsmöglichkeiten, lebenspraktischen Ressourcen und Kompetenzen<br />

entstehen können, die eine autonome Handlungsfähigkeit auf erweitertem<br />

Niveau (wie<strong>der</strong>) eröffnen können. Dies hat, auch wenn im Lehrberuf vor allem die<br />

Routine zu dominieren scheint, eine eminente Bedeutung: Denn Lehrer sind nur<br />

dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt „Krisen“ zu initiieren, ja sie sind geradezu<br />

verpflichtet immer wie<strong>der</strong> erreichte kognitive, sprachliche, symbolische<br />

Gewissheiten, im Sinne des erreichten Wissensstandes, unter Druck zu setzen,<br />

sie zu verflüssigen, in Bewegung zu bringen und so neue<br />

Erkenntnismöglichkeiten freizusetzen. Sie sind als Krisenagenten somit<br />

Agenten <strong>der</strong> Entstehung des Neuen! Sie scheitern dann, wenn es ihnen nicht<br />

gelingt Krisen zu initiieren. Und sie scheitern auch dann, wenn es ihnen nicht<br />

gelingt die initiierten Krisen in Kooperation mit den Schülern wie<strong>der</strong> zu schließen<br />

– aber immer nur vorläufig bis zur nächsten Kriseninitiierung.<br />

- Professionelle besitzen zur Intervention in <strong>der</strong>artigen Krisensituationen<br />

wissenschaftliche Wissensbestände, Fachsprachen, professionelles<br />

Können und Methoden, über das die Klienten in aller Regel nicht in gleichem<br />

Maße verfügen. Diese Wissensbestände und Kompetenzen bilden einerseits die<br />

Legitimationsgrundlage für das professionelle Handeln, das ja gegenüber dem<br />

alltäglichen Handeln eine vielfach gesteigerte Verpflichtung zur Begründung<br />

aufweist, kurz: Ich kann mein professionelles Handeln nur dann legitimieren,<br />

wenn ich in <strong>der</strong> Lage bin, es mit Bezug auf anerkanntes und legitimes Wissen zu<br />

verantworten. Zum an<strong>der</strong>en ermöglichen diese geson<strong>der</strong>ten Fachsprachen und<br />

Wissensbestände auch eine Art Eigenwelt <strong>der</strong> Professionellen, die sich damit<br />

auch gegenüber Einblicken ihrer Klientel abschirmen können und mit diesen


- 23 -<br />

sogenannten „höhersymbolischen Sinnwelten“ auch Barrieren <strong>der</strong> Zugänglichkeit<br />

errichten (vgl. Schütze 1996).<br />

- Die Beziehungsstruktur zwischen Klienten und Professionellen ist daher auch<br />

asymmetrisch, durch eine ungleiche Machtverteilung gekennzeichnet, weil sich<br />

Klienten in <strong>der</strong> Regel in einer krisenhaften o<strong>der</strong> bedürftigen Situation befinden,<br />

von den Interventionen <strong>der</strong> Professionellen abhängig sind und ihnen zugleich <strong>der</strong><br />

umfassende Einblick in die Wissensbestände, die Hintergründe und die<br />

Grundlagen <strong>der</strong> professionellen Entscheidungen fehlen. Professionelle haben<br />

somit häufig die Definitionsmacht, greifen mitunter tief in die Persönlichkeit und<br />

die physische o<strong>der</strong> psychosoziale Integrität ihrer Klientel ein. Daraus resultiert<br />

auch die Gefahr, die von Professionellen ausgehen kann, wenn sie<br />

unangemessen, mit falscher Diagnose, unachtsam, vorschnell verallgemeinernd,<br />

mit zu wenig Zeit, unter zu starkem äußeren Handlungsdruck etc. entscheiden<br />

und handeln müssen. Professionelle können damit selbst zur<br />

Problemgenerierung, ja zur Verschärfung von lebenspraktischen Krisen<br />

beitragen, die sie ja im Zusammenspiel mit ihrer Klientel eigentlich lösen o<strong>der</strong><br />

bearbeiten sollen. Und diese Risiken wachsen in dem Maße, in dem<br />

Professionelle immer umfassen<strong>der</strong> in lebenspraktische Entscheidungen, den<br />

Lebensverlauf, die Entwicklung <strong>der</strong> Person, die Definition und Kontrolle dessen,<br />

was angemessen, „normal“ und Standard ist, einbezogen sind. Für Lehrkräfte ist<br />

dies evident, denn einerseits ist die unterschiedliche För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Kompetenzentwicklung für den weiteren Lebensweg von großer Bedeutung und<br />

zum an<strong>der</strong>en greifen sie ganz entscheidend mit ihren Leistungsbewertungen,<br />

Bildungsgangentscheidungen und <strong>der</strong> Vergabe von Abschlüssen in die<br />

jugendliche Selbstentwicklung und die zukünftige Chancenstruktur ihrer Klientel<br />

ein.<br />

- Zudem sind Professionelle in ein grundlegendes Dilemma eingerückt: Sie<br />

müssen handeln, müssen entscheiden, selbst wenn sie sich unsicher sind, die<br />

Diagnose ungewiss, die Sachlage nicht klar und die Gründe für die Komplikation<br />

offen erscheinen. Sie unterliegen einem Entscheidungszwang können nicht<br />

Nicht-Handeln. Wenn <strong>der</strong> Unterrichtsverlauf ins Stocken gerät, sich in <strong>der</strong> Klasse<br />

Unruhe verbreitet, die Schüler uninteressiert erscheinen o<strong>der</strong><br />

Verständnisprobleme auftauchen, immer wie<strong>der</strong> dieselben Fehler auftreten, noch<br />

so gut gemeinte Aktivierungsvorschläge versanden, in all diesen Fällen müssen<br />

von Lehrern blitzschnell und unter teilweise starkem Handlungsdruck,<br />

Entscheidungen getroffen werden. Dies macht die Riskanz des professionellen<br />

Handelns aus, dass ja nicht nur Handeln in Selbstverantwortung, son<strong>der</strong>n<br />

zugleich in Verantwortung für An<strong>der</strong>e ist.<br />

- Zugleich befinden sich die Professionsakteure in einer eher unglücklichen<br />

Position: Bei aller Macht und Überlegenheit, die sie besitzen, können sie ihre<br />

Ziele – Gesundung, psychisches Wohlbefinden, Gottesglaube, Wissen und<br />

Können – nicht unproblematisch durch ihr eigenes Tun erreichen. Sie benötigen<br />

die Mitwirkung ihrer Klientel, ja, das was erreicht werden soll, ist gerade nur<br />

auf Seiten <strong>der</strong> Klienten herzustellen, die daran mitwirken, mitarbeiten, sich<br />

anstrengen und aktiv sein müssen. Was Professionelle erreichen wollen, liegt auf<br />

<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en und dem direkten Zu- und Eingriff entzogen: Den Satz des<br />

Pythagoras kann <strong>der</strong> Lehrer/die Lehrerin zwar methodisch geschickt, interessant,<br />

medial vielfältig und an die Vorerfahrungen <strong>der</strong> Schüler anknüpfend vermitteln,<br />

aber nicht stellvertretend für die Schüler verstehen. Auf die Seite <strong>der</strong> Aneignung,<br />

den eigentlichen Bildungsprozess, <strong>der</strong> ein konstruktiver psychischer, emotionaler<br />

und kognitiver Vorgang ist, können Lehrkräfte nur mittelbar Einfluss nehmen.


- 24 -<br />

Und wie die Forschungsergebnisse zur Unterrichtsqualität zeigen, lassen sich<br />

zwar wichtige Dimensionen angeben, die den Unterrichtserfolg positiv<br />

beeinflussen, doch keine generalisierbare Vorgehensweise des Lehrerhandelns,<br />

die Unterrichtserfolg sicher versprechen kann (vgl. zusammenfassend Helmke<br />

2003, Meyer 2004).<br />

- Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg im professionellen Handeln ist ein<br />

Arbeitsbündnis, das auf Gegenseitigkeit beruht, aber das nicht erzwungen<br />

werden kann, selbst wenn Zwang und Not im Spiel sind. Erst dieses<br />

Arbeitsbündnis sichert die Basis, dass Professionelle und Klienten am selben<br />

arbeiten, ein gemeinsames Ziel verfolgen, so dass Schüler sich etwa einen<br />

Gegenstand aneignen wollen, dafür mit allen Fragen, Unklarheiten und Fehlern,<br />

mit vorliegenden Vermutungen und Erklärungen sich an den Lehrer wenden, die<br />

dieser aufgreift, Hilfe zum Weiterdenken gibt, die Schüler stützt und flankiert,<br />

seinerseits Fragen stellt, vorschnelle Lösungen irritiert und dies alles ohne die<br />

Schüler für das Unwissen, die Fehler o<strong>der</strong> Irrwege zu beschämen. Fehlt ein<br />

<strong>der</strong>artiges Arbeitsbündnis, ist die Grundlage für die Initiierung von<br />

Bildungsprozessen und Wissenserwerb nicht gegeben. Dieses Arbeitsbündnis ist<br />

dabei durch strukturelle, nicht aufhebbare, son<strong>der</strong>n nur reflektiert zu<br />

handhabende Spannungen bzw. Antinomien gekennzeichnet (vgl. Schütze u.a.<br />

1996): Es bedarf des gegenseitigen Vertrauens, obwohl <strong>der</strong> Professionelle in<br />

aller Regel kein Vertrauter ist; es bedarf <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong> ganzen Person,<br />

an einer diffusen Nähe, obwohl <strong>der</strong> Professionelle eher fremd und nicht nah ist,<br />

eine Nähe, die aber zugleich begrenzt werden muss; es bedarf einer Als-Ob-<br />

Haltung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung und Zuschreibung von Autonomie trotz bestehen<strong>der</strong><br />

Heteronomie etc. (vgl. Oevermann 2002, Helsper 2004, Helsper/Hummrich<br />

<strong>2006</strong>).<br />

- Professionelle besitzen – das unterscheidet sie von Ingenieuren, Statikern,<br />

Konstrukteuren, die ebenfalls eine wissenschaftliche Wissensbasis haben –<br />

somit keine sichere „Technologie“. Systemtheoretiker – wie etwa Niklas<br />

Luhmann (2001) – sprechen hier von einem „Technologiedefizit“, das in <strong>der</strong><br />

Medizin eher am geringsten, in <strong>der</strong> Pädagogik wohl am deutlichsten ausgeprägt<br />

ist.<br />

- Damit geht einher, dass Professionelle immer in <strong>der</strong> Spannung von Einzelfall<br />

und Verallgemeinerung arbeiten: Was in einem Fall gilt, muss nicht im an<strong>der</strong>en<br />

Fall auch umfassend gelten. Lehrer kennen das aus <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong>kehrenden<br />

Erfahrung, das eine Unterrichtsreihe, die im vorigen Jahr ganz ausgezeichnet<br />

lief, in diesem Jahr, in dieser Klasse ständig stockt. Zudem besteht die Gefahr,<br />

dem Einzelnen o<strong>der</strong> auch einer spezifischen Gruppe nicht gerecht zu werden,<br />

wenn sie vorschnell einem Typus untergeordnet werden: Also vorschnell als „Fall<br />

von...“ abgelegt werden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sind <strong>der</strong>artige Klassifikationen<br />

zwingend, weil nicht jedes Mal ein Einzelfall ganz neu entfaltet werden kann und<br />

weil subsumtive Eingruppierungen und Ordnungsschemata wichtig sind, um sich<br />

in komplexen Handlungszusammenhängen orientieren zu können.<br />

Was ist nun die Beson<strong>der</strong>heit – wenn die Typik des Lehrberufs als Profession zu<br />

fassen ist – dieser spezifischen pädagogischen Profession im Unterschied zu<br />

an<strong>der</strong>en? Dies hängt – wie<strong>der</strong> im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n und Kulturen –<br />

mit dem spezifischen deutschen Son<strong>der</strong>weg <strong>der</strong> Verberuflichung und<br />

<strong>Institut</strong>ionalisierung des Schulwesens und mit dem spezifischen Gegenstand, an dem<br />

sie arbeiten, zusammen, nämlich die psychische Entwicklung, Bildungsprozesse,


- 25 -<br />

Wissen und Kompetenzen von Heranwachsenden zu initiieren und zu beför<strong>der</strong>n. Die<br />

folgenden Punkte scheinen mir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – bedeutsam:<br />

- Der Lehrberuf ist keiner <strong>der</strong> „freien“ Berufe, son<strong>der</strong>n seine Entstehung ist –<br />

insbeson<strong>der</strong>e in Deutschland – auf das engste mit Staat und Organisation<br />

verbunden: Die pädagogische Profession <strong>der</strong> Lehrer ist damit eine staatlich<br />

konstituierte und kontrollierte. Pädagogisches Lehrerhandeln ist somit immer<br />

Handeln in staatlichen, organisatorischen Rahmungen gewesen und unterliegt<br />

<strong>der</strong>en Strukturierung. Es ist damit beson<strong>der</strong>s stark in die Spannung<br />

organisatorischer Vorstrukturierungen und <strong>der</strong> für professionelles Handeln<br />

notwendigen Offenheit <strong>der</strong> Gestaltung interaktiver und kommunikativer Prozesse<br />

gestellt.<br />

- Daher weist es in beson<strong>der</strong>er Form ein Autonomieproblem auf: Die Regeln, die<br />

Vorgehensweise, die Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns<br />

werden nicht von den Lehrkräften, son<strong>der</strong>n durch staatliche Beschlüsse, Erlasse,<br />

Verordnungen, Landes- und zum Teil Bundesgesetzgebungen geregelt. Erst in<br />

diesen Rahmungen können Lehrer ihre pädagogische, didaktische und<br />

methodische Freiheit realisieren. Die an<strong>der</strong>e Seite des Autonomieproblems ist,<br />

dass Lehrkräfte auch dazu neigen, diese Autonomieproblematik entlastend<br />

einzusetzen, ihre eigenen konkreten Handlungsspielräume systematisch<br />

unterschätzen und die Handlungszwänge zu stark zu betonen. So findet sich in<br />

den Deutungsmustern von Lehrkräften immer wie<strong>der</strong> ein Oszillieren zwischen<br />

<strong>der</strong> Klage zu vieler Zwänge und <strong>der</strong>en entlasten<strong>der</strong> Verwendung gegenüber<br />

Freiheits- und Gestaltungsauffor<strong>der</strong>ungen. Diese doppelte Autonomieproblematik<br />

wurzelt nicht zuletzt darin, dass Schulen als staatlich organisierte <strong>Institut</strong>ionen<br />

immer bereits vorgegeben und vorstrukturiert sind, so dass sich Lehrer im Zuge<br />

<strong>der</strong> zunehmenden Verfachlichung und Verwissenschaftlichung vornehmlich als<br />

Fachlehrer begreifen können, die zwar für die Vermittlung ihres fachlichen<br />

Wissens zuständig sind, nicht aber für die Gestaltung und <strong>Institut</strong>ionalisierung<br />

<strong>der</strong> Schule als einer pädagogischen <strong>Institut</strong>ion insgesamt.<br />

- Lehrer sind zudem ganz entscheidend in hoheitsstaatliche Aufgaben involviert,<br />

vor allem in Form von Selektionsentscheidungen, <strong>der</strong> Verteilung von<br />

Zugangsrechten und Lebenschancen. Sie sollen nicht nur Wissen, Kenntnisse,<br />

Fertigkeiten und Kompetenzen auf Seiten <strong>der</strong> Schülerinnen beför<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />

sie sollen diese auch beurteilen, in eine Rangreihe bringen,<br />

Zugangsberechtigungen und Chancen verteilen. Damit gestaltet sich ihre<br />

pädagogische Tätigkeit – in <strong>der</strong> deutschen Tradition des staatlichen<br />

Schulsystems mit seinen frühen und beson<strong>der</strong>s weitreichenden<br />

Selektionsentscheidungen beson<strong>der</strong>s drastisch – sehr wi<strong>der</strong>spruchsvoll: Sie<br />

werden – um mit einer Anleihe bei einer an<strong>der</strong>en Profession zu argumentieren –<br />

zugleich zu Anwälten <strong>der</strong> Schüler und zu <strong>der</strong>en Richtern. Daraus resultieren<br />

strukturelle Belastungen des Arbeitsbündnisses, des Vertrauens, <strong>der</strong><br />

notwendigen Nähe, Personorientierung und eine Verstärkung <strong>der</strong> Asymmetrie.<br />

Wenn sich in Untersuchungen zur Selektions- und Beurteilungstätigkeit von<br />

Lehrern zeigt, dass Lehrer damit vergleichsweise wenig Probleme haben (vgl.<br />

etwa Terhart 2001a, Lü<strong>der</strong>s 2001), dann ist dies auch darüber zu erklären, dass<br />

es genau dieser Aspekt ihrer Tätigkeit ist, <strong>der</strong> ihnen auch soziale Macht,<br />

Einflussmöglichkeiten und auch Druckmittel verleiht, kurz: <strong>der</strong> ihnen deutliche<br />

Macht über die Lebenschancen ihrer Klientel gibt.<br />

- Aus dieser Zwiespältigkeit resultiert für die Lehrerschaft ein „Mandatsproblem“:<br />

Ist <strong>der</strong> Lehrer/die Lehrerin zentral dem Staat, den hoheitsstaatlichen,<br />

insbeson<strong>der</strong>e den Selektionsaufgaben o<strong>der</strong> <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> einzelnen Schüler


- 26 -<br />

und <strong>der</strong> Lerngruppe verpflichtet? Beides gleichermaßen zu leisten, führt mitunter<br />

in professionsethische Dilemmata (vgl. Oser 1998), da Lehrer mit ihren<br />

Selektionsentscheidungen auch zur Erschwerung o<strong>der</strong> gar zum Scheitern von<br />

Bildungsprozessen und Bildungslaufbahnen beitragen (vgl. Cortina u.a. 2003,<br />

Helsper/Hummrich 2005, Baumert u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Damit geht – im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Professionen – eine weitere Belastung<br />

des Arbeitsbündnisses einher: Schüler müssen zur Schule, da sie <strong>der</strong><br />

Schulpflicht bis zum Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe I unterliegen. Im Unterschied zu<br />

an<strong>der</strong>en Professionen – etwa Ärzten, Therapeuten, Anwälten, Seelsorgern –<br />

kommen die Klienten <strong>der</strong> Lehrer nicht freiwillig zu ihnen, verbunden mit <strong>der</strong><br />

Möglichkeit <strong>der</strong> freien Anwahl <strong>der</strong> Professionellen. We<strong>der</strong> die Lehrer, noch die<br />

Schüler können auswählen. Somit ist für die Profession <strong>der</strong> Lehrer die<br />

Zwangskopplung <strong>der</strong> Normalfall, wodurch die Spannung von Zwang und<br />

Autonomie beson<strong>der</strong>s angespannt wird. Daraus resultieren auch die<br />

Assoziationen, die den Lehrer immer wie<strong>der</strong> in eine Nähe zum Dompteur und<br />

Wärter rücken, was Adorno in seinen Tabus über den Lehrberuf so eindrücklich<br />

gefasst hat. Ulrich Oevermann (1996) geht soweit, den Schulzwang als<br />

strukturelle Ursache vieler Belastungen und Probleme im Lehrerhandeln zu<br />

bestimmen und darin ein grundlegendes Hin<strong>der</strong>nis für die weitere<br />

Professionalisierung des Lehrberufs zu sehen.<br />

- Lehrerinnen und Lehrer sind – obwohl für Professionen insgesamt<br />

kennzeichnend – beson<strong>der</strong>s deutlich mit dem „Technologiedefizit“ konfrontiert:<br />

Zwar verfügen Lehrerinnen und Lehrer in aller Regel über ein ausdifferenziertes<br />

methodisches und (fach)didaktisches Wissen und Handlungsrepertoire (vgl.<br />

Bauer 1997), über die Gestaltung, den Aufbau, den Ablauf und die<br />

Aufeinan<strong>der</strong>folge von Fachinhalten über die Jahrgangsstufen hinweg. Sie<br />

müssen aber in beson<strong>der</strong>s komplexen, von vielen Rahmenbedingungen und<br />

Hintergründen beeinflussten sozialen Kontexten agieren, was eine systematische<br />

Kontrolle <strong>der</strong> Erfolgsbedingungen sehr erschwert.<br />

- Dies hängt auch damit zusammen, dass Lehrer mit vielen und zudem großen<br />

Gruppen von Schülern agieren. Das unterscheidet sie von allen Professionen,<br />

die vorrangig mit dyadischen Konstellationen und kleineren Fallzahlen zu tun<br />

haben. Das trägt zu einer beson<strong>der</strong>en Schwierigkeit im reflektierten Umgang mit<br />

Typisierungen und Verallgemeinerungen (so einer, Fall von etc.) einerseits und<br />

einer auf die spezifische Lerngruppe, Untergruppen o<strong>der</strong> die einzelnen Schüler<br />

bezogenen individuellen und einzelfallspezifischen Lerndiagnose bei. Denn <strong>der</strong><br />

Umgang mit großen Schülerzahlen erzwingt gewissermaßen Homogenisierung<br />

und Typisierung, auch die Konstruktion eines „Normschülers“, dem häufig nur ein<br />

kleiner Teil <strong>der</strong> Klasse entspricht. Und die große Schülerzahl erschwert<br />

individualisierende, einzelfallspezifische und differenzierende Perspektiven. Aus<br />

<strong>der</strong> Konfrontation mit Schülergruppen in Form von Klassen, die zumeist noch<br />

nicht volljährig und lebenspraktisch autonom sind, resultiert zudem eine äußerst<br />

komplexe triadische Struktur des pädagogischen Arbeitsbündnisses, das die<br />

an<strong>der</strong>er professioneller Arbeitsbündnisse an Komplexität deutlich übertrifft:<br />

Dieses muss individualisierend mit den einzelnen Schülern bestehen. Diese<br />

dyadischen Arbeitsbündnisse zwischen Lehrer und einzelnen Schülern müssen<br />

aber in den Kontext eines Bündnisses mit <strong>der</strong> gesamten Klasse als Lerngruppe<br />

eingebettet sein, das durch Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller<br />

gekennzeichnet sein muss. Und drittens muss – wegen <strong>der</strong> fehlenden<br />

Volljährigkeit – ebenfalls ein Arbeitsbündnis mit den Eltern geschlossen werden.<br />

Nicht nur deswegen, weil Eltern für die schulische Bildung ihrer Kin<strong>der</strong>


- 27 -<br />

wesentlich mitverantwortlich sind, son<strong>der</strong>n auch weil sie an entscheidenden<br />

Stellen stellvertretend für ihre Kin<strong>der</strong> bzw. in Abstimmung mit ihnen schulischen<br />

Entscheidungen, Prozessen und Abläufen zustimmen müssen (vgl.<br />

Helsper/Hummrich <strong>2006</strong>).<br />

- Die Gestaltung dieses Arbeitsbündnisses mit den Eltern gestaltet sich mitunter<br />

auch deswegen schwierig, weil Lehrer im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Professionen<br />

weniger Möglichkeiten aufweisen, sich gegen Einmischung und Übergriffe von<br />

außen zu immunisieren, weil sie ein weniger entfaltetes eigenes pädagogisches<br />

Wissenschaftswissen und eine eigene Fachsprache besitzen – sicherlich auch<br />

ein Problem <strong>der</strong> vielfach kritisierten Lehrerausbildung (vgl. Terhart 2001b) – und<br />

zudem in einer <strong>Institut</strong>ion tätig sind, die je<strong>der</strong> aus seiner eigenen Schulzeit zu<br />

kennen glaubt. Von daher besteht eine beson<strong>der</strong>e Anfälligkeit von Lehrern dafür,<br />

dass je<strong>der</strong> meint „mitreden“ und den Unterricht in Frage stellen zu können. Der<br />

Schutz vor Einmischung und Außenkritik ist bei Lehrern also – im Unterscheid zu<br />

an<strong>der</strong>en Professionen, obwohl sich auch hier Verän<strong>der</strong>ungen vollziehen –<br />

beson<strong>der</strong>s gering ausgeprägt. Dies macht sie auch im Rahmen <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit, von Verbänden, von Seiten <strong>der</strong> Politik, vor allem aber auch von<br />

Seiten <strong>der</strong> Eltern so angreifbar und ermöglicht es, sie entgrenzend für alles, was<br />

mit Erziehung, Bildung und Lernen zu tun hat, „haftbar“ zu machen.<br />

- Der Erfolg des Lehrerhandelns ist – je umfassen<strong>der</strong> die Bildungsziele und -<br />

ansprüche formuliert sind – noch schwieriger sichtbar und eher langfristig<br />

angelegt als bei an<strong>der</strong>en Professionen. Daraus resultiert auch eine starke<br />

„Produktorientierung“, nicht nur bei Schülern, son<strong>der</strong>n auch bei Lehrern: Das<br />

Tafelbild, die Mitschrift, das ausgefüllte Arbeitsblatt, die Hausaufgaben, die<br />

mündliche Kontrolle, <strong>der</strong> Kurztest etc. sind die Markierer des Erfolgs, an denen<br />

sich dieser ablesen lässt (Kalthoff 1997, Breidenstein <strong>2006</strong>).<br />

Diese Bestimmungen verdeutlichen, dass <strong>der</strong> Lehrberuf im Unterschied etwa zu den<br />

sogenannten klassischen Professionen teilweise voraussetzungsreichere und<br />

komplexere Anfor<strong>der</strong>ungen aufweist, zugleich wi<strong>der</strong>spruchsvoller, störanfälliger und<br />

fragiler organisiert ist. Und die Lehrprofession weist weniger individuelle und<br />

institutionelle Ressourcen zur reflexiven Auseinan<strong>der</strong>setzung, kollegialen<br />

Kooperation und Beratung im Sinne einer in den <strong>Institut</strong>ionen verankerten kollegialen<br />

Reflexionskultur auf, da Lehrer sich häufig als Einzelkämpfer in Konfrontation mit <strong>der</strong><br />

Klasse im Sinne eines „zellulären Individualismus“ begreifen. Damit müssen<br />

entlastende, beratende und reflexive Elemente im Sinne einer institutionellen<br />

professionellen Kollegialität erst noch entwickelt werden (vgl. etwa Bauer 2004,<br />

Bonsen/Rolff <strong>2006</strong>). Zugleich werden Lehrer in den letzten Jahren im Zuge einer<br />

grundlegenden Umstrukturierung <strong>der</strong> Schullandschaft mit neuen Anfor<strong>der</strong>ungen im<br />

Zuge einer For<strong>der</strong>ung nach stärkerer Autonomie und Gestaltung <strong>der</strong> Einzelschule,<br />

verbunden mit stärkeren Vergleichen zwischen Schulen, Selbst- und<br />

Fremdevaluation und Systemmonitoring und <strong>der</strong> zunehmenden Einführung von<br />

Konkurrenz und marktförmigen Elementen in das Schulsystem mit neuen Aufgaben<br />

konfrontiert.<br />

Wie lassen sich nun die professionellen Aufgaben und Anfor<strong>der</strong>ungen an Lehrkräfte,<br />

die bislang eher allgemein als die Initiierung und Ermöglichung fachlicher und<br />

überfachlicher Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklungen gefasst worden sind,<br />

ausdifferenzieren? Lehrer haben, als professionelle Vermittler zwischen Person und<br />

Sache in Form <strong>der</strong> Unterrichtsinteraktion die folgenden zentralen und hoch<br />

bedeutsamen Aufgabenbereiche (die skizzierten Bestimmungen des professionellen<br />

Lehrerhandelns als Basis mitgedacht):


- 28 -<br />

1. die durch pädagogisches, didaktisches und methodisches Handeln<br />

angeleitete Ermöglichung <strong>der</strong> Aneignung domänenspezifischer, also<br />

fachlicher Wissensbestände in einer Form, die diese den Schülern<br />

verständlich und verstehbar macht und ihren Erfahrungshintergrund an<br />

fachsprachliche und fachwissenschaftliche Wissensbestände anschlussfähig<br />

werden lässt (fachliches Wissen und fachspezifische Kompetenzen im<br />

engeren Sinne).<br />

2. Die Einführung in die „Philosophie des Faches“ (vgl. Baumert 2003), also die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Fragen, wofür dieses Fach unersetzbar ist, was<br />

verloren geht, wenn man die Welt nicht auch mathematisch o<strong>der</strong> ästhetisch<br />

zu sehen vermag und damit die Einführung in unersetzbare Welt- und<br />

Selbstzugänge. Es geht dabei um die Aufschließung des grundlegenden<br />

Sinns, sich mit diesem Fach – auch wenn es nicht im Zentrum <strong>der</strong> eigenen<br />

Interessen liegt – auseinan<strong>der</strong> zu setzen (Einführung in spezifische Formen<br />

des Weltzugangs).<br />

3. Den Aufbau – dies allerdings als „Gesamtlehrkörper“ und als<br />

Gesamtbildungsaufgabe <strong>der</strong> Schule – von grundlegenden sprachlichen,<br />

moralischen, sozialen und kognitiven Kompetenzen im Sinne einer<br />

Dezentrierung des Selbst- und Weltverständnisses, wie es etwa von Piaget,<br />

Kohlberg o<strong>der</strong> von Habermas als eine zunehmend komplexere, reflexivere<br />

und autonomere Möglichkeit zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> sozialen, <strong>der</strong><br />

natürlichen und <strong>der</strong> subjektiven Welt gefasst worden ist (Dezentrierung und<br />

Autonomieentfaltung).<br />

4. Damit geht auch die Aufgabe <strong>der</strong> Begleitung <strong>der</strong> Selbst- und<br />

Identitätsentwicklung über die Kindheit in die Adoleszenz mit all ihren<br />

entscheidenden psychischen und kognitiven Verän<strong>der</strong>ungen einher: Etwa <strong>der</strong><br />

Entstehung und selbstbezogenen Ausbildung fachlicher Interessen und<br />

Weltzugänge, <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit und Reflexion <strong>der</strong> eigenen<br />

Herkunftsbezüge und des bisherigen Selbst- und Weltverständnissen, <strong>der</strong><br />

reflexiven Neuorientierung und Selbstverortung. Hier fungieren Lehrerinnen<br />

und Lehrer als mögliche signifikante, für die Bildungsbiographie hoch<br />

bedeutsame An<strong>der</strong>e (Selbst- und Identitätsentwicklung).<br />

5. Zudem führt die Schule über den Kreis naher sozialer Zusammenhänge<br />

hinaus und öffnet den Horizont für gesellschaftlich-soziale Bildungsprozesse<br />

im erweiterten Maßstab – also die grundlegende soziale, moralische und<br />

politische Dimension <strong>der</strong> Schule als eines organisatorisch strukturierten<br />

Raumes <strong>der</strong> erweiterten Gesellschaft. Darin werden Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />

zum ersten Mal verbindlich mit <strong>der</strong> sozialen Welt übergreifend geregelter,<br />

verbindlichen Maßstäben unterliegen<strong>der</strong> gesellschaftlicher <strong>Institut</strong>ionen<br />

konfrontiert und darin lernen sie exemplarisch den Umgang mit<br />

universalistisch geregelten sozialen Ordnungen, die über primäre,<br />

vergemeinschaftete soziale Zusammenhänge wie Familie, Nachbarschaft<br />

o<strong>der</strong> Freundschaften hinausweisen (politische und soziomoralische<br />

Bildung).<br />

6. Schließlich – im starken Spannungsverhältnis zu den an<strong>der</strong>en Bereichen (vgl.<br />

oben) – die Zuteilung und Zuweisung von Bildungslaufbahnen und<br />

Lebenschancen in <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> Selektionsaufgaben von Anfang an<br />

(Selektionsaufgabe).<br />

Wenn die Aufgabenbereiche 1 und 6 für Lehrer zumeist selbstverständlich sind, so ist<br />

bereits die Aufgabe, den Schülern die Philosophie des Faches nahe zu bringen, also<br />

eine fachspezifische Sinnstiftung vorzunehmen, keineswegs selbstverständlich. Und


- 29 -<br />

die Aufgabenbereiche 3 bis 5, die nur in einer verallgemeinerten Perspektive auf die<br />

Gesamtbedeutung <strong>der</strong> Schule in den Blick geraten, sind häufig gegenüber <strong>der</strong><br />

Dominanz von und <strong>der</strong> Begrenzung auf die Fachinhalte abgeblendet. Gerade darin<br />

aber wird die eminente Bedeutung <strong>der</strong> Schule im vollen Umfang sichtbar, an <strong>der</strong><br />

je<strong>der</strong> Lehrer partizipiert und zu <strong>der</strong> er beiträgt.<br />

2. Strukturwandel des Aufwachsens<br />

Ich möchte im Folgenden nun die Herausfor<strong>der</strong>ungen in den Mittelpunkt rücken, die<br />

für Schule und Lehrer aus den Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis von Jugend und Schule<br />

resultieren. Dabei werde ich in einem ersten Schritt diese Verän<strong>der</strong>ungen skizzieren<br />

und insbeson<strong>der</strong>e auf Ambivalenzen hinweisen, die sich im Laufe <strong>der</strong> letzten<br />

Jahrzehnte im Verhältnis von Schule und Jugend herausgebildet haben (vgl. auch<br />

Helsper/Böhme 2002).<br />

Jugend und Schule – dieses Verhältnis erscheint, nicht nur auf den ersten Blick, als<br />

spannungsreich. Mitunter gar so spannungsreich, dass Hartmut von Hentig einmal<br />

vorgeschlagen hat, den frühadoleszenten Jugendlichen doch eine Auszeit von <strong>der</strong><br />

Schule zu gönnen, weil sie von grundsätzlichen Entwicklungs- und<br />

Individuationsprozessen umfassend in Anspruch genommen und Kopf und Sinne für<br />

die Schule nicht frei seien. Dazu ist – bei aller Relevanz, die dieser Hinweis besitzt –<br />

anzumerken, dass die Schule für die Entstehung von Jugend in ihrer mo<strong>der</strong>nisierten<br />

Gestalt zentral ist: Erst die Einführung <strong>der</strong> Schule für alle und die daran<br />

anschließende Expansion schulischer Bildung (auf 9 o<strong>der</strong> 10 Schuljahre) sowie die<br />

Expansion <strong>der</strong> „höheren“ Bildung haben die Freisetzung von Jugend als Zeit für<br />

Bildung, Auseinan<strong>der</strong>setzung, Reflexion und Wissenserwerb auch in<br />

außerschulischen Formen ermöglicht. Darin ruht das transformatorische, das<br />

innovative und Heranwachsende in ein Distanzverhältnis zu ihrer Herkunft und ihren<br />

bisherigen Weltsichten setzende Dezentrierungspotenzial <strong>der</strong> Schule: Schule<br />

ermöglicht die Erfahrung <strong>der</strong> Differenz, des An<strong>der</strong>s-Seins und -Werdens, <strong>der</strong><br />

Neuerung und Verän<strong>der</strong>ung sowohl im Sinne <strong>der</strong> Statustransformation als auch <strong>der</strong><br />

Transformation von Welt- und Selbstsichten. Daran gilt es gegenüber einer zu<br />

überbordenden Schulkritik zu erinnern: Schule ist historisch gesehen Raum <strong>der</strong><br />

Freisetzung und Optionsentfaltung von Jugend.<br />

Es ist dann schon fast ein historisches Paradox, dass dieser schulische Raum<br />

zunehmend als Raum <strong>der</strong> Verordnung, des Zwangs, <strong>der</strong> Heteronomie, <strong>der</strong><br />

Langeweile o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sinnlosigkeit für Jugendliche in Erscheinung tritt. Das, was<br />

historisch gesehen Freisetzung ist, tritt Jugendlichen dann als <strong>Institut</strong>ion mit eigenen<br />

Zwängen, Regeln, heteronom gesetzten Ansprüchen und damit gerade nicht als von<br />

ihnen gestalteter und gewollter Bildungsraum entgegen. Allerdings nur „fast“ ein<br />

historisches Paradox: Denn Schule ist von Anfang an – neben den idealen Entwürfen<br />

von Bildung – immer auch Ort <strong>der</strong> Sozialdisziplinierung, <strong>der</strong> Unterwerfung und<br />

Unterordnung, <strong>der</strong> Erzeugung „gelehriger Körper“, disziplinierter Charaktere, williger<br />

Untertanen in unterschiedlicher Deutlichkeit gewesen – am schärfsten in den zwei<br />

erziehungsstaatlichen Diktaturen <strong>der</strong> deutschen Geschichte. Dies markiert von<br />

Anfang an die Ambivalenz des Schulischen: Als Versprechen <strong>der</strong> Freisetzung und<br />

Erweiterung und als Einfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> disziplinierenden Unterwerfung.


- 30 -<br />

Darin sind Lehrer verstrickt und so erscheinen sie in Bil<strong>der</strong>n und Rückerinnerungen<br />

häufig auch in polarisierten Gestalten. Ich möchte hier – im Unterschied zur eher<br />

dominierenden Negativsicht – auf positive Entwürfe des Lehrers hinweisen:<br />

Etwa bei Sigmund Freud, <strong>der</strong> bei aller Ambivalenz gegenüber <strong>der</strong> Schule, in seiner<br />

Jubiläumsrede an seinem alten Gymnasium, die Bedeutung <strong>der</strong> Lehrer für die<br />

Bildung und Entwicklung <strong>der</strong> Gymnasiasten würdigte. Sie nehmen in den<br />

Entidealisierungsprozessen <strong>der</strong> Jugend, die Stelle des Vaters ein, <strong>der</strong> nun als Ideal<br />

entthront wird: „Diese Männer (die Gymnasialprofessoren, W.H.) die nicht einmal alle<br />

selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz. Darum kamen sie uns auch wenn<br />

sie noch sehr jung waren, so gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen<br />

auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater unserer<br />

Kindheitsjahre, und dann begannen wir, sie zu behandeln wie unsere Väter zuhause.<br />

Wir brachten ihnen die Ambivalenzen entgegen, die wir in <strong>der</strong> Familie erworben<br />

hatten, und mit Hilfe dieser Einstellung rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren<br />

leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren.“ (Freud 1979, S. 240)<br />

O<strong>der</strong> Albert Camus, kurz nachdem er den Literatur-Nobelpreis 1957 verliehen<br />

bekam, in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer: „Doch als ich die Nachricht<br />

erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre<br />

liebevolle Hand, die Sie dem armen, kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne<br />

Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von allem geschehen.“ (Camus 1996,<br />

Der erste Mensch, S. 376)<br />

O<strong>der</strong> Pierre Bourdieu, <strong>der</strong> große französische Soziologe in seinem „soziologischen<br />

Selbstversuch“, in dem er die Härte, die Demütigungen, die Not und Kämpfe im<br />

Internat, das „dunkle, nächtliche Gesicht“ <strong>der</strong> Schule, mit dem Unterricht kontrastiert,<br />

„wo völlig an<strong>der</strong>e Werte vermittelt wurden und die Lehrer, vor allem die Frauen, uns<br />

eine ganze Welt geistiger Entdeckungen und menschlicher Beziehungen nahe<br />

brachten, die man nur als verzaubert bezeichnen kann.“ (Bourdieu 2002, S. 103)<br />

Derartige autobiographische Schil<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> Kommentare zur Bedeutung von<br />

Lehrerinnen und Lehrern muten mitunter an, als wären sie ein Echo vergangener<br />

Bildungszeiten. Aber Vorsicht: Insbeson<strong>der</strong>e in schülerbiographischen Studien wird<br />

immer wie<strong>der</strong>, auch für die letzten Jahrzehnte, auf die große Bedeutung von<br />

Lehrerinnen und Lehrern verwiesen: So hebt etwa Dieter Nittel in seiner<br />

schülerbiographischen Studie zu Gymnasiasten hervor, dass Lehrer signifikante, also<br />

unersetzbare, für die Biographie überaus bedeutsame Erwachsene für Schüler<br />

werden können (Nittel 1992). In einer eigenen schülerbiographischen Studie des<br />

„Abstiegs“ vom Elitegymnasiasten zum Hauptschüler und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einmündung in<br />

die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule (vgl. die Fallstudie „Moritz“ in: Helsper<br />

1997) konnte verdeutlicht werden, dass insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Kunstlehrer in <strong>der</strong><br />

Oberstufe zu einer zentralen Person für die Stabilisierung <strong>der</strong> Bildungslaufbahn<br />

wurde: Über den Kunstunterricht hinaus eröffnete er als selbst praktizieren<strong>der</strong><br />

Künstler durch das Angebot an interessierte Schüler, einmal in <strong>der</strong> Woche bis in den<br />

Abend hinein mit ihm zusammen in seinem Atelier zu arbeiten, einen Diskussionsund<br />

insbeson<strong>der</strong>e ästhetischen Gestaltungs- und Auseinan<strong>der</strong>setzungsraum, <strong>der</strong> für<br />

Moritz zu einem entscheidenden Impuls für seine ästhetischen Bildungsprozesse<br />

sowie zu einem wichtigen Forum für seine biographische Auseinan<strong>der</strong>setzung und<br />

die Entwicklung seines Selbst wurde.<br />

In einer Studie an einem Gymnasium des Ruhrgebietes stießen wir in einem gerade<br />

abgeschlossenen Forschungsprojekt (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>) auf den Abiturienten<br />

Tobias Silone, <strong>der</strong> als Sohn italienischer Eltern, die seit Jahrzehnten ein Restaurant<br />

mit bestem Ruf betreiben, in Deutschland geboren wurde. Er ist einer <strong>der</strong> besten<br />

Abiturienten dieser Schule und von Eltern, Mitschülern und insbeson<strong>der</strong>e Lehrern


- 31 -<br />

gefeierter Abiturredner <strong>der</strong> Schüler mit einer zugleich mehr als krisengeschüttelten<br />

Schülerbiographie. Diese wurzelt zum einen in <strong>der</strong> hoch ambivalenten Platzierung in<br />

seiner Familie und den Erfahrungen <strong>der</strong> Mitarbeit im elterlichen Restaurant, aus<br />

denen <strong>der</strong> Wunsch resultiert, dem zu entkommen:<br />

„auch (.) äh bei meinem Bru<strong>der</strong> war extrem früh klar dat wir Akademiker werden<br />

wolln extrem früh weil wir nich dat Leben haben wollten von ma-unseren Eltern und<br />

von den an<strong>der</strong>n Leuten die wir kennengelernt haben nich dieset stundenlange<br />

Rumstehn (.) dieset stundelange rumstehn und den Leuten in den Arsch zu kriechen<br />

boahh dat war das schlimmste den Leuten in den Arsch zu kriechen...“<br />

Tobias erleidet somit einen doppelten Zwang und darin wie<strong>der</strong>um, eine<br />

Beschämung: Er ist stark in die Bedienung im elterlichen Restaurant eingebunden<br />

und muss dabei auch die Form wahren, erlebt dies als demütigende Unterwürfigkeit<br />

und mangelnde Würde auf Seiten seiner Eltern, was durch den Migrantenstatus<br />

zusätzlich verschärft wird und bei ihm als „soziale Scham“ in Erscheinung tritt. So<br />

erfährt er die Familie als beschränkende Enge und will zusammen mit seinem Bru<strong>der</strong><br />

diesem „Kerker“ entfliehen: „das Restaurant nenn ich immer noch <strong>der</strong> Kerker <strong>der</strong> sich<br />

Familie nennt“.<br />

Tobias Silone findet am Märkischen Gymnasium eine engagierte Lehrerschaft, <strong>der</strong>en<br />

Bildungsideale um Reflexion, Kritikfähigkeit und soziales Engagement kreisen. Hier<br />

findet er zum einen intellektuelle Anregungen („extrem viel gelernt“) und ein<br />

umfassendes Konzept eines kritischen, sich einmischenden politischen Bürgers, das<br />

die Lehrer verkörpern und for<strong>der</strong>n (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>). Und zum an<strong>der</strong>en eine<br />

Toleranz gegenüber expressiven, ekstatischen Formen jugendlichen Protestes und<br />

subkultureller Aktivitäten, in die er zeitweise stark eingebunden ist, so dass er – auch<br />

in einer Krisensituation, in <strong>der</strong> ihm die Verweisung von <strong>der</strong> Schule droht – Anwälte<br />

auf Seiten <strong>der</strong> Lehrer findet, die für ihn bürgen. In <strong>der</strong> Oberstufe beschließt er, sich<br />

aus den überbordenden jugendkulturellen Aktivitäten stärker zurückzuziehen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Lehrer Heinrich, sein Sozialkundelehrer, wird für ihn – ohne<br />

dessen direktes Wissen – zu einer zentralen Bezugsperson, indem er Tobias durch<br />

sein breites Wissen, seine kritische Reflexivität, sein authentisches soziales und<br />

politisches Engagement beeindruckt. Tobias abonniert, ohne Wissen seiner Lehrer<br />

o<strong>der</strong> An<strong>der</strong>er, den Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung und stellt, kein<br />

schlechter Schüler mit im Schnitt Zweien und Dreien, den Antrag, die zwölfte Klasse<br />

freiwillig wie<strong>der</strong>holen zu dürfen, um dem Abiturdurchschnitt für ein Medizinstudium<br />

nahe zu kommen. Auch Herr Steinke, den er anschließend als<br />

Sozialwissenschaftslehrer erhält, wird ganz ähnlich wie <strong>der</strong> Lehrer Heinrich<br />

beschrieben: umfassend wissend, kritisch, unnachgiebig reflexiv, bohrend und<br />

nachfragend. In einer zentralen Unterrichtsszene ist Tobias <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> über<br />

detailliertes Wissen zu den Geschwistern Scholl verfügt und gibt dem Lehrer Steinke<br />

zu erkennen, dass er regelmäßig verschiedene anspruchsvolle Zeitungen ebenso<br />

wie historische und aktuelle politische und sozialwissenschaftliche Bücher liest.<br />

Darüber erhält er dessen umfassende Anerkennung. Diese Anerkennung, dass<br />

An<strong>der</strong>e merken, wie Tobias formuliert, dass jemand vor ihnen steht „<strong>der</strong> wirklich<br />

gebildet ist“, ist für ihn äußerst bedeutsam. So wird er auch im elterlichen Restaurant<br />

dadurch ein An<strong>der</strong>er, indem er mit ausgesuchten gebildeten Gästen gezielt das<br />

Gespräch sucht:<br />

„ist natürlich toll wenn de dann im Restaurant (.) Ärzte Professoren Lehrer o<strong>der</strong><br />

sonst wer sitzen und man natürlich geschätzt wird und die Leute fragen ‚ach wo ist<br />

denn <strong>der</strong> Sohnemann wo isn <strong>der</strong> Junior’ <strong>der</strong> hat uns letztens was Tolles erzählt (.) is<br />

natürlich toll...“.


- 32 -<br />

Die Abiturrede, die das Thema Fremdheit und Interkulturalität im Rahmen schulischer<br />

Bildung zum Thema hat – und die ihm umfassende Anerkennung <strong>der</strong> Lehrer<br />

einbringt, bis hin zum Unglauben, dass er <strong>der</strong> Verfasser sei (Eltern recherchieren im<br />

Internet nach <strong>der</strong> Rede) – ist seine eigentliche Abiturprüfung. Darin reflektiert er<br />

implizit die eigene Bildungsbiographie als Frem<strong>der</strong> im Rahmen seiner Schule, die<br />

ihm zugleich entscheidende Transformationswege und neue Möglichkeiten eröffnet,<br />

in einer anspruchsvollen, intellektuell überzeugenden und sehr reflektierten Form.<br />

In <strong>der</strong> gleichen Studie konnten wir für die von uns exemplarisch untersuchte<br />

Hauptschule herausarbeiten, welche existenzielle Bedeutung Lehrer dieser<br />

Hauptschule für die äußerst stützungsbedürftige und problembelastete Schülerschaft<br />

besaßen und Schülern durch ihre pädagogische Kultur <strong>der</strong> Anerkennung überhaupt<br />

noch Bildungsoptionen offen hielten (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>, Wiezorek/Helsper <strong>2006</strong>,<br />

Wiezorek <strong>2006</strong>).<br />

Schule und Lehrer bleiben also durchaus – wenn eventuell auch in neuen Formen –<br />

bedeutsam für die Bildungsprozesse <strong>der</strong> Schüler. Betrachten wir nun genauer die<br />

Wandlungen im Verhältnis von Schule und Jugend, die ich im Folgenden<br />

stichpunktartig skizzieren möchte:<br />

Vom Bildungsprivileg zum Bildungszwang<br />

- Bis in die 1960er Jahre hinein galt: Höhere Bildung war das Privileg weniger, was<br />

darin zum Ausdruck kam, dass noch rund vier Fünftel aller Schüler die<br />

Volksschule besuchten.<br />

- Der gravierende Wandlungsprozess innerhalb von vier Jahrzehnten lässt sich<br />

daran ablesen, dass nur noch ca. ein gutes Fünftel eines Jahrganges – wenn<br />

auch mit großen Unterschieden zwischen den Bundeslän<strong>der</strong>n – die Hauptschule<br />

besucht. Die ehemals selbstverständliche Normalschullaufbahn wird damit heute<br />

zu einer schulischen Exklusionskarriere. Um Berufe erlernen und in sie<br />

einmünden zu können, für die vor vier Jahrzehnten noch ein<br />

Hauptschulabschluss ausreichte, ist heute mindestens <strong>der</strong> Realschulabschluss,<br />

wenn nicht das Abitur erfor<strong>der</strong>lich.<br />

- Damit geht ein Zwang zur weiterführenden Bildung einher: Für Jugendliche ist<br />

<strong>der</strong> mittlere Bildungsabschluss inzwischen <strong>der</strong> notwendige Abschluss um<br />

überhaupt weiterführende Bildungs- und berufliche Optionen offen halten zu<br />

können.<br />

Kurz: Wenn Jugendliche berufliche Zukunftsaussichten haben wollen, müssen sie an<br />

weiterführen<strong>der</strong> Bildung partizipieren, so dass erweiterte Bildung zunehmend mit<br />

Zwang und Druck verbunden ist. Sie wird vom exklusiven Privileg zu einem<br />

notwendigen Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> zukünftigen Selbsterhaltung für Jugendliche.<br />

Vom Bildungsversprechen zum Bildungsparadoxon<br />

- Mit dieser Entwicklung geht einher, dass Jugendliche immer mehr in Bildung<br />

investieren müssen, immer stärker in das „schulische Spiel“ involviert sein<br />

müssen, ohne sich aber sicher sein zu können, dass dies auch Zukunftsoptionen<br />

eröffnet.<br />

- Wenn für Jugendliche, die schulisch versagen o<strong>der</strong> unter dem mittleren<br />

Bildungsabschluss bleiben, dies per se die wahrscheinliche Anbahnung von


- 33 -<br />

Exklusionskarrieren bedeutet, so ist dies bei weiterführenden Schulabschlüssen<br />

zwar unwahrscheinlicher, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen.<br />

- Auch für jene, die schulisch investieren, sich anstrengen und mittlere o<strong>der</strong><br />

höhere schulische Abschlüsse erreichen, ist damit keineswegs die Sicherheit<br />

verbunden, dass sie auch weitere Bildungs- und berufliche Möglichkeiten<br />

realisieren können, weil es zugleich zu einer „Inflationierung“ <strong>der</strong> höheren<br />

Bildungszertifikate kommt und sich damit <strong>der</strong> Wettbewerb um weitere<br />

Lebenschancen nun auch zwischen Jugendlichen mit höheren<br />

Bildungsabschlüssen abspielt (vgl. Bourdieu u.a. 1997).<br />

- Vor diesem Hintergrund wird es immer bedeutsamer, sich in <strong>der</strong> Schule und im<br />

Unterricht anzustrengen: Schuldistanz ist gleichbedeutend mit <strong>der</strong> Anbahnung<br />

von Ausschlusskarrieren. Und im oberen Bildungssegment ist das Abitur allein<br />

immer weniger hinreichend, um umfassende Möglichkeiten zu eröffnen: Es<br />

kommt immer stärker auf die Qualität des Abiturs, den Abiturdurchschnitt, den<br />

Besuch exklusiver Schulen mit gutem Ruf, hohem Sozialkapital <strong>der</strong> Eltern und<br />

Schüler, zahlreichen kulturellen und informellen Bildungsmöglichkeiten,<br />

verbunden mit Auslandsaufenthalten etc. an. Zugespitzt formuliert: Für die<br />

weitere Einmündung in privilegierte Bildungs- und Berufslaufbahnen macht nicht<br />

mehr <strong>der</strong> Besuch des Gymnasiums den Unterschied aus, son<strong>der</strong>n es kommt auf<br />

den Unterschied in <strong>der</strong> höheren Bildung an – von <strong>der</strong> Distinktion des<br />

Gymnasialen zur Distinktion im Gymnasialen.<br />

Kurz: Jugendliche sind damit konfrontiert, stärker in schulische Bildung investieren<br />

zu müssen, gezielt beson<strong>der</strong>s gute und anregungsreiche Schulen auszusuchen und<br />

auch neben <strong>der</strong> Schule weitere Bildungsanstrengungen zu unternehmen.<br />

Gleichzeitig steigt die Ungewissheit – selbst bei weiterführenden Schulabschlüssen<br />

– ob sich dies auch lohnt und welche weiteren Bildungswege und Lebensentwürfe<br />

gangbar und realisierbar sind. Damit wächst auch die Notwendigkeit für Jugendliche<br />

sowohl über umfassendes biographisches Orientierungswissen verfügen zu können<br />

als auch eine beratende Begleitung bei <strong>der</strong> Gestaltung von Bildungsbiographien zu<br />

besitzen.<br />

Von <strong>der</strong> Schule als Chance zur Schule als Risiko – o<strong>der</strong>: Die Kosten des<br />

schulisch gefor<strong>der</strong>ten erfolgszentrierten Erwerbsmenschen<br />

- Damit geht einher, dass die Schule – neben den Freiräumen die sie eröffnet –<br />

auch immer deutlicher als Belastungsraum für Jugendliche in Erscheinung tritt,<br />

nicht zuletzt deswegen, weil individuelle Leistung, gerade auch im Zuge <strong>der</strong><br />

Diskussion um PISA und Bildungsstandards, immer stärker zum Kernelement<br />

des Schulischen wird.<br />

- Dies lässt sich in Zahlen ausdrücken: Fast 40 % <strong>der</strong> 15-jährigen Schüler weisen<br />

in Form von Rückstellungen, Klassenwie<strong>der</strong>holungen o<strong>der</strong> Abstufungen<br />

Misserfolgs- o<strong>der</strong> Versagenskarrieren auf, davon fast 10 % mit mehrfachen<br />

Scheiternserfahrungen (Schümer 2005). Dabei ist <strong>der</strong> Wechsel zwischen<br />

Schulformen in <strong>der</strong> Regel ein Abstieg: PISA ermittelt ein Verhältnis von 1 : 5 für<br />

Aufstieg und Abstieg zwischen Schulformen (Län<strong>der</strong>differenz). Insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Hauptschule wird im Laufe <strong>der</strong> Sekundarstufe I zum Ort, an dem sich<br />

Jugendliche mit Versagenskarrieren „sammeln“: Fast zwei Drittel <strong>der</strong><br />

Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind dadurch gekennzeichnet, gegenüber<br />

gut 40 % <strong>der</strong> Realschüler und lediglich 15 % <strong>der</strong> Gymnasiasten (ebd.). Dabei<br />

sind Jungen, Jugendliche aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Milieus


- 34 -<br />

sowie spezifische Migrantenjugendliche beson<strong>der</strong>s deutlich betroffen (vgl.<br />

Cortina u.a. 2003, Ditton 2004, Helsper/Hummrich 2005).<br />

- Für bereits benachteiligte und belastete Jugendliche kommt es zu einer<br />

„doppelten Benachteiligung“: Gundel Schümer (2004) kommt in einer<br />

vertiefenden Auswertung <strong>der</strong> PISA-Daten zum Ergebnis, dass sich insbeson<strong>der</strong>e<br />

in Hauptschulen, aber zum Teil auch in Gesamtschulen Jugendliche in Klassen<br />

sammeln, die durch schulische und außerschulische Versagenserfahrungen,<br />

lebensgeschichtlich entstandene Problembelastungen, schwierige soziale und<br />

familiäre Rahmenbedingungen beson<strong>der</strong>s betroffen sind. Dadurch kommt es zu<br />

einer doppelten Benachteiligung: Schon ökonomisch, sozial und kulturell<br />

marginalisierte Jugendliche mit familiären und schulischen<br />

Problemaufschichtungen finden sich in diesen Klassen zusammen, so dass eine<br />

äußerst belastete Lernatmosphäre entsteht, die im Vergleich mit gemischteren<br />

Klassen und Lerngruppen zur nochmaligen Benachteiligung in <strong>der</strong><br />

Lernentwicklung und Kompetenzentfaltung für diese Jugendlichen beiträgt.<br />

- In diesem Zusammenhang werden im Zuge sozialer Entmischungen, neuer<br />

Armut und destabilisierter Wohnregionen spezifische Schulen massiv mit<br />

Jugendlichen konfrontiert, die eine Kumulation von Problemlagen mit- und in die<br />

Schule einbringen, so dass Schulen selbst zum Risikoraum werden. Damit geht<br />

einher, dass aus diesen schulischen Problembelastungen verstärkte<br />

Schuldistanz, Schulverweigerung und -flucht, das umfassende Scheitern von<br />

Bildungskarrieren resultieren kann. Daraus resultieren für diese Schulen und<br />

insbeson<strong>der</strong>e die Lehrkräfte Herausfor<strong>der</strong>ungen beson<strong>der</strong>er Art, die nur unter<br />

spezifischen Bedingungen bewältigt werden können (vgl. Melzer,<br />

Wolfgang/Ehniger, Franz/Schubarth, Wilfried 2004, Helsper u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Das stark geglie<strong>der</strong>te und früh selektierende deutsche Schulsystem lässt zudem<br />

selektionsbedingte Lern- und Bildungsmilieus entstehen: Im Verlauf <strong>der</strong><br />

Sekundarstufe I erfahren Jugendliche mit ähnlichen kognitiven Voraussetzungen<br />

und Kompetenzen in den unterschiedlichen Schulformen eine unterschiedliche<br />

För<strong>der</strong>ung, so dass sich ihre Kompetenzen gegen Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />

deutlich auseinan<strong>der</strong> entwickelt haben. Dies gilt zudem für Jugendliche aus dem<br />

oberen und dem unteren Viertel <strong>der</strong> Sozialstruktur, wie PISA verdeutlichen<br />

konnte (vgl. Baumert u.a. 2001, Baumert u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Neben diese „objektiven“ Versagens- und Benachteiligungserfahrungen, treten<br />

damit einhergehende Belastungen: Die Bielefel<strong>der</strong> Studien zu jugendlicher<br />

Problem-, Stress-, Sucht- und psychosomatischen Belastung von Hurrelmann<br />

u.a. verdeutlichen, dass mit schulischen Leistungsproblemen, mit<br />

Schulversagen, aber auch mit <strong>der</strong> Angst vor Leistungsversagen durchgängig<br />

höhere Belastungen in Form von Drogen und Sucht, von Stress-,<br />

psychosomatischen Phänomenen aber auch von Zukunftsangst für Jugendliche<br />

verbunden sind. Dies zeigt sich auch in den Längsschnittstudien von Fend und<br />

<strong>der</strong> jüngsten Studie zur jugendlichen Gesundheit <strong>der</strong><br />

Weltgesundheitsorganisation (vgl. Bilz/Hähne/Melzer 2003, Hurrelmann/Mansel<br />

1998, Fend 2000).<br />

- Dabei sind spezifische Gruppen von Jugendlichen beson<strong>der</strong>s betroffen: 1.<br />

mehrfach scheiternde Jugendliche mit teilweise dramatischen Karrieren<br />

schulischen Scheiterns; 2. Jugendliche, die sich über Jahre immer wie<strong>der</strong> mit<br />

drohendem Scheitern konfrontiert sehen, sich gerade so „über Wasser halten“<br />

und dies als Langzeitstress erfahren; 3. zum Teil sehr gute und leistungsstarke<br />

Jugendliche aus Familien mit höchsten Bildungserwartungen und starkem<br />

Leistungsdruck, so dass die Familie als kompensatorisches, emotional


- 35 -<br />

stützendes Feld ausfällt (Familie als „verlängerter Arm <strong>der</strong> Schule“ bzw.<br />

„Überanpassung <strong>der</strong> Familie an die Schule“); 4. schließlich Jugendliche aus<br />

bildungsorientierten Familien mit hohen Schulabschlüssen und Bildungstiteln <strong>der</strong><br />

Eltern, wobei diese Jugendlichen deutlich unter diesen Bildungsabschlüssen<br />

bleiben (sogenannte „missratene Söhne und Töchter“).<br />

- Allerdings kann es Jugendlichen gelingen, sich gegen <strong>der</strong>artige Belastungen aus<br />

schulischen Versagenskarrieren zu immunisieren. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sie<br />

starke Einbindungen in subkulturelle Szenen und Cliquen aufweisen, die deutlich<br />

schuldistanziert o<strong>der</strong> schuloppositionell sind und darin auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Peers<br />

umfassende Anerkennung und emotionale Stützung erfahren (vgl. Fend 2000).<br />

Das Fatale daran ist, dass diese Stützung ihres Selbst und die Kompensation<br />

ihrer Entwertung durch diese Peermilieus zugleich eine weitere Verstärkung <strong>der</strong><br />

Schuldistanz impliziert, weil sie nun für schuloppositionelle Haltungen die<br />

Anerkennung ihrer Freunde erhalten.<br />

Kurz: Je nachdem welche Schulform und hier wie<strong>der</strong>um: welche Schule, mit welchen<br />

konkreten Bedingungen, Einzugsgebieten und regionalen Milieubezügen Jugendliche<br />

besuchen, erfahren sie eine sehr unterschiedliche För<strong>der</strong>ung und Unterstützung ihrer<br />

kognitiven Bildungsprozesse, ihrer Kompetenz- und Wissensentfaltung o<strong>der</strong> auch<br />

weitere Problemverschärfungen, Belastungen und Exklusion. Und für einen<br />

relevanten Teil <strong>der</strong> versagenden o<strong>der</strong> unter starkem Erfolgsdruck stehenden<br />

Jugendlichen resultieren daraus zusätzliche psychosoziale Belastungen und<br />

Destabilisierungen, die ihre schulischen Bildungsprozesse zusätzlich erheblich<br />

behin<strong>der</strong>n.<br />

Vom schulischen Bildungsmonopol zur Diversifizierung von Bildungs- und<br />

Lernorten Jugendlicher<br />

- Dieser These muss eine Relativierung vorausgeschickt werden: Das schulische<br />

Bildungsmonopol ist nämlich schon immer durch familiäre Bildung relativiert,<br />

denn die Familie ist neben <strong>der</strong> Schule ein zweiter zentraler Ort von<br />

Lernprozessen, die geradezu die Basis für schulische Bildungsprozesse<br />

darstellen. Gerade für das deutsche Schulsystem, das zeigt sich im<br />

internationalen Vergleich, sind diese familiär erworbenen Bildungsressourcen<br />

und das familiäre kulturelle Kapital hoch bedeutsam für den Erfolg in den<br />

schulischen Bildungsprozessen (vgl. Baumert u.a. 2003).<br />

- Daneben aber – und dies ist mit <strong>der</strong> These <strong>der</strong> Relativierung des schulischen<br />

Bildungsmonopols im Kern gemeint – entfalten sich vielfältige Möglichkeiten für<br />

Lernen und Bildung außerhalb <strong>der</strong> Schule: Im Rahmen von Vereinen und<br />

außerschulischen kulturellen Einrichtungen, im Kontext jugendkultureller<br />

Netzwerke und Peerzusammenhänge, im Zusammenhang neuer medialer,<br />

virtueller Lern- und Erfahrungsräume. All dies wird unter dem Stichwort einer<br />

Ausweitung und Pluralisierung informellen Lernens o<strong>der</strong> informeller Bildung<br />

gefasst (vgl. Grunert 2005).<br />

- Damit entstehen für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche neue und erweiterte Möglichkeiten<br />

eines freieren, offenen, selbstgesteuerten, insbeson<strong>der</strong>e auch medialen Zugangs<br />

zu umfassenden Wissensbeständen jenseits <strong>der</strong> Schule: Jugendliche können<br />

sich verstärkt eigengesteuerte Wissens- und Bildungszugänge, die sie viel<br />

stärker selbstständig gestalten können und die enger mit ihren Interessen<br />

verbunden sind, jenseits von Schule und Lehrern und den dort gegebenen<br />

asymmetrischen und zwangsförmigen Erfahrungsräumen eröffnen.


- 36 -<br />

- Insbeson<strong>der</strong>e im Zusammenhang jugendlicher Szenen und jugendkultureller<br />

Bildungsräume werden auch virtuose Bildungskarrieren möglich, indem sich<br />

Jugendliche im Zusammenhang jugendkultureller Praktiken, ästhetischer<br />

jugendkultureller Gestaltungsformen, im Zusammenhang jugendlicher Stile und<br />

Inszenierungsformen im Bereich von Musik, Tanz, Events, Körperpraktiken und<br />

Sport sowie <strong>der</strong> Gestaltung und Nutzung <strong>der</strong> virtuellen Medienwelten umfassend<br />

jugendkulturelles Kapital aneignen, das sie zu Vorreitern kultureller Neuerungen<br />

und Trends werden lässt (vgl. du Bois-Reymond 2000).<br />

- Damit ist auch eine Relativierung <strong>der</strong> Bildungsbedeutsamkeit von Schule und<br />

Unterricht für Jugendliche verbunden, die teilweise die für sie wesentlichen und<br />

zentralen Bildungs- und Erfahrungsprozesse neben und außerhalb <strong>der</strong> Schule<br />

vollziehen. So setzen sich kindlich-jugendliche Bildungsbiographien zunehmend<br />

aus ausdifferenzierten und pluralisierten Erfahrungsräumen und Bildungsorten<br />

zusammen, so dass Bildungsbiographien entstehen, die aus vielfältigen<br />

Puzzleteilen bestehen, die neben nach wie vor schulischen Bildungssegmenten<br />

zunehmend auch aus informellen, medialen und Peersegmenten bestehen.<br />

Kurz: Aus diesen Entwicklungen resultiert, dass die Schule und die Schulabschlüsse<br />

zwar einerseits immer bedeutsamer werden, zugleich aber die Schule durch an<strong>der</strong>e<br />

Wege <strong>der</strong> Wissensaneignung, des Lernens, <strong>der</strong> Entfaltung von Fähigkeiten neben,<br />

jenseits und auch gegen die Schule Konkurrenz erhält. Lehrer als Wissensvermittler<br />

werden in ihrer Position relativiert und <strong>der</strong> inhaltliche Sinn <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong><br />

Schulzeit wird damit begründungsbedürftiger und ist weniger selbstverständlich.<br />

Bildung wird nicht mehr ausschließlich von <strong>der</strong> Schule erwartet und die Schule kann<br />

in den Augen Jugendlicher sogar zu einem rigiden, mit weniger Optionen<br />

versehenen Bildungsraum werden, <strong>der</strong> sie von ihren eigentlichen Bildungs- und<br />

Erfahrungsprozessen eher abhält.<br />

Vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt – zur Ambivalenz von Individuationsund<br />

Autonomieansprüchen von Jugendlichen<br />

- Insgesamt ist die Jugendphase dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur<br />

lebensgeschichtlich „länger“ andauert, son<strong>der</strong>n dass es zu einer Vorverlagerung<br />

von Ansprüchen auf Teilhabe, Mitsprache, auf eigene Entscheidungs- und<br />

Handlungsspielräume bei Jugendlichen kommt. Jugendliche stellen also früher<br />

und weitergehen<strong>der</strong>e Ansprüche auf eigene Autonomie. Und sie erleben – selbst<br />

in schulischen Kulturen, die längst nicht mehr die Autorität und Machtasymmetrie<br />

früherer Jahrzehnte aufweisen – die Schule als fremd bestimmten, wenig<br />

partizipativen Raum, vor allem wenn es um die Kernzonen des Schulischen geht,<br />

etwa die Festlegung von Regeln o<strong>der</strong> die Gestaltung des Unterrichts (vgl. Krüger<br />

u.a. 2002, Helsper u.a. <strong>2006</strong>).<br />

- Dies ist eingebunden in eine Relativierung starrer und stark asymmetrischer<br />

Autoritäts- und Generationsbeziehungen zwischen Alt und Jung, Groß und Klein,<br />

Erwachsenen und Jugendlichen. Erwachsene und somit auch Lehrer werden<br />

fraglicher und befragbarer. Erwachsenen kommt angesichts schneller kultureller,<br />

technologischer und sozialer Wandlungsprozesse nicht mehr per se Achtung und<br />

Anerkennung zu. Alte sind nicht mehr, wie noch in traditionalen o<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>at<br />

mo<strong>der</strong>nisierten Gesellschaften, die Erfahrenen, Weisen und Wissenden, son<strong>der</strong>n<br />

eher diejenigen, die nicht mehr mitkommen o<strong>der</strong> längst veraltetes Wissen als<br />

Ballast mitschleppen. Akzeptable Erwachsene und Ältere erscheinen vielmehr<br />

„jugendlich“, also: offen für Neues, flexibel, wandlungsfähig, suchend und kreativ.


- 37 -<br />

Damit sind „Insignien <strong>der</strong> Jugend“ inzwischen zu Bewertungsstandards für<br />

Erwachsene geworden.<br />

- Lehrer sind damit – wie Thomas Ziehe das einmal formuliert hat (Ziehe 1991) –<br />

nicht mehr durch die Gratiskraft und kulturelle Selbstverständlichkeit, von<br />

Erwachsenenautorität, Generationsdifferenz und einem „geheiligten Kanon“<br />

hochkulturellen Wissens gestützt, über das sie monopolartig verfügen und<br />

wachen. Sie werden angreifbarer, ihr Tun wird legitimations- und<br />

begründungsbedürftiger. Sie stehen ungeschützter mit ihrer Individualität, ihrer<br />

konkreten Person für das ein, was sie tun, etwas was die Lehrerarbeit im Alltag<br />

mitunter so anstrengend werden lässt. Und so kommt es auch im schulischen<br />

Bereich zu einer Verschiebung <strong>der</strong> Machtbalancen zwischen Jugendlichen und<br />

Lehrkräften.<br />

- Die Anspruchshaltungen auf Teilhabe, Mitsprache, Partizipation, eigene<br />

Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten tragen Jugendliche nun auch an<br />

Schule und Lehrer heran, die vor dem Hintergrund <strong>der</strong> skizzierten<br />

Verschiebungen in den Generationsbeziehungen stärker als bislang mit Kritik,<br />

Infragestellung, Fragen nach dem Sinn, wofür das nötig ist, ob es nicht auch<br />

an<strong>der</strong>s geht etc. konfrontiert werden.<br />

- Daraus können – auf beiden Seiten – auch anstrengende Dauerbelastungen<br />

hinsichtlich ständig anfallen<strong>der</strong> kommunikativer Verständigungen,<br />

Aushandlungen, immer wie<strong>der</strong>kehren<strong>der</strong> Verflüssigung von getroffenen<br />

Vereinbarungen, immer wie<strong>der</strong> notwendiger Begründungen treten. Damit können<br />

auch „Entsicherungen“ einhergehen. Die verstärkte Diskussion über die<br />

entlastende, Ordnung und Gemeinsamkeit stiftende Bedeutung neuer Rituale<br />

und verbindlicher Regeln in den letzten Jahren, lässt sich wie ein Wi<strong>der</strong>hall auf<br />

diese Verflüssigungen und Entsicherungen lesen.<br />

Kurz: Im Zuge vorverlagerter und verstärkter Autonomieansprüche von Jugendlichen<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Abflachung von Machtasymmetrien und Autoritätsbeziehungen<br />

zwischen den Generationen, zwischen Jugendlichen und Lehrern wachsen<br />

Jugendlichen zum einen neue Freiräume, Beteiligungsmöglichkeiten und<br />

Handlungsspielräume zu. Zugleich entstehen dadurch auch Entsicherungen,<br />

Entregelungen und Verunsicherungen sowie anstrengende und mitunter aufreibende<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen immer wie<strong>der</strong> neu Vereinbarungen auszuhandeln, eine Art<br />

„kommunikativer Daueranstrengung“, die den Wunsch nach neuen entlastenden<br />

Routinen und Ritualen antreibt.<br />

Von personalisierter Autorität und Unterordnung zu fern wirkenden<br />

Systemzwängen und Selbstdisziplinierungsfor<strong>der</strong>ungen<br />

- Mit diesen Verschiebungen geht einerseits eine Entlastung einher: Lehrerinnen<br />

und Lehrer treten immer weniger als personifizierte Despoten und autoritativfurchteinflößende<br />

Charaktere in Erscheinung. Damit verlieren aber auch Lehrer –<br />

die diesen Extrempolen nicht zuneigen – Möglichkeiten <strong>der</strong> Durchsetzung. An<br />

diese Stelle rücken nun eher – im Horizont <strong>der</strong> gestiegenen Bedeutung<br />

schulischer Zertifikate – die Hinweise auf Platzierungschancen und -risiken,<br />

mögliche o<strong>der</strong> eher erschwerte Übergänge, die Realitätsferne o<strong>der</strong> -nähe von<br />

Bildungsplanungen.<br />

- Dies kann zu Entlastungen auf Seiten <strong>der</strong> Pädagogen führen: Lehrerinnen und<br />

Lehrer können zum einen auf diese Zwänge und systemischen Imperative<br />

verweisen und können diese an die Stelle eigener For<strong>der</strong>ungen setzen bzw.<br />

Schüler mit dem Verweis darauf indirekt zur Disziplinierung auffor<strong>der</strong>n: Ihr wisst


- 38 -<br />

ja, was euch erwartet, wenn ihr nicht ...! O<strong>der</strong>: In einem halben Jahr wird sich ja<br />

zeigen, wer von euch bei dieser Arbeitshaltung den Übergang in die Oberstufe<br />

schafft...!<br />

- Für die Jugendlichen können im Extremfall daraus zusätzliche Belastungen<br />

resultieren, wie ein Jugendlicher im Wechsel von einer noch relativ stark<br />

autoritativ geführten Schule auf eine liberale Gesamtschule formulierte: „Und da<br />

hab ich gemerkt, die Lehrer machen dir hier den Druck nicht mehr. Und da muss<br />

ich mir den Druck selber machen, wenn ich mein Abi bekommen will.“ In diesem<br />

Fall werden Jugendliche auf sich verwiesen, auf ihre Selbstdisziplinierung, indem<br />

die Pädagogen die Jugendlichen bei ihren eigenen Selbständigkeitsansprüchen<br />

„packen“ und sie auf ihre eigene Verantwortlichkeit, ihre Zuständigkeit verweisen,<br />

also das „Konzept des „individualisierten Fähigkeitsbesitzers“, <strong>der</strong><br />

selbstverantwortlich etwas aus sich machen will und muss, auf die Jugendlichen<br />

beziehen.<br />

Kurz: Wenn Lehrerinnen und Lehrer immer weniger mit einer autoritären Haltung<br />

Jugendlichen gegenüber treten, so ist dies einerseits als eine Humanisierung <strong>der</strong><br />

pädagogischen Beziehungen zu würdigen. An<strong>der</strong>erseits sind damit die Zwänge nicht<br />

verschwunden, son<strong>der</strong>n an fern wirkende, kaum beeinflussbare systemische<br />

Drohungen übergegangen. Diese schweben wie ein Damoklesschwert über den<br />

Jugendlichen, denen es angesichts dessen, dass Pädagogen ihnen gegenüber<br />

weniger als personalisierte Kontrollmacht in Erscheinung treten, gelingen muss, sich<br />

selbst so zu disziplinieren und zu kontrollieren, dass sie ihre Bildungslaufbahn<br />

sicherstellen können.<br />

Vom Bildungsmoratorium zur Ambivalenz von Schule und Jugendkultur –<br />

zwischen „Leistungsaskese“ und „Erlebnisekstase“<br />

- Jugendliche leben nicht mehr nur in einem „Bildungsmoratorium“, also einer für<br />

Bildung, Fähigkeits- und Wissensaneignung vorgesehenen relativ entlasteten<br />

Zeit, die allerdings – angesichts <strong>der</strong> skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen – durchaus<br />

immer stärker auch Ernstcharakter erhält. Sie leben gleichzeitig in einem<br />

jugendkulturellen Raum, <strong>der</strong> um Erlebnis und expressive Events zentriert und in<br />

den letzten Jahrzehnten enorm expandiert ist (vgl. schon Zinnecker 1987).<br />

- Diese unterschiedlichen Räume mit ihren unterschiedlichen Prinzipien <strong>der</strong><br />

Lebensführung, unterschiedlichen Erwartungen und Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

auszubalancieren, miteinan<strong>der</strong> zu vereinbaren, das Eine nicht auf Kosten des<br />

An<strong>der</strong>en zu vernachlässigen, das ist eine zentrale Hausfor<strong>der</strong>ung für<br />

Jugendliche. Jugendliche befinden sich also mitunter in einer Zerreißprobe<br />

zwischen dem gefor<strong>der</strong>ten Schülerhabitus des zielstrebigen, selbstkontrollierten<br />

und erfolgszentrierten Erwerbsmenschen (vgl. Fend 1991, <strong>2006</strong>) und dem<br />

jugendkulturellen Habitus des erlebnisorientierten, ekstatischen und expressiven<br />

Genussmenschen.<br />

- Dadurch, dass die Peers gleichermaßen in <strong>der</strong> Schule anwesend sind, kommt es<br />

zu einer jugendkulturellen Durchdringung <strong>der</strong> Schule. Jugend tritt damit innerhalb<br />

<strong>der</strong> Schule auch in einer nicht schulischen Form zu Tage. Jugendliche<br />

durchdringen damit den Unterricht, die Pausen, die Freizeiten <strong>der</strong> Schule mit<br />

jugendkulturellen Gehalten, Stilen, sinnlich-expressiven und erotischen<br />

Bedeutungen und Erfahrungen.<br />

- Bedeutsam ist, dass Jugendliche in <strong>der</strong> Schule, im Unterricht somit „zwei Stücke“<br />

vor unterschiedlichem Publikum aufführen: Was auf Seiten des offiziellen<br />

Unterrichts und <strong>der</strong> Lehrer Anerkennung und Applaus einbringt, kann auf Seiten


- 39 -<br />

<strong>der</strong> Klasse o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Peers gerade Geringschätzung auslösen. Das unterrichtliche<br />

Handeln <strong>der</strong> Schüler muss also immer nach zwei Seiten ausgelegt werden: Es<br />

muss peerverträglich und unterrichtstauglich sein und das passt nicht immer<br />

zusammen (vgl. Breidenstein <strong>2006</strong>).<br />

Kurz: Jugendliche agieren – verursacht durch die lebensgeschichtliche<br />

Vorverlagerung jugendlicher Ansprüche und die Expansion schulischer<br />

Bildungszeiten – immer länger im Spannungsfeld leistungs-, erfolgs- und an<br />

Selbstdisziplinierung orientierter schulischer Lebensführung einerseits und einer um<br />

Erlebnis, Ekstase und Event orientierten jugendkulturellen Lebensführung<br />

an<strong>der</strong>erseits. Diese Spannung auszubalancieren, so dass we<strong>der</strong> ein Ausschluss aus<br />

den jugendkulturellen Erfahrungswelten erfolgt (eine soziale und kulturelle<br />

Verarmung in einer Lebensform Schüler) noch diese Erfahrungswelten den Schulund<br />

Unterrichtsbezug unterminieren und die Bildungslaufbahn gefährden, das ist<br />

eine zentrale Aufgabe, die es in <strong>der</strong> Jugendbiographie zu bewältigen gilt und die sich<br />

immer spannungsreicher gestaltet.<br />

Von überschaubaren jugendlichen Stilen und Lebenslagen zur Pluralisierung<br />

und Ausdifferenzierung jugendlicher Lebenslagen im Zusammenspiel von<br />

sozialer Lage, Milieu, Ethnie, Geschlecht, Jugendkulturen und Region<br />

- Die bisher skizzierten Entwicklungen und Verän<strong>der</strong>ungen vereinfachen die Lage<br />

allerdings eher. Denn die skizzierten Entwicklungen treffen auf eine immer<br />

heterogener werdende Jugend, <strong>der</strong>en Ausgangslagen, Stile, Haltungen,<br />

Lebensführungen durchaus milieutypische Züge erkennen lassen, die sich aber<br />

mit unterschiedlichen jugendkulturellen, ethnischen, geschlechtsspezifischen und<br />

regionalen Stilelementen vermischen und überlagern. Inzwischen ist die<br />

Ausdifferenzierung von jugendkulturellen Stilen nicht nur weiter fortgeschritten,<br />

son<strong>der</strong>n es sind vielfältige Varianten von Ausdifferenzierungen innerhalb von<br />

Jugendstilen entstanden in Verbindung mit Stilmix, Retrostilen und Stilzitaten.<br />

- Dies impliziert für Jugendliche, dass ihre Orientierung in dieser pluralisierten<br />

Landkarte jugendlicher Stile, Kulturen und Lebensformen anspruchsvoller wird.<br />

Neben die lang- und mittelfristige Orientierung und Planung von<br />

Bildungsverläufen und Berufseinmündungen tritt somit auch die Anfor<strong>der</strong>ung,<br />

sich im Feld diverser Jugendstile und -kulturen zu platzieren, abzugrenzen und<br />

zu positionieren, um zugleich jugendkulturelle Zugehörigkeiten zu markieren aber<br />

auch Individualität zum Ausdruck zu bringen.<br />

- Und für die Schule impliziert dies, dass die Heterogenität und Differenzierung auf<br />

Seiten <strong>der</strong> Schüler zunimmt, so das angemessene Differenzierungen und<br />

schulische Profilbildungen immer bedeutsamer werden. Dies gilt selbst für die<br />

Hauptschule, die als die sozial homogenste Schulform betrachtet wird. Dies aber<br />

nur so lange, wie nicht ethnische, geschlechtsspezifische und jugendkulturelle<br />

Differenzen in den Blick genommen und zugleich höchst unterschiedliche<br />

Schulkarrieren markiert werden: Ehemalige Gymnasiasten o<strong>der</strong> Realschüler,<br />

treffen auf die Kin<strong>der</strong> von Asylbewerbern, verschiedenste Ethnien in <strong>der</strong> zweiten<br />

o<strong>der</strong> dritten Generation mit unterschiedlichsten jugendkulturellen Stilen auf<br />

deutschstämmige Jugendliche aus bildungsfernen Arbeitermilieus etc.<br />

Kurz: Die Orientierung Jugendlicher im immer heterogeneren und<br />

unübersichtlicheren Feld von Jugendstilen und -kulturen, die Herstellung von<br />

Zughörigkeiten, Abgrenzungen und Identifikationen wird zu einer immer<br />

anspruchsvolleren Aufgabe für die Herausbildung des jugendlichen Selbst und seiner<br />

Anerkennung im Feld <strong>der</strong> Gleichaltrigen (vgl. auch Fend 2000). Davon ist auch die


- 40 -<br />

Schule betroffen, die zunehmend mit heterogeneren Erscheinungsformen von<br />

Jugend, die immer weniger mit einfachen Zuordnungen und Klassifikationen zu<br />

fassen sind, konfrontiert wird. Die Schule selbst wird dadurch zu einem Feld, in dem<br />

es zwischen Jugendlichen zu einem Kampf um Anerkennung entlang jugendlicher<br />

Kulturen, Stile und Lebensformen kommt, Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die auch den<br />

Unterricht und die Bildungsprozesse erreichen und diese durchdringen.<br />

Aus diesen Verän<strong>der</strong>ungen und Transformationen im Verhältnis von Jugend und<br />

Schule folgt nun nicht, dass Lehrer(innen) bedeutungsloser geworden wären (vgl.<br />

oben). Vielmehr ergeben sich daraus neue Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Lehrprofession<br />

und insbeson<strong>der</strong>e die Gestaltung <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-Beziehungen. Diese sollen im<br />

Folgenden abschließend skizzenhaft entworfen werden.<br />

3. Konsequenzen aus den Strukturwandlungen des Verhältnisses von Schule<br />

und Jugend für Schule und Lehrer<br />

Die skizzierten Transformationen <strong>der</strong> Jugendphase und des Verhältnisses von<br />

Schule und Jugend haben für die professionelle Arbeit <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer<br />

Konsequenzen. Wenn die Verän<strong>der</strong>ung im Verhältnis von Jugendlichen, Lehrern und<br />

<strong>der</strong> Schule in eine Formel gebracht werden sollen, so lässt sich diese vielleicht<br />

folgen<strong>der</strong>maßen formulieren: Die Schule wird für Jugendliche – vor allem auch die<br />

sogenannte „höhere Bildung“ – banaler, alltäglicher, selbstverständlicher. Sie verliert<br />

– wie Ziehe und du Bois-Reymond formulieren (vgl. Ziehe 1996, du Bois-Reymond<br />

1998) – auch in Konkurrenz mit an<strong>der</strong>en Bildungsmöglichkeiten und<br />

Handlungsbereichen die Aura des Beson<strong>der</strong>en und Außeralltäglichen. Als so<br />

veralltäglichte Einrichtung expandiert sie zugleich in das Leben Jugendlicher und<br />

erfor<strong>der</strong>t mehr und größere Investitionen. Sie verliert an großen Sinnbezügen und<br />

symbolisch aufgeladener Bildungsbedeutung und gewinnt zugleich objektiv gesehen<br />

immer größere Bedeutung und Einfluss auf das Leben von Jugendlichen und ihre<br />

Zukunftschancen. Die Bedeutungssteigerung des Banalisierten – so lässt sich<br />

diese Formel formulieren.<br />

Ich möchte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige beson<strong>der</strong>s bedeutsame<br />

Aspekte für Lehrer und Schule als Folgen aus den skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen<br />

andeuten:<br />

Lehrer müssen verstärkt Antworten auf die Steigerung <strong>der</strong> Heterogenität und<br />

Pluralität bei Jugendlichen finden: Damit wird die spezielle Anfor<strong>der</strong>ung<br />

fallspezifisch zu diagnostizieren, den Ausgangslagen <strong>der</strong> Schüler gerecht zu werden,<br />

entsprechend zu differenzieren und zu individualisieren noch anspruchsvoller, die<br />

Orientierung an „Durchschnittsschülern“ immer schwieriger und gewissermaßen<br />

selbst zum Auslöser von Unterrichtskrisen und „Störfällen“. Dies kann nur<br />

ansatzweise individuell von einzelnen Lehrern bewältigt werden. Es bedarf vielmehr<br />

<strong>der</strong> umfassenden Schul- und Unterrichtsentwicklung, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />

systematischen Kooperation (nicht nur) zwischen Fachlehrern, son<strong>der</strong>n auch im<br />

Sinne von Klassen- o<strong>der</strong> Jahrgangsteams, <strong>der</strong> Entwicklung und Erprobung eines<br />

Tableaus unterschiedlicher Aufgabentypen und <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong><br />

Lehrerkooperation gerade auch im Unterricht. Und dazu bedarf es <strong>der</strong><br />

Implementierung <strong>der</strong>artiger Kooperations- und Entwicklungszeiten in die<br />

Lehrerarbeitszeit selbst, und zwar jenseits individueller Initiativen als organisatorisch


- 41 -<br />

vorgesehene wöchentliche professionelle Kooperations- und Austauschphasen im<br />

Rahmen spezifischer, auf die Schülerschaft und das Umfeld abgestimmter<br />

Schulprofile und -kulturen.<br />

Wenn die Hinweise zu den Verschiebungen hin zu Bildungszwang,<br />

Bildungsparadoxon und Schule als Risiko beachtet werden, dann muss daraus ein<br />

immer sensiblerer und vorsichtigerer Umgang mit Selektion und ein geschärftes<br />

Bewusstsein von Lehrkräften dafür resultieren, dass sie – auch jenseits eines engen<br />

professionellen Selbstverständnisses als Fachlehrer – tief- und weitreichend in die<br />

Selbstentwicklung und den Lebenslauf von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen eingreifen. Die<br />

Sensibilisierung und die Reflexion dieser Selektionsentscheidungen ist zwar von<br />

einzelnen Lehrern und Lehrergruppen im Rahmen von Einzelschulen zu leisten,<br />

stößt aber auf Handlungsgrenzen, weil es letztlich um grundlegende Probleme <strong>der</strong><br />

Schulorganisation geht. Hier sind die im Sinne stärkerer Bildungsgerechtigkeit<br />

fungierenden Schul-, Län<strong>der</strong>- und internationalen Vergleiche einerseits zu begrüßen:<br />

Sie ermöglichen – bei einem <strong>der</strong>art stark selektiven Schulsystem wie dem deutschen<br />

unerlässlich – eine stärkere Vergleichbarkeit und damit eine stärkere Gerechtigkeit<br />

und Gleichbehandlung. Zugleich kann mit diesen Vergleichen aber auch die Gefahr<br />

einher gehen, dass Leistung zum immer dominanteren Bezugspunkt in Schulen wird,<br />

was die Selektionsaufgabe von Lehrkräften eher noch stärker ins Zentrum rücken<br />

könnte. Insgesamt muss – vor dem Hintergrund <strong>der</strong> skizzierten Verschärfung <strong>der</strong><br />

Selektionsproblematik – das selektive Handeln in den Horizont <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Aufgabenkreise eingebettet werden. Selektion muss daran orientiert sein,<br />

Bildungsprozesse nicht zu belasten, son<strong>der</strong>n Bildungswege möglichst offen zu<br />

halten. Von daher sind Selektionsentscheidungen – z. B. das Ausson<strong>der</strong>n von<br />

Schülern o<strong>der</strong> das „Abschieben“ aus höheren Schulformen – beson<strong>der</strong>s<br />

begründungsbedürftig, auf die daraus resultierenden Probleme und Risiken für die<br />

Bildungswege von Schüler abzuklopfen und wie<strong>der</strong>um nur im Interesse (und im<br />

Gespräch) mit den betroffenen Jugendlichen und Eltern legitimierbar. Diese<br />

Orientierung verträgt sich gut mit einer Humankapitalperspektive, in <strong>der</strong> es letztlich<br />

darum geht, möglichst umfassend Bildungspotenziale zur Entfaltung zu bringen und<br />

dieselben möglichst nicht zu blockieren. Bei aller <strong>der</strong>artigen Sensibilität werden aber<br />

die strukturellen Wi<strong>der</strong>spruchsmomente zwischen <strong>der</strong> frühen und starken Selektion<br />

im deutschen Schulsystem und <strong>der</strong> professionellen Aufgabe <strong>der</strong> Initiierung und<br />

Beför<strong>der</strong>ung umfassen<strong>der</strong> Bildungsprozesse nicht wirklich aufzuheben sein.<br />

Weitreichen<strong>der</strong>e Entlastungen <strong>der</strong> Lehrerarbeit sind also nur im Rahmen<br />

umfassen<strong>der</strong> Umstrukturierungen des deutschen Bildungssystems zu erwarten, die<br />

entwe<strong>der</strong> in Richtung integrativerer Schulsysteme und späterer<br />

Selektionsentscheidungen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> stärkeren Öffnung zwischen Schulformen und<br />

<strong>der</strong> Erleichterung von Übergängen weisen müssen.<br />

Wenn die Diagnosen stimmig sind, dass Schule als Bildungs- und Lernraum von<br />

an<strong>der</strong>en Bildungs- und Erfahrungsräumen Konkurrenz erhält, eher veralltäglicht und<br />

entauratisiert wird und Jugendliche gleichzeitig in eine stärker auf Begründung und<br />

Legitimation drängende Haltung eintreten, dann resultieren daraus Konsequenzen<br />

für das professionelle Lehrerhandeln:<br />

1. Diese Herausfor<strong>der</strong>ung zu einer stärkeren Begründung und schulischen<br />

Sinnstiftung muss angenommen werden. Sowohl in expliziter Hinsicht, also<br />

immer dann, wenn mehr o<strong>der</strong> weniger grundlegende Anfragen nach dem<br />

Sinn, dem Zweck, warum überhaupt, warum nicht an<strong>der</strong>s etc. auftauchen.<br />

Vor allem aber auch in <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Sache, in <strong>der</strong> stärker als bislang die


- 42 -<br />

Bedeutung des Faches und <strong>der</strong> fachlichen Wissensbestände für<br />

Weltzugänge und -sichten, also die „Philosophie des Faches“ immer schon<br />

mit thematisiert, verdeutlicht und erfahrbar gemacht werden muss.<br />

2. Dies gilt nicht nur für einzelne Lehrer im Bezug auf die Sache, das Fach und<br />

des Sinn des Faches, son<strong>der</strong>n auch für die Gestaltung <strong>der</strong> Schulkultur <strong>der</strong><br />

einzelnen Schule. Kollegien und Einzelschulen können so auch eine<br />

schulkulturelle Sinnstiftung, eine Reauratisierung ihrer Schulen in<br />

Angriff nehmen. Dies kann allerdings nur im Rekurs auf die sozialräumliche<br />

Einbettung <strong>der</strong> Schule, die Lebenslagen und Einbettungen ihrer<br />

Schülerschaft und <strong>der</strong>en Sinn- und Erfahrungshorizonte gelingen. Schulen<br />

können dann zu Kontrasträumen werden, in denen Erfahrungen und<br />

kulturelle Praktiken möglich sind, die in an<strong>der</strong>en Handlungsbereichen fehlen<br />

und die mit Sinn versehen werden können: Etwa in <strong>der</strong> von uns untersuchten<br />

Hauptschule (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>) die Erfahrung eines verlässlichen, Halt<br />

und Struktur gebenden Bildungsraumes <strong>der</strong> Anerkennung und <strong>der</strong><br />

Abwesenheit von Missachtung; o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Schule als eines<br />

sozialen Ortes <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sozialen, ethischen und<br />

moralischen Fragen; bzw. <strong>der</strong> Schule als Ort <strong>der</strong> vertiefenden<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ästhetischen Ausdrucks- und Gestaltungsformen<br />

etc.<br />

3. Die Konkurrenz zu an<strong>der</strong>en Bildungs- und Erfahrungsräumen darf allerdings<br />

nicht dazu führen, diese schulisch imitieren zu wollen: Jugendkulturelle<br />

Erfahrungswelten sollen jugendkulturelle bleiben, ebenso wie mediale,<br />

virtuelle o<strong>der</strong> bildhafte Räume. Der Versuch, diese in pädagogische Settings<br />

einzuholen o<strong>der</strong> diese gar entsprechend umzugestalten, würde sie in ihrer<br />

eigentlich interessanten Qualität zunichte machen. Es gilt vielmehr<br />

demgegenüber die Schule als „Differenzraum“ zu profilieren, also als<br />

Bildungsraum, in dem etwas geschieht, das ansonsten in dieser Form selten<br />

ist: Vertiefung, Versenkung, Konzentration, Perspektivenaustausch,<br />

kommunikative Dichte, bohrendes, insistierendes Fragen, Entschleunigung<br />

und bei <strong>der</strong> Sache bleiben. Dies kann durchaus in höchst unterschiedlichen<br />

Formen zwischen reflexiv-kognitiven bis hin zu sinnlich-ästhetischen und<br />

praktisch-gestalterischen Formen geschehen und selbstverständlich<br />

Anschlüsse an außerschulische Erfahrungswelten und lebensweltliche<br />

Rahmungen ermöglichen, die den Differenzraum Schule anschlussfähig und<br />

für Erfahrungen übergängig machen.<br />

Wenn es richtig ist, dass Jugendliche im Kontext des Bildungsparadoxons und <strong>der</strong><br />

sowohl jugendkulturellen als auch biographisch möglichen heterogenen<br />

Lebensentwürfe biographisches Orientierungswissen, beratende Begleitung<br />

benötigen und die Schule insgesamt für die Selbstentwicklung Jugendlicher eine<br />

nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzt, dann bleiben – insbeson<strong>der</strong>e etwa für<br />

Jugendliche wie Tobias Silone o<strong>der</strong> auch Moritz (vgl. oben) – Lehrerinnen und<br />

Lehrer als bedeutsame, signifikante An<strong>der</strong>e für die Jugendbiographie auch in<br />

den skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen nicht nur wichtig, son<strong>der</strong>n gewinnen auch neue<br />

Bedeutung. Dies zum einen durchaus im Sinne bildungsbiographischer<br />

Beratungsgespräche, aber vor allem auch im Sinne von an <strong>der</strong> Sache orientierten<br />

Sachwaltern von fachlichen Interessen und Weltzugängen im Zusammenhang <strong>der</strong><br />

Herausbildung bildungsbiographischer Interessensphären und Bildungs- sowie<br />

beruflicher Orientierungssuche: Was könnte mich so und warum so interessieren,<br />

dass ich dies noch lange vertiefen möchte? Dies gilt natürlich – man könnte auch


- 43 -<br />

erleichtert sagen: Gott sei Dank! – nicht für alle Jugendlichen gleichermaßen. Dies<br />

gilt aber insbeson<strong>der</strong>e für Jugendliche, die durch schulisches Scheitern und<br />

Versagenskarrieren gekennzeichnet sind und die Lehrer als signifikante,<br />

vertrauensvolle und anerkennende An<strong>der</strong>e benötigen, um überhaupt wie<strong>der</strong> Mut für<br />

schulische Bildungsprozesse zu schöpfen und sich fachlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen zu<br />

stellen. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e auch für Jugendliche, die biographisch und von ihren<br />

Lebenszusammenhängen stark belastet o<strong>der</strong> destabilisiert sind und verständnisvolle<br />

und emphatische Lehrer benötigen, damit sich nicht auch noch ihre schulische<br />

Situation destabilisiert. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e auch für Jugendliche, die über<br />

schulische Bildung Transformationen und Verän<strong>der</strong>ungen gegenüber ihrem<br />

Herkunftsmilieu anstreben (vgl. etwa das Beispiel von Tobias Silone) und hier Lehrer<br />

benötigen, die als Bildungsanwälte, Impuls- und Ratgeber und mitunter auch als<br />

Identifikationsfiguren dienen können. Das bedeutet nicht, dass Lehrer nun entgrenzt<br />

für alles zuständig sein müssen – also als Lehrer zugleich auch noch als Seelsorger,<br />

Sozialpädagoge, Jugend- o<strong>der</strong> Familientherapeut, Berufsberater etc. fungieren<br />

sollen.<br />

Wenn die Diagnosen tragen, dass Jugendliche stärker an selbstbestimmten,<br />

eigenständigen Entscheidungsmöglichkeiten und früheren Autonomieansprüchen<br />

orientiert sind und diese auch an Schule und Lehrer herantragen und dies zum einen<br />

in kritische Einschätzungen <strong>der</strong> Schule als eines fremdbestimmten Raumes münden<br />

kann, dies zum an<strong>der</strong>en aber auch zu kommunikativer Dauerbelastung und<br />

Entsicherung führen kann, dann gilt es für Lehrerinnen und Lehrer beides<br />

anzunehmen: Zum einen gilt es die Schule als jugendlichen Partizipationsraum<br />

zu stärken und die Autonomieansprüche <strong>der</strong> Jugendlichen stärker zur Geltung<br />

kommen zu lassen. Dies kann bis zu mehr o<strong>der</strong> weniger weit reichenden Modellen<br />

<strong>der</strong> Just-Community gehen, wie sie Lawrence Kohlberg entwickelt hat (vgl. etwa<br />

Oser/Althof 1992). Darin aber gilt es zum an<strong>der</strong>en übergreifend gültige, gemeinsam<br />

gestaltete und beschlossene Mindestregeln und Rituale zu institutionalisieren, in<br />

<strong>der</strong>en Rahmen weiterhin grundlegende Aushandlungen möglich sind, mittels <strong>der</strong>er<br />

aber zugleich ein verbindliches Regelwerk geschaffen wird, das Strukturen setzt und<br />

Orientierung ermöglicht, also: kommunikativ erzeugte Mindestverbindlichkeit und<br />

strukturgebende Verlässlichkeit, auf <strong>der</strong> Grundlage großer<br />

Partizipationsmöglichkeiten. Allerdings etwas, das mit neuen Schülergenerationen<br />

immer wie<strong>der</strong> erneuert und eventuell auch verän<strong>der</strong>t werden muss, weil das, was mit<br />

Schülerinnen und Schülern vor sechs Jahren ausgehandelt worden ist, angesichts<br />

einer neuen Schülergeneration bereits wie<strong>der</strong>um als außen- und fremdgesetzt<br />

erscheint.<br />

Wenn die Gesamtdiagnosen zu den Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis von Schule und<br />

Jugend bilanziert werden, dann wird deutlich, dass daraus eine größere<br />

Störanfälligkeit, Fragilität und Erschwernisse für die Errichtung von<br />

Arbeitsbündnissen zwischen Lehrern und Schülern resultieren. Zu den skizzierten<br />

strukturellen Problemen und Belastungen bei <strong>der</strong> Errichtung eines professionellen<br />

Arbeitsbündnisses für Lehrerinnen und Lehrer kommen weitere Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

hinzu, die mit <strong>der</strong> Verschiebung von Machtbalancen, <strong>der</strong> Autonomisierung von<br />

Jugendlichen, dem Verlust von absichernden Traditionsstützen und Gratiskräften auf<br />

Seiten <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> stärkeren Begründungsbedürftigkeit schulischer Prozesse<br />

angesichts konkurrieren<strong>der</strong> Lernmöglichkeiten – um nur einiges zu nennen –<br />

einhergehen. Man mag das beklagen und die große Anstrengung und Kraft bis hin<br />

zur Erschöpfung, die das auch kostet, anführen. Darin liegen an<strong>der</strong>erseits auch


- 44 -<br />

Chancen, weil damit Krisen des Arbeitsbündnisses sichtbar und damit auch<br />

angehbar werden. Das bedeutet: Für Lehrkräfte wird es immer zentraler, um<br />

überhaupt die Grundlage für gemeinsam getragene Bildungs- und<br />

Unterrichtsprozesse zu sichern, gezielt an <strong>der</strong> Erzeugung, Erhaltung und<br />

Sicherung von Arbeitsbündnissen mit den einzelnen Schülern, im Zusammenhang<br />

<strong>der</strong> Klasse o<strong>der</strong> Lerngruppe insgesamt und in Verbindung mit den Eltern zu arbeiten.<br />

Auch wenn Arbeitsbündnisse immer zwischen konkreten Lehrern und jugendlichen<br />

Schülern geschlossen werden müssen (ein abstrakt, vorformulierter Vertrag, den es<br />

zu unterschreiben gilt, bietet hier keinen Ausweg!) können schulische<br />

Rahmenregelungen – wie oben ausgeführt – bedeutsam sein. Sie bilden ein<br />

Rahmenregelwerk, in das unterschiedlich gestaltete Arbeitsbündnisse „eingefügt“<br />

werden können. Allerdings: Schulprogramme und -profile bzw. in gemeinsamen<br />

Prozessen ausgehandelte Rahmenregeln, die zu eng sind und zu wenig Spielräume<br />

enthalten, können nötige Aushandlungsspielräume für Lehrer und Schüler zu stark<br />

einengen und zu neuen Problemen führen. Es kommt also auf genügend<br />

Aushandlungsspielräume in verbindlichen Regelwerken an. Auf dieser Grundlage<br />

können dann konkrete Lehrer und Lehrerinnen mit ihren Schülern „aushandeln“,<br />

welche Mindestanfor<strong>der</strong>ungen sie stellen, was sie erwarten, welche<br />

Mindestanfor<strong>der</strong>ungen die Schüler formulieren, welche Einspruchs- und<br />

Beschwerdeinstanzen es gibt, wie in Krisenfällen vorzugehen ist etc. Allerdings ist<br />

dabei auf einen grundlegenden Sachverhalt hinzuweisen: Jenseits aller Verträge und<br />

Kontrakte zwischen Lehrern und Schülern (vgl. Meyer 2004), ob auf Schul-,<br />

Jahrgangs-, Klassen-, Gruppen- o<strong>der</strong> auch Einzelebene, sind die faktischen, im<br />

alltäglichen Umgang zwischen Lehrern und Schülern vorliegenden<br />

Anerkennungsbeziehungen die entscheidende, gewissermaßen „gelebte“ Grundlage<br />

von Arbeitsbündnissen. Deren Tagfähigkeit erweist sich also nicht in schönen<br />

Vertragsformulierungen, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> konkreten Gestaltung <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-<br />

Beziehungen.<br />

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943.<br />

Zinnecker, Jürgen (1987): Jugendkultur 1940 – 1985. Opladen.


- 47 -


- 48 -<br />

Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />

Religiöse Individualität und Christusbekenntnis. 1<br />

Theologische und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht<br />

„Ich bestimme selbst, was ich glauben will und was nicht; wenn ich will, daß ich im<br />

Licht stehe, dann stehe ich im Licht und wenn ich will, daß ich im Dunkel stehe, dann<br />

stehe ich im Dunkeln“. Dieser Satz eines Schülers <strong>der</strong> 9. Klasse scheint mir<br />

signifikant für die Frage nach <strong>der</strong> religiösen Individualität. Er drückt ein starkes<br />

Verlangen aus nach Selbstbestimmung, gerade im Feld des Religiösen. Er<br />

signalisiert seine Entschlossenheit, seinen Glauben selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Und er will auch nicht, daß man ihm seine schlechten Gefühle nimmt; wenn er schon<br />

Zeiten hat, in denen es dunkel ist, dann will er dafür selbst verantwortlich sein.<br />

In gewisser Weise spricht sich in diesem Votum des Schülers aus, was<br />

Religionsunterricht zum Ziel haben soll: eine religiöse Individualität, die auf<br />

Selbstbestimmung basiert. Respekt vor <strong>der</strong> religiösen Individualität <strong>der</strong> Schüler ist die<br />

Voraussetzung dafür, mit ihnen ins Gespräch zu kommen; und es ist eine gute<br />

protestantische Überzeugung, in Glaubensdingen sich nichts vorschreiben zu lassen.<br />

Und dennoch stehen Religionslehrerinnen und -lehrer hier vor einem Dilemma. Der<br />

zitierte Schüler wollte mit seiner Formulierung seine Versuche mit okkulten Praktiken<br />

legitimierten: Kann ich das einfach als legitime religiöse Selbstbestimmung auf sich<br />

beruhen lassen? Ist hier <strong>der</strong> Religionsunterricht zu seinem Ziel gekommen o<strong>der</strong><br />

braucht <strong>der</strong> Schüler nicht vielmehr Lernmöglichkeiten, mit dem, was ihn bedrängt,<br />

an<strong>der</strong>s umzugehen als in okkulten Praktiken? Verbirgt er hinter seiner<br />

entschlossenen Selbstbestimmung seine Unsicherheit und sein Suchen? Wie ist mit<br />

ihm ins Gespräch kommen, daß einerseits seine Individualität Raum findet und<br />

zugleich das zur Geltung kommt, was ich zunächst noch unbestimmt mit dem Wort<br />

„Christusbekenntnis“ umschreiben möchte? „Christusbekenntnis“ soll dabei für das<br />

Spezifische des Religionsunterrichts stehen. Darauf werde ich noch zurückkommen.<br />

Die gegenwärtige Religionspädagogik betont mit Recht die Bedeutung <strong>der</strong> religiösen<br />

Individualität <strong>der</strong> Schüler; Jürgen Henkys und Friedrich Schweitzer stellen heraus:<br />

„Wenn es <strong>der</strong> Religionspädagogik nicht gelingt, sich auf die individuelle Religion zu<br />

beziehen, läßt sich keines ihrer Ziele erreichen.“ 2 Sie haben auch weiterhin Recht,<br />

wenn sie davor warnen, die Jugendlichen und ihre Religiosität vorschnell als<br />

hedonistisch und indifferent zu charakterisieren, weil das leicht abschätzig werden<br />

kann und die Sachlage kaum trifft. Wie die verschiedenen Jugendstudien <strong>der</strong> letzten<br />

Jahre zeigen, sind die Jugendlichen keineswegs weniger moralisch; sie sind vielmehr<br />

unsicher. Sie verdienen zunächst Achtung und Respekt in ihrem Suchen nach<br />

eigenen Wegen; zumal <strong>der</strong> Schüler ja unzweifelhaft Recht hat: In Glaubensdingen<br />

kann ihm letztlich niemand etwas vorschreiben.<br />

1 Vortrag auf dem „Tag für Lehrerinnen und Lehrer in <strong>der</strong> ev. Kirche von Westfalen“ am 10.03.<strong>2006</strong> in<br />

Dortmund.<br />

2<br />

Jürgen Henkys/ Friedrich Schweitzer, Atheismus – Religion – Indifferenz. Zur Situation <strong>der</strong><br />

Jugend in beiden Teilen Deutschlands vor und nach dem Fall <strong>der</strong> Mauer, in: PTh 85, 1996, 490–507,<br />

501. Henkys/Schweitzer betonen weiter: „Es hilft nicht weiter, Jugendliche als egozentrisch o<strong>der</strong><br />

hedonistisch zu bezeichnen o<strong>der</strong> ihre Indifferenz zu beklagen. Solche Charakterisierungen von<br />

Jugend stehen in <strong>der</strong> Gefahr abschätzig zu werden, ... und ... Sündenböcke zu identifizieren, die für<br />

die Erfolglosigkeit <strong>der</strong> eigenen Arbeit verantwortlich gemacht werden können.“ (aaO).


- 49 -<br />

Zur Achtung und zum Respekt gehört aber auch, daß man die Schüler in ihrer Suche<br />

nicht allein läßt. Die religionspädagogische For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schülerorientierung<br />

bedeutet darum nicht, daß die Kriterien, die den Religionsunterricht tragen, unscharf<br />

werden dürften. Daß das auch die Religionslehrerinnen und -lehrer als die zentrale<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung in ihrer Tätigkeit wahrnehmen und Religionsunterricht nicht in<br />

Stoffvermittlung aufgehen lassen wollen, hat die jüngst erschienene Studie zur<br />

„’Religion’ bei ReligionslehrerInnen“ 3 deutlich dokumentiert. Pointiert gesagt: Die<br />

Religionslehrer und –lehrerinnen sind frömmer als es ihnen große Teile <strong>der</strong><br />

Religionspädagogik erlauben wollen. Wie die starke christliche Motivation aber im<br />

Religionsunterricht zur Geltung kommen kann, ist das Problem, zu dessen<br />

Bearbeitung ich heute beitragen möchte. Weil das eine nicht auf Kosten des an<strong>der</strong>en<br />

gehen darf, will ich nach einem Weg des Lernens an <strong>der</strong> Schule fragen, in dem<br />

religiöse Individualität und Christusbekenntnis miteinan<strong>der</strong> ins Gespräch kommen.<br />

Ich will im ersten Teil an einem didaktischen Beispiel zeigen, daß <strong>der</strong> Bezug<br />

zwischen religiöser Individualität und Christusbekenntnis das Unterrichtsgeschehen<br />

nicht blockieren muß, son<strong>der</strong>n gerade erst in Bewegung setzen kann. Auf diesem<br />

Hintergrund soll dann in einem zweiten Teil genauer überlegt werden, was religiöse<br />

Individualität überhaupt heißen kann; dabei sind auch die Ambivalenzen, die zu<br />

diesem Begriff gehören, genauer in den Blick zu nehmen. Der dritte Teil führt dann<br />

aus, warum religiöse Individualität und Christusbekenntnis gerade nicht im<br />

Wi<strong>der</strong>spruch stehen, son<strong>der</strong>n aufeinan<strong>der</strong> verweisen. Im abschließenden vierten<br />

Teil werden die bisherigen Überlegungen wie<strong>der</strong> zurückgeführt in die Situation des<br />

Religionsunterrichts: Was ich pädagogisch wie theologisch als Zusammenhang von<br />

religiöser Individualität und Christusbekenntnis zeigen will, muß sich dort bewähren.<br />

Eine Begegnung mit dem Gekreuzigten<br />

Ich beginne mit einem Bild, weil Bil<strong>der</strong> nicht festlegen müssen. Der Musiker Michel<br />

Portal hat einmal gesagt: ‚Nichts ist unvernünftiger als ein Bild.’ Das macht Bil<strong>der</strong> für<br />

den Religionsunterricht so wichtig. ‚Unvernünftig’ kann hier heißen, daß ein Bild eine<br />

Vielzahl von Wahrnehmungen und Assoziation zuläßt, so daß sich für die Schüler die<br />

Möglichkeit ergibt, sich in den Raum hinein zu artikulieren, den das Bild öffnet, aber<br />

nicht festlegt. Das setzt natürlich voraus, daß die Bil<strong>der</strong> nicht lediglich als Illustration<br />

dienen und nicht einfach als Hinführung zum ‚Eigentlichen’ verbraucht werden. Bei<br />

Bil<strong>der</strong>n besteht immer die Gefahr, daß man etwas Bestimmtes damit will, bis dahin,<br />

daß ein Lehrer sagt: „seht ihr denn nicht, daß ...“ Damit wäre für die Schüler <strong>der</strong><br />

Raum <strong>der</strong> eigenen Wahrnehmungen verschlossen, bevor er eröffnet ist. So<br />

verständlich es ist, daß man seine Ziele im Religionsunterricht auch erreichen will –<br />

die Chance <strong>der</strong> Arbeit mit Bil<strong>der</strong>n besteht darin, daß das Ungeordnete und noch<br />

Unvernünftige zur Sprache kommt. Ein Bild ist eine Einladung, aus sich<br />

herauszugehen, um neu zu sehen. Das ist nicht ohne Risiko für den geplanten<br />

Unterrichtsablauf. Aber an diesem Risiko hängt die Möglichkeit des Lernens im<br />

Religionsunterricht.<br />

3<br />

‚Religion’ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses<br />

Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Berufsbiographische Fallanalysen und eine<br />

repräsentative Meinungserhebung unter evangelischen ReligionslehrerInnen in Nie<strong>der</strong>sachsen; hg.<br />

von Andreas Feige u.a., Münster 2000.


- 50 -<br />

Bild von Kasimir Malewitsch<br />

Sie sehen die ‚Studie zu einem Kruzifix’ von Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1930.<br />

Das Bild wird bestimmt von <strong>der</strong> Gestalt eines Gekreuzigten in eigentümlicher<br />

Kleidung. Das Gesicht zeigt die menschlichen Züge; die Arme sind weit ausgestreckt<br />

und ragen aus dem Bild. Kräftige schräge Linien glie<strong>der</strong>n den Hintergrund; zwei<br />

Kreuze sind zu sehen und ein Gebäude.<br />

Durch die Kreuzesdarstellung ist das Bild offenkundig auf die Christusgeschichte<br />

bezogen; <strong>der</strong> biblische Horizont ist also auch für Schüler sofort gegeben. Indem das<br />

Bild aber die klassische Ikonographie zugleich durchbricht, kann es Assoziationen<br />

und Erfahrungen öffnen: Die bekannte Szene zeigt neue Facetten. Durch das Bild<br />

kann zur Sprache kommen, was sonst verborgen bleibt: Düsteres, Dunkles und<br />

schmerzlich Erinnertes. Die Unbestimmtheit ist essentiell für die Wahrnehmung<br />

dieses Bildes und dann auch die Voraussetzung dafür, daß das Christusbekenntnis<br />

überhaupt ins Spiel kommen kann. Es ist keine traditionelle Darstellung, die fertig<br />

interpretiert und bekannt ist und damit in <strong>der</strong> Distanz bleibt. Eine klassische<br />

Kreuzesdarstellung würde für die Schüler wohl nur als Wie<strong>der</strong>holung des ihnen<br />

längst Bekannten wahrgenommen. Weil das Bild skizzenhaft bleibt und die Tradition<br />

gleichermaßen aufnimmt und bricht, eröffnet es Wahrnehmungen. Als Kunstwerk<br />

erfor<strong>der</strong>t es aber auch, daß ich mich mühe, mit ihm ins Gespräch zu kommen. In<br />

dieser Mühe erkenne ich schon den Anfang zu einer religiösen Sprachfähigkeit.


- 51 -<br />

Malewitschs Bild ist keine Illustration und hat nicht einfach eine Aussage, die man<br />

aufnimmt, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t heraus. Durch den Kontext <strong>der</strong> Christusgeschichte, in dem<br />

es steht, sind die Assoziationen aber auch nicht beliebig. Gerade so provoziert das<br />

Bild auch die Wi<strong>der</strong>stände, die Lernprozesse brauchen: Der Gekreuzigte,<br />

ausgebreitet wie lebendig und doch <strong>der</strong> Christus am Kreuz, im Gesicht starr und tot?<br />

Ist es überhaupt Christus o<strong>der</strong> nicht ein namenloser Gekreuzigter? Das Bild wird<br />

frem<strong>der</strong>, uneindeutiger, je länger man hinsieht. Sind es die Kreuze <strong>der</strong> Schächer im<br />

Hintergrund o<strong>der</strong> Grabkreuze, rechts ein Grabgebäude o<strong>der</strong> eine militärische<br />

Wachstation? Eine Schülerin entdeckte im Gekreuzigten den Papst: Was an<strong>der</strong>e als<br />

Gesicht wahrnehmen, hat sie als Mitra gedeutet; <strong>der</strong> Stellvertreter Christi am Kreuz?<br />

Assoziationen sind produktiv: Was ist das Kreuz <strong>der</strong> Kirche - hängt sie nicht schon<br />

längst am Kreuz? Ist sie für die Schüler längst gestorben?<br />

Das Bild for<strong>der</strong>t nicht Antworten; das Bild nimmt erst einmal hinein in ein Gespräch,<br />

in einen Raum, in dem die Christusgeschichte dabei ist. Unterrichtspraktisch hat das<br />

auch die Funktion, daß das Bild die Assoziationen sortiert und lenkt, so daß Schüler<br />

und Lehrer bei diesem Gekreuzigten bleiben. Das Unterrichtsgespräch bleibt um den<br />

auch zunächst namenlosen Gekreuzigten zentriert, aber es ist nicht determiniert. Die<br />

Lücken, die das Bild läßt, erlauben, daß Erfahrungen des Leides, Ängste, und die<br />

Sehnsucht nach dem Ende von Leid und Tod Bil<strong>der</strong> und Sprache finden.<br />

Malewitsch’ Bild des Gekreuzigten ermöglicht in elementarer und sicher sehr<br />

anfänglicher Weise Lernwege, die mit dem zusammenhängen, was ich als<br />

„Christusbekenntnis“ bezeichnet habe. Im eigenen Wahrnehmen und<br />

Nachbuchstabieren <strong>der</strong> eigenen Eindrücke kann man sich lösen von eingefahrenen<br />

Gedankenwegen und sich probeweise zubewegen auf eine Geschichte, in <strong>der</strong><br />

vielleicht auch die Schüler ihren Platz finden können. Wie hier religiöse Individualität<br />

und Christusbekenntnis zusammenkommen können, indem Vertrautes wie Fremdes<br />

<strong>der</strong> Christusgeschichte in neuem Zusammenhang erscheint, wird noch zu bedenken<br />

sein. Im tastenden, explorativen Gespräch ist es zunächst die Aufgabe <strong>der</strong><br />

Religionslehrerinnen und -lehrer, die Schüler bei ihrer Sprachfindung zu<br />

unterstützen; die Lehrenden sind gleichsam Anwalt <strong>der</strong> religiösen Individualität <strong>der</strong><br />

Schüler.<br />

Ich fasse diesen ersten Teil zusammen: Die Begegnung mit dem Christus des<br />

Glaubens erfor<strong>der</strong>t didaktisch offene Wege, die es ermöglichen, die eigene religiöse<br />

Individualität in Eindrücken und Erfahrungen, aber auch in Wi<strong>der</strong>stand und<br />

Zustimmung zu artikulieren.<br />

Bisher habe ich von religiöser Individualität gesprochen, als wäre dieser Begriff<br />

unproblematisch vorauszusetzen. Jetzt muß freilich dieser Begriff genauer bedacht<br />

werden.<br />

Die Ambivalenzen religiöser Individualität<br />

Ich habe diesen Begriff bisher unterminologisch gebraucht für die religiösen<br />

Einstellungen, Orientierungen, aber auch Vorbehalte <strong>der</strong> Schüler, die sie in den<br />

Religionsunterricht mitbringen. Der Begriff ist aber auch in <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Religionspädagogik und Religionssoziologie geradezu programmatisch.


- 52 -<br />

‚Individualität’ und ‚Selbstbestimmung’ können als Leitbegriffe <strong>der</strong> Gegenwartskultur<br />

gelten. Wenn in <strong>der</strong> religionspädagogischen Diskussion gegen alle institutionelle<br />

Vereinnahmung die Individualität <strong>der</strong> Schüler betont wird, dann steht das in Einklang<br />

mit einer gesellschaftlich vorherrschenden Orientierung. Hier manifestiert sich ein<br />

Ideal, das zu den Grundlagen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie gehört; die Termini sind<br />

aber auch empirisch offensichtlich von einiger Erklärungskraft, was dazu führt, daß in<br />

<strong>der</strong> Religionssoziologie das Konzept <strong>der</strong> Säkularisierung zunehmend abgelöst wird<br />

von dem <strong>der</strong> „Individualisierung“, wie es vor allem von Ulrich Beck vertreten wird.<br />

Der Blick auf die soziologische Diskussion zeigt allerdings auch, daß<br />

„Individualisierung“ nicht identisch ist mit einer Zunahme von individueller Freiheit<br />

und Selbstbestimmung. Aus dem soziologischen Befund einer „Individualisierung“<br />

läßt sich eine wachsende Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht unmittelbar ableiten.<br />

Mit <strong>der</strong> Vermehrung von Wahlmöglichkeiten und individuellen Lebensentwürfen ist<br />

die Belastung gestiegen, mit diesem Mehr an Optionen auch sinnvoll umzugehen.<br />

Wenn das aber nicht gelingt, dann ist das Resultat nicht ein Mehr an Freiheit,<br />

son<strong>der</strong>n umgekehrt eine umso größere Abhängigkeit von Strukturen, die man nicht<br />

durchschaut. 4 Das führt in eine paradoxe Situation, die an den Schülern<br />

wahrgenommen werden kann. Sie wollen ihre Individualität zeigen und tun das,<br />

indem sie die Markenkleidung tragen, die gerade angesagt ist; sie wollen sich selbst<br />

ausdrücken, indem sie die Events aufsuchen, in denen sie selbst sein wollen und<br />

sind dabei doch Konsumenten einer Erlebnisindustrie. Weil „Individualisierung“ noch<br />

nicht Individualität ist, brauchen sie Hilfe; die Bildung <strong>der</strong> Individualität und gerade<br />

auch <strong>der</strong> religiösen Individualität erweist sich als Aufgabe und ist keine schlichte<br />

Faktizität.<br />

„Individualisierung“ heißt also zunächst nur, daß die traditionellen <strong>Institut</strong>ionen an<br />

Bedeutung für die Sozialisationsvorgänge verlieren. 5 Dies betrifft alle <strong>Institut</strong>ionen, zu<br />

<strong>der</strong>en Sinn Bindungen gehören: Gewerkschaften, Parteien, Vereine und so<br />

offenkundig auch und gerade die Kirchen. Mit dem Bedeutungsverlust <strong>der</strong><br />

<strong>Institut</strong>ionen geht einher, daß tradierte Gewißheiten und Verbindlichkeiten sich<br />

auflösen. Der Bedeutungsschwund <strong>der</strong> traditionellen Verbindlichkeiten läßt sich<br />

verschieden deuten: Man kann hier eine Befreiung von überkommenen Beengungen<br />

sehen, man kann aber auch den Verlust an identitätsstützenden und -sichernden<br />

Funktionen beklagen. Beides gehört zum sozialen Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“,<br />

<strong>der</strong> darum ambivalent bleibt. Es sind, wie Beck prägnant formuliert, „riskante<br />

Freiheiten“. 6 Wenn Becks These zutrifft, daß die Gegenwart durch ein<br />

Reflexivwerden <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gekennzeichnet ist, dann hängt alles davon ab, ob es<br />

den Individuen auch gelingt, die notwendigen Reflexionsleistungen zu erbringen. Der<br />

Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“ bedarf <strong>der</strong> starken Individuen; aber wie entstehen<br />

solche starken Individuen? Das wird im Individualisierungstheorem kaum bedacht.<br />

Die objektive Zunahme von Wahlmöglichkeiten und die subjektive Fähigkeit<br />

4<br />

Vgl. Michael Küggeler, „Ein weites Feld ...“ Religiöse Individualisierung als Forschungsthema,<br />

in: Karl Gabriel, Religiöse Individualisierung und Säkularisierung. Biographie und Gruppe als<br />

Bezugspunkt mo<strong>der</strong>ner Religiosität, Gütersloh 1996, 215–235, 217.<br />

5<br />

Henkys/ Schweitzer, Atheismus-Religion-Indifferenz, 497.<br />

6<br />

Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck<br />

und Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Auflage Frankfurt/M. 1994.


- 53 -<br />

entsprechen einan<strong>der</strong> nicht; es gibt Hinweise darauf, daß die Optionen nur von<br />

wenigen tatsächlich realisiert werden. 7<br />

Die Dialektik, die zum Begriff <strong>der</strong> Individualität gehört, wird deutlich, wenn man die<br />

Voraussetzungen bedenkt, die schon in <strong>der</strong> Vorstellung von einer Wahl enthalten<br />

sind. Es bedarf nicht nur <strong>der</strong> Alternativen, die ich habe, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Maßstäbe,<br />

mit denen ich sie bewerte. Solche Maßstäbe sind aber nicht durch ein isoliertes<br />

Individuum herzustellen, son<strong>der</strong>n entstehen in <strong>der</strong> Einbindung in einen sozialen<br />

Zusammenhang. Wenn das Autonomieideal mittlerweile zu einer generellen Reserve<br />

gegen institutionelle Bindungen geworden ist, dann gefährdet das Individualität, weil<br />

alles gleich gültig und damit gleichgültig zu werden droht.<br />

Ralf Dahrendorf hat darum auf die Bedeutung <strong>der</strong> Koordinaten hingewiesen,<br />

innerhalb <strong>der</strong>er Optionen erst Sinn ergeben. 8 Um überhaupt wählen zu können – und<br />

nicht zufällig <strong>der</strong> erstbesten Verlockung zu erliegen – braucht es Kriterien. Nach<br />

Dahrendorfs Analyse sind solche Kriterien oft genug aber gerade nicht vorhanden. Er<br />

sieht ein zentrales Dilemma <strong>der</strong> gegenwärtigen Kultur darin, daß sie „manchen – vor<br />

allem jungen Menschen – immer mehr Wahlmöglichkeiten zu offerieren scheint, ohne<br />

ihnen doch Entscheidungshilfe zu geben bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> Frage, welche<br />

Bedeutung es denn hätte, diese und nicht jene Option zu wählen.“ 9 Sinnvoll mit den<br />

Optionen umgehen setzt voraus, was Dahrendorf ‚Ligaturen’ nennt: Verbindlichkeiten<br />

und Bindungen. Im Begriff ‚Ligaturen’ klingen ‚Obligationen’, Verpflichtungen, an,<br />

aber auch ‚Religion’: Wenn Individualität diese Bindungen braucht, woher können sie<br />

unter den gegenwärtigen Bedingungen kommen? Mir scheint offenkundig, daß dies<br />

nicht restaurativ und rückwärtsgewandt geschehen kann. Kann es aber solche<br />

Ligaturen geben, die jenseits aller Nostalgie und jenseits aller Bevormundung<br />

Identifikationen ermöglichen, die tragen können und Halt geben? 10<br />

Dahrendorf erinnert nicht umsonst an die Bedeutung <strong>der</strong> Religion als eines <strong>der</strong><br />

wichtigen Systeme, die die Sinndimensionen im Leben eines Menschen tragen. Für<br />

die Gegenwartskultur ist bezeichnend, daß Religion durchaus akzeptiert ist; die<br />

Nachmo<strong>der</strong>ne ist keineswegs religionsfeindlich. Ihre Toleranz o<strong>der</strong> gar Sympathie für<br />

Religion basiert freilich darauf, daß man in Distanz bleiben will: Man ist durchaus<br />

bereit, sich auf religiöse Vorstellungen und Erfahrungen einzulassen, aber doch so,<br />

daß man sich auch je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> herausziehen kann. Diese Distanz ist aber nicht<br />

identisch mit religiöser Freiheit, son<strong>der</strong>n nur ein Teil von ihr. Zum Sinn von Religion<br />

gehören Verbindlichkeit und Gewißheit; sie sind Voraussetzung <strong>der</strong> Ausbildung einer<br />

starken Identität, die untrennbar mit Individualität verbunden ist. 11 Darum bedarf es<br />

auch postmo<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gewißheiten. 12 Die Entmächtigung <strong>der</strong> etablierten <strong>Institut</strong>ionen<br />

7<br />

Vgl. Pollack, Detlef: Zur neueren religionssoziologischen Diskussion des<br />

Säkularisierungstheorems; in: Dialog <strong>der</strong> Religionen 5/1995, 114–121.<br />

8<br />

Dahrendorf, Ralf: Das Zerbrechen <strong>der</strong> Ligaturen und die Utopie <strong>der</strong> Weltbürgergesellschaft; in:<br />

Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck und<br />

Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Aufl. Frankfurt/M. 1994, 421–436, 423.<br />

9<br />

Ebd.<br />

10<br />

Vgl. dazu Kroeger, Matthias: Die Notwendigkeit <strong>der</strong> unakzeptablen Kirche, München 1997.<br />

11<br />

Vgl. dazu Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung <strong>der</strong> neuzeitlichen Identität.<br />

Übersetzt von Joachim Schulte, 1. Aufl. Frankfurt/Main 1994, 17 u.ö.<br />

12<br />

Es wäre ein eigenes Thema, die Gewißheiten und Verbindlichkeiten, die dem postmo<strong>der</strong>nen<br />

Wahrheitsbewußtsein zugrunde liegen, und die starken Wertungen, die hinter <strong>der</strong> scheinbaren<br />

Wertepluralität liegen, zu untersuchen.


- 54 -<br />

und die Distanz zu religiösen Bindungen bedeutet nicht, daß ihre Funktion<br />

entbehrlich wäre: Wenn die etablierten <strong>Institut</strong>ionen diese Aufgabe nicht mehr<br />

erfüllen können, woher stammen dann die Gewißheiten und Strukturen, auf denen<br />

Identität und Individualität basieren?<br />

Ich fasse zusammen: Individualität ist nicht die bloße Möglichkeit <strong>der</strong> Wahl, son<strong>der</strong>n<br />

setzt spezifische Verbindlichkeiten voraus. Solche Verbindlichkeiten sind danach zu<br />

beurteilen, ob sie Freiheit ermöglichen o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n.<br />

Ich habe Dahrendorfs Begriff <strong>der</strong> Ligatur aufgenommen, weil er mir geeignet<br />

erscheint, solche posttraditionalen Verbindlichkeiten zu bezeichnen, zu <strong>der</strong>en Sinn<br />

es gerade gehört, daß sie Individualität nicht negieren, son<strong>der</strong>n bedingen. Als<br />

evangelische Theologin ist für mich die maßgebliche ‚Ligatur’ das, was ich bisher<br />

unbestimmt als „Christusbekenntnis“ bezeichnet habe. Das ist jetzt aufzunehmen und<br />

genauer zu umreißen.<br />

Christusbekenntnis an <strong>der</strong> Schule: die Ligatur <strong>der</strong> Freiheit<br />

Ich habe eingangs den Ausdruck „Christusbekenntnis“ damit umschrieben, daß er für<br />

das steht, was den Religionsunterricht ausmacht. Ich will das jetzt genauer fassen,<br />

indem ich in einer ersten Überlegung zunächst auf seine inhaltliche Dimension<br />

verweise. Da ist also etwa an die formulierten Bekenntnisse zu denken, die in ihrem<br />

gottesdienstlichen Gebrauch als Verdichtungen des christlichen Glaubens<br />

gesprochen werden. Vom Bekenntnis soll hier also ausdrücklich die Rede sein im<br />

Sinne des christlichen Dogmas, das dem Reden von <strong>der</strong> christlichen Religion Sinn<br />

und Bestimmtheit gibt.<br />

Es wäre allerdings nicht nur pädagogisch fatal, son<strong>der</strong>n würde vor allem dem<br />

christlichen Sinn des Dogmas wi<strong>der</strong>sprechen, wollte man von den Schülern<br />

verlangen, es ohne Wi<strong>der</strong>stand und ohne Auseinan<strong>der</strong>setzung zu übernehmen. Das<br />

aber gilt nicht nur an <strong>der</strong> Schule: Das Bekenntnis ist kein festes und unkritisch zu<br />

akzeptierendes Lehrgebäude, son<strong>der</strong>n verweist auf die je neue Suche nach <strong>der</strong><br />

Wahrheit, die uns von Gott zukommt. Die Orientierung am Bekenntnis ist für einen<br />

christlichen Religionsunterricht unabdingbar in dem strikt theologischen Sinn, wie ihn<br />

Hans Joachim Iwand formulierte: „daß es hier um die Wahrheit geht, daß es nicht<br />

darum geht, alte Wahrheit im neuen Gewande zu bekommen, son<strong>der</strong>n daß es darum<br />

geht, die Wahrheit zu finden“. 13 Was im Bekenntnis zur Sprache kommt, ist immer<br />

neu; darum kann man die christliche Lehre nicht an<strong>der</strong>s haben als in <strong>der</strong><br />

gemeinsamen Bewegung in einem Raum, <strong>der</strong> durch das Bekenntnis abgesteckt ist.<br />

Es ist ganz treffend, daß schon in dem Ausdruck „christliche Lehre“ beides gemeint<br />

ist: Die Tätigkeit des Lehrens wie sein Inhalt.<br />

Mit Iwand wäre festzuhalten, daß erst da im eigentlichen Sinn vom Dogma<br />

gesprochen werden kann, wo es in meinem Leben ankommt, wo es durch meine<br />

Individualität hindurch Gestalt gewinnt, also auch durch alle Vorbehalte und<br />

Brechungen hindurchgeht. Diese Bewegung zeichnet die Aufgabe und die<br />

Möglichkeit des Religionsunterrichts an <strong>der</strong> Schule vor: Es geht darum, die eigenen<br />

13<br />

Iwand, Hans Joachim: Der mo<strong>der</strong>ne Mensch und das Dogma; in: <strong>der</strong>s., Vorträge und<br />

Aufsätze, hg. von Dieter Schellong und Karl Gerhard Steck , München<br />

1966, 91–105; 98, Hervorhebung von hier.


- 55 -<br />

Wege so buchstabieren zu lernen, daß an ihnen die Freiheit spürbar wird, die von<br />

Christus her auf uns zukommt. In diesem Versuch einer neuen Wahrnehmung des<br />

eigenen Lebens, auch wenn es manchmal scheinbar gar nicht um religiöse o<strong>der</strong><br />

explizit christliche Themen geht, kann das Christusbekenntnis den Raum bestimmen,<br />

in dem <strong>der</strong> Religionsunterricht sich bewegt. Das kann zweifellos nur im<br />

experimentellen Umgang sein, im Ausprobieren <strong>der</strong> neuen Perspektiven, die das<br />

Bekenntnis eröffnet.<br />

Weil dieser experimentelle Charakter nicht nur aus den schulischen Bedingungen<br />

resultiert, son<strong>der</strong>n zum Sinn des Christusbekenntnisses selbst gehört, durchstreicht<br />

es nicht die religiöse Individualität, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t sie geradezu ein. Religiöse<br />

Individualität lebt und bildet sich im Abarbeiten an Verbindlichkeiten und<br />

Gewißheiten, die sicher zunächst oft als sperrig und fremd erfahren werden. Wenn<br />

diese Überlegungen zutreffen, dann steht <strong>der</strong> Religionsunterricht vor <strong>der</strong> Aufgabe,<br />

christlichen Glauben als Ligatur <strong>der</strong> Freiheit wahrnehmen zu lernen, zur Sprache zu<br />

bringen und kritisch zu reflektieren. Habe ich bisher vom Bekenntnis im Sinne des<br />

Dogmas gesprochen, so muß nun auch seine an<strong>der</strong>e Bedeutung genannt werden:<br />

<strong>der</strong> Akt des Bekennens. Damit ist eine Dimension im Blick, die noch einmal darüber<br />

hinausgeht, daß das Bekenntnis ein Fremdes sein kann, an dem ich mich abarbeiten<br />

kann. Das Christusbekenntnis ist aber auch mehr als Ligatur; es impliziert eine<br />

Beteiligung <strong>der</strong> Person bis hin zur personalen Identifikation. Zur Verbindlichkeit, die<br />

das Wesen solcher Ligaturen ausmachen, gehört ja nicht nur ihre kulturelle<br />

Vorgegebenheit, son<strong>der</strong>n daß ich sie für mich gelten lasse.<br />

Gerade das ist aber für viele anstößig, beson<strong>der</strong>s auch im Kontext <strong>der</strong> Schule. Sie<br />

sehen im verpflichtenden Charakter des Bekenntnisses eine unerträgliche Zumutung<br />

für die religiöse Individualität <strong>der</strong> Schüler, die heute so nicht mehr aufrechterhalten<br />

werden könne. Sicher kann die Schule nicht <strong>der</strong> Ort des freimütigen Bekennens sein;<br />

schulischer Religionsunterricht bewegt sich vielmehr in einem Raum, in dem die<br />

persönliche Verbindlichkeit des Bekenntnisses nicht eingelöst werden kann und soll.<br />

Der personale Sinn des Bekenntnisses darf gleichwohl nicht negiert werden; ich sehe<br />

sogar hier eine spezifische Chance des Religionsunterrichts, wenn deutlich bleibt,<br />

daß es sich allenfalls um versuchsweise Identifikation handeln kann, die nie<br />

gezwungen ist, die Distanz ganz aufzugeben. Wie ich am Bild von Kasimir<br />

Malewitsch zu zeigen versucht habe, kann man versuchsweise, phantasievoll und<br />

kritisch die eigenen Erfahrungen, Ängste und Sehnsüchte in <strong>der</strong> Christusgeschichte<br />

unterbringen, ohne zur Zustimmung genötigt zu sein. Gerade solches Ausprobieren<br />

kann aber meiner Individualität neue Perspektiven zuspielen.<br />

Wird hier vom Christusbekenntnis an <strong>der</strong> Schule gesprochen, dann heißt das für den<br />

Unterricht also nicht, einen Akt des Bekennens an <strong>der</strong> Schule herbeiführen zu<br />

wollen. Das öffentliche Bekenntnis hat seinen Ort in <strong>der</strong> Liturgie des Gottesdienstes<br />

o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Konfirmationszeit: In <strong>der</strong> Konfirmationshandlung wird den Konfirmanden<br />

dezidiert zugemutet, die ausdrückliche Selbstidentifikation mit dem christlichen<br />

Bekenntnis zu vollziehen – wie ernst das auch immer jeweils genommen wird. Für<br />

die Gemeindepädagogik wie für die Erwachsenenpädagogik sehe ich hier einigen<br />

Reflexionsbedarf, sich genau darüber Rechenschaft abzulegen, wie diese Balance<br />

zwischen Verbindlichkeit und Distanz im Kontext <strong>der</strong> Gemeinde wahrzunehmen ist.<br />

Im schulischen Religionsunterricht jedenfalls bleibt das Christusbekenntnis offener<br />

Bezugspunkt: Auch wenn die Schüler in <strong>der</strong> Regel getaufte Christen sind, erfor<strong>der</strong>t<br />

<strong>der</strong> Ort Schule diese relative Distanz. Aber in dieser Distanz liegt auch die genuine


- 56 -<br />

Chance, daß einerseits religiöse Individualität reifen kann. An<strong>der</strong>erseits kann so auch<br />

das Christusbekenntnis seine Kraft entfalten unter Menschen, die immer am Anfang<br />

stehen, es langsam kennenzulernen. Dazu sind Lernwege erfor<strong>der</strong>lich, in <strong>der</strong> die<br />

Schüler das Bekenntnis als Bewegung anfänglich wahrnehmen können. Die Schüler<br />

werden so in die lebendige Bewegung hingenommen, die auch dem theologischen<br />

Sinn des Bekenntnisses entspricht. Darum ist auch <strong>der</strong> Anspruch nicht gering, <strong>der</strong><br />

mit diesem Charakter des Vorläufigen und Erprobenden verbunden ist. Dieses<br />

Erproben kann <strong>der</strong> Modus sein, in dem die existenzielle Bedeutung des<br />

Bekenntnisses im schulischen Unterricht erscheint.<br />

Ich fasse zusammen: Der schulische Religionsunterricht kann die Verbindlichkeit des<br />

Christusbekenntnisses nicht personal einfor<strong>der</strong>n; seine Kontur erhält er aber daraus,<br />

daß er sich auf die Substanz dieser Verbindlichkeit einläßt, diese als Eröffnung von<br />

Individualität erprobt und versuchsweise Identifikationsmöglichkeiten anbietet.<br />

Religionsunterricht im Horizont des Christusbekenntnisses<br />

Ich will mich nun konzentrieren auf didaktische Folgerungen, die sich für die Arbeit<br />

am Bekenntnis ergeben. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Bild von Malewitsch, die<br />

am Anfang meines Vortrags stand, kann für den ersten didaktischen Schritt stehen,<br />

<strong>der</strong> explorativ und offen die Schüler zu einer Bewegung einlädt, feste Vorstellungen<br />

hinter sich zu lassen, die eine Begegnung mit dem Christus oft verhin<strong>der</strong>n. Diese<br />

Bewegung dient einer Verfremdung, um hinter den manchmal allzu bekannten<br />

Christusbil<strong>der</strong>n eine Begegnung mit dem Christus selbst zu ermöglichen; diese<br />

Bewegung erlaubt aber auch, die eigenen Wi<strong>der</strong>stände zu formulieren. Diese<br />

Bewegung ins Offene braucht aber nun auch als Gegengewicht solche Wege, die<br />

zum Verstehen des Bekenntnisses führen. In diesem Zusammenhang habe ich von<br />

<strong>der</strong> Ligatur gesprochen, die das Christusbekenntnis ausmacht: Zum<br />

Christusbekenntnis, in dem <strong>der</strong> Religionsunterricht Sinn und Richtung hat, gehört das<br />

Verpflichtende und Orientierende.<br />

Das Verstehen dieser Ligatur <strong>der</strong> Freiheit soll nun im Unterricht angebahnt werden,<br />

so daß die Schüler zu einer begründeten Stellungnahme befähigt werden, die sie<br />

zwar nicht in die Situation des Bekenntnisses führt, aber die sie gleichsam in die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Christus führt. Wenn ein Curriculum für einen Kurs in <strong>der</strong> 12.<br />

Klasse als Aufgabe formuliert, die Schüler zu einer Christusbegegnung anzuleiten,<br />

die ein verfestigtes Gottesbild aufbricht und in das Reden <strong>der</strong> Christen von Jesus<br />

Christus einführt, dann liegt das durchaus in <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong> hier vorgestellten<br />

Überlegungen. So wichtig auch die Kenntnis <strong>der</strong> zentralen Texte <strong>der</strong> christlichen<br />

Tradition ist, wie sie im Curriculum vorgesehen ist: Religionspädagogisch muß hier<br />

einen Schritt weitergegangen und gefragt werden, was dieses Bekenntnis dann auch<br />

für mich bedeuten kann.<br />

Für eine unterrichtliche Realisierung könnte sich anbieten, das Bekenntnis des<br />

Hauptmanns aus Mk 15 aufzugreifen. Der Hauptmann ist einer, „<strong>der</strong> dabeistand, ihm<br />

gegenüber, und sah, daß er so verschied“. Angesichts des Leidens und <strong>der</strong><br />

Verlassenheit Jesu am Kreuz spricht er das Bekenntnis aus: „Wahrlich, dieser<br />

Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Die religionspädagogische Arbeit zielt darauf,<br />

Schüler in diese Situation hineinzuziehen: Dem Gekreuzigten gegenüber Aufstellung<br />

zu nehmen, ob sie ihm freundlich o<strong>der</strong> feindlich gestimmt sind. Didaktisch läßt sich<br />

das in Weiterführung <strong>der</strong> Arbeit am Bild von Malewitsch durchführen: Unser Blick auf


- 57 -<br />

das Bild führt in das Gegenüber zum Gekreuzigten: Wir sehen ihn wie <strong>der</strong><br />

Hauptmann. Ich würde diese Gestalt des Hauptmanns zunächst einführen, ohne sein<br />

Bekenntnis zu zitieren. „Was meinen Sie: Was sagt <strong>der</strong> römische Hauptmann, <strong>der</strong><br />

hier dabeisteht?“ Erst in einem weiteren Schritt wäre in <strong>der</strong> Lektüre des Bibeltexts<br />

dieser Wendung des Bekenntnisses angesichts des Leidens nachzudenken.<br />

Auch die Schüler erreicht dieses Angesicht des Leidens: Wer könnte dieser für mich<br />

sein? Für eine wie immer vorläufige Antwort brauchen die Schüler Raum und Zeit.<br />

Daß solches Nachdenken schon vor aller religiösen Bestimmtheit in unserer<br />

gegenwärtigen Kultur schwierig genug ist, kann ich hier nur nennen. Der Hauptmann<br />

gibt ihnen nun eine Verstehenshilfe vor. Er ermöglicht damit die Öffnung des<br />

Christusbekenntnisses auf die Schüler hin. Man könnte sagen, mit diesem<br />

Bekenntnis geht die Auseinan<strong>der</strong>setzung um diesen Jesus am Kreuz, <strong>der</strong> Diskurs um<br />

diesen Christus weiter.<br />

Um in diese Bewegung des Christusbekenntnisses hineinzuführen, die dem<br />

christlichen Glauben eigentümlich ist, braucht es beides: Phasen offener<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung und Phasen des Abarbeitens an geprägter Tradition; dabei sind<br />

didaktisch sehr genau offene Lernwege, die die Erfahrungen und Perspektiven <strong>der</strong><br />

Schüler zulassen, auszubalancieren mit solchen Einheiten, die dieser Offenheit<br />

Orientierung geben, damit sie nicht zur Beliebigkeit wird. Orientierung am Bekenntnis<br />

heißt demnach nicht, daß die Gegenstände des Unterrichts vorgezeichnet wären,<br />

son<strong>der</strong>n daß alle Fragen des Lebens letztlich in einer Perspektive erscheinen, die<br />

durch das Christusbekenntnis bestimmt ist.<br />

Das Ziel des Religionsunterrichts kann demnach nicht die Herbeiführung von<br />

Glauben o<strong>der</strong> die Zustimmung zum Bekenntnis sein; es wäre schon viel erreicht,<br />

wenn die Schüler die Bedeutung des Christusbekenntnisses verstehen lernen sowohl<br />

nach seiner inhaltliche, kognitiven Seite wie nach seiner existenziellen Relevanz. In<br />

dieser Bestimmung sehe ich auch eine notwendige Entlastung <strong>der</strong><br />

Religionslehrerinnen und -lehrer: Weil das Gelingen <strong>der</strong> Lernwege ohnehin keiner<br />

garantieren kann 14 , genügt es, diese Orientierung im Blick zu behalten. Daß es zu<br />

einer Begegnung von Christusbekenntnis und religiöser Identität kommt, die sich<br />

dann als überzeugend und tragfähig erweisen kann, kann pädagogisch und<br />

didaktisch nicht hergestellt werden; es muß am Ende offen bleiben, wie die Schüler<br />

mit ihrer Lebensgeschichte jeweils darauf antworten.<br />

Ich kann die Richtung hier nur andeuten, in <strong>der</strong> sich religiöse Individualität und<br />

Christubekenntnis noch einmal neu durchdringen. Denn vom leidenden Christus her<br />

geraten die Kategorien in Bewegung, an denen wir Individualität normalerweise<br />

messen. Hier sehe ich auch Ansatzpunkte, um mit dem eingangs zitierten Schüler ins<br />

Gespräch zu kommen, <strong>der</strong> für seine lichten wie für seine dunklen Stunden selbst<br />

verantwortlich sein will. Der Gekreuzigte durchbricht die Fiktion des selbstmächtigen<br />

Subjekts, die mein Schüler so eigensinnig durchhalten wollte. Auch wo ihm das<br />

Dunkel wi<strong>der</strong>fährt, will er es nicht passiv hinnehmen, son<strong>der</strong>n will es wenigstens<br />

selbst gemacht haben. Wie kann dem Schüler die Gelegenheit gegeben werden,<br />

seine trotzige Selbstbehauptung einmal hinter sich zu lassen? Hier verbinden sich<br />

14<br />

Oelkers, Jürgen: Erziehen und Unterrichten. Grundbegriffe <strong>der</strong> Pädagogik in analytischer<br />

Sicht, Darmstadt 1985, (EdF), 218: „Der Lehrer weiß nie, was <strong>der</strong> Schüler wirklich lernt, selbst wenn<br />

dieser intendiert, zu lernen, weil auch <strong>der</strong> beste Test immer nur einen Ausschnitt des Gelernten<br />

verdeutlichen würde.“


- 58 -<br />

religionspädagogische und seelsorgliche Aufgabe: Wie ist es möglich, daß er Wege<br />

findet, seine Einsamkeit nicht hinter <strong>der</strong> Geste des magischen Machers verstecken<br />

zu müssen, son<strong>der</strong>n fähig wird, diese Trauer auch auszuhalten?<br />

Ich fasse zusammen: Individualität und Christusbekenntnis kommen zusammen,<br />

wenn die eigene Lebensgeschichte sich öffnet für das, was in Tod und Auferstehung<br />

Jesu Christi ansichtig wird.<br />

Schluß<br />

Ich komme zum Schluß: Der Religionsunterricht mutet den Schülerinnen und<br />

Schülern die Anstrengung zu, einen eigenen individuellen Weg zu suchen und die je<br />

individuelle Realisierung dieser Herausfor<strong>der</strong>ung zu bedenken, auszuprobieren und<br />

zu reflektieren. Wie Schüler auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung reagieren, ist nicht im Voraus<br />

zu bestimmen; aber darin, daß sie fähig werden, diese Herausfor<strong>der</strong>ung zu<br />

realisieren und sie individuell zu beantworten, sehe ich eine Chance gegenwärtigen<br />

Religionsunterrichts, <strong>der</strong> sowohl die religiöse Individualität respektiert und för<strong>der</strong>t als<br />

auch das Christusbekenntnis in vielen Facetten zur Sprache bringen kann, damit es<br />

nicht fremd bleibt. Daß in <strong>der</strong> Begegnung mit dem Christusbekenntnis die eigene<br />

religiöse Individualität sprachfähiger werden kann: Damit wäre ein wesentliches Ziel<br />

des Religionsunterrichts benannt. Sicher ist solche wachsende Sprachfähigkeit noch<br />

entfernt vom eigenen Christusbekenntnis. Aber sie ist die Voraussetzung dafür, daß<br />

die christliche Religion wie<strong>der</strong> als etwas wahrgenommen werden kann, was für mein<br />

Leben von elementarer Bedeutung ist; erst dann wie<strong>der</strong>um ist das<br />

Christusbekenntnis in seiner Relevanz erkennbar. Der postmo<strong>der</strong>ne Schein <strong>der</strong><br />

Unverbindlichkeit von Religion kann nur aufgelöst werden, wenn erkennbar wird, daß<br />

es hier um die Fragen geht, die sich in jedem eigenen Leben stellen. Das Freilegen<br />

dieser Fragen ist <strong>der</strong> erste Schritt.<br />

Ich fasse zusammen: Das Christusbekenntnis ist gleichsam <strong>der</strong> Verbündete <strong>der</strong><br />

religiösen Individualität, indem es die Gleichgültigkeit aufbricht und den Raum<br />

schafft, in dem nach Gültigem gesucht wird: Was könnte es sein, das in meinem<br />

Leben gelten kann und das mein Leben tragen kann?<br />

Dabei muß spürbar bleiben, daß <strong>der</strong> Christus auch den Lehrenden immer neu<br />

begegnet und nicht in <strong>der</strong> Sicherheit des Gelernten und Gewußten aufgeht. Das setzt<br />

auf Seiten <strong>der</strong> Lehrenden die Souveränität voraus, den Spuren folgen zu können, die<br />

in den Wahrnehmungen und Assoziationen <strong>der</strong> Schüler gelegt sind. Die Kompetenz<br />

dazu müssen die künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer und die künftigen<br />

Religionslehrerinnen und -lehrer in ihrem ganzen Theologiestudium erwerben. Die<br />

Überlegungen dazu, wie das Christusbekenntnis den Religionsunterricht bestimmen<br />

kann, indem es die Individualität <strong>der</strong> Schüler ernster nimmt als das oft die Schüler<br />

selbst tun, haben darum auch Konsequenzen für die religionspädagogische Arbeit an<br />

<strong>der</strong> Universität. Es scheint mir offensichtlich, daß ein offener und zugleich<br />

theologisch orientierter Umgang mit den Gegenständen und Themen des<br />

Religionsunterrichts nur dann möglich ist, wenn Religionspädagogik den<br />

Studierenden nicht nur als eine Angelegenheit von Methodenkenntnis und<br />

Materialfundus begegnet, son<strong>der</strong>n auch mich als Lehrenden in die Bewegung des<br />

Christusbekenntnisses hineinzieht.


- 59 -<br />

Weil es auch im Religionsunterricht um verantwortete Theologie geht, ist es für die<br />

Ausbildung unabdingbar, daß sich die Religionspädagogik deutlich und erkennbar als<br />

theologische Disziplin versteht. Sie fragt in ihrer spezifischen Weise ebenso nach<br />

dem Ganzen <strong>der</strong> Theologie wie jede an<strong>der</strong>e Disziplin. Ihre Beson<strong>der</strong>heit ist es, daß<br />

sie dies in beständigem Blick auf die Adressaten des Religionsunterrichts tut.<br />

Lehrende, Studierende und Schüler stehen gleichsam miteinan<strong>der</strong> vor dem Bild des<br />

Gekreuzigten und suchen nach den neuen Perspektiven, die von ihm eröffnet sind.<br />

Die Religionspädagogik hat ihren Anteil an <strong>der</strong> Aufgabe, die Studierenden zu<br />

befähigen, selbständig und verantwortet mit theologischen Fragen und<br />

Zusammenhängen umzugehen. Im Blick auf die Praxis des Unterrichts bleibt so das<br />

Christusbekenntnis auch eine Herausfor<strong>der</strong>ung für die religiöse Individualität <strong>der</strong><br />

Studierenden selbst.


- 60 -<br />

Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong>:<br />

Schule mit Profil –<br />

christliche Präsenz (in <strong>der</strong> Schule) nicht allein im Religionsunterricht<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

Hätte es den ersten Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong> schon in den 1968er und 70er<br />

Jahren gegeben, wäre es zu diesem Forum mit großer Wahrscheinlichkeit nicht<br />

gekommen.<br />

- Dass Religionsunterricht mit Kirche zu tun hat, das suchten damals viele<br />

möglichst zu kaschieren – zu frisch war die Erinnerung an die pastorale<br />

Überhöhung und Bevormundung <strong>der</strong> Religionslehrer im Zeichen <strong>der</strong><br />

Evangelischen Unterweisung, zu kritisch standen die Zeitgenossen <strong>der</strong><br />

<strong>Institut</strong>ion Kirche gegenüber.<br />

In Reaktion auf die früheren kirchennahen, binnentheologisch entwickelten<br />

Konzeptionen <strong>der</strong> EU und des hermeneutischen RU rief man nach<br />

Problemorientierung, nach kirchen- und religionskritischer<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung, nach Selbständigkeit und Kontaktlosigkeit <strong>der</strong> Schule<br />

und <strong>der</strong> Religionslehrer gegenüber <strong>der</strong> verfassten Kirche.<br />

- Dass eine Schule Profil brauchen könnte, kam damals kaum jemand in den<br />

Sinn – zu frisch war die Erinnerung an die wechselseitige Abschottung <strong>der</strong><br />

humanistischen und <strong>der</strong> naturwissenschaftlich-technischen Ideale höherer<br />

Bildung, zu froh war man, die Schule endlich auf ihr Kerngeschäft, den<br />

Unterricht, konzentriert zu haben und die Mitsprache äußerer Kräfte – sei es<br />

die Kirche, seien es an<strong>der</strong>e Hüter von Tradition – eingedämmt zu haben.<br />

In Reaktion auf die erste deutsche „Bildungskatastrophe“, 1964 durch Georg<br />

Picht ausgerufen, konzentrierte man die Schule auf Unterricht. Er wurde<br />

lernziel-orientiert, curricular durchgeplant, lerntheoretisch analysiert und –<br />

jedenfalls <strong>der</strong> Intention nach – einem kontinuierlichen Verbesserungsprozeß<br />

unterzogen. Schulleben galt demgegenüber als Allotria, als Ablenkung vom<br />

Wesentlichen.<br />

Im Jahr <strong>2006</strong> gibt es nun aber diesen Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong> und auch dieses<br />

Forum – beides aus gutem Grund. Ich möchte deshalb in meinem Impuls Gründe<br />

nennen, warum Sie und mich die Frage nach <strong>der</strong> Kooperation von Schule und<br />

Kirchengemeinde, die Frage nach dem Profil von Schule umtreibt, und dann einige<br />

Anregungen vortragen, um durch Kooperation von Schule und Kirche das Profil von<br />

Schule zu schärfen.<br />

1. Schule mit Profil – Impulse aus Schulpolitik und Schulforschung<br />

Gegenwärtig ist es Konsens in Schulpolitik und pädagogischer Schulforschung:<br />

Schule, die einzelne Schule braucht Profil. Alle Leitbegriffe <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Schuldebatte – ich nenne nur: „Schulprogramm“, „Schulautonomie“ und<br />

„Schulentwicklung“ – weisen darauf hin.<br />

Der Schultheoretiker Helmut Fend gehörte 1986 zu den ersten, die <strong>der</strong>gleichen<br />

for<strong>der</strong>ten. Von seiner For<strong>der</strong>ung, „die einzelne Schule als pädagogische<br />

Handlungseinheit“ anzuerkennen – so <strong>der</strong> Untertitel seines Aufsatzes „Gute Schule -<br />

schlechte Schule“ 1 – war es nicht weit bis zum Postulat, Schulautonomie und<br />

1 Veröffentlicht in: Die deutsche Schule 78 (1986), 275-293.


- 61 -<br />

Schulprogramme zu för<strong>der</strong>n. Weite Kreise gezogen hat seine Idee – nun freilich<br />

weniger streng strukturreformerisch als vielmehr appellativ reformpädagogisch –<br />

Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre durch den Aufruf des Bielefel<strong>der</strong> Reformpädagogen Hartmut<br />

von Hentig „Die Schule neu denken“ (München 1993; erweiterte Neuausgabe 2003):<br />

Die von ihm gefor<strong>der</strong>te „Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ (ebd., 189)<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass Kin<strong>der</strong> und Jugendliche in <strong>der</strong> Schule keineswegs<br />

nur unterrichtet werden, son<strong>der</strong>n „die wichtigsten Lebenserfahrungen machen“<br />

können sollen (180). Und die <strong>der</strong>gestalt zur „Polis“ (189) gemauserte Schule ist<br />

individuell. Von Hentig schrieb schon 1993: Schulen sollten ihre „Autonomie“<br />

beantragen „müssen“ (ebd., 237). 2<br />

Und schließlich: In den 90er Jahren blühte auch die Schulentwicklungs-Forschung<br />

auf. Schon 1973 war hier in Dortmund auf Beschluss des Landtages das erste<br />

bundesdeutsche „<strong>Institut</strong> für Schulentwicklungsforschung“ mit Sitz in Dortmund<br />

gegründet worden, seit 1980 gibt dieses <strong>Institut</strong> um Hans-Günter Rolff das<br />

„Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung“ heraus, doch richtig dicht wurde <strong>der</strong> Teppich <strong>der</strong><br />

Publikationen etwa Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre. 3<br />

In <strong>der</strong> Zwischenzeit zeigen empirische Schulleistungsforschungen zwar, dass die<br />

Qualität <strong>der</strong> einzelnen Schule nur ein Faktor unter mehreren (neben <strong>der</strong> Schulform,<br />

dem Klassenklima und vor allem dem „durchschlagenden“ Gewicht individueller<br />

Fähigkeiten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler!) ist, um Leistungsunterschiede von<br />

Schulen zu erklären, 4 doch unbeschadet dieser Relativierung bleibt<br />

„Schulentwicklung“ und damit Schulprofil eines <strong>der</strong> wirkmächtigsten pädagogischen<br />

Postulate <strong>der</strong> 90er Jahre.<br />

Der Ruf nach Schulprogrammen fand auch in Schulpolitik und Schulpraxis ein großes<br />

Echo. Bundesweit zuerst waren es wohl die Lehrpläne für die Grundschule in<br />

Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 1985, die nicht nur Richtlinien für Unterricht<br />

enthielten, son<strong>der</strong>n auch den Ausbau des Schullebens for<strong>der</strong>ten. 5 Mittlerweile findet<br />

sich dieser Topos in zahlreichen ministeriellen Verlautbarungen aller Bundeslän<strong>der</strong> –<br />

er gehört gleichsam zum Grundbestand bildungspolitischer Optionen. 6 Und seit den<br />

90er Jahren hat man in Verlängerung dieser Anstöße zudem das Paradigma von<br />

Schulpolitik und -verwaltung gewechselt (Berlin 1989, Hessen 1991, NRW 1995).<br />

Zentralistische Ansätze zur Schulreform gelten ebenso als gescheitert wie die<br />

einseitige Fixierung <strong>der</strong> Schule auf Unterricht. An die Stelle ministerieller Initiativen<br />

2 Dazu jetzt Dirk Kutting: Gesinnungsbildung. Die humanistische Schul- und Bildungstheorie Hartmut<br />

von Hentigs in theologischer Sicht, Marburg 2004.<br />

3 Vgl. etwa Per Dalin/Hans-Günter Rolff/H. Buchen: <strong>Institut</strong>ioneller Schulentwicklungs-Prozeß, Bönen<br />

(1990) 4 1998 und Elmar Philipp/Hans-Günter Rolff: Schulprogramme und Leitbil<strong>der</strong> entwickeln. Ein<br />

Arbeitsbuch, Weinheim (1998) 4., erw.A. 2004, o<strong>der</strong> Heinz Klippert: Pädagogische Schulentwicklung,<br />

Weinheim/Basel 2000.<br />

4 Die Qualität <strong>der</strong> einzelnen Schule vermag – je nach Studiendesign – zwischen 9 und 18% <strong>der</strong><br />

Varianz bei Leistungsunterschieden von Schulen zu erklären; die Klasse (Klassenklima,<br />

Unterrichtsstil) erklärt etwa 5%, die Schulform ca. 10% Varianz. Entscheidende „Einflussfaktoren<br />

[liegen indes wie gesagt] auf <strong>der</strong> individuellen Ebene von Schülerinnen und Schülern“ – so Martin<br />

Bonsen/Andreas Büchter/Stefanie van Ophuysen: Im Fokus: Leistung, in: Jahrbuch <strong>der</strong><br />

Schulentwicklung Bd. 13, hg. von Heinz Günter Holtappels u.a., Weinheim/München 2004, 187-223,<br />

hier 222 (vgl. beson<strong>der</strong>s 213ff.).<br />

5 Hier etwa Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule: Evangelische Religionslehre, hg. vom<br />

Kultusminister des Landes NRW, Köln 1985.<br />

6 Über den Fortgang <strong>der</strong> Diskussion in NRW informiert insbeson<strong>der</strong>e das „Forum Schule“, hg. vom<br />

Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest. Siehe www.forum-schule.de.


- 62 -<br />

soll die Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative <strong>der</strong> Einzelschule treten. 7 Der Staat<br />

soll lediglich den Rahmen schulischen Handelns festschreiben; alles an<strong>der</strong>e soll<br />

gleichsam ´bottom – up’ erfolgen, aus <strong>der</strong> Schule und dem Kollegium heraus<br />

entwickelt werden. Folgerichtig waren etwa in NRW per Erlass von 1997 alle Schulen<br />

verpflichtet worden, bis Ende des Jahres 2000 ein Schulprogramm zu entwickeln; 8<br />

bundesweit hatten 2002 knapp 50% <strong>der</strong> Schulen aller Schulformen Schulprogramme<br />

entwickelt. 9 Ergänzend wird Schulautonomie, also die Personal- und<br />

Sachmittelbewirtschaftung sowie die Organisation schulischer Abläufe in<br />

Verantwortung <strong>der</strong> einzelnen Schule ausgelotet – in NRW etwa durch das Projekt<br />

Selbständige Schule. 10<br />

Systematisch dargestellt umfasst die Arbeit am Schulprofil mehrere<br />

Baustellen, <strong>der</strong>en gleichzeitiges Öffnen einerseits notwendig,<br />

an<strong>der</strong>erseits beunruhigend ist.<br />

[Folie: Schulprofil - und Faktoren seiner Entwicklung]<br />

So verstanden führt Schulprofil-Arbeit Organisations-, Unterrichts- bzw. Schullebens- und eben<br />

Personalentwicklung zusammen. 11 Diese Dimensionen gegeneinan<strong>der</strong> auszuspielen, ist wenig<br />

sinnvoll – zugleich sprechen manche pragmatischen Überlegungen dafür, die Unterrichtsentwicklung<br />

in den Mittelpunkt zu stellen, etwa diejenige, dass hier die Lehrer/innen am ehesten Handlungsbedarf<br />

sehen, dass sie hier am schnellsten Wirkung erzielen können und dass Unterricht nun einmal „<strong>der</strong><br />

Kernbereich <strong>der</strong> Lehrertätigkeit“ ist. 12<br />

Man mag diese Entwicklung beurteilen wie man will – in jedem Fall ist sie für die, die<br />

sich nolens volens mit Schulpolitik beschäftigen, bemerkenswert: Sie ist Konsens<br />

unter Erziehungswissenschaftlern und Bildungspolitikern!<br />

Und in <strong>der</strong> Tat ist dieser Konsens zu begrüßen – es ist gut, dass die einzelne Schule<br />

an Profil gewinnt, denn<br />

7<br />

Dazu Johannes Bastian: Autonomie und Schulentwicklung, in: <strong>der</strong>s. (Hg.): Pädagogische<br />

Schulentwicklung. Schulprogramm und Evaluation, Hamburg 1998, 13-24. Zum Stand <strong>der</strong><br />

Gesetzeslage und Initiativen <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> vgl. dort den Beitrag von Elmar Diegelmann / Karin<br />

Porzelle: Schulprogramm und Evaluation. Aktivitäten, Materialien und Programme <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong>,<br />

165-182, sowie Heinz Günter Holtappels: Schulprogramm als Schulentwicklungsinstrument? In:<br />

Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung Bd. 12, hg. von Hans-Günter Rolff u.a., Weinheim/München 2002,<br />

199-208.<br />

8 1986-91 lief in NRW erstmalig ein Modellversuch zur „Weiterentwicklung von Schulprogrammen in<br />

<strong>der</strong> Grundschule“; <strong>der</strong> genannte Erlass stammt vom 25.6.1997, die ministerielle Broschüre<br />

„Schulprogramm – eine Handreichung“ erschien in Frechen 1998; über den Stand des Erreichten<br />

informiert etwa Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Schulprogrammarbeit auf dem<br />

Prüfstand. Ergebnisse <strong>der</strong> Evaluation, Soest/Bönen 2002. Gegenwärtig steht die permanente „interne<br />

Evaluation“ (durch Schüler- und Elternfeedbacks, zentrale Lernstandserhebungen u.a.) und<br />

Fortschreibung <strong>der</strong> Schulprogramme im Mittelpunkt schulpolitischer Maßgaben (s. Erlass vom 15.Mai<br />

2003).<br />

In an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wurde die Entwicklung von Schulprogrammen gar nicht (so z.B. im Saarland) o<strong>der</strong><br />

erst später schulrechtlich festgeschrieben (so verlangte z.B. Rheinland-Pfalz erst bis Ende des<br />

Schuljahres 2002/3 von je<strong>der</strong> Schule ein sog. Qualitätsprogramm).<br />

9 Holtappels 2002 (s.o. Anm. 7), 207.<br />

10 Laufzeit 2002-2009; vgl. Wilfried Lohre u.a. (Hg.): Verantwortung für Qualität, Bd. 1: Grundlagen des<br />

Projekts, Troisdorf 2004, hier 95.<br />

11 Vgl. Hans-Günter Rolff: Entwicklung von Einzelschulen, in: Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung 10<br />

(1998), 295-326, hier 305.<br />

12 So mit Klippert 2000 (s.o. Anm. 3), 15.


- 63 -<br />

- die Profilierung von Schule for<strong>der</strong>t und erfor<strong>der</strong>t die pädagogischen Gaben<br />

und Engagements <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer. Profilbildung nimmt sie als<br />

Menschen und Pädagogen mit individuellem Profil und Ethos ernst – und<br />

schreibt sie nicht länger auf eine Rolle als pädagogische Vollzugsbeamte fest.<br />

- die Profilierung von Schule ermöglicht ihr Eingehen auf örtliche<br />

Gegebenheiten: auf die Schülerschaft, auf kommunale gesellschaftliche<br />

Konstellationen, auf beson<strong>der</strong>e Lernchancen, die sich etwa aus <strong>der</strong> Präsenz<br />

bestimmter Wirtschaftsbetriebe, bestimmter kultureller Einrichtungen etc.<br />

ergeben („Öffnung von Schule“).<br />

- die Profilierung von Schule ermöglicht den Aufbau ungewöhnlicher<br />

Bildungsangebote und trägt dem Umstand Rechnung, dass es in <strong>der</strong> Schule<br />

nicht nur standardisierbares Wissen und standardisierbare Fähigkeiten zu<br />

erwerben gibt, son<strong>der</strong>n jeweils neue methodische und fachliche Wege in den<br />

Kosmos des Wissens und Könnens gebahnt werden.<br />

- die Profilierung von Schule wertet „Schulleben“, „Erziehungsarbeit“ und<br />

„überfachliche“ methodische o<strong>der</strong> didaktische Optionen für Unterricht auf – <strong>der</strong><br />

Fachunterricht tritt relativ zurück. 13<br />

Es ist gut, dass all dies gleichsam „offiziell“ wie<strong>der</strong>entdeckt wird – viele mögen darum<br />

gewusst haben und aus diesen Motiven in Schulen gearbeitet haben, aber nun erst<br />

findet es ausdrücklich Anerkennung als schulisch sinnvolle Optionen.<br />

Freilich sind mit <strong>der</strong> Profilierung von Schule auch Schwierigkeiten verbunden:<br />

- Die erste Schwierigkeit ist einem Paradox geschuldet: Die Profilierung von<br />

Schule soll vom Kollegium gestaltet und gewollt werden – und eben dies wird<br />

nun von oben angeordnet. Wie gesagt: Hier begegnet ein schulpolitisches<br />

Paradox, das dem allgemeinen pädagogischen Paradox strukturell verwandt<br />

ist.<br />

- Die zweite Schwierigkeit: Über <strong>der</strong> Individualität von Schule darf nun nicht ins<br />

Hintertreffen geraten, dass Schulen junge Menschen mit vergleichbarem<br />

Wissen und Können ausstatten sollen. Die Einführung von<br />

Bildungsstandards ist insofern ein sachnotwendig komplementäres<br />

Moment gegenwärtiger Schulpolitik. Ob Standards ein taugliches Instrument<br />

sind, ob die Orientierung an ihnen die Profilierung von Schule gleichsam<br />

aufsaugen wird, ob sie den Ungeist des „teaching for testing“ in Schulen<br />

verstärken werden – das muss man sehen. Doch die Spannung zwischen<br />

sinnvoller pädagogischer Profilierung <strong>der</strong> Einzelschule und notwendiger<br />

Allgemeinheit schulischer Bildung muss man sehen und bearbeiten.<br />

- Eine dritte Schwierigkeit: Bemerkenswert wenig ist bei all den Reformen<br />

<strong>der</strong>zeit von <strong>der</strong> Grundidee pädagogischen Handelns die Rede – von <strong>der</strong><br />

För<strong>der</strong>ung des Einzelnen, von „Bildung“ im emphatischen Sinne als Hilfe auf<br />

dem Weg vom Person-sein zum Subjekt-werden. Ausgangspunkt <strong>der</strong><br />

Reformen ist vielmehr die mangelnde Leistungsfähigkeit des Bildungswesens,<br />

die Ertragsverbesserung von Schule ist ihr Ziel. Kurz: Es geht um die<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Organisation „Schule“, nicht um die Schüler/innen<br />

o<strong>der</strong> gar die Lehrerinnen.<br />

Und schließlich möchte ich eine vierte Problemanzeige einspeisen, die unmittelbar zu<br />

unserem heutigen Thema führt. So groß die Koalition <strong>der</strong> Fürsprecher einer<br />

13 Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Schulprogrammarbeit auf dem Prüfstand.<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> Evaluation, Soest/Bönen 2002, 19.


- 64 -<br />

Profilbildung von Schule auch ist, bei aller Renaissance von Schulleben spielt<br />

Religion, insbeson<strong>der</strong>e christliche Religion bisher kaum eine Rolle. Das ist um so<br />

bemerkenswerter als bis Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts (vielerorts bis in die 60er Jahre<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts!) Religion die Säule des Schullebens war. Mit den Worten Karl<br />

Ernst Nipkows formuliert: „Nicht ohne geschichtliche Ironie ist nun eine Situation im<br />

Entstehen begriffen, in <strong>der</strong> die Freiheit und <strong>der</strong> plurale Spielraum, die die Kirchen<br />

an<strong>der</strong>en lange Zeit nicht zugestehen wollten, ihnen selbst vorenthalten wird. Das<br />

Christentum wird in seiner Bedeutung für das Schulcurriculum und die Schulkultur in<br />

Schulgesetzen nicht mehr erwähnt, und <strong>der</strong> Religionsunterricht, das Kernstück <strong>der</strong><br />

ehemals christlichen Schule, wird marginalisiert.“ 14 Heute gilt: Schulpolitik und<br />

pädagogische Schulforschung sind auf dem Auge „Religion“ weitgehend blind!!<br />

- In den schulpolitischen Agenden <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> jedenfalls spielt Religionsund<br />

Ethikunterricht, spielt <strong>der</strong> gesamte Bereich pädagogischer Daseins- und<br />

Wertorientierung kaum eine Rolle.<br />

Schaut man zurück auf die reformerischen Ansätze <strong>der</strong> vergangenen Jahre<br />

stehen im Mittelpunkt jedenfalls organisatorische Optionen: Verkürzung <strong>der</strong><br />

Schulzeit (G 8), Ganztagsschule, Bildungsstandards und die Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Leistungsfähigkeit im Blick auf künftige internationale<br />

Vergleichsuntersuchungen – und zwar dezidiert nur in den vermeintlichen<br />

Kernfächern Deutsch, Mathe, dazu eine Fremdsprache und eine<br />

Naturwissenschaft, schließlich auch die Schulentwicklung in allen Facetten,<br />

die ich eingangs nannte – von religiöser Bildung und Wertorientierung als<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Schule ist dabei so gut wie nie die Rede. Am deutlichsten wird<br />

diese Leerstelle an den nordrhein-westfälischen Reformschriften –<br />

angefangen vom Rahmenkonzept „Gestaltung des Schullebens und Öffnung<br />

<strong>der</strong> Schule“ (1988) über die Denkschrift „Zukunft <strong>der</strong> Bildung – Schule <strong>der</strong><br />

Zukunft“ (1995) bis hin zum Modellvorhaben „Selbständige Schule“<br />

(2002/2003). Sie alle verlieren über Werte und Religion kaum ein Wort. Das<br />

hat den Vorzug, dass Werte und christliche Religion nicht in den Geruch<br />

kommen, staatlich funktionalisiert zu werden; es hat den Nachteil, dass sie<br />

überhaupt kaum mehr in den Blick kommen.<br />

- Noch drastischer fällt <strong>der</strong> Blick auf die schultheoretische und pädagogische<br />

Literatur aus. Kaum ein Autor o<strong>der</strong> eine Autorin, <strong>der</strong> Werte und christliche<br />

Religion reflexiv berücksichtigt.<br />

Mit Dietrich Benner, Hartmut von Hentig, Wolfgang Klafki, Jürgen Oelkers und<br />

einigen wenigen an<strong>der</strong>en sind die Namen <strong>der</strong> gegenwärtigen Pädagogen<br />

schnell benannt, die sich auf den Diskurs über Wertfragen o<strong>der</strong> gar Religion<br />

einlassen. 15<br />

- Und schließlich: Die gesellschaftliche und politische Stimmungslage spiegelt<br />

Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Orientierung in Fragen <strong>der</strong> Lebensführung.<br />

Weniger die Orientierung an Idealen o<strong>der</strong> unverrechenbaren Kriterien ist<br />

gefragt als vielmehr das Ergreifen von – primär: ökonomischen – Chancen in<br />

einer Lebenswelt, <strong>der</strong>en Spielräume mittlerweile im Prinzip unbegrenzt sind,<br />

14 Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt, Gütersloh 1998, hier Bd. 2, 93.<br />

15 Entsprechend resümieren auch Albert Biesinger / Friedrich Schweitzer: „Von Religion ist in dieser<br />

Literatur [gemeint ist: erziehungswissenschaftliche Literatur zum Thema Schulentwicklung] so gut wie<br />

gar nicht die Rede“ (in: Religionspädagogische Perspektiven, in: Achim Battke u.a. (Hg.):<br />

Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002, 77-99, hier 78). Vgl. dazu Karl<br />

Ernst Nipkow: Religiöse Bildung in einer pluralen Welt, Gütersloh 1998, hier Bd. 2, 96ff., Friedrich<br />

Schweitzer: Pädagogik und Religion, Stuttgart u.a. 2003.


- 65 -<br />

sich für das Individuum vor Ort aber in <strong>der</strong> Regel durchaus als eng begrenzt<br />

darstellen. Wenn ich es recht sehe, dann dominieren aufs ganze gesehen<br />

mittlerweile „negative“ Werte: <strong>der</strong> Schutz vor ..., die Freiheit von ..., die<br />

Toleranz. Es handelt sich dabei um negative Werte nicht in dem Sinn, dass sie<br />

min<strong>der</strong>wertig sind o<strong>der</strong> destruktiv o<strong>der</strong> moralisch abzulehnen, son<strong>der</strong>n<br />

„negativ“ in dem Sinn, dass sie kein Bekenntnis zu ..., kein Plädoyer für ...,<br />

keine Ich-Botschaft enthalten. Schlechte Zeiten für „Religion“.<br />

Man mag sagen, das sei vor allem ein Problem <strong>der</strong> Kirchen bzw. aller Religionsgemeinschaften<br />

i.S. des Grundgesetzes – gewiß; doch im Kern geht es hier um ein<br />

pädagogisches Problem, nämlich dies, dass mit dem RU und dem Christentum<br />

auch <strong>der</strong> Themenbereich „Sinnsuche / Lebensdeutung“ aus dem Gesichtskreis<br />

<strong>der</strong> Schul- und Bildungsreform zu verschwinden droht – als ob eine gute Schule<br />

darauf verzichten könnte!<br />

Kurz: Schule mit Profil – ja; doch um den Beitrag evangelischer Religion zu einer<br />

solchen Schule muss gerungen werden. We<strong>der</strong> Staat noch Lehrerkollegium klagen<br />

einen solchen Beitrag ein – und das obwohl Schule etwa in Nordrhein-Westfalen per<br />

Verfassung und Schulordnungsgesetz auf die Weitergabe von Werten verpflichtet ist:<br />

„Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor <strong>der</strong> Würde des Menschen und Bereitschaft zum<br />

sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel <strong>der</strong> Erziehung. Die Jugend soll<br />

erzogen werden im Geiste <strong>der</strong> Menschlichkeit, <strong>der</strong> Demokratie und <strong>der</strong> Freiheit, zur<br />

Duldsamkeit und zur Achtung vor <strong>der</strong> Überzeugung des an<strong>der</strong>en, zur Verantwortung<br />

für die Erhaltung <strong>der</strong> natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur<br />

Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.“ 16 In diesem Rahmen muss und darf<br />

von den Sachwaltern religiöser Bildung in <strong>der</strong> Schule ein Beitrag evangelischer<br />

Religion zum Profil von Schule angestoßen, vertreten und seinerseits profiliert<br />

werden!<br />

2. Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung – Impulse aus <strong>der</strong><br />

Religionspädagogik<br />

Zu den Facetten Schulautonomie und Schulentwicklung können Religionspädagogik<br />

und Kirche nur bedingt etwas beitragen (sie können es wohl nur bei Schulen in<br />

eigener Trägerschaft); sie werden sich vielmehr auf eines <strong>der</strong> Standbeine von<br />

Schulreform konzentrieren, die Schulprogramme, und dazu vor allem die<br />

Lehrerbildung bedenken. Dabei geht es jeweils um die pädagogische Mitte <strong>der</strong><br />

Schulreform, um die Akzentuierung <strong>der</strong> Inhalte und didaktischen Optionen von<br />

Unterricht und Schulleben.<br />

Warum haben Religionspädagoginnen und Religionspädagogen Interesse an einer<br />

Schule mit Profil, namentlich an einer Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung,<br />

an einer Schule mit christlicher Präsenz nicht allein im Religionsunterricht? Es kann<br />

und darf hier nicht die Sorge <strong>der</strong> Kirche um ihren gesellschaftlichen Stellenwert<br />

angeführt werden, ebenso wenig ein etwaiges missionarisches Interesse.<br />

Die Begründung für eine Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung muss<br />

vielmehr eine doppelte sein – eine, die einerseits den pädagogischen und politischen<br />

Gestaltern von Schule einsichtig ist, an<strong>der</strong>erseits auch den Trägern christlicher<br />

16 Art. 7 <strong>der</strong> Verfassung des Landes NRW von 1950, wortgleich auch des Schulordnungsgesetzes<br />

dieses Landes von 1952, hier zitiert nach „Informationen zum RU in NRW ..., hg. i.A. <strong>der</strong><br />

Landeskirchenämter <strong>der</strong> EKiR, <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong> und <strong>der</strong> Lippischen Landeskirche. o.O. 1995, 11 und 13.


- 66 -<br />

Präsenz in <strong>der</strong> Schule, also den (Religions-)Lehrerinnen und Lehrern, z.T. auch den<br />

Schüler/innen und nicht zuletzt den Kirchen.<br />

Holzschnittartig will ich fünf Begründungsfiguren nennen.<br />

Erstens: eine bildungstheoretische Begründung<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist ein wichtiger Bestandteil<br />

schulischer Bildung, weil sie Schüler/innen und Lehrerkollegium – und damit indirekt<br />

auch die Profilbildung <strong>der</strong> Schule - erfahrbar zur Daseins- und Wertorientierung<br />

provoziert. Gerade angesichts <strong>der</strong> oben beschriebenen Dominanz „negativer“ Werte<br />

geht es hier um eine notwendige Provokation durch Position.<br />

Einschlägige Angebote steuern so zum schulischen Bildungsangebot eine wichtige<br />

Facette bei. Sie lassen bereits als Angebot für alle Schulangehörigen erfahrbar<br />

werden, dass Bildung nicht nur die Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten aus<br />

verschiedenen Kompetenzbereichen umfasst, nicht nur die Ausprägung eines<br />

Habitus dauerhafter Lernwilligkeit, son<strong>der</strong>n eben auch die Notwendigkeit einer<br />

Daseins- und Wertorientierung, die sich in <strong>der</strong> Gestaltung und Deutung des eigenen<br />

Lebens nie<strong>der</strong>schlägt.<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU soll und wird sich somit nicht<br />

funktionalisieren lassen, um Schüler/innen einlinig eine bestimmte Moral ans Herz zu<br />

legen – sie ist schwerlich ein Instrument <strong>der</strong> „Wertevermittlung“ – ; sie kann aber sehr<br />

wohl überhaupt die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Fragen <strong>der</strong> Lebensführung, mit Wegen<br />

<strong>der</strong> sinnvollen Deutung ihre Lebens beför<strong>der</strong>n.<br />

Sie kann das vor allem deshalb,<br />

- weil sie Schüler/innen an ihrem Lebensmittelpunkt, <strong>der</strong> Schule, erreicht und<br />

christliche Religion mit ihrer Situation dort „verspricht“ (Ernst Lange),<br />

- weil sie die im Unterricht dominierende distanziert-analytische Betrachtung<br />

von Religion exemplarisch aufbricht und zu probeweiser Identifikation mit<br />

religiöser Praxis einlädt.<br />

Zweitens: eine schülerorientierte Begründung<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist als Bestandteil von Schule<br />

legitim und notwendig, weil sie einzelnen Schülerinnen und Schülern Lebenshilfe und<br />

Lernwege religiöser Bildung erschließt.<br />

Ging es eben noch um die Bereicherung des Bildungsspektrums von Schule, so geht<br />

es hier um die Bildungsperspektiven des Einzelnen. Angebote christlicher Präsenz in<br />

<strong>der</strong> Schule richten sich an Schülerinnen und Schüler, prinzipiell aber auch an<br />

Lehrerinnen und Lehrer in einem Bereich, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule stets in Gefahr steht, zu<br />

kurz zu kommen: Sie stehen für die Zuwendung zum Einzelnen, für Lebenshilfe und<br />

Rückenstärkung.<br />

Ob Seelsorge o<strong>der</strong> Sozialarbeit, freizeitähnliche o<strong>der</strong> gottesdienstliche Angebote –<br />

stets rücken die Angebote christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule För<strong>der</strong>ung und<br />

Unterstützung Einzelner in den Vor<strong>der</strong>grund. Damit können sie Einzelnen bei <strong>der</strong><br />

Reflexion und Gestaltung ihres Lebens helfen; sie stellen aber in jedem Fall, also<br />

bereits als Angebot, ein Symbol dar für die Aufmerksamkeit von Schule für den<br />

Einzelnen und seine Lebenskrisen.<br />

Gerade dies scheint mir angesichts gewisser Krisenindizien <strong>der</strong> Sozialform Schule –<br />

Leistungsorientierung und Aufmerksamkeits- und Lernstörungen, Aggression und<br />

Gewalt etc. – von nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Bedeutung zu sein.<br />

Drittens: eine sozialisationstheoretische Begründung<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil sie<br />

unterrichtliche religiöse Bildung unterstützt und verstärkt.


- 67 -<br />

Sozialisationstheoretisch kann Religionsunterricht als zwei- o<strong>der</strong> gar nur einstündiges<br />

Fach allein kaum effizient sein – zu wenig wird er gestützt durch eine quasi<br />

selbstverständliche Partizipation <strong>der</strong> Schüler/innen an Kirche, durch private<br />

kirchennahe Frömmigkeit, durch homogene Sozialisationsimpulse unter peers und<br />

an<strong>der</strong>en signifikanten An<strong>der</strong>en. Das Thema des RU, die Frage nach Gott und nach<br />

dem Sinn des Lebens, kann nur davon profitieren, wenn es gleichsinnig an an<strong>der</strong>en<br />

Orten außerhalb wie innerhalb <strong>der</strong> Schule thematisiert wird.<br />

An dieser Effizienz muss nicht nur die Kirche als (Mit-)Verantwortliche für den RU<br />

Interesse haben, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Staat als verantwortlicher Träger und die Schule<br />

vor Ort. Sie profitiert davon, wenn in <strong>der</strong> Selektions- und Allokationsinstanz Schule<br />

Fenster zur Selbstreflexion, zu altruistischem Verhalten, zu zweckfreiem<br />

Engagement offen gehalten werden. Christlicher Präsenz nicht allein im RU kommt<br />

eine korrektiv-kompensatorische Funktion zu, die gerade in <strong>der</strong> Schule Not tut, weil<br />

die Aufenthaltsdauer von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen in <strong>der</strong> Schule immer länger und<br />

immer prägen<strong>der</strong> wird.<br />

Viertens: eine theologische Begründung<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil<br />

darin christliche Religion authentisch Gestalt findet.<br />

Die Mitte christlicher Religion ist nicht <strong>der</strong> Diskurs darüber, son<strong>der</strong>n die religiöse<br />

Praxis. Glauben ist eine existentielle Grundhaltung, die sich nicht auf Kognition<br />

beschränken lässt, son<strong>der</strong>n auf ethische Bewährung und spirituellen Ausdruck<br />

drängt. Christliche Religion ist mehr als Wissen, sie will gestaltet werden: fides<br />

quaerens expressionem.<br />

Von dieser schlichten Grundüberlegung her ergibt sich, dass einerseits die Inhalte<br />

des Religionsunterrichts auf Angebote gelebter Religion verweisen und angewiesen<br />

sind, dass an<strong>der</strong>erseits Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, die sich<br />

dem Christentum verbunden fühlen, im Zeichen positiver Religionsfreiheit in <strong>der</strong><br />

Schule Raum finden sollten, ihrer Religiosität Ausdruck zu verleihen – zumal dann,<br />

wenn diese zeitlich und sachlich zunehmend als ihr Lebensmittelpunkt fungiert<br />

(Ganztagsschule).<br />

Fünftens: ein ekklesiologisches bzw. kirchenschulpolitisches Argument<br />

Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil sich<br />

darin das Bildungsengagement und das Bildungspotential <strong>der</strong> Kirche nie<strong>der</strong>schlägt,<br />

eben ihr bildungsdiakonisches Selbstverständnis.<br />

Schulgottesdienste, seelsorgliche Angebote u.ä. sind nicht als Streben nach<br />

kirchlich-christlicher (Fremd-)Bestimmung und Überformung <strong>der</strong> Schule zu<br />

verstehen, son<strong>der</strong>n, ökonomisch gesprochen, als Dienstleistung bzw., theologisch<br />

formuliert, als diakonische Tat.<br />

Kirche erweist sich in diesen Angeboten als ‚Kirche für an<strong>der</strong>e’ (Dietrich Bonhoeffer),<br />

<strong>der</strong> es damit nicht um Rekrutierung von Mitglie<strong>der</strong>n, Selbsterhalt o<strong>der</strong><br />

Machtausübung geht, son<strong>der</strong>n um Hilfestellung im Bereich <strong>der</strong> Daseins- und<br />

Wertorientierung, auch um Hilfestellung bei <strong>der</strong> Bewältigung konkreter Übergangsund<br />

Krisensituationen für junge Menschen.<br />

Diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist niemand verpflicht, doch es steht je<strong>der</strong>mann<br />

frei. Für die Zielgruppe handelt es sich also um ein freiwillig wählbares Angebot; für<br />

die Kirche bzw. die Christ/innen als Anbieter handelt es sich so gesehen – ich<br />

verweise auf das „Wort zur Schulfrage“ <strong>der</strong> Synode <strong>der</strong> EKD von 1958 – um einen<br />

„freien Dienst an einer freien Schule“.


- 68 -<br />

Fünf Gründe habe ich genannt; fünf Gründe, warum sich Religionspädagoginnen und<br />

-pädagogen nicht auf Unterricht allein konzentrieren, son<strong>der</strong>n christliche Präsenz in<br />

<strong>der</strong> Schule auch jenseits des RU in Blick nehmen sollten.<br />

3. Christliche Präsenz nicht allein im RU – was ist gemeint?<br />

Gestatten Sie mir an dieser Stelle zunächst eine Bemerkung zur Begrifflichkeit: Es ist<br />

nicht ganz einfach, für christlich-religiöse Angebote zum Schulprogramm bzw. zum<br />

Schulprofil eine angemessene Bezeichnung zu finden.<br />

Im katholischen Bereich ist die Rede von „Schulseelsorge“ o<strong>der</strong> „Schulpastoral“<br />

üblich geworden – manche evangelischen Kirchen übernehmen diesen Begriff; doch<br />

mir scheint er als Programmbegriff nicht beson<strong>der</strong>s glücklich gewählt. Denn die<br />

Breite <strong>der</strong> Angebote vom Gottesdienst bis zur schulnahen Jugendarbeit ist –<br />

jedenfalls in evangelischer Tradition – schwerlich unter dem Dach <strong>der</strong> „Seelsorge“<br />

zu bündeln. Gerade außerhalb <strong>der</strong> Poimenik, also des wissenschaftlichen<br />

Fachgespräches über Seelsorge, wird unter „Seelsorge“ wie selbstverständlich Vier-<br />

Augen-Begegnung, individualisierte seelische Stärkung verstanden – also etwas, das<br />

im Schulleben eher die Ausnahme als die Regel, auf keine Fall aber gemeinsamer<br />

Nenner aller Angebote ist.<br />

Auch die Rede von <strong>der</strong> „schulbezogenen Arbeit <strong>der</strong> Kirchen“ birgt problematische<br />

Aspekte, denn sie betont zu sehr die (Initial-)Bedeutung <strong>der</strong> schulexternen <strong>Institut</strong>ion<br />

Kirche. Schulprogramme sollten jedoch aus <strong>der</strong> Schule selbst heraus entstehen;<br />

innerschulische Schaltstelle christlich-religiös geprägter Angebote sind in <strong>der</strong> Regel<br />

die Religionslehrer/innen. Erst bei <strong>der</strong> Realisierung von Angeboten sind die Kirchen<br />

mit ihren Ressourcen unverzichtbar. 17<br />

Vorschlagen möchte ich Ihnen deshalb einen an<strong>der</strong>en Begriff, nämlich diesen:<br />

„Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im Religionsunterricht“. Dieser<br />

Begriff umschließt viele Handlungsfel<strong>der</strong> und er betont, darin sehe ich vor allem<br />

seinen Vorzug, die Initiative und Verantwortung christlicher Schulangehöriger für die<br />

entsprechenden Angebote. Denn, dies ist ein entscheiden<strong>der</strong> Punkt, christlichreligiöse<br />

Angebote zum Schulleben legitimieren sich rechtlich und sachlich vor allem<br />

daraus, dass sie den Bedürfnissen und Interessen <strong>der</strong> Schulangehörigen genügen –<br />

nicht aus den Handlungsmöglichkeiten <strong>der</strong> <strong>Institut</strong>ion Kirche. Die Begriffsklärung führt<br />

insofern auch zu einer sachlich gewichtigen Einsicht: Christliche Religion und Kirche<br />

können nur so viel zur Schule beitragen, wie die Schulangehörigen selbst abrufen,<br />

anstoßen o<strong>der</strong> auch selbst einbringen!<br />

Typisierend sind vor allem vier Formen christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits<br />

des Religionsunterrichts zu unterscheiden (Schulgottesdienst, Schulseelsorge,<br />

Schulsozialarbeit, schulnahe Jugendarbeit), hinzu kommen unterrichtsbezogene o<strong>der</strong><br />

aus dem Unterricht erwachsene Projekte.<br />

[Folie: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im RU]<br />

Näher erläutern möchte ich zwei, die das Potential <strong>der</strong> Kooperation von Schule und<br />

Kirche illustrieren.<br />

Das Kirchliche Angebot (Evangelische Kontaktstunde) betrifft bislang lediglich<br />

Grundschulen – obwohl es prinzipiell auch auf die Sekundarstufe I zu beziehen wäre.<br />

Es ist eine Beson<strong>der</strong>heit Nordrhein-Westfalens.<br />

17 Systemtheoretisch wird die Rolle <strong>der</strong> Kirchen bei <strong>der</strong> „Schulseelsorge“ reflektiert in Gundo Lames:<br />

Schulseelsorge als soziales System, Stuttgart u.a. 2000.


- 69 -<br />

Unter <strong>der</strong> Bezeichnung „Kontaktstunde“ wird Kirchengemeinden seit dem Schuljahr<br />

1998/99 die Chance eröffnet, im Rahmen von Schule („Schulveranstaltung“) im<br />

Umfang einer Wochenstunde mit Grundschülerinnen und -schülern <strong>der</strong> 3. und 4.<br />

Klasse zu arbeiten. Die Organisationsform kann variieren (vom einstündigen Angebot<br />

pro Woche bis hin zum monatlichen Blocktag), die Inhalte sollten mit dem Lehrplan<br />

koordiniert werden, sind aber grundsätzlich frei wählbar – Schwerpunkt sollen das<br />

„Leben <strong>der</strong> Kirchengemeinde“ und „Formen gelebter christlicher Existenz“ sein. Eine<br />

Umfrage hat gezeigt, dass tatsächlich „das Kirchenjahr und seine Feste,<br />

Fragestellungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und die jeweils eigene Kirchengemeinde“ den Inhalt von<br />

Kontaktstunden bestimmen. 18 Gestaltet wird die Kontaktstunde von den Pfarrer/innen<br />

o<strong>der</strong> pädagogisch qualifizierten Mitarbeitenden <strong>der</strong> Kirchengemeinde; die Gemeinde<br />

hat auch die Personal- und Sachkosten zu tragen.<br />

Kurz: Die Kontaktstunde ist ein Beispiel für den hohen Einsatz vieler<br />

Kirchengemeinde am Lernort Schule; auch ein Beispiel für wirkungsvolle und<br />

zugleich kooperationsintensive Arbeit an <strong>der</strong> Schnittstelle von Schule und Gemeinde.<br />

Die Gemeinden sehen mehr positive Effekte als sie selbst erwartet haben; auch<br />

Religionslehrer/innen sehen sie eher als Ergänzung zum RU und Einladung zur<br />

Zusammenarbeit mit einer Kirchengemeinde denn als Konkurrenz! 19<br />

Das Angebot „Jugendkirche“ richtet sich an Jugendliche – nicht nur, aber eben auch<br />

an Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> Sekundarstufen I und II, allgemeiner und<br />

berufsbilden<strong>der</strong> Schulen. Hinter dem Begriff verbergen sich im Wesentlichen<br />

folgende Ideen:<br />

- die Idee aktiv, durchaus missionarisch auf Jugendliche zuzugehen und sich<br />

auf ihren Stil genauso einzulassen wie auf ihre Lebenswelt: „nicht nur das<br />

Evangelium, son<strong>der</strong>n auch die bisherigen ‚Tabus’ ... Kirchenräume,<br />

Gemeinde, Gottesdienst werden ... in die Lebenswelt junger Menschen<br />

‚hineinübersetzt’ ...“.<br />

- die Idee, Jugendlichen im Rahmen <strong>der</strong> Kirche, aber überparochial eigene<br />

Gestaltungsräume anzubieten – „Räume“ wird dabei wörtlich verstanden: Im<br />

Mittelpunkt <strong>der</strong> Arbeit steht ein „herausragende[r] Raum, idealerweise „ein<br />

alter Kirchenraum, <strong>der</strong> selbst eine beson<strong>der</strong>e Aura besitzt“ und „vielfältig<br />

nutzbar sein [muss] – für ein Tanzfest ebenso wie für Abendandachten“,<br />

- die Idee, nicht von Erwachsenen etwas für junge Menschen anzubieten,<br />

son<strong>der</strong>n Jugendliche etwas für sich selbst und An<strong>der</strong>e erproben und<br />

realisieren zu lassen; Ältere fungieren als Mentoren; Im Idealfall wird aus und<br />

in <strong>der</strong> Jugendkirche eine „eigene Jugendgemeinde“. 20<br />

Jugendkirchen in Deutschland bieten ein breites Programm: Evangelisch o<strong>der</strong><br />

katholisch geerdet bieten sie Gottesdienste und Theater, Kunstprojekte und<br />

Performances, Cafés und Seelsorge, sozialdiakonische Angebote (Abendbrotstisch,<br />

Beratungen) und klassische Gruppenarbeit. In <strong>der</strong> Regel steckt die Kontaktpflege mit<br />

Schulen noch in den Kin<strong>der</strong>schuhen, aber viele <strong>der</strong> Trägergruppen haben diese<br />

Kooperation im Blick – und das ist gut so, denn Jugendkirchen könnten gerade auch<br />

benachbarten Schulen Gestaltungsfreiräume bieten, über die so we<strong>der</strong> die Schule<br />

noch die herkömmliche Kirchengemeinde verfügen können. Kooperationsprojekte<br />

zwischen Kunstunterricht und RU können hier Platz finden, Schulgottesdienste in<br />

18 Bernd Schrö<strong>der</strong>: Evangelische Kontaktstunde an Grundschulen, Neukirchen 2003, 99.<br />

19 Zu den Wirkungen Schrö<strong>der</strong> 2003 (s.o. Anm. 18), 114ff.121 und 123.<br />

20 Hier nach Anne Winter: ein starkes stück kirche. Das Projekt Jugendkirche in Württemberg.<br />

Zwischendokumentation, Stuttgart 2005, 34. 198.41. Vgl. zu Jugendkirchen ansonsten etwa Hans<br />

Hobelsberger u.a. (Hg.): Experiment Jugendkirche, Kevelaer 2003, und das Themenheft<br />

„Jugendkirchen“ <strong>der</strong> Zeitschrift „das baugerüst“ 2005, Heft 3.


- 70 -<br />

an<strong>der</strong>er Gestalt, Offerten <strong>der</strong> schulnahen Jugendarbeit. In jedem Fall gelten Schulen<br />

als „Begegnungsflächen, Adressaten und Kooperationspartner“ (Konzept <strong>der</strong><br />

Jugendkirche effata in Münster, 2002).<br />

Im Bereich von <strong>EKvW</strong> und EKiR gibt es bislang noch keine evangelisch-landeskirchliche<br />

Jugendkirche; allerdings gibt es die ev.-freikirchlichen Jugendgemeinden „taste of heaven“ in Essen<br />

(www.taste-of-heaven.de), „jump“ in Mülheim (www.jump-youthchurch.de), „U-turn“ in Wuppertal<br />

(www.trax-online.de) und einige katholische Jugendkirchen in Münster, Oberhausen, Bocholt und<br />

Dortmund. 21<br />

4. Was die Kirche tut, tun kann und soll, um christliche Präsenz im und<br />

außerhalb des RU zu stärken<br />

Die evangelische Kirche ist schon jetzt mit hohem Einsatz an Personal, Know-how<br />

und finanziellen Mitteln engagiert für christliche Präsenz nicht allein im RU. Ich rufe<br />

einige Bausteine in Erinnerung, die unmittelbar in den Schulen bzw. den<br />

Religionslehrer/innen spürbar sind.<br />

- Die Kirche unterstützt den Religionsunterricht wie sonst keine schulexterne<br />

<strong>Institut</strong>ion irgendein an<strong>der</strong>es Schulfach.<br />

Diese För<strong>der</strong>ung beschränkt sich keineswegs auf Mitbestimmung von<br />

Lehrplänen und Vokation <strong>der</strong> Lehrenden. Sie schließt kirchenpolitische<br />

Fürsprache in verschiedenen Formen und v.a. ein dichtes Netz von<br />

Fortbildungs- und Unterstützungsangeboten durch ihre Pädagogischtheologischen<br />

<strong>Institut</strong>e (PTI) und die Schulreferate ein. Am häufigsten genutzt<br />

und am unmittelbarsten hilfreich dürften die kreiskirchlichen o<strong>der</strong> regionalen<br />

Mediotheken sein.<br />

Die Kirche trägt so bei zu einem Religionsunterricht, dessen didaktisches und<br />

methodisches Niveau nicht hinter demjenigen an<strong>der</strong>er Fächer zurückbleibt<br />

(Stichworte: Handlungsorientierung, selbständiges bzw. aktivierendes Lernen /<br />

Freiarbeit, Einsatz von Medien und Internet usw.), vielmehr in <strong>der</strong> Geschichte<br />

<strong>der</strong> Fachdidaktiken oft genug den didaktischen Takt angab und noch immer<br />

angibt (z.B. bei <strong>der</strong> Vernetzung mit an<strong>der</strong>en Fächern innerhalb <strong>der</strong> eigenen<br />

Fächergruppe [Kooperation zwischen ev. und kath. RU; EU] wie außerhalb<br />

ihrer [etwa mit Geschichte, Biologie, Deutsch, Kunst]. 22<br />

- Die Kirche, dieses Mal nicht als landes- o<strong>der</strong> kreiskirchliche Dachorganisation,<br />

son<strong>der</strong>n als Parochialgemeinde vor Ort unterstützt o<strong>der</strong> trägt zahlreiche nicht<br />

unmittelbar unterrichtsbezogene Angebote zum Schulprogramm wie etwa<br />

Gottesdienste, Seelsorge, im Grundschulbereich „Kontaktstunden“, an<br />

weiterführenden Schulen „Tage religiöser Orientierung“ u.ä.m.<br />

- Und drittens, nicht zu vergessen, besteht ein wichtiger Beitrag <strong>der</strong> Kirchen zur<br />

Schulentwicklung in exemplarischen Schulreformen und modellhaftem<br />

Handeln an ihren eigenen Schulen, den Schulen in kirchlicher Trägerschaft.<br />

Ich nenne hier nur Ansätze zu diakonischem Lernen („Diakonisches<br />

Praktikum“ in Stufe 12 eines Gymnasiums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „sozial-diakonische“<br />

Lernbereich an Klasse 7 am Ev. Schulzentrum Leipzig), die Thematisierung<br />

21 Übersicht unter www.jugendkirchen.org.<br />

22 Diese beiden ersten Ebenen werden anschaulich beschrieben in dem Beitrag von Hans-Walter<br />

Nörtersheuser: Der Beitrag des RUs zur Schulentwicklung <strong>der</strong> Realschulen, in: Achim Battke u.a.<br />

(Hg.): Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002, 132-159.


- 71 -<br />

ethischer Probleme in Naturwissenschaft und Technik o<strong>der</strong><br />

Schulpartnerschaften und an<strong>der</strong>e Projekte zu weltweitem Lernen. 23<br />

- Viertens und letztens ist auf den indirekten Beitrag <strong>der</strong> Kirchen zur Schule<br />

hinzuweisen. Dieser Beitrag besteht schlicht und einfach in ihrer öffentlichen<br />

Präsenz, dank <strong>der</strong>er sie als beinahe einzige <strong>Institut</strong>ion <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaft Fragen <strong>der</strong> Lebensführung latent o<strong>der</strong> ausdrücklich expliziert und<br />

zwar auf <strong>der</strong> Grundlage überindividueller, identifizierbarer Deutungsmuster.<br />

Man muss ihre Deutungsmuster nicht teilen – doch <strong>der</strong> Qualitätsunterschied<br />

zu Einlassungen des Lifestyle-Fernsehens (“Für dich tue ich alles“), aber auch<br />

<strong>der</strong> Pop-Kultur („König <strong>der</strong> Löwen“) liegt auf <strong>der</strong> Hand. Die Kirchen leisten<br />

„Arbeit an <strong>der</strong> symbolischen Form des Christentums“, 24 und – die soeben<br />

erschienene vierte EKD-Mitgliedschaftsumfrage zeigt es – die Menschen<br />

wünschen genau diese Arbeit. Auch wenn sie selbst nicht an Kirche<br />

partizipieren, bejahen sie zu einem guten Teil diese Deutearbeit <strong>der</strong> <strong>Institut</strong>ion<br />

Kirche. 25<br />

Eben diese öffentliche Präsenz ist <strong>der</strong> notwendige Hintergrund, <strong>der</strong><br />

„Lebensrückhalt“ (so hat es die Synode <strong>der</strong> EKD formuliert 26 ) für die drei<br />

an<strong>der</strong>en zuvor genannten Beiträge von Kirche und christlicher Religion zur<br />

Schule – ohne sie wären Religionsunterricht und Schulleben bloß „ein<br />

tönendes Erz o<strong>der</strong> eine klingende Schelle“ (1. Kor 13,1).<br />

Obwohl also die evangelische Kirche bereits in hohem Maße präsent und engagiert<br />

ist, könnte sie christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule durch verschiedene<br />

Akzentsetzungen und Initiativen symbolisch o<strong>der</strong> tatsächlich effektiv verstärken. Vier<br />

solcher Akzente will ich nennen.<br />

4.1. Wertschätzung für das Engagement <strong>der</strong> Religionslehrer/innen zum Ausdruck<br />

bringen, aber auch ihr eigenes Engagement nicht unter den Scheffel stellen<br />

In einem schönen Buch namens „Mitarbeit in Kirche und Gemeinde“ beschreibt Karl<br />

Foitzik, langjähriger Professor für Religionspädagogik an <strong>der</strong> Ev. Fachhochschule<br />

Nürnberg, das magische Viereck <strong>der</strong> Mitarbeiterpflege: „Wertschätzung, Begleitung,<br />

För<strong>der</strong>ung und Beratung“. 27 Die evangelische Kirche ist um ihre Mitarbeiter/innen im<br />

Bereich <strong>der</strong> religiösen Bildung, um die Religionslehrer/innen eindrücklich bemüht –<br />

an zwei Eckpunkten dieses Vierecks würde ich indes noch Verbesserungsbedarf<br />

sehen: bei <strong>der</strong> Begleitung, namentlich <strong>der</strong> spirituellen Begleitung, und bei <strong>der</strong><br />

Wertschätzung.<br />

„Begleitung“ ist ein weites Feld. Begleitung heißt: Unterstützung anbieten, aber<br />

nicht aufdrängen, ermutigen, aber nicht kanalisieren. Im fachlichen Sinne ist diese<br />

Form von Begleitung durchaus etabliert; im spirituellen Sinne hingegen nicht.<br />

Geistliche Begleitung kann heißen: Religiöse Besinnungstage für Kollegien, kann<br />

heißen: Einladung an Einzelne in eine Kommunität o<strong>der</strong> ein Kloster auf Zeit, kann<br />

heißen: Übung in Gebet und Meditation in Form eines Kurses. Doch welche<br />

23 Dazu näherhin Handbuch Evangelische Schulen, Gütersloh 1999.<br />

24 Zitat – gegen den Sinn des dortigen Duktus angeführt – aus Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche,<br />

Gütersloh 2002, 49. Vgl. auch Reiner Preul: So wahr mir Gott helfe! Religion in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaft, Darmstadt 2003.<br />

25 Dazu Wolfgang Huber/Johannes Friedrich/Peter Steinacker (Hg.): Kirche in <strong>der</strong> Vielfalt ihrer<br />

Lebensbezüge, Gütersloh <strong>2006</strong>, 457 und 459.<br />

26 Friedrichroda 1997. Bericht über die erste Tagung <strong>der</strong> neunten Synode <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland vom 22. bis 25. Mai 1997, Hannover 1997, 243-250, hier 250.<br />

27 Karl Foitzik: Mitarbeit in Kirche und Gemeinde, Stuttgart 1998, hier 81.


- 72 -<br />

Religionslehrerin o<strong>der</strong> welcher Religionslehrer fühlt sich in diesem Sinne geistlich<br />

begleitet? Zu fragen ist allerdings auch: Welcher Religionslehrer o<strong>der</strong> welche<br />

Religionslehrerin würde sich dies überhaupt wünschen?<br />

Umfragen zeigen: Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Themen möglicher Unterstützung haben<br />

daran zwar nur wenige RL Interesse – allerdings ist es insgesamt mehr als ein Viertel<br />

<strong>der</strong> evangelischen Religionslehrerschaft, „eine ausgesprochen große ‚Min<strong>der</strong>heit’“ 28 !<br />

Und ich möchte zweierlei zu bedenken geben: Die Formulierung des erfragten Items<br />

ist nicht beson<strong>der</strong>s einladend geraten („Einübung spiritueller Praxis“); sie lässt<br />

jedenfalls nicht erkennen, dass es bei diesem Thema um personorientierte<br />

Begleitung, Ermutigung und Bereicherung des eigenen Glaubenslebens geht. Und<br />

ein Zweites kommt hinzu: Dass RL für das Thema geistliche Begleitung durchaus<br />

offen sein können, zeigt ihr hohes Interesse an Fortbildung zur „Alltagsbedeutung<br />

von Religion“ und „erfahrungsbezogenen Zugängen zur Bibel“ – es dürfte den<br />

befragten RL klar sein, dass man die Alltagsbedeutung von Religion und<br />

erfahrungsbezogene Zugänge zur Bibel nicht erschließen kann, ohne die Bedeutung<br />

von Religion für den eigenen Alltag und die eigenen Erfahrungen mit <strong>der</strong> Bibel<br />

bewusst werden zu lassen. Kurz: Die Begleitung von RL durch kirchliche<br />

Fortbildungseinrichtungen sollte es auf den Versuch ankommen lassen, stärker zu<br />

thematisieren „wo <strong>der</strong> Glaube wachsen kann“ (Fulbert Steffensky) – <strong>der</strong> eigene<br />

Glaube und <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler.<br />

Ebenso wichtig – und insgesamt ebenso vernachlässigt – scheint mir<br />

„Wertschätzung“ zu sein. Gewiss, die ganze oben angeführte Infrastruktur ist als<br />

Ausdruck von Wertschätzung lesbar, aber ad hominem, als persönliche<br />

Wertschätzung ist sie nur mit Mühe erkennbar. Unmittelbarer als Zuspruch erlebt<br />

werden dürften Dinge wie dieser „erste Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong>“ <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong><br />

(10.3.<strong>2006</strong>), Dinge wie ein Neujahrsempfang <strong>der</strong> Religionslehrer/innen anlässlich<br />

eines neuen Schuljahres (so erlebt im KK Duisburg 2005) o<strong>der</strong> ein regionaler<br />

„Religionslehrertag“ (so üblich im Saarland), ein Supervisionsangebot o<strong>der</strong> vielleicht<br />

auch ein Vokations-Erinnerungstag mit Gottesdienst.<br />

Allerdings will ich daneben auch kleine Zeichen <strong>der</strong> Wertschätzung erwähnen, die<br />

zudem zum Ausdruck bringen, dass die Kirche(ngemeinde) um ihre eigene<br />

Beteiligung an RU und Schulleben weiß: Wie wäre es, wenn Religionslehrer/innen<br />

ihre Arbeit häufiger einmal im Gemeindebrief vorstellen könnten, wenn ihre Namen<br />

dort genannt würden, wenn gemeindebezogene Veranstaltungen in <strong>der</strong> Schule (z.B.<br />

Schulgottesdienste) auch im Gemeindeprogramm ausgewiesen würden?<br />

Ich lasse es bei diesen Hinweisen und Fragen – und <strong>der</strong> Überzeugung, dass Gutes<br />

im Bereich von Wertschätzung und Begleitung nicht teuer sein muss; das Zeichen<br />

zählt.<br />

4.2. Geh-Strukturen im Blick auf Schule aufbauen<br />

Eine Gemeinsamkeit <strong>der</strong> meisten kirchlichen Angebote zur Stärkung des<br />

Religionsunterrichts o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Religionslehrer/innen besteht in Folgendem: Sie setzen<br />

voraus, dass Religionslehrer/innen auf sie zugehen o<strong>der</strong> eben ein Angebot in<br />

Anspruch nehmen. Die Kirche arbeitet hier im Paradigma <strong>der</strong> „Komm-Struktur“. Wer<br />

etwas möchte, muss zu ihr kommen.<br />

Wenn mich nicht alles täuscht, darf die Kirche nach Meinung <strong>der</strong><br />

Religionslehrer/innen hier ruhig das Paradigma wechseln und Geh-Strukturen<br />

aufbauen. Gewiss: Religionslehrer/innen wünschen sich keineswegs „Kirche in <strong>der</strong><br />

28 Andreas Feige/Werner Tzscheetzsch: Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat?<br />

Ostfil<strong>der</strong>n/Stuttgart 2005, 40; vgl. 38f.


- 73 -<br />

Schule“, sie wünschen sich insbeson<strong>der</strong>e keine „Aufsichtsfunktion“ <strong>der</strong> Kirche, wohl<br />

aber eine Verstärkung ihrer Bringeleistungen – vor allem in drei Bereichen: bei <strong>der</strong><br />

Elternarbeit, bei <strong>der</strong> Kontaktaufnahme mit den Schüler/innen und bei <strong>der</strong><br />

Qualitätssicherung des RU. Bemerkenswert finde ich zudem den Wunsch von einem<br />

Drittel <strong>der</strong> Religionslehrerschaft, dass die kirchlich Zuständigen verstärkt „Kontakt zu<br />

den Schulen halten“ mögen! 29<br />

Kurz: Aufsichtsfunktion von Kirche im Blick auf die Schule – bitte beibehalten, aber<br />

nicht verstärken, Unterstützungs- und Qualitätssicherungsfunktion bitte noch stärker<br />

wahrnehmen!<br />

O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gesagt: Auf jeden Fall nicht „Religion ohne Kirche“ (aber auch keine<br />

„Kirche in <strong>der</strong> Schule“)! Das galt schon für Nie<strong>der</strong>sachsen, wo man im Jahr 2000 ein<br />

„entspanntes Klima“ zwischen Kirche und RL konstatieren konnte; erst recht gilt es<br />

2005 für Baden-Württemberg, wo man von „einer betont freundlich-positiven<br />

Offenheit“ <strong>der</strong> RL gegenüber Kirche ausgehen kann! 30<br />

Ein wenig tastend möchte ich vorschlagen, über zwei Optionen kirchlicher<br />

Schularbeit nachzudenken –<br />

einmal über eine Verstärkung von Angeboten im Blick auf einzelne Schulen o<strong>der</strong><br />

die Schulen einer Region. Schulreferent/innen könnten durch die themenzentrierte<br />

Interaktion mit den Fachkonferenzen von Schulen o<strong>der</strong> auch von mehreren<br />

benachbarten Schulen zusammen gezielter Fortbildung und Begleitung anbieten –<br />

und tatsächlich beratend wirken. Als Modell kann diesbezüglich SCHILF dienen,<br />

schulinterne Lehrerfortbildung. Gewiss wären entsprechende Signale <strong>der</strong> RL bzw.<br />

<strong>der</strong> Fachkonferenzen hilfreich, denn auch Schulreferent/innen sind nur Menschen,<br />

die Ermutigung brauchen, um mit ihren zentralen Fortbildungstradition zu brechen.<br />

Dabei müssen sich beide Seite klar sein, dass schulbezogene Fortbildung<br />

verbindlicher ist als offene Angebote – verbindlicher für die Kollegien, die dann auch<br />

an verabredeten Maßnahmen teilnehmen müssen, verbindlicher für die<br />

Schulreferent/innen, die Themen „pünktlicher“ (Rudolf Englert), passgenauer<br />

aufbereiten müssen.<br />

Mein zweiter Vorschlag hat ein ähnliches Gefälle. Ich denke an „Patenschaften“<br />

zwischen Schulen und Kirchengemeinden, vielleicht auch zwischen<br />

Religionslehrer/innen und Pfarrer/innen. Sie können aus den besagten<br />

gemeinsamen Veranstaltungen herauswachsen, vielleicht auch von den „Schul- und<br />

Bildungsreferaten“ vermittelt werden. Innerhalb dieser Patenschaften können<br />

Projekte <strong>der</strong> Zusammenarbeit angebahnt werden; die tragenden Personen können<br />

sich wechselseitig beraten: Pfarrer/innen können die Tätigkeit <strong>der</strong> RL schulkritisch<br />

spiegeln; Religionslehrer/innen können Pfarrer/innen etwa im KU didaktisch beraten.<br />

Diese Art <strong>der</strong> Begegnung könnte außerordentlich hilfreich sein, um <strong>der</strong><br />

wechselseitigen Entfremdung und <strong>der</strong> Versäulung <strong>der</strong> Arbeitsfel<strong>der</strong> zu wehren.<br />

4.3. Der Versäulung (hier Schule – dort Gemeinde) wehren<br />

Die Idee <strong>der</strong> Patenschaften weist auf eine Schwierigkeit im Verhältnis von Schule<br />

und Kirche hin, die ich als grundsätzliche empfinde: die recht hermetische Trennung<br />

zwischen den Schul- bzw. Bildungsbezogenen Teilen kirchlicher Arbeit und den<br />

klassisch-gemeindebezogenen, von vielen noch immer als „eigentlich“ wichtigsten<br />

empfundenen!<br />

Um zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zumindest zu mil<strong>der</strong>n, dass schulische und gemeindliche<br />

Arbeit weiterhin so unverbunden nebeneinan<strong>der</strong> stehen, um also <strong>der</strong> Versäulung zu<br />

29 Feige/Tzscheetzsch 2005 (s.o. Anm.28), 66.<br />

30 Feige/Tzscheetzsch 2005 (s.o. Anm. 28), 112; vgl. 67.


- 74 -<br />

wehren, gilt es Pfarrer/innen die Scheu vor schulbezogener Arbeit zu nehmen – und<br />

umgekehrt: den Religionslehrer/innen die Scheu vor gemeindlicher Arbeit!<br />

Fraglos setzt dies Begegnungen voraus, zudem Akzentverschiebungen in <strong>der</strong><br />

Ausbildung bei<strong>der</strong> Berufsgruppen, die jeweils auch Seitenblicke auf das Berufsprofil<br />

<strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en Seite enthalten sollte, doch ich meine: Auch eine<br />

Umstrukturierung einer kirchlichen Einrichtung, nämlich <strong>der</strong> Schulreferate könnte hier<br />

hilfreich sein.<br />

In <strong>der</strong> Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden aus <strong>der</strong> Absicht <strong>der</strong> Kirche,<br />

Brücken zur Lehrerschaft zu schlagen, 31 könnten sie nun auch die komplementäre<br />

Seiten dieses Brückenschlags in ihren Aufgabenkatalog aufnehmen: die Verbindung<br />

<strong>der</strong> Religionslehrer/innen mit den Gemeinden und die gemeinsame, wechselseitig<br />

kritisch-konstruktive Bearbeitung pädagogischer Herausfor<strong>der</strong>ungen in Schule und<br />

Gemeinde!<br />

Heißen bisher nur die einschlägigen beratenden Ausschüsse <strong>der</strong> Kirchenkreise in <strong>der</strong><br />

Regel „Ausschuss für Schul- und Bildungsfragen“ (Beispiel: <strong>der</strong> ABS <strong>der</strong><br />

Kirchenkreise Ottweiler, Saarbrücken und Völklingen), so scheint es mir sinnvoll auch<br />

die Schulreferate fortan als Schul- und Bildungsreferate zu benennen und<br />

auszugestalten – im KK Herford ist dies schon geschehen („Referat für pädagogische<br />

Handlungsfel<strong>der</strong> in Schule und Kirche“ 32 ) und dem Vernehmen nach sind durchaus<br />

die erhofften positiven Vernetzungseffekte eingetreten.<br />

Was bedeutet diese Umbenennung in <strong>der</strong> Sache? Über die Schulreferate sollten<br />

auch gemeindepädagogische Fragen transportiert werden; zu ihrem Auftrag sollte<br />

neben religionsdidaktischer Fortbildung auch die Organisation<br />

gemeindepädagogischer Fort- und Weiterbildungen gehören; sie sollten nicht zuletzt<br />

Veranstaltungen organisieren und Themen als gemeinsame bewusst machen, die<br />

sowohl für Religionslehrer/innen als auch für Pfarrer/innen relevant sind: etwa solche<br />

zur Nachbarschaft von Schule und Gemeinde, etwa solche zu Fragen <strong>der</strong><br />

Jugendseelsorge, etwa solche zur subjektorientierten Didaktik, etwa solche zur<br />

Alltagsbedeutung von Religion usw.<br />

Die Schulreferate sind prinzipiell zur Bearbeitung dieser Doppelaufgabe in <strong>der</strong> Lage,<br />

weil ja im Allgemeinen Pfarrer/innen das Amt des Schulreferenten ausfüllen, die<br />

beides kennen: Schule und Kirchengemeinde. In <strong>der</strong> Regel wird dies eine<br />

Ausweitung des Stellenbudgets <strong>der</strong> Schulreferate erfor<strong>der</strong>n; doch ich meine, <strong>der</strong> zu<br />

erhoffende Ertrag würde dies rechtfertigen. Zumindest sollte <strong>der</strong>gleichen in einigen<br />

Kirchenkreisen modellhaft erprobt werden.<br />

4.4. Lebensrückhalt für christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule werden - Gottesdienst für<br />

Schülerinnen und Schüler einladend gestalten<br />

Schließlich: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im Religionsunterricht nützt<br />

nichts, wenn sie nicht an den Orten gelebter christlicher Religion, in den<br />

Kirchengemeinden wie<strong>der</strong>zuentdecken ist, Verstärkung und anregende Anschauung<br />

findet. „Eine lebendige Kirche ist <strong>der</strong> Lebensrückhalt des Religionsunterrichts“ 33 – so<br />

31 Vgl. dazu für den Bereich <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong> Hinweise bei Alfred Kessler: Schule, Religionsunterricht und<br />

Kirchlicher Unterricht im Wandel, Bielefeld 2000, passim; einige wenige Hinweise zum Bereich <strong>der</strong><br />

EKiR und zu Schulreferaten allgemein bei Jürgen Frank: Zum Profil kirchlicher Bildungsverantwortung<br />

[anlässlich des 60-jährigen Jubiläums <strong>der</strong> Benennung von Schulreferenten in <strong>der</strong> EKiR], s.<br />

www.schulreferat.info (Notiz in „Schule und Kirche. Informationen zu Bildungs- und Erziehungsfragen“<br />

<strong>2006</strong>, Heft 1, 27).<br />

32 Siehe www.schulreferat-herford.de.<br />

33 Friedrichroda 1997. Bericht über die erste Tagung <strong>der</strong> neunten Synode <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland vom 22. bis 25. Mai 1997, Hannover 1997, 243-250, hier 249f. (Punkt 12).


- 75 -<br />

hat es die EKD in einer „Kundgebung zum Religionsunterricht“ 1997 formuliert – und<br />

dieser Satz gilt erst recht im Blick auf christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des<br />

RU.<br />

An diesem Lebensrückhalt hapert es indes seit langem vor allem in einem<br />

bestimmten, für christliche Religion konstitutiven Bereich: im Bereich <strong>der</strong> Feier des<br />

Gottesdienstes. Trotz verschiedener, mehr o<strong>der</strong> weniger tiefgreifen<strong>der</strong><br />

Reformideen 34 nehmen am Gottesdienst von Gemeinden kaum Jugendliche und<br />

junge Erwachsene teil. Gerade die sonntäglichen Gottesdienste in Gemeinden sind<br />

weitgehend gleichbleibende, traditionsgeleitete Veranstaltungen für „Eingeweihte“,<br />

für erwachsene Gemeindeglie<strong>der</strong>.<br />

Bedenkt man Gottesdienste aus <strong>der</strong> Perspektive evangelischer<br />

Bildungsverantwortung ist dies ein bedenklicher Zustand: Jugendliche partizipieren<br />

kaum am zentralen Vollzug gemeindlichen Lebens; Gottesdienste finden ohne<br />

personale Einbettung allein in <strong>der</strong> räumlichen Mitte <strong>der</strong> Gemeinde statt; ihre<br />

Funktion, die Kommunikation des Evangeliums in ritueller Gestalt wird kaum mehr<br />

wahrnehmbar. 35<br />

Dabei kommt Gottesdiensten mit Jugendlichen, zur Not auch nur für sie, nicht<br />

allein gemeindebildende, son<strong>der</strong>n bildende Funktion schlechthin zu. Gottesdienst<br />

gibt – um eine Formulierung Peter Biehls verfremdend aufzunehmen – zu lernen.<br />

Und: Gottesdienst zu gestalten, sich in einen Gottesdienst einzufinden, ist ein<br />

„Lernprozess“ (Dieter Trautwein), konstitutiv für christliche Religion.<br />

Solche Gottesdienste erfor<strong>der</strong>n die Flexibilisierung <strong>der</strong> Gottesdienstzeiten<br />

(Schulgottesdienst, Schulentlassfeier, Osternacht u.a.), die Variation <strong>der</strong> liturgischen<br />

Formen (Partizipation, Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> Sprache und Elemente, Variation <strong>der</strong><br />

Predigt u.a.), die pointiertere Versprechung von Evangelium und Alltag (Sprache mit<br />

gegenwartsbezogenen Bil<strong>der</strong>n, Themen- statt Textorientierung u.a.).<br />

Hier ist in <strong>der</strong> Tat ein „Ruck“ nötig in <strong>der</strong> Kirche, doch zweierlei ermutigt hier zu<br />

forschem Vorgehen: Die „Orientierung an Jugendlichen kommt allen<br />

Gottesdienstteilnehmern zugute.“ 36 Und: Der Kin<strong>der</strong>gottesdienst, in seiner heutigen<br />

Form aus einer ähnlichen Krisis erwachsen, ist ein sehr erfolgreiches Modell – seit<br />

langem schon nehmen, relativ gesehen zur Zahl kindlicher Kirchenmitglie<strong>der</strong>, mehr<br />

Kin<strong>der</strong> an Gottesdiensten teil als Erwachsene! 37<br />

5. Was die Schule tut, tun darf und gewinnen kann, wenn sie christliche<br />

Präsenz im und außerhalb des RU stärkt<br />

Die Schule ist kein Sachwalter <strong>der</strong> Kirche – sie soll es auch nicht werden.<br />

Dennoch hat sie das Recht und auch ein Interesse daran, christliche Präsenz in <strong>der</strong><br />

Schule zu stärken – ebenso wie sie das Recht hat und Interesse daran haben<br />

könnte, die Präsenz an<strong>der</strong>er signifikanter Religionen, etwa des Islam, in <strong>der</strong> Schule<br />

zu stärken. Rechtlich gesehen bewegt sie sich gegenüber allen Religionen in<br />

34 Exemplarisch genannt seien Hans-Martin Lübking (Hg.): Gottesdienst für Jugendliche, 6 Bände,<br />

Düsseldorf 1996-2001, und Timo Rieg/Christoph Urban (Hg.): Jugendgottesdiesnt 2.0, Bochum 2001,<br />

und Timo Rieg (Hg.): Jugendgottesdienste Powerpack: 40 Komplettentwürfe für die Gestaltung von<br />

Gottesdiensten, Andachten und Events mit Jugendlichen, Bochum 2003.<br />

35 Zur Analyse vgl. beson<strong>der</strong>s Christian Grethlein: Gottesdienst ohne Jugendliche?! Texte aus <strong>der</strong><br />

VELKD 92/1999; zudem Mechthild Bangert: Jugendliche und Gottesdienst, in: Christian<br />

Grethlein/Günter Ruddat (Hg.): Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 176-193.<br />

36 Hans Martin Lübking: Vorwort, in: <strong>der</strong>s. (Hg.): Gottesdienst für Jugendliche, Perikopenreihe 1,<br />

Düsseldorf 1996, 4-6, hier 5.<br />

37 Vgl. Christian Grethlein: Grundfragen <strong>der</strong> Liturgik, Gütersloh 2001, 284-292, hier 291 (allerdings<br />

ohne aktuelle empirische Daten).


- 76 -<br />

Äquidistanz bzw. mit gleicher Offenheit für die Ausgestaltung positiver<br />

Religionsfreiheit!<br />

- De facto mag das bisweilen an<strong>der</strong>s wirken, weil sich keine an<strong>der</strong>e Religion in<br />

Deutschland anheischig macht, in eben solcher Qualität und institutioneller<br />

Uneigennützigkeit mit Schule zu kooperieren und Bildungsmitverantwortung<br />

wahrzunehmen. Ein Islam etwa, <strong>der</strong> dies täte und von seinen theologischen<br />

und kulturellen Voraussetzungen tun könnte, ist durchaus wünschenswert,<br />

aber m.E. noch nicht zu erkennen. Doch das faktische Ungleichgewicht än<strong>der</strong>t<br />

nichts daran, dass – rechtlich gesehen – alle Religionen (die bestimmte<br />

rechtliche Voraussetzungen als Körperschaft des öffentlichen Rechts erfüllen)<br />

in gleicher Weise präsent sein könnten.<br />

- Noch spielt die christliche Religion in <strong>der</strong> Schule eine außerordentlich wichtige<br />

Rolle – eine Rolle, die sich etwa in <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Schule als christliche<br />

Gemeinschaftsschule Ausdruck verschafft. Die so verstandene Schule, darauf<br />

machen Juristen aufmerksam, dient nicht <strong>der</strong> „institutionellen Sicherung“ <strong>der</strong><br />

Kirchenzugehörigkeit, son<strong>der</strong>n ist Ausdruck des Elternwillens und <strong>der</strong><br />

tatsächlich christlichen Mehrheit <strong>der</strong> Schulangehörigen.<br />

Die christliche Gemeinschaftsschule „kann nur den Rahmen bilden dafür, daß sich die soziale<br />

Umwelt des Kindes dort, wo sie von Glaubenshaltung geprägt ist, auch in <strong>der</strong> Schule<br />

Beachtung verschaffen darf. Daher wird die Schule stets nur so christlich sein, wie es Lehrer<br />

und Schüler [sowie Eltern] sind ...“. Die Charakterisierung von Schulen als christliche<br />

Gemeinschaftsschule trägt also dem Prae <strong>der</strong> elterlichen Erziehungsverantwortung und <strong>der</strong><br />

Sozialisationsfunktion von Schule Rechnung. „Ein Mehr, insbeson<strong>der</strong>e eine institutionelle<br />

Verpflichtung <strong>der</strong> Lehrer und des Lehrstoffs auf die ‘gemeinsamen Grundlagen <strong>der</strong><br />

Christlichen Bekenntnisse’ würde <strong>der</strong> freiheitlichen Ordnung <strong>der</strong> Verfassung [und dem<br />

Toleranzgebot, das innerhalb einer für alle Schüler alternativlosen Schule gelten muß]<br />

wi<strong>der</strong>streiten.“ 38<br />

Die christliche Gemeinschaftsschule, das ist ebenfalls entscheidend wichtig,<br />

legt keineswegs „Lehrinhalte und Erziehungsziel ... auf ein<br />

Glaubenschristentum fest“. „Die Bejahung des Christentums bezieht sich<br />

[vielmehr] in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und<br />

Bildungsfaktors, nicht auf die Glaubenswahrheit und ist damit ... auch<br />

gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen<br />

Kulturkreises gerechtfertigt.“ Dies ist eine Schlüsselformulierung: Nicht <strong>der</strong><br />

christliche Glaube, son<strong>der</strong>n das Christentum als kultureller Prägefaktor wird<br />

mit <strong>der</strong> Rede von <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaftsschule zur Grundlage <strong>der</strong><br />

Schule erklärt. Genau aus diesem Grund impliziert die Christlichkeit <strong>der</strong><br />

Gemeinschaftsschule nicht eine missionarische Haltung gegenüber Nicht-<br />

Christen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en „Isolierung“. 39<br />

Kurz: Eine Schule, die sich christlicher Präsenz öffnet, wird keineswegs zu einer<br />

kirchlichen Schule; sie trägt damit lediglich <strong>der</strong> Religionsfreiheit, <strong>der</strong> positiven<br />

Religionsfreiheit (Art. 4.2 GG – Recht auf „ungestörte Religionsausübung“), und dem<br />

Elternrecht (Art. 6.2 GG) Rechnung. Dabei ist sie zugleich an den Schutz an<strong>der</strong>er<br />

Rechtsgüter gebunden, namentlich an die Achtung <strong>der</strong> negativen Religionsfreiheit<br />

(Art. 4.1 GG). In <strong>der</strong> Praxis heißt dies: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule ist ein<br />

38 Zitate aus Christoph Link: Art.: Bekenntnisschule III., in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart /<br />

Berlin 2., vollständig neubearb. A. 1975, 164-170, hier 167.<br />

39 Zitate aus dem Beschluß des BVerfG vom 17. Dezember 1975, dokumentiert in: Entscheidungen<br />

des Bundesverfassungsgerichts 41 (1976), 29-64, hier 56.62 und 64.


- 77 -<br />

Angebot – nicht mehr, aber auch nicht weniger – dessen Annahme o<strong>der</strong><br />

Nichtannahme in jedem Fall freiwillig bleiben muss.<br />

Soviel an dieser Stelle zum Recht <strong>der</strong> Schule, christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule zu<br />

stärken. Warum aber kann und sollte sie ein Interesse daran haben?<br />

Weil sie ein Interesse an ganzheitlicher, die Person betreffen<strong>der</strong> Bildung (hier: unter<br />

Einschluss von Sinn- und Wertfragen) hat.<br />

Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Unterstützung bestimmter sozialer Überzeugungen und<br />

Verhaltensmuster hat, <strong>der</strong>en Verbreitung durch christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule<br />

zwar nicht intendiert, de facto aber geleistet wird (hier etwa: altruistisches<br />

Engagement, soziale Verbindlichkeit, ästhetisches Interesse).<br />

Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Stärkung und Stabilisierung <strong>der</strong> einzelnen Schülerinnen<br />

und Schüler (hier: seelsorglich-gottesdienstlich-jugendbegleitende Zuwendung) hat.<br />

Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Einbindung von Schule in das Gemeinwesen und seine<br />

<strong>Institut</strong>ionen (hier: die Kirche) hat.<br />

Und weil sie ein Interesse daran hat, dass Schüler wie Lehrer sich bewusst halten,<br />

dass sie von Voraussetzungen leben, die sie nicht selbst geschaffen haben, dass<br />

menschliche Leistung und gesellschaftlich-schulische Wertsetzungen nicht<br />

verabsolutiert werden dürfen. Wenn man so will: Der Schule liegt an christlicher<br />

Präsenz um ihrer Selbstbegrenzung willen. Religion tut Not um pädagogischer<br />

Selbstbescheidung willen (genauer: um die regulative Idee pädagogischer<br />

Selbstbescheidung institutionell präsent zu halten). 40<br />

Diese Selbstbescheidung als regulative Idee tut Not angesichts <strong>der</strong> Wertvorstellungen, die in den<br />

aktuell favorisierten Reformvorschlägen wirksam werden: „Entfaltung von Individualität“ und<br />

Verantwortung (NRW, Zukunft <strong>der</strong> Bildung – Schule <strong>der</strong> Zukunft), Selbständigkeit und Effizienz (Heinz<br />

Klippert) 41 , vor allem aber Leistungsfähigkeit und Elitebildung und nicht zuletzt Sozialisation in die<br />

Konkurrenzgesellschaft (Schulzeitverkürzung). Evangelisches Bildungsverständnis, das im RU ebenso<br />

wie in christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule Ausdruck finden soll, hält demgegenüber bewusst: „Im<br />

Prozeß <strong>der</strong> Bildung geht es ... um den Prozeß <strong>der</strong> Subjektwerdung des Menschen in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

als ein ständiges Freilegen seiner ihm gewährten Möglichkeiten. Diesem Prozeß bleibt das<br />

Personsein als Grund <strong>der</strong> menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung stets voraus. Subjekt muß <strong>der</strong><br />

Mensch im Prozeß seiner Bildung erst werden. Person ist er immer schon“ 42 – daraufhin gilt es die<br />

Schule zu optimieren, nicht zuerst und allein auf die effiziente Organisation hin.<br />

6. Was Religionslehrer/innen tun und weiterhin tun sollten um <strong>der</strong> christlichen<br />

Präsenz im und außerhalb des RU willen<br />

Keine Angst: Keineswegs schwebt mir vor, dass die Religionslehrerinnen und -lehrer<br />

„christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule“ gänzlich selbst in die Hand nehmen und nun auch<br />

diese Aufgabe noch schultern. Sie können und sollen alles dies nicht selber<br />

„machen“. Was sie selber sollten, ist nach meiner Meinung Folgendes:<br />

- Sie sollten den Religionsunterricht nicht unter Wert verkaufen, d.h. sich nicht<br />

scheuen, existentielle Fragen anzusprechen, den Platz daseins- und<br />

40 Diesen Gedanken stellt Karl Ernst Nipkow dar, um das Interesse des Staates am RU in <strong>der</strong> Schule<br />

zu begründen; vgl. <strong>der</strong>s.: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh (1990) 2.<br />

durchges. A. 1992, 436f.<br />

41 Heinz Klippert: Pädagogische Schulentwicklung, Weinheim/Basel 2000.<br />

42 Peter Biehl: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und das Problem <strong>der</strong> Bildung. Zur Neufassung<br />

des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer Perspektive, in: <strong>der</strong>s.: Erfahrung, Glaube und Bildung,<br />

Gütersloh 1991, 124-223, hier 156.


- 78 -<br />

wertorientieren<strong>der</strong> Fragen im Unterricht und die Grenzen ihrer unterrichtlichen<br />

Behandlung ausdrücklich markieren, auch durchaus über den Unterricht<br />

hinaus in den Raum und auf die Notwendigkeit gelebter Religion verweisen.<br />

- Sie können besser als niemand sonst im Blick auf christliche Präsenz in <strong>der</strong><br />

Schule Handlungsbedarf identifizieren, ggf. entsprechende Angebote<br />

anstoßen und im Kollegium begründen, Kontakt aufnehmen zu Menschen, die<br />

hier hilfreich sein können. Sie können umgekehrt so gut wie niemand an<strong>der</strong>s<br />

sonst schulexternen Trägern christlich-religiöser Elemente des Schullebens<br />

beratend zur Seite stehen, ihre Angebote zu koordinieren und zu vertreten,<br />

o<strong>der</strong> – zumindest – nicht skeptisch-abweisend reagieren, wenn eine<br />

Kirchengemeinde, ein Zweig <strong>der</strong> evangelischen/katholischen Jugendarbeit<br />

o<strong>der</strong> eine Caritas o<strong>der</strong> ein Diakonisches Werk einschlägige Aktivitäten<br />

anbietet. Sie als Religionslehrer/innen sind de facto die leibhaftigen<br />

„Schnittstellen“, Mittler zwischen Schule und Gemeinde – und ich bitte Sie,<br />

diese Aufgabe als Ihre zu erkennen.<br />

- Und auch Sie können wie die kirchlichen Mitarbeiter/innen „dran bleiben“ am<br />

Know-how für christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule: Kin<strong>der</strong>- und jugendgerechte<br />

Gottesdienste, Seelsorge an Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, Formen<br />

sozialpädagogischer Arbeit gehören nicht zum originären Kompetenzbereich<br />

von Religionslehrerinnen und -lehrern, wohl aber in den Horizont schul- und<br />

religionspädagogischer Arbeit. Angesichts dessen, dass Liturgik, Poimenik<br />

und z.T. auch Sozialpädagogik ihrerseits beachtliche Scheu vor<br />

schulbezogenen Fragen haben, können Sie sich bereits durch die bloße<br />

beharrliche Frage nach Gottesdienst, Seelsorge und Sozialarbeit mit<br />

Schüler/inne/n große Verdienste erwerben.<br />

Damit komme ich zum Schluss:<br />

Wenn Schule mehr sein soll als Unterricht, gerade auch im Bereich <strong>der</strong> Religion,<br />

dann erfor<strong>der</strong>t dies Mut. Nicht je<strong>der</strong> und jede im Kollegium wird Ihr Engagement<br />

gutheißen, die meisten werden Sie vielmehr kritisch beäugen und kommentieren.<br />

Auch die Schülerinnen und Schüler werden Ihnen – je nach Schulform – nicht<br />

unbedingt um den Hals fallen. Deshalb erfor<strong>der</strong>n einzelne Schritte den Mut, sich als<br />

Repräsentant christlicher Religion in Anspruch nehmen zu lassen, und zugleich den<br />

Mut zum Experiment. Aber beides lohnt sich – denn es wird vielen Schülerinnen und<br />

Schülern christliche Religion von einer bisher unbekannten Seite zeigen, wird in<br />

ihnen vielleicht bisher stumme Saiten zum Klingen bringen, wird ihnen hoffentlich zu<br />

<strong>der</strong> Erfahrung verhelfen, dass christliche Religion keine weltfremde Angelegenheit<br />

ist, son<strong>der</strong>n ihrem Leben dienen will.<br />

Theologisch wie pädagogisch ist es jedenfalls an <strong>der</strong> Zeit nach Spuren Gottes im<br />

Alltag <strong>der</strong> Schule, in unserer zwar „religionsproduktiven“ (Joachim Höhn), aber<br />

glaubenssubversiven Lebenswelt zu suchen.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


79<br />

Schulprofil – und Faktoren seiner Entwicklung<br />

Schulprogramm Schulentwicklung Schulautonomie Lehrer/innenbildung<br />

Pädagogische Dimension<br />

von Schulreform<br />

Organisatorische Dimension<br />

von Schulreform<br />

<strong>Institut</strong>ionelle Dimension<br />

von Schulreform<br />

Personale Dimension von<br />

Schulreform<br />

Betr. Unterricht und<br />

außerunterrichtliches<br />

Schulleben, insbeson<strong>der</strong>e<br />

schulische Bildungsangebote<br />

an Schüler/innen, Eltern und<br />

ggf. Öffentlichkeit<br />

Betr. interne Arbeitsabläufe<br />

von Kollegium und<br />

Schulleitung, konzeptionelle<br />

Arbeit und Evaluation<br />

Betr. Verwaltung von<br />

Sachmitteln und Personal<br />

Betr. Qualifikation, Fortbildung,<br />

Arbeit am pädagogischen Ethos<br />

und persönliche Begleitung<br />

(Wertschätzung, Beratung,<br />

Unterstützung) <strong>der</strong> Lehrerinnen<br />

und Lehrer


80<br />

CHRISTLICHE PRÄSENZ IN DER SCHULE NICHT ALLEIN IN RELIGIONSUNTERRICHT – EINE ÜBERSICHT<br />

UNTERRICHTSBE-<br />

ZOGENE PROJEKTE<br />

SCHULGOTTESDIENST SCHULSEELSORGE SCHULSOZIALARBEIT SCHULNAHE JUGENDARBEIT<br />

TRÄGER DES<br />

ANGEBOTS<br />

Unterrichtsförmiges,<br />

didaktisch<br />

reflektiertes Handeln<br />

Liturgisches Handeln<br />

Individuellberatendes<br />

Handeln<br />

För<strong>der</strong>ung / Hilfe für<br />

sozial benachteiligte<br />

Einzelne o<strong>der</strong> Gruppen<br />

Freizeitangebote während bzw.<br />

nach <strong>der</strong> Schule<br />

VON DER<br />

SCHULE<br />

INITIIERTE<br />

UND<br />

GETRAGENE<br />

ANGEBOTE<br />

Fächerübergreifend<br />

e Projekte zu<br />

Aspekten von<br />

Religion (etwa mit<br />

Kunst, Geschichte,<br />

Biologie u.a.)<br />

- „Jesus“ in <strong>der</strong><br />

Kunst,<br />

- Kirchengeschichte<br />

<strong>der</strong> Region,<br />

- Naturwissenschaft<br />

und Glaube<br />

Stilleübungen (im<br />

Rahmen des RU)<br />

„Frühschicht“ / 10<br />

Minuten für Gott<br />

Raum <strong>der</strong> Stille /<br />

Schulkapelle<br />

Gospel-Chor<br />

Kummerkasten<br />

Schülermentoren<br />

Seelsorge-<br />

Sprechstunde<br />

Nachmittagsbetreuung /<br />

Hausaufgabenhilfe<br />

Mediation/<br />

Streitschlichtung<br />

Schulbuchbörse<br />

Schülercafé<br />

Filmreihe (Religion im Film)<br />

Schulpartnerschaften/<br />

Schüleraustausch, in denen<br />

Religion Thema werden kann<br />

(etwa mit Schulen in <strong>der</strong> Türkei<br />

o<strong>der</strong> Israel)<br />

VON DER<br />

KIRCHE<br />

GETRAGENE<br />

ANGEBOTE<br />

Kirchraumpädagogik<br />

Kirchliches Angebot<br />

(Evangelische<br />

Kontaktstunde)<br />

Schulgottesdienst<br />

„Sieben Wochen ohne“<br />

Jugendkirche<br />

Scheidungsgruppe<br />

Tage religiöser<br />

Orientierung /<br />

religiöse<br />

Schulwoche<br />

Mädchentreff /<br />

Jungentreff<br />

Beratung/Hilfe in<br />

Notlagen durch<br />

Diakonisches Werk<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit in<br />

schulnahen Räumen<br />

„Freizeiten“ mit spirituellem Akzent<br />

(z.B. Taizé, Jugend-Camp)<br />

Thematische Projekttage in<br />

Zeitnischen <strong>der</strong> Schule<br />

(bewegliche Ferientage)


Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />

Wie gut sind evangelische Schulen?<br />

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Präses Alfred Buß<br />

Predigt über 2. Korinther 3, 17<br />

Text: 2. Korinther 3,17<br />

Der Herr ist Geist. Wo aber <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.<br />

Anrede<br />

Habt Ihr’s nicht eine Nummer kleiner, möchte man sagen: Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn<br />

ist, da ist Freiheit. Kriegen wir denn diese Brücke im Alltag überhaupt gebaut: Schule<br />

und Freiheit und Geist des Herrn?<br />

Schule und Freiheit, daraus wird ein Reim in Schulfrei, Hitzefrei – Ferien: also in<br />

Freiheit von Schule; im Losgelassen-werden von schulischer Verpflichtung; wenn<br />

man über seine Zeit selber bestimmen kann. Das sehen wohl beide so – Lehrerinnen<br />

und Lehrer wie Schülerinnen und Schüler.<br />

Und Geist? Was meint das? Spirit? Esprit? Geht das zusammen: Schulalltag und<br />

Esprit? O<strong>der</strong> trifft die amerikanische Wendung eher das, was wir bei Schule<br />

empfinden: Ain’t gotten no spirit?<br />

I<br />

Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit - wie mit einem Fanfarenstoß setzte<br />

Paulus den Menschen in Korinth den neuen Ton des Evangeliums ins Ohr. Der hohe<br />

Ton <strong>der</strong> Freiheit ist bis heute ungebrochen Wer von Freiheit redet, kann auf<br />

Zustimmung hoffen: Freiheit ist das einzige, was zählt – Freiheit ist das einzige, was<br />

fehlt sang Marius Müller Westernhagen.<br />

Wer lässt sich heute noch etwas vormachen o<strong>der</strong> vorschreiben? Was ich denke und<br />

glaube, das bestimme doch ich. Schülerinnen und Schülern ist das längst<br />

selbstverständlich. Jugendliche sind überall dabei, sie selbst zu werden, nicht nur<br />

hier in Westfalen. Sie sind unterwegs auf <strong>der</strong> Reise zum Ich. Früh morgens will es<br />

noch nicht recht gelingen. „Ich muß erst zu mir selbst kommen“, sagt schläfrig die<br />

heranwachsende Tochter/ <strong>der</strong> heranwachsende Sohn. Aber wann ist ein Mensch bei<br />

sich selbst? Er braucht dafür den Morgen und den Abend, die ganze Woche, das<br />

Jahr, bei Lichte besehen: das ganze Leben. Nie gab es so viele Optionen, das Ich zu<br />

füttern wie für diese Generation. Du darfst säuselt es allerorten. Was für dich richtig<br />

ist, das entscheidest du ganz individuell. Traditionen und <strong>Institut</strong>ionen verlieren an<br />

Bedeutung. Nur auf den rasanten Wandel ist Verlass.<br />

Wo aber geht die Reise hin, was ist das Ziel? Verän<strong>der</strong>n wir heute mehr und<br />

schneller, als wir beherrschen können - wie Zauberlehrlinge ohne Zauberspruch? Wir<br />

spornen unsere Kin<strong>der</strong> an, im Fortschritt mitzuhalten; wer aber lehrt sie das<br />

Schritthalten? Wo sind die Marksteine <strong>der</strong> Erinnerung, <strong>der</strong> Vergewisserung, <strong>der</strong><br />

Besinnung? Ja, über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Was ist<br />

das für eine Freiheit, die wir hierzulande leben? Grenzenlos, atemlos, besinnungslos.<br />

Auch geistlos?<br />

II<br />

Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, eine Wan<strong>der</strong>gruppe mit Spitzensportlern<br />

und Behin<strong>der</strong>ten bei Nebel durch unwegsames Gelände zu führen, und zwar so,<br />

dass alle bei bester Laune möglichst gleichzeitig an drei unterschiedlichen Zielorten


- 98 -<br />

ankommen. Dieses Bild benennt kurz und knapp Überfor<strong>der</strong>ung. An Lehrer richten<br />

sich die unterschiedlichsten Erwartungen von Schülern, Eltern, Wirtschaft,<br />

Gesellschaft und Politik. Überfor<strong>der</strong>ung lähmt. Überfor<strong>der</strong>ung zieht nach unten.<br />

Überfor<strong>der</strong>ung geht Menschen auf den Geist. Ain’t gotten no spirit.<br />

Mich hat Schule auch überfor<strong>der</strong>t. Ich habe in meiner Schulkarriere hautnah erlebt,<br />

was Auslesen statt För<strong>der</strong>n bedeutet. Mit 10 Jahren kam ich aufs Gymnasium, vom –<br />

auch sprachlich-platten Land in eine Klasse mit Jungen nur aus <strong>der</strong> Stadt. Hast Du<br />

Schiss?, fragte mich einer. Ich wusste nicht zu antworten, kannte ich den Ausdruck<br />

doch nicht. Überfor<strong>der</strong>ung verschlägt einem im Wortsinn die Sprache. Sie ist dann<br />

nicht mehr bunt und vielgestaltig. Es gilt nur noch, irgendwie user und server<br />

aufeinan<strong>der</strong> zu justieren, um den Code zu entschlüsseln. Dabei schrumpft <strong>der</strong> Geist<br />

bis zur Unkenntlichkeit. Eine wahrhaft gut erfundene Geschichte mag diesen<br />

Zusammenhang illustrieren: Ein Sprachcomputer soll den Satz: Der Geist ist willig,<br />

aber das Fleisch ist schwach zuerst ins Russische und dann zurück ins Deutsche<br />

übersetzen. Das Ergebnis lautet: Der Schnaps ist gut, aber das Fleisch taugt nichts.<br />

Geist verkommt zum Spiritus, zum Sprit. Bis heute kann ich den Geist von Schule<br />

riechen, wenn man mich mit verbundenen Augen hineinführt. Ich rieche und<br />

assoziiere dann das Althochdeutsche geist, nie<strong>der</strong>ländisch geest, englisch ghost von<br />

<strong>der</strong> Wurzel gheis = aufgebracht sein, schau<strong>der</strong>n, erschrecken. Der Geist wird zum<br />

Gespenst.<br />

Wie kommt das – nicht nur sprachlich – überfor<strong>der</strong>te Ich dann noch zu sich selbst?<br />

Wohl nur durch Ichsteigerung. Je<strong>der</strong> Mensch hat doch die Freiheit, etwas aus sich zu<br />

machen. Es scheint doch auf <strong>der</strong> Hand zu liegen, dass ein Menschen das ist, was er<br />

aus sich macht. Man sagt, Freiheit erschöpfe sich in <strong>der</strong> Sorge des Menschen um<br />

sich selbst und man sei dann am Ziel, wenn man es im Leben möglichst weit<br />

gebracht hat. Je<strong>der</strong> ist seines Glückes Schmied. Wer frei sein will, muss bereit sein,<br />

an<strong>der</strong>e Menschen auszunutzen. Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich.<br />

Nur ich denk an mich. Man kann das sagen und schöner noch singen, sogar im<br />

Kanon, so dass ein Wohlklang daraus wird. Aber den Wi<strong>der</strong>spruch singt man nicht<br />

weg. Kein Mensch kann von sich aus sprechen. Er muss zuvor hören. Kein Mensch<br />

kann von sich aus lieben, er muss zuvor geliebt werden. Kein Mensch kann von sich<br />

aus vertrauen, er muss zuvor Vertrauen erfahren. Es überfor<strong>der</strong>t jeden Menschen,<br />

wenn er sich nur um sich selbst drehen, und dabei ein eigenes Ich werden soll.<br />

Was gehört dazu, ein Ich zu werden?<br />

III<br />

Der Herr ist Geist. Geist - hebräisch ruach; griechisch pneuma - hat in <strong>der</strong> Bibel viele<br />

Bedeutungen, nur eine nicht: es heißt dort nie Gespenst. Aber: ruach hat die<br />

Bedeutung Wind, Atem, Geist, Leben, Charisma, Antriebskraft, Energie, Dynamik,<br />

Vitalität...<br />

Beim Propheten Ezechiel befindet sich ein bemerkenswerter Satz (Ez. 1,28b; 2,1f)<br />

Und ich hörte eine Stimme, sprechend. Und sie sprach zu mir: Menschenkind, stell<br />

dich auf deine Füße, ich will mit dir reden! Da kam ruach in mich (Geist, Wind, Atem,<br />

Lebenskraft) und sie (die ruach) stellte mich auf meine Füße, und ich hörte, was er<br />

zu mir sprach.<br />

Wer o<strong>der</strong> was stellt Ezechiel hier auf seine Füße? Er sich selbst? Er hört ja: Stell dich<br />

auf deine Füße. O<strong>der</strong> etwas, das von außen in ihn hin einkommt? Da kam ruach in


- 99 -<br />

mich und stellte mich auf meine Füße. Wer ist Subjekt? Wer tut etwas und mit wem<br />

geschieht etwas? Es bleibt offen, was einer tut und was ihm geschieht. Diese<br />

sprachliche Unschärfe ist wohl so gewollt, die Ungenauigkeit ist Ausdruck höchster<br />

Genauigkeit, stellt <strong>der</strong> Bochumer Alttestamentler Jürgen Ebach zu dieser Stelle fest.<br />

Es bleibt unscharf, was ein Mensch tut und was ihm wi<strong>der</strong>fährt, wenn Gottes Geist<br />

am Werk ist. Wir kennen das auch aus <strong>der</strong> Umgangssprache: Meine Lebensgeister<br />

kehrten zurück, sagen wir o<strong>der</strong> Meine Lebensgeister erwachten wie<strong>der</strong>. Wo Gottes<br />

Geist weht, kommt Leben in uns und die Lebensgeister kehren zurück. Es bedarf<br />

mehr als des Ich, das um sich selber kreist, um zum Ich zu werden, um im Vollsinn<br />

Ich sagen zu können. Das Ich bedarf einer von außen kommenden Kraft, bedarf <strong>der</strong><br />

Kommunikation, <strong>der</strong> Beziehung. Allein auf sich selbst bezogen ist <strong>der</strong> Mensch<br />

eingekrümmt in sich selbst, incurvatus in se ipsum – so definiert Luther Sünde.<br />

Freiheit aber ist ein Geschenk. Freiheit kommt aus Anerkennung. Schon in <strong>der</strong> Taufe<br />

wurde uns gesagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ein<br />

Mensch hat Wert und Würde allein, weil er da ist. Unabhängig von dem, was ein<br />

Mensch aus sich macht, hat er als Person eine unverrechenbare Würde. Wo Gottes<br />

Geist weht, erfahren wir Anerkennung und die weckt unsere Lebensgeister. Gottes<br />

Geist befreit zum Leben. Das Geschenk ist die tiefe Lebensgewissheit, dass wir viel<br />

mehr sind als das, was wir leisten o<strong>der</strong> anrichten. Das Geschenk ist ein getröstetes<br />

Herz. Wo <strong>der</strong> Geist Gottes weht, da kann ein Mensch aufatmen und durchatmen.<br />

Wirklich Ich sagen können ist immer mehr als nur Ich sagen: Ein eigener Mensch<br />

sein können, bedeutet, das Entscheidende empfangen zu haben und immer wie<strong>der</strong><br />

neu zu empfangen. Das schenkt eine unglaubliche Freiheit.<br />

IV<br />

Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Aber we<strong>der</strong> über den Geist des Herrn<br />

noch über die Freiheit können wir einfach verfügen. Wir können sie nicht mitnehmen,<br />

im Pult aufgewahren und jeden Tag ein Stückchen davon abschneiden. Wir leben<br />

von Grundlagen, die uns nicht einfach zur Verfügung stehen. Aber wir können dem<br />

Geist des Herrn Raum geben, damit sein frischer Wind bei uns wehen kann. Wie ihm<br />

Raum geben? Indem wir unter uns eine Mitte frei lassen für Gott; in je<strong>der</strong> Schule zum<br />

Beispiel eine Mitte frei räumen für Gott. Freiheit und Gemeinschaft wachsen dort, wo<br />

es einen Sinn für das Heilige gibt. Aus dieser Mitte wächst eine Freiheit aus Bindung<br />

und eben keine Beliebigkeit. Sie wurzelt in Gott.<br />

Diese Freiheit aus Bindung an Gott führt in die Verantwortung für an<strong>der</strong>e. Wie ein<br />

frischer Luftzug in stickiger Luft befreit sie Menschen. Es ist eine Befreiung, wenn<br />

Menschen selber schreiben, lesen und rechnen können, wenn Menschen sich in <strong>der</strong><br />

Welt orientieren und an<strong>der</strong>en Orientierung geben können. Bildung ist die Grundlage<br />

für die Freiheit, sich in Gesellschaft und Beruf einzubringen. Hingegen wird keine<br />

noch so reformfreudige Schule bei Jugendlichen fruchten, wenn sie in<br />

Arbeitslosigkeit mündet, in <strong>der</strong> Botschaft also: ihr werdet nicht gebraucht. Kein<br />

Mensch darf wegen seiner Herkunft in <strong>der</strong> Entwicklung behin<strong>der</strong>t werden. Darum<br />

setzt <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Freiheit uns an die Arbeit, Menschen durch Bildung von Fesseln<br />

zu befreien.<br />

Nein, wir haben es nicht eine Nummer kleiner: Schule, Freiheit und <strong>der</strong> Geist des<br />

Herrn gehören ganz eng zusammen.<br />

Mit den Worten von Hans Dieter Hüsch:<br />

Wie oft hat er uns verlassen


- 100 -<br />

<strong>der</strong> Heilige Geist,<br />

das heißt eigentlich<br />

wir haben ihn verlassen;<br />

wie oft hat er es uns schwer gemacht,<br />

das heißt, wir haben es ihm schwer gemacht;<br />

und es gibt ja auch Tage bei uns,<br />

wo wir ihn wirklich nicht spüren mit unserem kleinen<br />

Menschenglauben,<br />

wo wir ihn uns jedes Mal aufs Neue erfühlen müssen<br />

und glücklich sind,<br />

wenn das Schwere plötzlich in uns abfällt<br />

und <strong>der</strong> Geist<br />

hier in uns und bei uns ist und Probleme sich aus dem<br />

Staub machen und die Menschen wie<strong>der</strong><br />

anfangen zu lächeln.<br />

Ja, wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!<br />

Amen.

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