Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
Lehrertag 2006 - Pädagogisches Institut der EKvW
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Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort 1<br />
Programmübersicht 2<br />
Präses Alfred Buß<br />
Begrüßungsansprache 3<br />
Ministerin Barbara Sommer<br />
Grußwort 5<br />
Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />
Bilden als Beruf – Lehrer sein in evangelischer Perspektive 8<br />
Prof. Dr. Werner Helsper<br />
Verän<strong>der</strong>te Jugend – verän<strong>der</strong>te Schule:<br />
Aufgaben und Herausfor<strong>der</strong>ungen für den Lehrer(innen)beruf 20<br />
Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />
Religiöse Individualität und Christusbekenntnis.<br />
Theologische und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht 46<br />
Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong>:<br />
Schule mit Profil –<br />
christliche Präsenz (in <strong>der</strong> Schule) nicht allein im Religionsunterricht 58<br />
Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />
Wie gut sind evangelische Schulen? 79<br />
Präses Alfred Buß<br />
Predigt über 2. Korinther 3, 17 95<br />
Verzeichnis <strong>der</strong> Autorinnen und Autoren 99
- 2 -<br />
Vorwort<br />
Erstmals fand am 10. März <strong>2006</strong> in Dortmund ein „Tag für Lehrerinnen und Lehrer in<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Kirche von Westfalen“ statt. Unter dem Motto „Wo <strong>der</strong> Geist des<br />
Herrn ist, da ist Freiheit“ trafen sich mehr als tausend Pädagogen und an<strong>der</strong>e an<br />
Bildung, Schule und Erziehung Interessierte, um in acht thematisch unterschiedlichen<br />
Foren, zahlreichen Workshops und auf einem Markt <strong>der</strong> Möglichkeiten über<br />
grundlegende Fragen von Religion und Bildung nachzudenken und sich über Schule,<br />
Erziehung und Beratung zu informieren. Es war eine Art „Bildungskirchentag“, <strong>der</strong><br />
den beson<strong>der</strong>en Stellenwert von Schule und Bildung für die Evangelische Kirche<br />
zum Ausdruck brachte, und zugleich ein Tag <strong>der</strong> Wertschätzung für die Arbeit <strong>der</strong><br />
Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Dass dieses Zeichen von den<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch so verstanden wurde, zeigt das überaus<br />
positive Echo, das <strong>der</strong> erste „<strong>Lehrertag</strong>“ ausgelöst hat:<br />
• „So viel Anerkennung, das tut mal richtig gut.“<br />
• „Allein die Tatsache, dass jede und je<strong>der</strong> spürte: Unserer Arbeit wird ein hoher<br />
Stellenwert beigemessen, sie ist in aller Unvollkommenheit wichtig! ermutigte und<br />
schenkte neues Selbstvertrauen.“<br />
• „Ich fand die Initiative für einen solchen Tag echt toll und hoffe, dass er wie<strong>der</strong>holt<br />
wird.“<br />
Deutlich wurde <strong>der</strong> Wunsch geäußert, dass diese Veranstaltung kein einmaliges<br />
Ereignis bleiben dürfe und in absehbarer Zeit wie<strong>der</strong>holt werden sollte.<br />
Voraussichtlich wird es im Jahr 2009 daher einen zweiten <strong>Lehrertag</strong> geben.<br />
Zugleich wurde von vielen Teilnehmenden, die am 10. März <strong>2006</strong> in Dortmund dabei<br />
waren, auch <strong>der</strong> Wunsch geäußert, ihnen den Eröffnungsvortrag von Bischof Huber,<br />
die Ansprachen von Präses Buß und einige Hauptvorträge aus den Foren in Form<br />
einer Dokumentation zugänglich zu machen. Dieser Bitte kommen wir hiermit nach.<br />
Wir verbinden damit die Hoffnung, dass die Anstöße und Anregungen des Tages in<br />
den Schulen und Gemeinden weiterwirken. Gern dürfen Sie zu diesem Zweck die<br />
Beiträge dieses Heftes vervielfältigen und an<strong>der</strong>en Interessierten zugänglich<br />
machen. Selbstverständlich können Sie auch weitere Exemplare dieser<br />
Dokumentation im Pädagogischen <strong>Institut</strong> anfor<strong>der</strong>n.<br />
Für den Vorbereitungskreis<br />
des ersten „<strong>Lehrertag</strong>es“<br />
Direktor des Pädagogischen <strong>Institut</strong>s
- 3 -<br />
09.30 Uhr Auftaktveranstaltung in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />
Präses Alfred Buß<br />
Ministerin Barbara Sommer<br />
10.00 Uhr Hauptvortrag<br />
„Bilden als Beruf.“<br />
Lehrersein in evangelischer Perspektive<br />
Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />
11.00 Uh Foren und Workshops<br />
• Schule im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
• Lehrerberuf heute<br />
Prof. Dr. Werner Helsper<br />
• Religionsunterricht<br />
Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />
• Schule und Kirchengemeinde<br />
Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong><br />
• Schule – Gottesdienst – Spiritualität – Seelsorge<br />
• Evangelische Schulen<br />
Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />
• Herausfor<strong>der</strong>ung Schule und Erziehung<br />
• Evangelisches Bildungsverständnis<br />
Markt <strong>der</strong> Möglichkeiten<br />
14.00 Uhr Dichterlesung in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />
„Mit dem Wort am Leben hängen.<br />
Prosa und Gedichte aus vierzig Jahren“<br />
Reiner Kunze<br />
16.30 Uhr Schlussgottesdienst in <strong>der</strong> St. Reinoldikirche<br />
„Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“<br />
Präses Alfred Buß
- 4 -<br />
Präses Alfred Buß<br />
Begrüßungsansprache<br />
„Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ Mit diesem Wort des Paulus aus<br />
dem 2. Brief an die Korinther (Kapitel 2,Vers 17) begrüße ich Sie alle ganz herzlich<br />
und heiße Sie in <strong>der</strong> Reinoldikirche willkommen. Wir haben Sie, die in Westfalen<br />
lebenden und arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer eingeladen, um mit Ihnen<br />
gemeinsam über Ihren Beruf nachzudenken, Sorgen und Probleme anzusprechen,<br />
aber auch Visionen für die Zukunft <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler zu entwerfen,<br />
Hoffnung zu wecken und über den engeren Bereich <strong>der</strong> Schulspezialisten hinaus<br />
eine größere Öffentlichkeit um Wertschätzung Ihrer alltäglichen Arbeit in den Schulen<br />
zu bitten. Als veranstaltende <strong>EKvW</strong> werden wir dabei von <strong>der</strong> Mitte unseres<br />
Glaubens aus argumentieren, für die das Symbol des Kreuzes steht. Vom Kreuz her<br />
wie<strong>der</strong>holen wir nicht einfach das, was ohnehin alle denken. Das Kreuz ist für uns<br />
das Zeichen, dass <strong>der</strong> Schöpfer <strong>der</strong> Welt sich auf die Nie<strong>der</strong>ungen unserer<br />
menschlichen Verhältnisse eingelassen hat und einlässt. Insofern verweist das Motto<br />
„Kreuz und Quer“ auf eine Grundstruktur unseres Redens und Handelns und hält<br />
uns zugleich offen für überraschende, in <strong>der</strong> Freiheit des Geistes begründete und<br />
sich neu einstellende Einsichten und Erfahrungen an diesem Tag und in unserem<br />
weiteren beruflichen und persönlichen Leben.<br />
Mehr als zuvor müssen wir um <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen und damit um <strong>der</strong><br />
Zukunft unserer Gesellschaft willen Bildung als Zentralaufgabe begreifen. In dieser<br />
von Kohleför<strong>der</strong>ung und Stahlproduktion geprägten Region lagen die Schätze lange<br />
Zeit vor allem unter <strong>der</strong> Erde. Heute aber gilt es viel mehr, die Begabungen von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu entdecken, zu för<strong>der</strong>n, zu entwickeln und wachsen zu<br />
lassen, als weiter nach verborgenen Schätzen unter <strong>der</strong> Erde zu suchen.<br />
Das Bewusstsein um die Notwendigkeit von Bildungsreformen und um vermehrter<br />
Anstrengungen für eine höhere Bildungsqualität in allen Bereichen <strong>der</strong> schulischen<br />
und beruflichen Bildung eint die Menschen in diesem Land über Parteigrenzen und<br />
konfessionelle religiöse Prägungen hinweg. Frau Ministerin, Ihre Regierung weiß,<br />
dass die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Menschen im Land Vorfahrt für Bildung<br />
wünscht. Ihre Regierung soll auch wissen, dass sie dabei die volle Unterstützung <strong>der</strong><br />
Evangelischen Kirche erfährt. Wir würdigen ausdrücklich Anstrengungen und<br />
finanzielle Aufwendungen, die Ihre Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit<br />
unternommen hat. Wir sind allerdings auch davon überzeugt, dass Bildung ohne<br />
hervorragend ausgebildete, ohne sich immer neu fortbildende, ohne bestens<br />
motivierte, ohne begeisterte Lehrerinnen und Lehrer nicht gelingen kann. Keine<br />
Schule wird bei Kin<strong>der</strong>n fruchten, wenn die Lehrerinnen o<strong>der</strong> Lehrer ohne Esprit<br />
unterrichten o<strong>der</strong> gar an <strong>der</strong> Aufgabe verzagen. Ohne den Impetus <strong>der</strong> Lehrerinnen<br />
und Lehrer wird jede Reform im Bildungs- und Schulsystem scheitern.<br />
Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, brauchen für Ihre Arbeit, Unterstützung, Stärkung,<br />
Ermutigung, wenn sich die Qualität von Schulen und des alltäglichen Unterrichts<br />
wirklich verbessern soll und wenn wir dann auch im internationalen Vergleich wie<strong>der</strong><br />
bessere Ergebnisse erzielen wollen.<br />
Dabei ist natürlich auch auf Zahlen zu achten: auf die Zahl <strong>der</strong> Lehrerinnen und<br />
Lehrer insgesamt, auf die Zahl <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler in einer Klasse, auf die<br />
Zahl <strong>der</strong> Pflichtstunden für Lehrer und für Schüler, auf die tatsächlich erteilten und
- 5 -<br />
auf die wirklich ausgefallenen Stunden, auf die Bezahlung von Lehrerinnen und<br />
Lehrern, – und sicher ist auch auf den Umgang mit Zahlen im Unterricht selbst Wert<br />
zu legen, also auf die Fertigkeiten des Rechnens und <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />
Kompetenzen im weiteren Sinn, auch auf die Zahl <strong>der</strong><br />
gelesenen Texte und Bücher und die Menge des erworbenen Wissens sowie das<br />
messbare Niveau <strong>der</strong> erreichten Standards in den sprachlich-literarischen und<br />
historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereichen. Der verantwortliche<br />
Umgang mit Zahlen und Buchstaben ist überall selbstverständlich notwendig, wo<br />
Schule funktionieren soll.<br />
Aber auch bestens funktionierende Schulen degenerieren zu seelenlosen<br />
Lernfabriken, wenn in ihnen nicht begeisterte Lehrerinnen und Lehrer wirken, die<br />
selber nach Orientierung fragen und Schülern Orientierung geben wollen. Sie, meine<br />
sehr verehrten Damen und Herren in den Lehrerzimmern und Klassenräumen<br />
unserer Schulen, in den Hochschulen und Ausbildungsseminaren und in den<br />
Schulbehörden, haben die Chance und Möglichkeit, Schulen als „Häuser des<br />
Lebens und Lernens“ zu gestalten, wie es eine Denkschrift zur Schule <strong>der</strong> Zukunft<br />
vor einigen Jahren formuliert hat. Um diese Chance wahrnehmen zu können,<br />
brauchen Sie die Unterstützung <strong>der</strong> Politik, die Mitarbeit <strong>der</strong> Eltern, die Solidarität <strong>der</strong><br />
ganzen Gesellschaft. Wir hoffen, dass Sie nach diesem Tag heute mit Rückenwind in<br />
die Schulen zurückkehren.<br />
Der Ratsvorsitzende <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Professor Dr.<br />
Wolfgang Huber, wird gleich aus evangelischer Perspektive über das Lehrersein<br />
sprechen: „Bilden als Beruf“. Über das weitere Programm des Tages sind Sie<br />
informiert. Ich danke allen, wirklich allen, die diesen Tag engagiert vorbereitet haben<br />
und durchführen. Ich begrüße die Schülerinnen und Schüler, die heute gekommen<br />
sind, die big-band des Sö<strong>der</strong>blom-Gymnasiums Espelkamp, die heute hier<br />
vertretenen Eltern. Und nicht zuletzt begrüße ich sehr herzlich alle Lehrerinnen und<br />
Lehrer. Schön, dass Sie alle da sind!<br />
Und dann freuen wir uns auf den exemplarischen Beitrag von Reiner Kunze, <strong>der</strong> ja<br />
nicht nur „schön“ schreiben und reden kann, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> es so häufig verstanden hat<br />
in den vergangenen Jahrzehnten, uns Deutschen in Ost und West mit seiner Prosa<br />
und mit seinen Gedichten neue Achtsamkeit, neuen Mut, neue Lebenszuversicht zu<br />
„vermitteln“ – o<strong>der</strong> darf ich sagen: „einzuhauchen“? Damit sind wir wie<strong>der</strong> bei dem<br />
Leitwort dieses Tages und bei dem Geist, von dem Paulus schreibt. Ausdrücklich<br />
werden wir darauf im Gottesdienst zum Abschluss des Tages hier in <strong>der</strong><br />
Reinoldikirche Bezug nehmen. Uns allen wünsche ich, dass ein Hauch des Geistes<br />
und <strong>der</strong> Freiheit des Glaubens diesen ganzen Tag durchzieht – und dass wir etwas<br />
von diesem Durchzug und frischen Wind zu spüren bekommen.
- 6 -<br />
Ministerin Barbara Sommer<br />
Grußwort<br />
In <strong>der</strong> DDR wurde jedes Jahr am 12. Juni <strong>der</strong> „Tag des Lehrers“ gefeiert; an diesem<br />
Tag wurde <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Leistungen <strong>der</strong> Lehrenden gedacht und vorbildliche<br />
Pädagogen wurden ausgezeichnet. Ich will nun wirklich nicht <strong>der</strong>artige Ehrungen<br />
fortsetzen. Die heutige Veranstaltung heißt ja auch „Tag für Lehrerinnen und Lehrer“<br />
und sie ist natürlich nicht sozialistisch ausgerichtet.<br />
Dennoch glaube ich, dass es sinnvoll ist, wenn <strong>der</strong> heutige Tag nicht nur <strong>der</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zukünftigen Anfor<strong>der</strong>ungen dient, son<strong>der</strong>n auch als Tag des<br />
Dankes und <strong>der</strong> Anerkennung für die schwierige Arbeit gesehen wird. Wir wollen<br />
nicht einzelne beson<strong>der</strong>s hervorheben, son<strong>der</strong>n allen Dank sagen und ihnen die<br />
gebührende Anerkennung zollen für die schwierige Arbeit, die sie jeden Tag leisten.<br />
Das öffentliche Bild <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> des Lehrers hat sich gottlob deutlich<br />
gewandelt: Es liegt zwar in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Sache, dass sich Schülerinnen und Schüler<br />
immer einmal wie<strong>der</strong> über ihre Lehrer ärgern – das ist ja umgekehrt auch so. Bei aller<br />
Kritik wird aber doch zunehmend die hohe Verantwortung und die Schwierigkeit <strong>der</strong><br />
Arbeit anerkannt. Denn nicht umsonst sagen viele: Lehrer möchte ich nicht sein. Sie<br />
sehen zu Recht die Belastungen und den Stress des Lehrerberufs. Ich habe den<br />
Eindruck: Das wird auch von einer breiten Öffentlichkeit inzwischen gesehen! Und<br />
diesen Wandel finde ich höchst überfällig!<br />
Die romantisierende Verklärung <strong>der</strong> Lehrer aus <strong>der</strong> Feuerzangenbowle ist <strong>der</strong><br />
Einsicht gewichen, dass nur eine hohe Professionalität <strong>der</strong> Lehrkräfte eine tragfähige<br />
Bildung und Ausbildung <strong>der</strong> jungen Menschen sichert.<br />
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfüllen Ihre Aufgaben mit hohem Engagement<br />
und persönlichen Einsatz. Das ist mir sehr wohl bewusst und ich weiß, dass das<br />
auch den meisten Eltern und den meisten Schülerinnen und Schülern deutlich ist.<br />
Deshalb nutze ich gerne die Gelegenheit, um Ihnen Dank und Anerkennung<br />
auszusprechen.<br />
Die verschiedenen Arbeitsgruppen des heutigen Tages zeigen, wie vielfältig die<br />
neuen Aufgaben- und Problemstellungen sind, denen wir uns gemeinsam – Schule<br />
und Ministerium – zu stellen haben. Aber ich denke, die Breite <strong>der</strong><br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen zeigt, wie sehr wir mit unserer Arbeit in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
und <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklung stehen. Sie macht auch deutlich, dass wir<br />
diese Entwicklung mitgestalten und mitgestalten müssen – im Interesse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendlichen und im Interesse einer zukunftsfähigen Gesellschaft.<br />
Sie wissen: Mir geht es in allererster Linie darum,<br />
o wie wir unsere Kin<strong>der</strong> angemessen zum Lernen herausfor<strong>der</strong>n und sie för<strong>der</strong>n<br />
können,<br />
o wie wir sie in die Lage versetzen, ihre jeweilige Zukunft zu meistern,<br />
o wie wir ihre Talente för<strong>der</strong>n, ihre Stärken entwickeln,<br />
und<br />
o ihre Schwächen vermin<strong>der</strong>n können.<br />
Der Ausgangspunkt meiner Politik ist es, das Wohl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen als<br />
Maßstab aller Dinge zu betrachten.
- 7 -<br />
Ich lasse mich dabei leiten von einem christlichen Menschenbild, das jeden<br />
Einzelnen als einzigartiges Individuum von Gott geschaffen – und zwar so und nicht<br />
an<strong>der</strong>s geschaffen – sieht:<br />
So wie je<strong>der</strong> Einzelne ausgestattet ist mit Talenten, Fähigkeiten und Fertigkeiten, tritt<br />
er uns als Schüler o<strong>der</strong> als Schülerin entgegen. So haben wir sie o<strong>der</strong> ihn<br />
anzunehmen. Daran haben wir unser pädagogisches Bemühen auszurichten.<br />
Leitbild ist deshalb nicht eine idealisierte, quasi abstrakte Persönlichkeit, die es<br />
anzustreben gilt, son<strong>der</strong>n die umfassende För<strong>der</strong>ung des Einzelnen zu seinem<br />
Besten.<br />
Ich sehe in <strong>der</strong> Verschiedenartigkeit <strong>der</strong> Menschen, und gerade auch <strong>der</strong> jungen<br />
Menschen, ein hohes Gut: Eines, das „den Menschen ausmacht“, den wir<br />
aufzunehmen und zu för<strong>der</strong>n haben.<br />
Mein Ziel ist <strong>der</strong> begabungsgerechte Unterricht. Nur er wird die Talente unserer<br />
Kin<strong>der</strong> entdecken, entwickeln und entfalten. Nur er wird dem einzelnen Kind gerecht<br />
werden. Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Schule meint deshalb nicht eine gleichmacherische,<br />
systembezogene Gerechtigkeit: Sie fragt vielmehr danach, was dem einzelnen Kind<br />
gerecht wird.<br />
Von großer Bedeutung ist für mich weiter die früher selbstverständliche Verbindung<br />
zwischen Bildung und Erziehung.<br />
Diese Selbstverständlichkeit scheinen wir heute nicht mehr so klar im Blick zu haben.<br />
Wir sehen unsere heutige Welt viel mehr von „Sachlogiken“,<br />
„Globalisierungserfor<strong>der</strong>nissen“ o<strong>der</strong> ökonomischer Rationalität geprägt als von <strong>der</strong><br />
christlichen Grundüberzeugung. Wettbewerbsdenken und Effizienzsteigerung<br />
scheinen sich zu den Götzen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaften entwickelt zu<br />
haben, an denen sich Alles und Je<strong>der</strong> ununterbrochen auszurichten hat.<br />
Dem will ich entschieden entgegen treten.<br />
Nicht, weil ich die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft nicht erkenne, son<strong>der</strong>n<br />
weil ich <strong>der</strong> Überzeugung bin, dass eine Gesellschaft und auch eine Ökonomie <strong>der</strong><br />
Zukunft ohne Menschen mit Bildung nicht lebensfähig und natürlich auch nicht<br />
lebenswert ist. Denn nur Bildung, die den ganzen Menschen im Blick hat, erlaubt die<br />
Einordnung von Gelerntem o<strong>der</strong> erlaubt die Bewertung von Behauptungen und kann<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen gerechtfertigt erscheinen lassen. Und aus dieser Sichtweise ergibt<br />
sich auch <strong>der</strong>en ökonomische Bedeutung: Reflexion und Kritik sind Grundelemente<br />
einer freien und wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaft.<br />
Wir wollen das Erziehungsthema wie<strong>der</strong> in das Licht <strong>der</strong> Öffentlichkeit rücken: Aber<br />
natürlich nicht mit simplen Rezepten wie sie in Fernsehsendungen wie „Super<br />
Nanny“ präsentiert wurden, son<strong>der</strong>n differenzierter, kindgerechter und damit letztlich<br />
auch zum Wohle <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Gleichzeitig gilt, dass wir die schulische Erziehungsarbeit nicht als zusätzliche<br />
Aufgabe verstehen dürfen, son<strong>der</strong>n als wesentlichen Bestandteil des Lehrerberufs.
- 8 -<br />
Es ist und bleibt eine falsche Sicht auf die Dinge, wenn Lehrkräfte sagen, sie seien<br />
Chemiker o<strong>der</strong> Mathematiker o<strong>der</strong> Germanisten! Sie unterrichten nicht Fächer,<br />
son<strong>der</strong>n Kin<strong>der</strong>!<br />
Sie sind vor allem an<strong>der</strong>en Lehrkräfte und För<strong>der</strong>er – und auch For<strong>der</strong>er – <strong>der</strong><br />
Schülerinnen und Schüler! Sie sind als Menschen und als Fachleute Vorbil<strong>der</strong> für die<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen. Sie sind als fachkundige und pädagogisch ausgebildete<br />
Erwachsene Begleiter und auch Korrektiv kindlicher o<strong>der</strong> jugendlicher Entwicklung.<br />
Allerdings: Sie sind nicht unfehlbar. Ihre fachliche und menschliche Kritikbereitschaft<br />
muss gepaart sein mit ihrer Bereitschaft zu angemessener Selbstreflexion und<br />
Selbstkritik.<br />
Ich weiß, dass Lehrer heute noch viel zu oft als Einzelkämpfer agieren – und so den<br />
Erfolg ihrer Klasse, vielmehr aber noch den Misserfolg <strong>der</strong> Klasse als eigenes<br />
Verdienst o<strong>der</strong> eben eigenes Versagen erleben.<br />
Wir sollten vielmehr die Chancen nutzen, die im konstruktiven kollegialen Austausch,<br />
in <strong>der</strong> gegenseitigen Beratung und Hilfestellung liegen.<br />
Der heutige Tag kann, nein: er soll dazu beitragen. Im Meinungsaustausch, im<br />
gegenseitigen Befragen und im gegenseitigen Erkennen können wir erfahren, 'nicht<br />
allein gelassen zu sein', wie es Präses Buß in seinem Einleitungswort geschrieben<br />
hat.<br />
Ihm und allen Organisatoren dieser Veranstaltung will ich bereits im Voraus danken.<br />
Ich wünsche uns allen einen anregenden, wirklich gemeinsamen Tag, aus dem wir<br />
mit neuer Kraft und neuer Stärke hervorgehen!
- 9 -<br />
Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber<br />
Bilden als Beruf – Lehrer sein in evangelischer Perspektive<br />
I.<br />
„Bilden als Beruf“ – damit verbinden sich für jeden und jede von Ihnen sehr<br />
unterschiedliche Assoziationen, Erfahrungen und Haltungen. Die Internet-<br />
Suchmaschine „Google“ findet bei einer Eingabe des Stichwortes „Lehrerbildung“<br />
immerhin über 2,2 Millionen Verweise. Aber trotz <strong>der</strong> Fülle: scheinbar ist klar, was mit<br />
Lehrersein und Lehrerbildung gemeint ist. Die Kultusministerkonferenz hat im Jahr<br />
2004 Standards für die Lehrerbildung verabschiedet, in denen sie die folgenden, von<br />
<strong>der</strong> Kultusministerkonferenz und den Lehrerverbänden gemeinsam formulierten Ziele<br />
aufgreift:<br />
1. Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen. Ihre<br />
Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete<br />
Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre<br />
individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von<br />
Lehrkräften entscheidet sich an <strong>der</strong> Qualität ihres Unterrichts.<br />
2. Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass die Erziehungsaufgabe in <strong>der</strong><br />
Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist. Dies gelingt umso<br />
besser, je enger die Zusammenarbeit mit den Eltern gestaltet wird. Beide Seiten<br />
müssen sich verständigen und gemeinsam bereit sein, konstruktive Lösungen zu<br />
finden, wenn es zu Erziehungsproblemen kommt o<strong>der</strong> Lernprozesse misslingen.<br />
3. Lehrerinnen und Lehrer üben ihre Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im<br />
Unterricht und bei <strong>der</strong> Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und<br />
Berufswege kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst aus. Dafür sind hohe<br />
pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften<br />
erfor<strong>der</strong>lich.<br />
4. Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen<br />
wie in an<strong>der</strong>en Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen<br />
Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu<br />
berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer Kontakte zu<br />
außerschulischen <strong>Institut</strong>ionen sowie zur Arbeitswelt generell pflegen.<br />
5. Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an <strong>der</strong> Schulentwicklung, an <strong>der</strong><br />
Gestaltung einer lernför<strong>der</strong>lichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas.<br />
Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an internen und externen<br />
Evaluationen.<br />
Diese Punkte beschreiben einen sehr weiten Horizont gelingenden Lehrer-Seins und<br />
beruflicher Professionalität. Der Alltag von Lehrkräften sieht dagegen oft an<strong>der</strong>s aus:<br />
Durch das schlechte Abschneiden bei internationalen Vergleichsstudien lastet auf<br />
Schule und Lehrern ein immenser öffentlicher und politischer Druck. Reformen im<br />
Schuljahrestakt verän<strong>der</strong>n die Arbeitsbedingungen tiefgreifend. Einerseits werden<br />
Stundenzahlen und Klassengrößen erhöht, Aufgaben durch Schul-, Unterrichts-, und<br />
Programmentwicklung erweitert und Lehrkräfte auf differenzierte För<strong>der</strong>maßnahmen<br />
und Vergleichsarbeiten, Evaluation und Kontrolle verpflichtet. An<strong>der</strong>erseits werden<br />
finanzielle Ressourcen vermin<strong>der</strong>t und Gehälter gekürzt.
- 10 -<br />
Die Karikatur des Lehrerberufs als des am besten bezahlten Halbtagsjobs <strong>der</strong><br />
Republik sollte schon lange überholt sein, im Bild <strong>der</strong> Lehrer in <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist<br />
sie nicht selten noch virulent. Lehrerhasser machen sie zur Projektionsfläche eigener<br />
Aggressionen. Das könnte vielleicht durchaus auch Anlass für einen Karikaturenstreit<br />
sein, <strong>der</strong> dann freilich ganz an<strong>der</strong>s durchzufechten wäre als <strong>der</strong> Karikaturenstreit,<br />
den wir gegenwärtig erleben.<br />
Vielleicht liegt auch in einem verbreiteten Mangel an Anerkennung und<br />
Wertschätzung für den Beruf <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers einer <strong>der</strong> Gründe für das<br />
mäßige deutsche Abschneiden bei den PISA-Untersuchungen. Im PISA-Wun<strong>der</strong>land<br />
Finnland beispielsweise verfügt <strong>der</strong> Lehrerberuf über höchste gesellschaftliche<br />
Anerkennung. Demgemäß sind es oft die Besten und Fähigsten eines Jahrgangs, die<br />
Lehrer werden.<br />
Neben den Schwierigkeiten, die sich aus einen Mangel an gesellschaftlicher Achtung<br />
und Unterstützung dieses Berufs ergeben, stehen die Lehrkräfte vor großen<br />
pädagogischen Herausfor<strong>der</strong>ungen, von denen ich einige nennen will.<br />
- Lernverhalten und Lernbedingungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler verän<strong>der</strong>n sich,<br />
vor allem unter dem Einfluss von Medien und neuen Technologien.<br />
- Das Sozialverhalten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler ist im Umbruch. Zu nennen sind<br />
beispielsweise Defizite in <strong>der</strong> Bereitschaft und Fähigkeit zu Kommunikation und<br />
Verständigung sowie mangelnde Toleranzbereitschaft und fehlende<br />
Umgangsformen.<br />
- Viele Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erleben Krisen, die durch familiäre Umbrüche<br />
verursacht sind.<br />
- Gesamtgesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierungs- und Globalisierungsprozesse wirken<br />
sich verunsichernd auf Orientierung und Verhalten Jugendlicher aus; das verbindet<br />
sich oft mit einem Rückgang <strong>der</strong> Anstrengungsbereitschaft, weil Jugendliche daran<br />
zweifeln, dass diese Anstrengung für irgend etwas nütze ist.<br />
- Verschärfte wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausleseprozesse vermin<strong>der</strong>n die<br />
künftigen beruflichen Chancen vieler Kin<strong>der</strong> und Jugendlicher und begünstigen<br />
konkurrenzorientierte Verhaltensweisen.<br />
Auf dem Hintergrund <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Bedingungen ist es verständlich, dass ein<br />
Aktionsplakat <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland große<br />
Resonanz fand, auf dem es heißt:<br />
Als Lehrer, als Lehrerin möchte ich eigentlich:<br />
- jedem einzelnen Schüler helfen – und muss ihn doch wie ein Achtundzwanzigstel<br />
Klasse behandeln,<br />
- Freude an <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> Schule haben – und empfinde sie so häufig als Last,<br />
- den Schülern wirklich Partner sein – und muss doch laufend die Autorität<br />
herausspielen,<br />
- jeden Schüler ermutigen, bestärken, loben – und kritisiere, schimpfe, drohe, strafe<br />
jeden Tag,
- 11 -<br />
- Zeit haben für die Schüler, für ihre Probleme, Hoffnungen, Wünsche – und lasse<br />
mich doch von meinen Stoffplänen hetzen,<br />
- gerade die schwächeren Schüler för<strong>der</strong>n – und finde mich damit ab, dass sie<br />
schwach begabt sind,<br />
- von Kollegen lernen – und bin froh, wenn sie aus meinem Unterricht bleiben,<br />
- meine Disziplinprobleme mit den Kollegen besprechen – und fürchte ihr Urteil,<br />
- die ganze Schule pädagogisch auf den Kopf stellen – und resigniere vor<br />
Klassenstärken, Zensuren, Erlassen,<br />
- politisch mithelfen die Schule schülergerechter zu machen – und zögere vor jedem<br />
vollen Engagement,<br />
- Erfolge sehen, durch sie Bestätigung, Lob erfahren – und spüre laufend<br />
Misserfolge, Versagen, Scheitern,<br />
- mit den Eltern eng zusammenarbeiten – und habe doch Angst vor <strong>der</strong>en<br />
Überheblichkeit, Gleichgültigkeit, Verallgemeinerung, Besserwisser-Ratschlägen,<br />
Anspruch, Überfor<strong>der</strong>ung, vor meiner Angst vor ihnen.<br />
In <strong>der</strong> Spannung zwischen gefor<strong>der</strong>ten Rahmenbedingungen und dem kritischen<br />
Blick auf die tatsächlichen, gesellschaftlichen wie persönlichen Möglichkeiten suchen<br />
wir eine evangelische Perspektive auf das Lehrer-Sein unter <strong>der</strong> Überschrift: Bilden<br />
als Beruf.<br />
II.<br />
Wenn wir im emphatischen Sinn von einem Beruf sprechen, dann reden wir von einer<br />
Schlüsselaufgabe, die sich einer Gesellschaft im Ganzen stellt. Politik beispielsweise<br />
ist ein Beruf nicht so sehr <strong>der</strong> Politiker, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft. Erst von<br />
hier aus treten die beson<strong>der</strong>en Aufgaben <strong>der</strong>er in den Blick, die Politik zu ihrem Beruf<br />
machen. So haben wir es 1985 in <strong>der</strong> Demokratie-Denkschrift <strong>der</strong> EKD formuliert und<br />
im vergangenen Jahr bekräftigt. Recht ist ein Lebenselement <strong>der</strong> ganzen<br />
Gesellschaft. Deshalb gehört die Verantwortung für das Recht ebenso zu den<br />
gesellschaftlichen Schlüsselaufgaben wie diejenige für Gesundheit. Die<br />
Verkündigung des Evangeliums ist das Anliegen <strong>der</strong> ganzen christlichen Kirche;<br />
wegen dieses ihres gemeinsamen Berufs legt sie sich fest auf den Schlüsselberuf<br />
<strong>der</strong> Pfarrerin und des Pfarrers.<br />
Bilden ist in einem ganz herausgehobenen Sinn ein Beruf <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft.<br />
Eine Gesellschaft, <strong>der</strong>en Bildungsprozesse verkümmern, verkümmert selbst. Eine<br />
Gesellschaft, die vergisst, dass die professionellen Bildungsberufe stellvertretend für<br />
sie im Ganzen wahrgenommen werden, ist eine selbstvergessene Gesellschaft. Eine<br />
Gesellschaft, die meint, sie könne sich ihren eigenen Bildungsaufgaben durch<br />
Delegation auf die Lehrerinnen und Lehrer entledigen, genügt den<br />
Minimalbedingungen einer verantwortlichen Gesellschaft nicht.<br />
Die Evangelische Kirche setzt sich dafür ein, dass Bildung als gesellschaftliches<br />
Schlüsselthema wie<strong>der</strong> ernst genommen wird. Dabei leiten uns fünf entscheidende<br />
Grundannahmen:<br />
1) Wir gehen von einem subjektorientierten Bildungsverständnis aus. Menschen sind<br />
Subjekte ihres Bildungsprozesses, nicht nur Objekte <strong>der</strong> Bildungsanstrengungen<br />
an<strong>der</strong>er.
- 12 -<br />
2) Wir gehen von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis aus.<br />
Orientierungswissen ist so wichtig wie Verfügungswissen, Glaubenswissen braucht in<br />
allen Bildungsvorgängen seinen Ort.<br />
3) Wir gehen von <strong>der</strong> Vorstellung lebenslangen Lernens aus. Bildung prägt die<br />
menschliche Biographie im Ganzen.<br />
4) Wir gehen von einem gerechtigkeitsorientieren Ansatz von Bildung aus. Wir finden<br />
uns nicht damit ab, dass Bildungsferne sich vererbt. Dieser Ansatz prägt unser<br />
Engagement in den eigenen kirchlichen Bildungseinrichtungen ebenso wie unser<br />
Engagement im staatlichen Bildungswesen.<br />
5) Wir orientieren uns am Leitbild einer gottoffenen Humanität. Der Sinn für die<br />
unantastbare Würde des Menschen und <strong>der</strong> Sinn für die Wirklichkeit Gottes gehören<br />
in unserem Verständnis zusammen. Verwurzelung in einer geklärten religiösen<br />
Identität und Dialogkultur sind uns deshalb in gleicher Weise wichtig. Das prägt unser<br />
Engagement für den Religionsunterricht wie für das pädagogische Klima im Ganzen<br />
in gleicher Weise.<br />
Beides ist in gleicher Weise notwendig. Ohne Zweifel ist gegenwärtig das<br />
Engagement für den Religionsunterricht in ganz beson<strong>der</strong>er Weise gefor<strong>der</strong>t. Ich<br />
kenne kein Unterrichtsfach, an das gegenwärtig vergleichbar hohe Erwartungen<br />
gestellt würden. Das gilt im Blick auf die Identifikation <strong>der</strong> Lehrenden mit dem Fach<br />
und seinen Inhalten, von <strong>der</strong> stets zu erneuernden Motivation <strong>der</strong> Schülerinnen und<br />
Schüler, das Fach aus freien Stücken zu bejahen, wie <strong>der</strong> Eltern, den Besuch des<br />
Faches durch ihre Kin<strong>der</strong> zu unterstützen. Es gilt für den Dialog <strong>der</strong><br />
Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit ihren Kolleginnen und Kollegen, die<br />
nicht selten dem Religionsunterricht mit großen Reserven gegenüberstehen, aber<br />
zugleich von den Religionslehrerinnen und Religionslehrern Auskunft erwarten,<br />
sobald sie ihrer eigenen Unkenntnis in elementaren Fragen des Glaubenswissens<br />
und <strong>der</strong> religiösen Bildung ansichtig werden. Ein nicht unwichtiger Teil des<br />
Religionsunterrichts findet heute in den Lehrerzimmern statt.<br />
Religion ist ein Großthema des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Die Vorstellung, dass religiöse<br />
Fragen an Bedeutung verlieren und deshalb auch an <strong>der</strong> Schule unwichtig werden,<br />
hat sich binnen weniger Jahre als unzutreffend erwiesen. Der Gedanke, dass<br />
gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung automatisch zur Säkularisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
und damit zum Verschwinden religiöser Fragen führe, führt in die Irre.<br />
Dementsprechend wächst die Bedeutung des Religionsunterrichts an den Schulen.<br />
Es ist deshalb verfehlt, wenn man auf die heutige Situation mit <strong>der</strong> Einführung eines<br />
Einheitsfachs Ethik für alle Schülerinnen und Schüler meint reagieren zu sollen. In<br />
Berlin, so <strong>der</strong>gleichen für die Sekundarstufe I – also im Berliner Fall von <strong>der</strong><br />
Jahrgangsstufe 7 an – geplant wird, muss man als Folge eine weitgehende<br />
Verdrängung des Religionsunterrichts aus diesem Bereich befürchten. Angesichts<br />
<strong>der</strong> Verdichtung des Unterrichts und <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Pflichtstundenzahl in diesen<br />
Jahrgangsstufen wird man von einer zusätzlichen Wahl des Religionsunterrichts (<strong>der</strong><br />
nicht als ordentliches Unterrichtsfach gilt) kaum ausgehen können. Dabei wird <strong>der</strong><br />
Ethikunterricht, <strong>der</strong> allen Religionen und Weltanschauungen gegenüber neutral sein<br />
soll, die Erwartung, dass Schüler in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit einer<br />
Lehrerpersönlichkeit eine eigene Position entwickeln können, nicht erfüllen können.<br />
Er wird eher an eine Art des Musikunterrichts erinnern, in dem <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> dem
- 13 -<br />
Lehrer untersagt ist, ein bestimmtes Instrument zu spielen, damit die<br />
Gleichberechtigung aller Instrumente nicht in Frage gestellt wird.<br />
Für ein umfassendes Verständnis von Bildung – unter Einschluss eines guten<br />
Religionsunterrichts und bei bewusster Pflege <strong>der</strong> Dialogkultur zwischen<br />
unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Positionen – sollte sich in<br />
meinem Verständnis die Gesellschaft im Ganzen engagieren. Sie muss insgesamt<br />
ein Interesse daran haben, dass Bildung nicht auf Ausbildung reduziert, son<strong>der</strong>n<br />
ganzheitlich wahrgenommen wird. Sie sollte im Ganzen die For<strong>der</strong>ung, dass junge<br />
Menschen auf gesellschaftliche und arbeitsweltorientierte Anfor<strong>der</strong>ungen vorbereitet<br />
werden, mit dem Wi<strong>der</strong>stand dagegen verbinden, dass Bildung im Ganzen verzweckt<br />
und ökonomisiert wird. Wir brauchen in unserer Gesellschaft insgesamt einen neuen<br />
Bildungsdiskurs. Der beson<strong>der</strong>e Beruf <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers hat in diesem<br />
Rahmen seinen Ort. Der Begriff des Berufs ist ja eine reformatorische Prägung.<br />
Luther hat darauf beharrt, dass nicht nur diejenigen von Gott in ihren Stand berufen<br />
sind, die ein beson<strong>der</strong>s heiligmäßiges Leben führen, die Mönche und Nonnen also.<br />
Son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong> Mensch führt sein Leben vor Gott. Je<strong>der</strong> ist dazu berufen, einem<br />
beson<strong>der</strong>en Auftrag Gottes zu entsprechen und darin eine Aufgabe wahrzunehmen,<br />
die dem Nächsten zu Gute kommt. Göttlicher Auftrag und Liebe zum Nächsten<br />
bestimmen die Wahrnehmung je<strong>der</strong> Tätigkeit, von <strong>der</strong> Stallmagd bis zum Fürsten,<br />
wie Luther sagen kann. Ehrenamtliche Tätigkeit und Familienarbeit sind in diesen<br />
Blick auf den Beruf gleichberechtigt einbezogen.<br />
Die stellvertretende Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Schlüsselaufgabe und<br />
die Orientierung am Auftrag Gottes wie an <strong>der</strong> Liebe zum Nächsten – das sind also<br />
die beiden Grundzüge am Begriff des Berufs, <strong>der</strong> Profession, wie sie uns bisher<br />
entgegengetreten sind. Gesellschaftliche Anerkennung, persönliche Professionalität<br />
und Einsatzbereitschaft sowie die angemessene und faire Ausgestaltung und<br />
Ausstattung des Berufs – das sind die Folgerungen, die sich aus einem solchen<br />
Ansatz ergeben. Diese Gesichtspunkte sollen im Blick bleiben, wenn ich mich<br />
vertiefend Überlegungen zur Profession <strong>der</strong> Lehrerin und des Lehrers in<br />
evangelischer Perspektive zuwende. Dabei orientiere ich mich an dem Leitwort für<br />
den heutigen Tag, das vollständig so heißt: Der Herr ist <strong>der</strong> Geist; wo aber <strong>der</strong> Geist<br />
des Herrn ist, da ist Freiheit. Ich tue das umso lieber, als es sich dabei um ein<br />
persönliches Leitwort von mir handelt. Immerhin wurde es meiner Frau - die übrigens<br />
Lehrerin ist - und mir vor vierzig Jahren als Trauspruch mit auf den Weg gegeben.<br />
Das prägt, wie alle wissen, die Vergleichbares erlebt haben. Deshalb muss ich mich<br />
wohl auch heute trauen, mich an dieses Wort zu halten.<br />
1. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiheit und för<strong>der</strong>n Freiheit.<br />
Das evangelische Bildungs- und Erziehungsverständnis ist vom Gedanken <strong>der</strong><br />
Freiheit geprägt. Das hat die EKD-Synode in Berlin-Spandau in ihrem legendären<br />
Wort zur Schulfrage 1958, vor bald einem halben Jahrhun<strong>der</strong>t also, erklärt. Sie hat<br />
sich auf die Freiheit berufen, zu <strong>der</strong> allein Christus befreit, und sich zu einem freien<br />
Dienst an einer freien Schule bereit erklärt.<br />
Das sind starke Worte. Denn man darf nicht vergessen: Das war eine Zeit, in <strong>der</strong> in<br />
den Schulen die Prügelstrafe noch an <strong>der</strong> Tagesordnung war und in vielen Heimen<br />
und Erziehungsanstalten – auch in evangelischer Trägerschaft – eine erschreckende<br />
Unfreiheit herrschte. Erst jetzt finden etliche Betroffene den Mut und die Kraft, über
- 14 -<br />
das dort Erlittene zu sprechen. Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber<br />
wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim<br />
Namen genannt wird, wird die Würde <strong>der</strong> betroffenen Menschen heute genauso<br />
verletzt wie damals. Das Wort <strong>der</strong> evangelischen Kirche zur Schulfrage atmet einen<br />
an<strong>der</strong>en Geist. Es stellt eine Absage an alle geschlossenen, totalitären und<br />
weltanschaulich-religiös überhöhten Bildungs- und Erziehungskonzepte dar – auch<br />
an alle mo<strong>der</strong>nen Zwänge funktionaler Verwertbarkeit von Bildungsleistungen.<br />
Dieser Ansatz reicht bis in die Zeit <strong>der</strong> Bekennenden Kirche zurück. Allerdings muss<br />
man sich auch deutlich machen, welches Verständnis von Freiheit dabei im Blick<br />
war. Exemplarisch kann man sich das an Überlegungen Dietrich Bonhoeffers<br />
verdeutlichen, dessen einhun<strong>der</strong>tsten Geburtstag wir vor einem Monat begangen<br />
haben. Das Leitbild, das er entwirft, ist durch verantwortete und verantwortliche<br />
Freiheit geprägt. Ein an<strong>der</strong>es Verständnis von Freiheit ist also leitend als dasjenige,<br />
das in den letzten Jahrzehnten unter <strong>der</strong> Vorherrschaft individualistischer Kategorien<br />
entworfen worden ist. Freiheit wird in diesem Leitbild niemals als nur je eigene<br />
Freiheit verstanden. Vielmehr muss gefragt werden, ob <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> eigenen<br />
Freiheit auch gegenüber dem an<strong>der</strong>en verantwortet werden kann. Auf seine Freiheit<br />
Rücksicht zu nehmen, gilt nicht als Einschränkung <strong>der</strong> eigenen Freiheit, son<strong>der</strong>n als<br />
<strong>der</strong>en<br />
angemessener, nämlich verantwortlicher Gebrauch. Eines <strong>der</strong> Beispiele Dietrich<br />
Bonhoeffers bezieht sich ausdrücklich auf den pädagogischen Bereich. Ein Schüler,<br />
<strong>der</strong> von seinem Lehrer – unter Missachtung jeglichen pädagogischen Taktes – vor<br />
<strong>der</strong> Klasse gefragt wird, ob sein Vater oft betrunken nach Hause komme, reagiert, so<br />
Bonhoeffer, angemessen, wenn er diese Frage verneint. Denn er muss einen<br />
Lebenszusammenhang schützen, in den <strong>der</strong> Lehrer in unangemessener Weise<br />
eingedrungen ist. Die Verweigerung <strong>der</strong> – an sich zutreffenden – Auskunft ist die<br />
einzige Form, in <strong>der</strong> er nicht nur die eigene Freiheit, son<strong>der</strong>n auch die Freiheit seiner<br />
Nächsten wahren kann. Dieses Leitbild verantworteter und verantwortlicher Freiheit<br />
muss auch das Ethos des Lehrerberufs prägen. Das ist gewiss ein hoher Anspruch,<br />
<strong>der</strong> nicht in je<strong>der</strong> Situation und auch nicht von je<strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> jedem Lehrer<br />
eingelöst werden kann.<br />
Je<strong>der</strong> kennt aus seiner Schülerbiographie überfor<strong>der</strong>te Lehrkräfte, bei denen<br />
sarkastische Bemerkungen, ironische Herabsetzungen, subtile Drohungen an <strong>der</strong><br />
Tagesordnung waren, o<strong>der</strong> solche, die ihren Narzissmus ungehemmt an den<br />
Schülerinnen und Schülern ausagierten. Auch Sie kennen Ihre Kollegien. Und wer<br />
ehrlich ist, wird sich selbst hier nicht einfach freisprechen. Und das ist gut so. Denn<br />
<strong>der</strong> unverstellte Blick <strong>der</strong> Lehrenden auf ihre eigene Unzulänglichkeit bedingt eine<br />
innere Freiheit, ohne die Lehren und Lernen nicht gelingen. Sie muss allerdings mit<br />
einer äußeren Freiheit korrespondieren, die nicht in Schulgesetzen,<br />
Organisationserlassen und<br />
Stoffplänen untergehen darf. Nur in dieser doppelten pädagogischen Freiheit können<br />
Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst,<br />
wie es die Kultusministerkonferenz ausdrückt, ausüben.<br />
2. Lehrer und Lehrerinnen brauchen ein realistisches Menschenbild.<br />
Mit Recht wünscht man dem Lehrer die Gesundheit und Kraft eines Germanen, den<br />
Scharfsinn eines Lessing, das Gemüt eines Hebbel, die Begeisterung eines<br />
Pestalozzi, die Wahrheit eines Tillich, die Beredsamkeit eines Salzmann, die
- 15 -<br />
Kenntnis eines Leibniz, die Weisheit eines Sokrates und die Liebe Jesu Christi. So<br />
soll Adolph Diesterweg das, hoffentlich augenzwinkernd, formuliert haben.<br />
Spätestens als ich den Namen Paul Tillichs las, kamen mir daran allerdings Zweifel<br />
(Diesterweg lebte von 1790 bis 1866). Aber von wem auch immer formuliert: auch<br />
ohne solche titanenhaften Ansprüche gibt es idealisierende Lehrerbil<strong>der</strong>. Sie sind<br />
Reflexe von Erfahrungen, aber auch Produkte von Wünschen und Erwartungen, sie<br />
legen sich wie ein Spinnennetz über unsere Beziehungen, bestimmen unser<br />
Verhalten und unsere Gefühle. Wer erinnert sich nicht an die liebevolle Karikatur des<br />
Physiklehrers aus <strong>der</strong> Feuerzangenbowle, <strong>der</strong> seinen Schülern die Dampfmaschine<br />
höchst anschaulich vor Augen malt? Bil<strong>der</strong> haben unterschiedliche Funktionen: Sie<br />
können bestätigen und legitimieren, sie können beschreiben und vorschreiben. Und<br />
sie hängen jeweils von <strong>der</strong> Perspektive ab, aus <strong>der</strong> sie ins Spiel gebracht werden.<br />
Ihre Kraft beziehen sie auch aus <strong>der</strong> Reduktion <strong>der</strong> Wirklichkeit auf überschaubare<br />
Strukturen. Am ehesten leuchten häufig die Bil<strong>der</strong> ein, die einzelne Züge beson<strong>der</strong>s<br />
hervortreten lassen und gar nicht erst den Anspruch erheben, die Spannungen und<br />
die Konflikthaltigkeit des Alltags einzufangen.<br />
Eine heute verbreitete Annahme ist die, das Leben sei – wenn man nur wolle – leicht<br />
zu meistern, die dazu notwendigen Potentiale seien in einem jeden Menschen<br />
vorhanden. Eine an<strong>der</strong>e Annahme ist jene, die erreichten Stützen zur Wertgebung<br />
des eigenen Lebens wie Beruf, Partnerschaft, eigenes Haus, Wohlstand, Freizeit<br />
trügen ihren Sinn hinreichend in sich selbst. Solchen unrealistischen Bil<strong>der</strong>n<br />
gegenüber ist ein Bildungsansatz zu vertreten, <strong>der</strong> eine nüchterne Analyse <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit und <strong>der</strong> menschlichen Natur im Guten wie in den Abgründen des Bösen<br />
einschließt. Die Bibel spricht davon, dass <strong>der</strong> Mensch wenig niedriger gemacht ist als<br />
Gott (Psalm 8). Darin liegt ein großartiges Potential. Gleichzeitig zeigt nur zwei<br />
Psalmen davor das Bußgebet Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach (Psalm 6),<br />
dass sich <strong>der</strong> Mensch<br />
immer wie<strong>der</strong> schmerzlich seines Unvermögens bewusst wird. Diese Maße des<br />
Menschlichen – so <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> EKD-Bildungsdenkschrift aus dem Jahr 2003 –<br />
müssen wir ehrlich und unverstellt wahrnehmen, in <strong>der</strong> Gesellschaft wie in Erziehung<br />
und Bildung. Sollten an<strong>der</strong>e Bil<strong>der</strong> dazu tendieren, den Menschen unter gnadenlose<br />
Imperative eines vermeintlichen Müssens zu zwingen, hat <strong>der</strong> christliche Glaube im<br />
Namen <strong>der</strong> jedem Menschen zugewandten Gnade Gottes zu wi<strong>der</strong>sprechen.<br />
Prinzipiell ist zwischen <strong>der</strong> Lebenslage als objektiver Gegebenheit und als<br />
subjektivem Bild zu unterscheiden. Die Lebenslage eines Menschen besteht nicht<br />
nur aus den von ihm unabhängig gegebenen Momenten (Arbeit haben o<strong>der</strong> nicht<br />
haben, behin<strong>der</strong>t sein o<strong>der</strong> nicht, Mann o<strong>der</strong> Frau sein), son<strong>der</strong>n auch daraus, wie<br />
man sich selbst sieht und deutet: die eigene Lage als Sicht dieser Lage, traditionell<br />
gesprochen als geistige Realität. Wer dies nicht berücksichtigt, verdinglicht den<br />
Menschen. Er stellt ihn und seine Lage als etwas Äußerliches und noch dazu<br />
unbeeinflussbares Schicksal hin. Gegen diese gesellschaftlich und wissenschaftlich<br />
bewirkte Selbstentfremdung (Wilhelm von Humboldt) hat ein selbst-reflexives<br />
Bildungsverständnis seit zweihun<strong>der</strong>t Jahren immer wie<strong>der</strong> aufbegehrt. Erwachsene<br />
müssen genauso wie Kin<strong>der</strong> und Jugendliche als Subjekte darauf angesprochen<br />
bleiben, dass sie sich selbst bestimmen können und dürfen.<br />
Die theoretischen Einteilungen, Kategorisierungen, Typologien helfen nur als<br />
vorläufige Suchinstrumente. Sie sollten zurückgelegt, geradezu vergessen werden,<br />
wenn je<strong>der</strong> es mit dem an<strong>der</strong>en in seiner unverwechselbaren einmaligen Lebenslage<br />
zu tun bekommt, weil er sich auf ihn ganz und gar konkret einlassen muss. Nach
- 16 -<br />
Bertolt Brechts berühmter Geschichte von Herrn Keuner sollen wir nicht unseren<br />
Entwurf vom an<strong>der</strong>en Menschen lieben, son<strong>der</strong>n den an<strong>der</strong>en Menschen selbst.<br />
Pädagogen dagegen neigen dazu, unter Umständen sogar unter Berufung auf Bertolt<br />
Brecht, es sei durchaus in Ordnung, wenn wir uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen<br />
Entwurf machen; denn immerhin wollten wir ja nicht, dass er diesem Entwurf gleich,<br />
son<strong>der</strong>n nur, dass er ihm ähnlich werde. Ich habe Bertolt Brecht an<strong>der</strong>s verstanden;<br />
er will uns überhaupt davor bewahren, uns vom an<strong>der</strong>en Menschen einen Entwurf zu<br />
machen und unsere Liebe auf diesen zu richten. Unsere Liebe soll diesem Menschen<br />
selbst gelten; dazu aber gehört, dass wir auch das Geheimnis gelten lassen, das<br />
je<strong>der</strong> menschlichen Person innewohnt, und es uns versagen, dieses Geheimnis in<br />
einem Entwurf von dieser Person aufzulösen.<br />
Gerade von dieser Einsicht aus muss man pointiert festhalten: In <strong>der</strong> Schule werden<br />
nicht Fächer o<strong>der</strong> Stoffe unterrichtet, son<strong>der</strong>n junge Menschen. Lehrerinnen und<br />
Lehrer wissen deshalb, dass es entscheidend darauf ankommt, eine pädagogische<br />
Beziehung zu den Schülern zu entwickeln, und dass diese Beziehung von Empathie,<br />
von Interesse an <strong>der</strong> Person <strong>der</strong> Schüler getragen sein muss. Wem die Schüler<br />
gleichgültig sind o<strong>der</strong> wer sich gar durch sie gestört o<strong>der</strong> belästigt fühlt, hat verloren,<br />
bevor <strong>der</strong> Unterricht angefangen hat. Aber auch <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> einen Entwurf des<br />
Schülers vor Augen hat, dem dieser ähnlich werden soll, kann die Möglichkeiten<br />
einengen, die in ihm liegen. Diesen Möglichkeitsraum mit Schülern zu erkunden und<br />
nicht an ihnen vorbei – das ist wohl die größte Kunst bei Bilden als Beruf.<br />
3. Lehrerinnen und Lehrer brauchen eine geklärte Identität.<br />
Das Aufwachsen von Kin<strong>der</strong>n, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vollzieht sich<br />
heute im Nebeneinan<strong>der</strong> von verschiedenartigen, teilweise kontroversen<br />
Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen. Die<br />
öffentliche Schule für alle ist eine Pflichtveranstaltung des Staates für Kin<strong>der</strong>,<br />
Jugendliche und junge Erwachsene <strong>der</strong> verschiedensten sozialen, kulturellen,<br />
weltanschaulichen und religiösen Herkunft. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich<br />
indifferent aus unserer geistigen Situation heraushalten kann. Als Grundsatz gilt<br />
vielmehr, die plurale Wirklichkeit anzuerkennen und die Schüler und Schülerinnen mit<br />
ihr in pädagogisch besonnener Weise vertraut zu machen. Mehr noch: In einer<br />
demokratischen Gesellschaft nimmt die Schule ihren Auftrag nur wahr, wenn sie die<br />
nachwachsende Generation befähigt, Positionen einzunehmen und im<br />
Meinungsstreit auszutragen. In dem Spannungsgefüge, fremde Überzeugungen zu<br />
verstehen und zugleich eine eigene Auffassung zu entwickeln, soll je<strong>der</strong> seine<br />
Identität finden, die ihn in die Lage versetzt, begründet zu urteilen und Verantwortung<br />
zu übernehmen. Dem Religionsunterricht kommt hier eine beson<strong>der</strong>e Aufgabe zu. Mit<br />
dieser Zielgebung wird die Schule ihrem Auftrag nach kompensatorischem Lernen<br />
gerecht, indem sie das zum Lerninhalt macht, was nicht mehr selbstverständlich<br />
gelernt wird, aber für das Leben in Gemeinschaft notwendig ist.<br />
In dem Maße, in dem sich die Schule nicht nur als Unterrichtsanstalt versteht,<br />
werden die Lehrenden als Personen wichtig. Identifikatorisches Lernen wird durch<br />
die Glaubwürdigkeit eindrucksvoller Vorbil<strong>der</strong> ausgelöst. Sie machen Überzeugungen<br />
transparent. Indem Menschen für diese Überzeugungen einstehen, können sie<br />
an<strong>der</strong>en helfen, sich selbst ein eigenes Urteil zu bilden. Offene Lernprozesse lassen<br />
identifikatorische Angebote zu, sofern den Heranwachsenden <strong>der</strong> Spielraum bleibt,<br />
ihren individuellen Lernweg mitzugestalten. Es ist zwar offensichtlich schwieriger
- 17 -<br />
geworden, in Lerngruppen ein Arbeitsklima herzustellen und aufrechtzuerhalten, das<br />
von Kooperation, Rücksichtnahme und gegenseitiger Toleranz geprägt ist. Aber es<br />
besteht die Möglichkeit, dass unter günstigen Voraussetzungen (Größe <strong>der</strong> Schule,<br />
Unterrichtsorganisation, Verzicht auf jeden vermeidbaren Wechsel <strong>der</strong> Lehrkräfte<br />
usw.) die Lehrerinnen und Lehrer zu bedeutungsvollen Erwachsenen werden. Mit<br />
ihnen können die Schülerinnen und Schüler die Auseinan<strong>der</strong>setzung suchen und von<br />
ihnen Orientierungshilfen auch in Bereichen erfahren, die weit über die unmittelbaren<br />
Inhalte des Fachunterrichts hinausgehen. Wer kennt nicht bewegende Biografien von<br />
Menschen, die ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin entscheidende Impulse für ihr Leben<br />
verdanken! Nicht selten ist das <strong>der</strong> Grund dafür, dass junge Erwachsene diesen<br />
Beruf selbst ergreifen wollen.<br />
Lehrerbildung ist also immer auch Menschenbildung im Sinne einer Anbahnung von<br />
Potentialität und Sinnfindung. Wichtigstes Mittel ist dabei die Schaffung einer<br />
unterrichtlichen Gesprächskultur, in <strong>der</strong> unterschiedliche Positionen wahrgenommen,<br />
reflektiert und respektiert werden. Martin Buber:<br />
Nicht <strong>der</strong> Unterricht erzieht, aber <strong>der</strong> Unterrichtende. Der gute Lehrer erzieht mit<br />
seiner Rede und mit seinem Schweigen, in den Lehrstunden und in den Pausen, im<br />
beiläufigen Gespräch, durch sein bloßes Dasein, er muss nur ein wirklich existenter<br />
Mensch sein und er muss bei seinen Schülern wirklich gegenwärtig sein; er erzieht<br />
durch Kontakt. Kontakt ist das Grundwort <strong>der</strong> Erziehung. … Es bedeutet nicht bloß<br />
Auskunftsuchen von unten und Auskunftgeben von oben, auch nicht bloß Fragen<br />
und Antworten hinüber und herüber, son<strong>der</strong>n echtes Wechselgespräch, das <strong>der</strong><br />
Lehrer zwar leiten und beherrschen, in das er aber eben doch auch mit seiner<br />
eigenen Person unmittelbar und unbefangen eintreten muss…. Das ist es, was ich<br />
das dialogische Prinzip <strong>der</strong> Erziehung nenne.<br />
Alles Lernen in schulischen Lernzusammenhängen ist jedoch in seiner Wirkung in<br />
Frage gestellt, wenn die Erfahrungen in <strong>der</strong> Alltagswelt dem schulischen Lernen<br />
wi<strong>der</strong>sprechen. Schülerinnen und Schüler nehmen kritisch wahr, ob Verhalten und<br />
Reden <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer übereinstimmen. Sie vertrauen denen, die sich für<br />
sie als verlässlich, ehrlich und gerecht erweisen. Sie messen sie daran, wie sie ihr<br />
soziales Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern gestalten und ob es nicht<br />
durch ihre persönlichen Existenzvollzüge Lügen gestraft wird. Dabei erwarten die<br />
Schüler keineswegs Heilige, son<strong>der</strong>n respektieren durchaus die Brüchigkeit und<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Lebens, sofern diese nicht durch leere Formeln und<br />
ethischen Rigorismus überdeckt wird.<br />
Gleichwohl werden die hohen Erwartungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler an die<br />
Person des Lehrers bzw. <strong>der</strong> Lehrerin von diesen vielfach als persönliche<br />
Überfor<strong>der</strong>ung empfunden. Je<strong>der</strong> Lehrer muss unzählige wi<strong>der</strong>sprüchliche Strukturen<br />
und Erfahrungen aushalten. Wenn er sich davon nicht zerreiben lassen will, braucht<br />
er eine grundlegende personale Standhaftigkeit und Authentizität. In evangelischer<br />
Perspektive gewinnt er diese aus <strong>der</strong> Zusage, dass er nicht mit seinem Werk<br />
identisch ist. Er darf Fehler machen, er darf zu seinen Fehlern stehen. Er braucht<br />
keine Allmachtspose, er ist we<strong>der</strong> Retter seiner Schüler noch guter Hirte, <strong>der</strong> seine<br />
Schafe sorgsam behüten muss. Im Licht des christlichen Glaubens, gerade in seiner<br />
reformatorischen
- 18 -<br />
Gestalt, stehen Lehrende und Schüler in einer unaufhebbaren Solidarität, die sie vor<br />
wechselseitigen Leistungsüberfor<strong>der</strong>ungen schützen kann und zu einer<br />
Grundhaltung personaler Wertschätzung und gegenseitiger Vergebung ermutigt.<br />
Eine für Schüler glaubwürdige Verlässlichkeit entwickelt sich langfristig erst im<br />
pädagogischen Alltag. Eine grundlegende Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Lehrerrolle<br />
und -persönlichkeit ist jedoch schon im Studium unverzichtbar. Die herkömmliche<br />
Aufspaltung <strong>der</strong> Ausbildung in eine Erste und Zweite Phase lässt für die<br />
Studierenden nur wenig Raum, sich schon im Studium mit den Motiven ihrer<br />
Studienwahl, ihren Erwartungen und ihrer Eignung im Blick auf die künftige<br />
Berufspraxis und Berufsrolle selbstkritisch auseinan<strong>der</strong> zu setzen. Dazu gehört auch<br />
die biographische Selbstreflexion, gerade auch im Blick auf die Wahl von Bilden als<br />
Beruf, ein Nachdenken beispielsweise darüber, aus welcher Familie künftige<br />
Lehrerinnen und Lehrer selbst stammen, wie sie Erziehung im Elternhaus und in <strong>der</strong><br />
Schule erlebt haben.<br />
Solche Selbstreflexion ist ein notwendiges Element <strong>der</strong> Freiheit. Die biographischen<br />
Konsequenzen fehlen<strong>der</strong> Selbstreflexion zeigen sich in diesem – wie in an<strong>der</strong>en –<br />
Berufen sonst zu spät, wenn sich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen<br />
Erwartungen, Eignung und konkreten Anfor<strong>der</strong>ungen auftut. Nicht nur im Blick auf die<br />
jeweils individuellen Berufswege, son<strong>der</strong>n auch hinsichtlich <strong>der</strong> Inhalte und<br />
Vermittlungsformen des Studiums ist es bei Professionen im engeren Sinn des<br />
Wortes unumgänglich, die fachliche Ausbildung mit einer eingehenden Reflexion des<br />
späteren Berufsfeldes zu verschränken. Das tritt heute immer stärker in den<br />
Hintergrund, weil<br />
Professionalität nur noch als Fachlichkeit verstanden wird. Dementsprechend wird<br />
nur noch nach <strong>der</strong> Befähigung, nicht mehr aber nach <strong>der</strong> persönlichen Eignung eines<br />
Menschen für einen Beruf gefragt. Das ist einen Engführung, die sich schon längst<br />
als Irrweg erweisen hat. Aber sie prägt beispielsweise auch die Thesen <strong>der</strong><br />
Kultusministerkonferenz und <strong>der</strong> Lehrerverbände, mit denen ich diesen Vortrag<br />
begonnen habe.<br />
4. Lehrer und Lehrerinnen brauchen Zeit.<br />
Für Bildung ist das Wechselspiel zwischen persönlicher Bildungsgeschichte und<br />
Lebensgeschichte charakteristisch. Lebensgeschichtliche Gezeiten und Bildung als<br />
innere Lebensgestaltung gehören zusammen. Lehr- und Lernvorhaben können nicht<br />
ohne Schaden an den lebensgeschichtlichen Momenten vorbei geplant und<br />
durchgesetzt werden. Die Identität eines Menschen besteht letztlich aus seiner<br />
Lebensgeschichte im Ganzen.<br />
Durch die gesamte pädagogische Diskussion zieht sich wie ein roter Faden die<br />
Einsicht in die Bedeutung einer lebensphasengerechten Bildung. Dabei ist zu<br />
bedenken, dass wir auf das Lernen von Menschen nie einen direkten Zugriff haben<br />
und beanspruchen dürfen. Bildung ist ein Vorgang im Innern und damit zugleich<br />
individueller Natur. Es ist ein aktiver, letztlich selbstorganisierter Prozess des<br />
Subjekts, <strong>der</strong> allerdings angeregt werden muss.<br />
Für die geistige Selbstorganisation ist einerseits gesammelte Anstrengung,<br />
an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> schöpferische Moment eines unerwarteten Einfalls charakteristisch.<br />
In beiden Hinsichten ist Zeit einzuräumen; unter Druck und Angst kann nicht im
- 19 -<br />
gemeinten bildenden Sinn gelernt werden. Die Schulen brauchen Lehrende, die mit<br />
diesen Vorgängen vertraut sind, also mehr als nur fachwissenschaftlich ausgebildete<br />
Lehrer und Lehrerinnen. Für das Gelingen <strong>der</strong> inhaltlichen Bildungsaufgaben ist<br />
deswegen die Qualität <strong>der</strong> unterrichtlichen Feinstruktur ausschlaggebend.<br />
Beobachtungen zeigen das wachsende Interesse an verständlichem,<br />
elementarisierendem Unterricht; Untersuchungen belegen aber auch, wie sehr über<br />
die Köpfe hinweg unterrichtet wird, am Zentrum <strong>der</strong> Selbstorganisation des<br />
individuellen Bewusstseins vorbei; Bildung als innere Kultur wird so verfehlt. Folglich<br />
liegt hier <strong>der</strong> Brennpunkt für eine qualitative Unterrichtserneuerung. Wird dies nicht<br />
beherzigt, könnte sich das gegenwärtige Interesse an beschleunigtem, intensiviertem<br />
Lernen, für das beson<strong>der</strong>s informationstechnologisch investiert werden soll, dem<br />
Wortsinn nach verrechnen. Wirtschaftlichkeitsanalysen dürfen den Faktor <strong>der</strong><br />
unverrechenbaren Zeit nicht unterschlagen. Sie dürfen auch die Zeit nicht<br />
unterschlagen, die für didaktischmethodische Vielfalt gebraucht wird: in Fortbildung<br />
und Vorbereitung ebenso wie in <strong>der</strong> Durchführung. Man kann kaum überschätzen,<br />
wie stark pädagogischer Erfolg von <strong>der</strong> täglich erfahrenen Unterrichtsbeziehungsweise<br />
Lehrkunst abhängt. Deutsche Schulen brauchen eine zu<br />
Leistungen herausfor<strong>der</strong>nde und die Lust zum Lernen ansprechende Lernkultur, für<br />
die auch Zeitmaße und Interaktionsstrukturen verän<strong>der</strong>t werden müssen. Sie<br />
brauchen aber auch die Wertschätzung <strong>der</strong> Bevölkerung und vor allem <strong>der</strong> Eltern für<br />
die tägliche und oftmals schwierige Arbeit <strong>der</strong> Lehrer und Lehrerinnen.<br />
5. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Begleitung und Unterstützung.<br />
In allen Professionen ist eine regelmäßige persönliche Begleitung, Supervision und<br />
Fortbildung <strong>der</strong> handelnden Akteure selbstverständlich, ja sogar unabdingbar. Bei<br />
den Lehrkräften bleibt sie ihrer eigenen Initiative anheim gestellt. (Auch bei<br />
Pfarrerinnen und Pfarrern gibt es sie systematisch lei<strong>der</strong> nur in den ersten<br />
Amtsjahren.) Natürlich ist bereits die nicht selten ätzende und direkte Rückmeldung<br />
durch die Schüler ein wichtiges Korrektiv. Zur Weiterentwicklung von pädagogischen<br />
Kompetenzen ist für professionelle Lehrkräfte ein kritisches und för<strong>der</strong>ndes Korrektiv<br />
durch Erwachsene aber unverzichtbar.<br />
Für Karl Ernst Nipkow ist die Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Selbstdistanzierung <strong>der</strong><br />
Lehrenden deshalb so wichtig, weil sie einer Indoktrination durch Abhängig-Halten<br />
entgegenwirkt. Die Lehrerrolle ist zudem nicht mehr ausschließlich als Unterrichtsund<br />
Erziehungstätigkeit im Klassenzimmer zu definieren, son<strong>der</strong>n im Ensemble des<br />
Bildungsauftrags einer Schule. Eine professionelle Lerngemeinschaft am Ort <strong>der</strong><br />
einzelnen Schule, zwischen Fachkollegen, durch Mentoren und Mentorinnen, in<br />
kooperativen Formen <strong>der</strong> Lehrerfortbildung, in Entwicklungsprojekten kann<br />
Anerkennung und Akzeptanz durch Kollegen erbringen und das Handlungs- und<br />
Reflexionsrepertoire anreichern. Dazu gehören Formen <strong>der</strong> Supervision, <strong>der</strong><br />
Fallbesprechung in Lehrergruppen, soweit darin nicht nur psychologisches, son<strong>der</strong>n<br />
auch didaktisches und fachliches Wissen und Können thematisiert wird.<br />
Als Kirche bieten wir Lehrerinnen und Lehrern Vergewisserung, Begleitung und<br />
Zuspruch an. Unsere Kirche hat pädagogische Handlungsfel<strong>der</strong> entwickelt, die unter<br />
je unterschiedlicher Zielsetzung und Perspektive die Schülerschaft, die Lehrkräfte,<br />
die Schule sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung in den Blick nehmen. Regional<br />
und überregional hält die Kirche ein Netzwerk von <strong>Institut</strong>ionen bereit, die Beratung,<br />
Fortbildung und geistliche Begleitung gewährleisten. Qualitätssicherung, Kompetenz-
- 20 -<br />
, Unterrichts- und Schulentwicklung sind permanente Herausfor<strong>der</strong>ungen, denen sich<br />
die Kirche exemplarisch über den Religionsunterricht, aber auch weit darüber hinaus,<br />
stellt.<br />
Eine große Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Begegnung und Kooperation von Kirche und Schule<br />
stellen die Formen <strong>der</strong> evangelischen Jugendarbeit dar, die heute vor allem im Blick<br />
auf die Entwicklung zur Ganztagsschule weiterentwickelt werden müssen. Neben<br />
außerschulischen Angeboten für Schülerinnen und Schüler kommen innerschulische<br />
Angebote für einzelne Schulen, Klassen o<strong>der</strong> Jahrgangsstufen in den Blick. Hierzu<br />
gehören unter an<strong>der</strong>em Angebote <strong>der</strong> Seelsorge, <strong>der</strong> Freizeitgestaltung und <strong>der</strong><br />
Bildung als Lebensbegleitung. Sie werden angeboten von Landesjugendpfarrämtern,<br />
evangelischen Akademien, religionspädagogischen <strong>Institut</strong>en und weiteren<br />
evangelischen Einrichtungen, die Heranwachsende befähigen, ihren Lebensraum<br />
einschließlich <strong>der</strong> Schule selbstbewusst und selbstbestimmt zu gestalten o<strong>der</strong><br />
lebenslaufbezogene Entscheidungen zu treffen. Konkret wird diese Arbeit zum<br />
Beispiel in Tagen<br />
ethischer Orientierung, Religionsphilosophischen Schulprojektwochen, Religiösen<br />
Schulwochen o<strong>der</strong> Tagungen <strong>der</strong> Jungen Akademie. Darüber hinaus ist es wichtig,<br />
dass Kirchengemeinden und -kreise sowie an<strong>der</strong>e kirchliche Einrichtungen und<br />
Arbeitsfel<strong>der</strong> mit den Schulen systematisch kooperieren, Formen kontinuierlicher<br />
Zusammenarbeit sowie gegenseitiger Unterstützungssysteme auf- beziehungsweise<br />
ausbauen. Und wir müssen ehrlich eingestehen: An dieser Unterstützung <strong>der</strong> Arbeit<br />
von Lehrerinnen und Lehrern fehlt es vor Ort nicht selten.<br />
Die wachsende Eigenverantwortlichkeit von Schule macht es erfor<strong>der</strong>lich, dass<br />
Kollegien o<strong>der</strong> einzelne Lehrkräfte selbst formulieren, was sie für einen guten<br />
Unterricht und eine gute Schule halten. In einer solchen Schule dürfen Religion und<br />
Christentum nicht fehlen. Auch in dieser Hinsicht bitte ich Sie herzlich um Ihren<br />
Einsatz und Ihr Engagement.<br />
Ich habe in diesem Vortrag meinen persönlichen Bezug zur Lebenswelt <strong>der</strong> Schule<br />
deutlich gemacht. Sogar vom Beruf meiner Frau habe ich in diesem Zusammenhang<br />
gesprochen. Ich hoffe deshalb, Sie nehmen es mir ab, wenn ich sage: Ich habe<br />
großen Respekt davor, was Sie als Lehrerinnen und Lehrer in <strong>der</strong> Schule leben und<br />
leisten. Gott segne diesen wichtigen Dienst aus und in unserer Gesellschaft, diesen<br />
Dienst, für den ich keine bessere Überschrift weiß als: Bilden als Beruf.
- 21 -<br />
Prof. Dr. Werner Helsper<br />
Verän<strong>der</strong>te Jugend – verän<strong>der</strong>te Schule:<br />
Aufgaben und Herausfor<strong>der</strong>ungen für den Lehrer(innen)beruf<br />
Wenn von Herausfor<strong>der</strong>ungen – zudem von „neuen“ – für den Beruf <strong>der</strong> Lehrerin/des<br />
Lehrers gesprochen wird, dann gilt es zu bestimmen, was den Kern, gewissermaßen<br />
das „Typische“ dieses Berufes ausmacht. Dies werde ich tun, indem ich den<br />
Lehrberuf in ein Ensemble strukturell ähnlicher Berufe einfüge – in die Professionen<br />
– und danach frage, welches Stück dieses Professionsensemble – im Unterschied zu<br />
an<strong>der</strong>en Berufen – aufführt und welchen Part darin die Lehrer(innen)profession<br />
übernimmt.<br />
Ich möchte die Thematik in drei Schritten angehen:<br />
1. werde ich zentrale, zwar historisch wandelbare, aber konstitutiv mit dem<br />
Lehrerberuf einhergehende Anfor<strong>der</strong>ungen und Aufgaben bestimmen. Ich<br />
werde dies tun, indem ich den Lehrberuf als spezifische Form von<br />
Professionen bestimme.<br />
2. werde ich zentrale Verän<strong>der</strong>ungen und Verschiebungen in den Bedingungen<br />
des Aufwachsens ab <strong>der</strong> Frühadoleszenz, also etwa ab dem Beginn <strong>der</strong><br />
Sekundarstufe I skizzieren. Im Mittelpunkt stehen Verän<strong>der</strong>ungen im<br />
Verhältnis von Jugend und Schule.<br />
3. werde ich diese dann knapp auf die vorher bestimmten Struktur- o<strong>der</strong><br />
Kernaufgaben <strong>der</strong> Lehrprofession beziehen und fragen, was daraus für diese<br />
Aufgaben resultiert.<br />
Lassen Sie mich einige Bemerkungen vorausschicken: Der Lehrberuf eignet sich –<br />
wie kaum ein an<strong>der</strong>er – dazu, mit immer neuen Aufgaben und Erwartungen<br />
überbordend konfrontiert zu werden. Damit sind die Enttäuschungen bereits<br />
vorprogrammiert und die Lehrerschelte eingeläutet. So gilt es über die Grenzen des<br />
Lehrerhandelns nachzudenken: Lehrer sind nicht in <strong>der</strong> Lage, alle „Übel <strong>der</strong> Welt“<br />
und strukturell erzeugte Problemlagen zu bearbeiten. Sie sind in ihrem Kerngeschäft<br />
für die Vermittlung fachlicher und fächerübergreifen<strong>der</strong> Wissensbestände, die<br />
Ermöglichung von Bildungsprozessen und die Kompetenzentwicklung zuständig.<br />
Dies kann nicht ohne die Bezugnahme auf die Erfahrungs- und Ausgangslagen <strong>der</strong><br />
Schülerinnen und Schüler, ihre psychosozialen Voraussetzungen und<br />
Lebensbedingungen geschehen. Diese Ausbalancierung <strong>der</strong> Spannung – o<strong>der</strong> wie<br />
ich zu formulieren pflege: <strong>der</strong> Antinomie – von Person und Sache ist unabdingbar.<br />
Das ist aber etwas an<strong>der</strong>es, als Lehrer für die Verhin<strong>der</strong>ung von Gewalt, Sucht und<br />
Drogenkonsum, extremistische Orientierungen, Kriminalität, für die Ermöglichung von<br />
Gesundheit, demokratischen Orientierungen, sozialem Engagement etc. zentral o<strong>der</strong><br />
gar allein verantwortlich zu machen. Die Schule und das Lehrerhandeln spielen auch<br />
dafür eine Rolle – wie empirische Studien gut belegen – und deswegen ist es<br />
bedeutsam, dass Lehrkräfte mit ihrem Handeln Probleme nicht verschärfen und<br />
gewünschte Haltungen auf Seiten <strong>der</strong> Schüler in ihrer Entwicklung nicht<br />
beeinträchtigen son<strong>der</strong>n för<strong>der</strong>n. Zugleich muss aber darauf insistiert werden, dass<br />
diese Phänomene, die es zu beför<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu verhin<strong>der</strong>n gilt, in komplexen, vielfach<br />
auch außerschulischen Zusammenhängen und nicht zuletzt in übergreifenden<br />
sozialen und kulturellen gesellschaftlichen Entwicklungen wurzeln, auf die Lehrkräfte<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger gute und passende pädagogische Antworten geben können, die<br />
sie aber nicht zu verantworten haben und die sie auch nicht direkt beeinflussen<br />
können.
- 22 -<br />
1. Aufgaben des Lehrberufs als „pädagogischer Profession“<br />
Der Lehrberuf soll hier als Profession bestimmt werden: Professionen – die<br />
klassischen: etwa Medizin und Recht, Seelsorge, die neueren: etwa Therapeuten<br />
o<strong>der</strong> Pädagogen – sind durch verschiedene, für sie grundlegende Strukturmerkmale<br />
gekennzeichnet:<br />
- Sie verantworten zentrale gesellschaftliche Werte, knappe Güter, die sie<br />
„zuteilen“, herstellen o<strong>der</strong> ermöglichen: Für die Jurisprudenz die<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung o<strong>der</strong> Ermöglichung von Gerechtigkeit, für die Medizin<br />
physische Gesundheit, zumindest die Erträglichkeit von Krankheit o<strong>der</strong> auch ein<br />
menschenwürdiges Sterben, für die Geistlichen das Seelenheil <strong>der</strong> Gläubigen,<br />
für die Psychotherapeuten die psychosoziale Integrität und das Lebensglück und<br />
für Pädagogen die Vermittlung von Wissen, Können, Kompetenzen, o<strong>der</strong>: <strong>der</strong><br />
Aufbau psychischer Strukturen, die zu lebenspraktischer Autonomie und<br />
gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit führen sollen, so dass Pädagogen<br />
schließlich im Lebenslauf zunehmend überflüssig werden.<br />
- Ihre Klienten sind dadurch gekennzeichnet, dass es ihnen an diesen zentralen<br />
Werten mangelt, sie diese noch nicht besitzen o<strong>der</strong> vorübergehend bzw.<br />
grundlegend von ihnen getrennt sind. Ihnen ist – zumindest in ihrem Empfinden –<br />
von Seiten an<strong>der</strong>er Ungerechtigkeit und Leid wi<strong>der</strong>fahren; sie sind physisch<br />
beeinträchtigt, leiden Schmerzen o<strong>der</strong> sind vom Tod bedroht; sie können und<br />
wissen vieles noch nicht, das sie zur eigenständigen Lebensführung, zur<br />
gesellschaftlichen Teilhabe und Selbsterhaltung benötigen. Professionelle<br />
beziehen sich somit auf eine lebenspraktische Krise ihrer Adressaten, die es<br />
gemeinsam mit ihnen so zu lösen und zu bewältigen gilt, dass neue<br />
Handlungsmöglichkeiten, lebenspraktischen Ressourcen und Kompetenzen<br />
entstehen können, die eine autonome Handlungsfähigkeit auf erweitertem<br />
Niveau (wie<strong>der</strong>) eröffnen können. Dies hat, auch wenn im Lehrberuf vor allem die<br />
Routine zu dominieren scheint, eine eminente Bedeutung: Denn Lehrer sind nur<br />
dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt „Krisen“ zu initiieren, ja sie sind geradezu<br />
verpflichtet immer wie<strong>der</strong> erreichte kognitive, sprachliche, symbolische<br />
Gewissheiten, im Sinne des erreichten Wissensstandes, unter Druck zu setzen,<br />
sie zu verflüssigen, in Bewegung zu bringen und so neue<br />
Erkenntnismöglichkeiten freizusetzen. Sie sind als Krisenagenten somit<br />
Agenten <strong>der</strong> Entstehung des Neuen! Sie scheitern dann, wenn es ihnen nicht<br />
gelingt Krisen zu initiieren. Und sie scheitern auch dann, wenn es ihnen nicht<br />
gelingt die initiierten Krisen in Kooperation mit den Schülern wie<strong>der</strong> zu schließen<br />
– aber immer nur vorläufig bis zur nächsten Kriseninitiierung.<br />
- Professionelle besitzen zur Intervention in <strong>der</strong>artigen Krisensituationen<br />
wissenschaftliche Wissensbestände, Fachsprachen, professionelles<br />
Können und Methoden, über das die Klienten in aller Regel nicht in gleichem<br />
Maße verfügen. Diese Wissensbestände und Kompetenzen bilden einerseits die<br />
Legitimationsgrundlage für das professionelle Handeln, das ja gegenüber dem<br />
alltäglichen Handeln eine vielfach gesteigerte Verpflichtung zur Begründung<br />
aufweist, kurz: Ich kann mein professionelles Handeln nur dann legitimieren,<br />
wenn ich in <strong>der</strong> Lage bin, es mit Bezug auf anerkanntes und legitimes Wissen zu<br />
verantworten. Zum an<strong>der</strong>en ermöglichen diese geson<strong>der</strong>ten Fachsprachen und<br />
Wissensbestände auch eine Art Eigenwelt <strong>der</strong> Professionellen, die sich damit<br />
auch gegenüber Einblicken ihrer Klientel abschirmen können und mit diesen
- 23 -<br />
sogenannten „höhersymbolischen Sinnwelten“ auch Barrieren <strong>der</strong> Zugänglichkeit<br />
errichten (vgl. Schütze 1996).<br />
- Die Beziehungsstruktur zwischen Klienten und Professionellen ist daher auch<br />
asymmetrisch, durch eine ungleiche Machtverteilung gekennzeichnet, weil sich<br />
Klienten in <strong>der</strong> Regel in einer krisenhaften o<strong>der</strong> bedürftigen Situation befinden,<br />
von den Interventionen <strong>der</strong> Professionellen abhängig sind und ihnen zugleich <strong>der</strong><br />
umfassende Einblick in die Wissensbestände, die Hintergründe und die<br />
Grundlagen <strong>der</strong> professionellen Entscheidungen fehlen. Professionelle haben<br />
somit häufig die Definitionsmacht, greifen mitunter tief in die Persönlichkeit und<br />
die physische o<strong>der</strong> psychosoziale Integrität ihrer Klientel ein. Daraus resultiert<br />
auch die Gefahr, die von Professionellen ausgehen kann, wenn sie<br />
unangemessen, mit falscher Diagnose, unachtsam, vorschnell verallgemeinernd,<br />
mit zu wenig Zeit, unter zu starkem äußeren Handlungsdruck etc. entscheiden<br />
und handeln müssen. Professionelle können damit selbst zur<br />
Problemgenerierung, ja zur Verschärfung von lebenspraktischen Krisen<br />
beitragen, die sie ja im Zusammenspiel mit ihrer Klientel eigentlich lösen o<strong>der</strong><br />
bearbeiten sollen. Und diese Risiken wachsen in dem Maße, in dem<br />
Professionelle immer umfassen<strong>der</strong> in lebenspraktische Entscheidungen, den<br />
Lebensverlauf, die Entwicklung <strong>der</strong> Person, die Definition und Kontrolle dessen,<br />
was angemessen, „normal“ und Standard ist, einbezogen sind. Für Lehrkräfte ist<br />
dies evident, denn einerseits ist die unterschiedliche För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Kompetenzentwicklung für den weiteren Lebensweg von großer Bedeutung und<br />
zum an<strong>der</strong>en greifen sie ganz entscheidend mit ihren Leistungsbewertungen,<br />
Bildungsgangentscheidungen und <strong>der</strong> Vergabe von Abschlüssen in die<br />
jugendliche Selbstentwicklung und die zukünftige Chancenstruktur ihrer Klientel<br />
ein.<br />
- Zudem sind Professionelle in ein grundlegendes Dilemma eingerückt: Sie<br />
müssen handeln, müssen entscheiden, selbst wenn sie sich unsicher sind, die<br />
Diagnose ungewiss, die Sachlage nicht klar und die Gründe für die Komplikation<br />
offen erscheinen. Sie unterliegen einem Entscheidungszwang können nicht<br />
Nicht-Handeln. Wenn <strong>der</strong> Unterrichtsverlauf ins Stocken gerät, sich in <strong>der</strong> Klasse<br />
Unruhe verbreitet, die Schüler uninteressiert erscheinen o<strong>der</strong><br />
Verständnisprobleme auftauchen, immer wie<strong>der</strong> dieselben Fehler auftreten, noch<br />
so gut gemeinte Aktivierungsvorschläge versanden, in all diesen Fällen müssen<br />
von Lehrern blitzschnell und unter teilweise starkem Handlungsdruck,<br />
Entscheidungen getroffen werden. Dies macht die Riskanz des professionellen<br />
Handelns aus, dass ja nicht nur Handeln in Selbstverantwortung, son<strong>der</strong>n<br />
zugleich in Verantwortung für An<strong>der</strong>e ist.<br />
- Zugleich befinden sich die Professionsakteure in einer eher unglücklichen<br />
Position: Bei aller Macht und Überlegenheit, die sie besitzen, können sie ihre<br />
Ziele – Gesundung, psychisches Wohlbefinden, Gottesglaube, Wissen und<br />
Können – nicht unproblematisch durch ihr eigenes Tun erreichen. Sie benötigen<br />
die Mitwirkung ihrer Klientel, ja, das was erreicht werden soll, ist gerade nur<br />
auf Seiten <strong>der</strong> Klienten herzustellen, die daran mitwirken, mitarbeiten, sich<br />
anstrengen und aktiv sein müssen. Was Professionelle erreichen wollen, liegt auf<br />
<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en und dem direkten Zu- und Eingriff entzogen: Den Satz des<br />
Pythagoras kann <strong>der</strong> Lehrer/die Lehrerin zwar methodisch geschickt, interessant,<br />
medial vielfältig und an die Vorerfahrungen <strong>der</strong> Schüler anknüpfend vermitteln,<br />
aber nicht stellvertretend für die Schüler verstehen. Auf die Seite <strong>der</strong> Aneignung,<br />
den eigentlichen Bildungsprozess, <strong>der</strong> ein konstruktiver psychischer, emotionaler<br />
und kognitiver Vorgang ist, können Lehrkräfte nur mittelbar Einfluss nehmen.
- 24 -<br />
Und wie die Forschungsergebnisse zur Unterrichtsqualität zeigen, lassen sich<br />
zwar wichtige Dimensionen angeben, die den Unterrichtserfolg positiv<br />
beeinflussen, doch keine generalisierbare Vorgehensweise des Lehrerhandelns,<br />
die Unterrichtserfolg sicher versprechen kann (vgl. zusammenfassend Helmke<br />
2003, Meyer 2004).<br />
- Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg im professionellen Handeln ist ein<br />
Arbeitsbündnis, das auf Gegenseitigkeit beruht, aber das nicht erzwungen<br />
werden kann, selbst wenn Zwang und Not im Spiel sind. Erst dieses<br />
Arbeitsbündnis sichert die Basis, dass Professionelle und Klienten am selben<br />
arbeiten, ein gemeinsames Ziel verfolgen, so dass Schüler sich etwa einen<br />
Gegenstand aneignen wollen, dafür mit allen Fragen, Unklarheiten und Fehlern,<br />
mit vorliegenden Vermutungen und Erklärungen sich an den Lehrer wenden, die<br />
dieser aufgreift, Hilfe zum Weiterdenken gibt, die Schüler stützt und flankiert,<br />
seinerseits Fragen stellt, vorschnelle Lösungen irritiert und dies alles ohne die<br />
Schüler für das Unwissen, die Fehler o<strong>der</strong> Irrwege zu beschämen. Fehlt ein<br />
<strong>der</strong>artiges Arbeitsbündnis, ist die Grundlage für die Initiierung von<br />
Bildungsprozessen und Wissenserwerb nicht gegeben. Dieses Arbeitsbündnis ist<br />
dabei durch strukturelle, nicht aufhebbare, son<strong>der</strong>n nur reflektiert zu<br />
handhabende Spannungen bzw. Antinomien gekennzeichnet (vgl. Schütze u.a.<br />
1996): Es bedarf des gegenseitigen Vertrauens, obwohl <strong>der</strong> Professionelle in<br />
aller Regel kein Vertrauter ist; es bedarf <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong> ganzen Person,<br />
an einer diffusen Nähe, obwohl <strong>der</strong> Professionelle eher fremd und nicht nah ist,<br />
eine Nähe, die aber zugleich begrenzt werden muss; es bedarf einer Als-Ob-<br />
Haltung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung und Zuschreibung von Autonomie trotz bestehen<strong>der</strong><br />
Heteronomie etc. (vgl. Oevermann 2002, Helsper 2004, Helsper/Hummrich<br />
<strong>2006</strong>).<br />
- Professionelle besitzen – das unterscheidet sie von Ingenieuren, Statikern,<br />
Konstrukteuren, die ebenfalls eine wissenschaftliche Wissensbasis haben –<br />
somit keine sichere „Technologie“. Systemtheoretiker – wie etwa Niklas<br />
Luhmann (2001) – sprechen hier von einem „Technologiedefizit“, das in <strong>der</strong><br />
Medizin eher am geringsten, in <strong>der</strong> Pädagogik wohl am deutlichsten ausgeprägt<br />
ist.<br />
- Damit geht einher, dass Professionelle immer in <strong>der</strong> Spannung von Einzelfall<br />
und Verallgemeinerung arbeiten: Was in einem Fall gilt, muss nicht im an<strong>der</strong>en<br />
Fall auch umfassend gelten. Lehrer kennen das aus <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong>kehrenden<br />
Erfahrung, das eine Unterrichtsreihe, die im vorigen Jahr ganz ausgezeichnet<br />
lief, in diesem Jahr, in dieser Klasse ständig stockt. Zudem besteht die Gefahr,<br />
dem Einzelnen o<strong>der</strong> auch einer spezifischen Gruppe nicht gerecht zu werden,<br />
wenn sie vorschnell einem Typus untergeordnet werden: Also vorschnell als „Fall<br />
von...“ abgelegt werden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sind <strong>der</strong>artige Klassifikationen<br />
zwingend, weil nicht jedes Mal ein Einzelfall ganz neu entfaltet werden kann und<br />
weil subsumtive Eingruppierungen und Ordnungsschemata wichtig sind, um sich<br />
in komplexen Handlungszusammenhängen orientieren zu können.<br />
Was ist nun die Beson<strong>der</strong>heit – wenn die Typik des Lehrberufs als Profession zu<br />
fassen ist – dieser spezifischen pädagogischen Profession im Unterschied zu<br />
an<strong>der</strong>en? Dies hängt – wie<strong>der</strong> im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n und Kulturen –<br />
mit dem spezifischen deutschen Son<strong>der</strong>weg <strong>der</strong> Verberuflichung und<br />
<strong>Institut</strong>ionalisierung des Schulwesens und mit dem spezifischen Gegenstand, an dem<br />
sie arbeiten, zusammen, nämlich die psychische Entwicklung, Bildungsprozesse,
- 25 -<br />
Wissen und Kompetenzen von Heranwachsenden zu initiieren und zu beför<strong>der</strong>n. Die<br />
folgenden Punkte scheinen mir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – bedeutsam:<br />
- Der Lehrberuf ist keiner <strong>der</strong> „freien“ Berufe, son<strong>der</strong>n seine Entstehung ist –<br />
insbeson<strong>der</strong>e in Deutschland – auf das engste mit Staat und Organisation<br />
verbunden: Die pädagogische Profession <strong>der</strong> Lehrer ist damit eine staatlich<br />
konstituierte und kontrollierte. Pädagogisches Lehrerhandeln ist somit immer<br />
Handeln in staatlichen, organisatorischen Rahmungen gewesen und unterliegt<br />
<strong>der</strong>en Strukturierung. Es ist damit beson<strong>der</strong>s stark in die Spannung<br />
organisatorischer Vorstrukturierungen und <strong>der</strong> für professionelles Handeln<br />
notwendigen Offenheit <strong>der</strong> Gestaltung interaktiver und kommunikativer Prozesse<br />
gestellt.<br />
- Daher weist es in beson<strong>der</strong>er Form ein Autonomieproblem auf: Die Regeln, die<br />
Vorgehensweise, die Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns<br />
werden nicht von den Lehrkräften, son<strong>der</strong>n durch staatliche Beschlüsse, Erlasse,<br />
Verordnungen, Landes- und zum Teil Bundesgesetzgebungen geregelt. Erst in<br />
diesen Rahmungen können Lehrer ihre pädagogische, didaktische und<br />
methodische Freiheit realisieren. Die an<strong>der</strong>e Seite des Autonomieproblems ist,<br />
dass Lehrkräfte auch dazu neigen, diese Autonomieproblematik entlastend<br />
einzusetzen, ihre eigenen konkreten Handlungsspielräume systematisch<br />
unterschätzen und die Handlungszwänge zu stark zu betonen. So findet sich in<br />
den Deutungsmustern von Lehrkräften immer wie<strong>der</strong> ein Oszillieren zwischen<br />
<strong>der</strong> Klage zu vieler Zwänge und <strong>der</strong>en entlasten<strong>der</strong> Verwendung gegenüber<br />
Freiheits- und Gestaltungsauffor<strong>der</strong>ungen. Diese doppelte Autonomieproblematik<br />
wurzelt nicht zuletzt darin, dass Schulen als staatlich organisierte <strong>Institut</strong>ionen<br />
immer bereits vorgegeben und vorstrukturiert sind, so dass sich Lehrer im Zuge<br />
<strong>der</strong> zunehmenden Verfachlichung und Verwissenschaftlichung vornehmlich als<br />
Fachlehrer begreifen können, die zwar für die Vermittlung ihres fachlichen<br />
Wissens zuständig sind, nicht aber für die Gestaltung und <strong>Institut</strong>ionalisierung<br />
<strong>der</strong> Schule als einer pädagogischen <strong>Institut</strong>ion insgesamt.<br />
- Lehrer sind zudem ganz entscheidend in hoheitsstaatliche Aufgaben involviert,<br />
vor allem in Form von Selektionsentscheidungen, <strong>der</strong> Verteilung von<br />
Zugangsrechten und Lebenschancen. Sie sollen nicht nur Wissen, Kenntnisse,<br />
Fertigkeiten und Kompetenzen auf Seiten <strong>der</strong> Schülerinnen beför<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />
sie sollen diese auch beurteilen, in eine Rangreihe bringen,<br />
Zugangsberechtigungen und Chancen verteilen. Damit gestaltet sich ihre<br />
pädagogische Tätigkeit – in <strong>der</strong> deutschen Tradition des staatlichen<br />
Schulsystems mit seinen frühen und beson<strong>der</strong>s weitreichenden<br />
Selektionsentscheidungen beson<strong>der</strong>s drastisch – sehr wi<strong>der</strong>spruchsvoll: Sie<br />
werden – um mit einer Anleihe bei einer an<strong>der</strong>en Profession zu argumentieren –<br />
zugleich zu Anwälten <strong>der</strong> Schüler und zu <strong>der</strong>en Richtern. Daraus resultieren<br />
strukturelle Belastungen des Arbeitsbündnisses, des Vertrauens, <strong>der</strong><br />
notwendigen Nähe, Personorientierung und eine Verstärkung <strong>der</strong> Asymmetrie.<br />
Wenn sich in Untersuchungen zur Selektions- und Beurteilungstätigkeit von<br />
Lehrern zeigt, dass Lehrer damit vergleichsweise wenig Probleme haben (vgl.<br />
etwa Terhart 2001a, Lü<strong>der</strong>s 2001), dann ist dies auch darüber zu erklären, dass<br />
es genau dieser Aspekt ihrer Tätigkeit ist, <strong>der</strong> ihnen auch soziale Macht,<br />
Einflussmöglichkeiten und auch Druckmittel verleiht, kurz: <strong>der</strong> ihnen deutliche<br />
Macht über die Lebenschancen ihrer Klientel gibt.<br />
- Aus dieser Zwiespältigkeit resultiert für die Lehrerschaft ein „Mandatsproblem“:<br />
Ist <strong>der</strong> Lehrer/die Lehrerin zentral dem Staat, den hoheitsstaatlichen,<br />
insbeson<strong>der</strong>e den Selektionsaufgaben o<strong>der</strong> <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> einzelnen Schüler
- 26 -<br />
und <strong>der</strong> Lerngruppe verpflichtet? Beides gleichermaßen zu leisten, führt mitunter<br />
in professionsethische Dilemmata (vgl. Oser 1998), da Lehrer mit ihren<br />
Selektionsentscheidungen auch zur Erschwerung o<strong>der</strong> gar zum Scheitern von<br />
Bildungsprozessen und Bildungslaufbahnen beitragen (vgl. Cortina u.a. 2003,<br />
Helsper/Hummrich 2005, Baumert u.a. <strong>2006</strong>).<br />
- Damit geht – im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Professionen – eine weitere Belastung<br />
des Arbeitsbündnisses einher: Schüler müssen zur Schule, da sie <strong>der</strong><br />
Schulpflicht bis zum Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe I unterliegen. Im Unterschied zu<br />
an<strong>der</strong>en Professionen – etwa Ärzten, Therapeuten, Anwälten, Seelsorgern –<br />
kommen die Klienten <strong>der</strong> Lehrer nicht freiwillig zu ihnen, verbunden mit <strong>der</strong><br />
Möglichkeit <strong>der</strong> freien Anwahl <strong>der</strong> Professionellen. We<strong>der</strong> die Lehrer, noch die<br />
Schüler können auswählen. Somit ist für die Profession <strong>der</strong> Lehrer die<br />
Zwangskopplung <strong>der</strong> Normalfall, wodurch die Spannung von Zwang und<br />
Autonomie beson<strong>der</strong>s angespannt wird. Daraus resultieren auch die<br />
Assoziationen, die den Lehrer immer wie<strong>der</strong> in eine Nähe zum Dompteur und<br />
Wärter rücken, was Adorno in seinen Tabus über den Lehrberuf so eindrücklich<br />
gefasst hat. Ulrich Oevermann (1996) geht soweit, den Schulzwang als<br />
strukturelle Ursache vieler Belastungen und Probleme im Lehrerhandeln zu<br />
bestimmen und darin ein grundlegendes Hin<strong>der</strong>nis für die weitere<br />
Professionalisierung des Lehrberufs zu sehen.<br />
- Lehrerinnen und Lehrer sind – obwohl für Professionen insgesamt<br />
kennzeichnend – beson<strong>der</strong>s deutlich mit dem „Technologiedefizit“ konfrontiert:<br />
Zwar verfügen Lehrerinnen und Lehrer in aller Regel über ein ausdifferenziertes<br />
methodisches und (fach)didaktisches Wissen und Handlungsrepertoire (vgl.<br />
Bauer 1997), über die Gestaltung, den Aufbau, den Ablauf und die<br />
Aufeinan<strong>der</strong>folge von Fachinhalten über die Jahrgangsstufen hinweg. Sie<br />
müssen aber in beson<strong>der</strong>s komplexen, von vielen Rahmenbedingungen und<br />
Hintergründen beeinflussten sozialen Kontexten agieren, was eine systematische<br />
Kontrolle <strong>der</strong> Erfolgsbedingungen sehr erschwert.<br />
- Dies hängt auch damit zusammen, dass Lehrer mit vielen und zudem großen<br />
Gruppen von Schülern agieren. Das unterscheidet sie von allen Professionen,<br />
die vorrangig mit dyadischen Konstellationen und kleineren Fallzahlen zu tun<br />
haben. Das trägt zu einer beson<strong>der</strong>en Schwierigkeit im reflektierten Umgang mit<br />
Typisierungen und Verallgemeinerungen (so einer, Fall von etc.) einerseits und<br />
einer auf die spezifische Lerngruppe, Untergruppen o<strong>der</strong> die einzelnen Schüler<br />
bezogenen individuellen und einzelfallspezifischen Lerndiagnose bei. Denn <strong>der</strong><br />
Umgang mit großen Schülerzahlen erzwingt gewissermaßen Homogenisierung<br />
und Typisierung, auch die Konstruktion eines „Normschülers“, dem häufig nur ein<br />
kleiner Teil <strong>der</strong> Klasse entspricht. Und die große Schülerzahl erschwert<br />
individualisierende, einzelfallspezifische und differenzierende Perspektiven. Aus<br />
<strong>der</strong> Konfrontation mit Schülergruppen in Form von Klassen, die zumeist noch<br />
nicht volljährig und lebenspraktisch autonom sind, resultiert zudem eine äußerst<br />
komplexe triadische Struktur des pädagogischen Arbeitsbündnisses, das die<br />
an<strong>der</strong>er professioneller Arbeitsbündnisse an Komplexität deutlich übertrifft:<br />
Dieses muss individualisierend mit den einzelnen Schülern bestehen. Diese<br />
dyadischen Arbeitsbündnisse zwischen Lehrer und einzelnen Schülern müssen<br />
aber in den Kontext eines Bündnisses mit <strong>der</strong> gesamten Klasse als Lerngruppe<br />
eingebettet sein, das durch Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller<br />
gekennzeichnet sein muss. Und drittens muss – wegen <strong>der</strong> fehlenden<br />
Volljährigkeit – ebenfalls ein Arbeitsbündnis mit den Eltern geschlossen werden.<br />
Nicht nur deswegen, weil Eltern für die schulische Bildung ihrer Kin<strong>der</strong>
- 27 -<br />
wesentlich mitverantwortlich sind, son<strong>der</strong>n auch weil sie an entscheidenden<br />
Stellen stellvertretend für ihre Kin<strong>der</strong> bzw. in Abstimmung mit ihnen schulischen<br />
Entscheidungen, Prozessen und Abläufen zustimmen müssen (vgl.<br />
Helsper/Hummrich <strong>2006</strong>).<br />
- Die Gestaltung dieses Arbeitsbündnisses mit den Eltern gestaltet sich mitunter<br />
auch deswegen schwierig, weil Lehrer im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Professionen<br />
weniger Möglichkeiten aufweisen, sich gegen Einmischung und Übergriffe von<br />
außen zu immunisieren, weil sie ein weniger entfaltetes eigenes pädagogisches<br />
Wissenschaftswissen und eine eigene Fachsprache besitzen – sicherlich auch<br />
ein Problem <strong>der</strong> vielfach kritisierten Lehrerausbildung (vgl. Terhart 2001b) – und<br />
zudem in einer <strong>Institut</strong>ion tätig sind, die je<strong>der</strong> aus seiner eigenen Schulzeit zu<br />
kennen glaubt. Von daher besteht eine beson<strong>der</strong>e Anfälligkeit von Lehrern dafür,<br />
dass je<strong>der</strong> meint „mitreden“ und den Unterricht in Frage stellen zu können. Der<br />
Schutz vor Einmischung und Außenkritik ist bei Lehrern also – im Unterscheid zu<br />
an<strong>der</strong>en Professionen, obwohl sich auch hier Verän<strong>der</strong>ungen vollziehen –<br />
beson<strong>der</strong>s gering ausgeprägt. Dies macht sie auch im Rahmen <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit, von Verbänden, von Seiten <strong>der</strong> Politik, vor allem aber auch von<br />
Seiten <strong>der</strong> Eltern so angreifbar und ermöglicht es, sie entgrenzend für alles, was<br />
mit Erziehung, Bildung und Lernen zu tun hat, „haftbar“ zu machen.<br />
- Der Erfolg des Lehrerhandelns ist – je umfassen<strong>der</strong> die Bildungsziele und -<br />
ansprüche formuliert sind – noch schwieriger sichtbar und eher langfristig<br />
angelegt als bei an<strong>der</strong>en Professionen. Daraus resultiert auch eine starke<br />
„Produktorientierung“, nicht nur bei Schülern, son<strong>der</strong>n auch bei Lehrern: Das<br />
Tafelbild, die Mitschrift, das ausgefüllte Arbeitsblatt, die Hausaufgaben, die<br />
mündliche Kontrolle, <strong>der</strong> Kurztest etc. sind die Markierer des Erfolgs, an denen<br />
sich dieser ablesen lässt (Kalthoff 1997, Breidenstein <strong>2006</strong>).<br />
Diese Bestimmungen verdeutlichen, dass <strong>der</strong> Lehrberuf im Unterschied etwa zu den<br />
sogenannten klassischen Professionen teilweise voraussetzungsreichere und<br />
komplexere Anfor<strong>der</strong>ungen aufweist, zugleich wi<strong>der</strong>spruchsvoller, störanfälliger und<br />
fragiler organisiert ist. Und die Lehrprofession weist weniger individuelle und<br />
institutionelle Ressourcen zur reflexiven Auseinan<strong>der</strong>setzung, kollegialen<br />
Kooperation und Beratung im Sinne einer in den <strong>Institut</strong>ionen verankerten kollegialen<br />
Reflexionskultur auf, da Lehrer sich häufig als Einzelkämpfer in Konfrontation mit <strong>der</strong><br />
Klasse im Sinne eines „zellulären Individualismus“ begreifen. Damit müssen<br />
entlastende, beratende und reflexive Elemente im Sinne einer institutionellen<br />
professionellen Kollegialität erst noch entwickelt werden (vgl. etwa Bauer 2004,<br />
Bonsen/Rolff <strong>2006</strong>). Zugleich werden Lehrer in den letzten Jahren im Zuge einer<br />
grundlegenden Umstrukturierung <strong>der</strong> Schullandschaft mit neuen Anfor<strong>der</strong>ungen im<br />
Zuge einer For<strong>der</strong>ung nach stärkerer Autonomie und Gestaltung <strong>der</strong> Einzelschule,<br />
verbunden mit stärkeren Vergleichen zwischen Schulen, Selbst- und<br />
Fremdevaluation und Systemmonitoring und <strong>der</strong> zunehmenden Einführung von<br />
Konkurrenz und marktförmigen Elementen in das Schulsystem mit neuen Aufgaben<br />
konfrontiert.<br />
Wie lassen sich nun die professionellen Aufgaben und Anfor<strong>der</strong>ungen an Lehrkräfte,<br />
die bislang eher allgemein als die Initiierung und Ermöglichung fachlicher und<br />
überfachlicher Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklungen gefasst worden sind,<br />
ausdifferenzieren? Lehrer haben, als professionelle Vermittler zwischen Person und<br />
Sache in Form <strong>der</strong> Unterrichtsinteraktion die folgenden zentralen und hoch<br />
bedeutsamen Aufgabenbereiche (die skizzierten Bestimmungen des professionellen<br />
Lehrerhandelns als Basis mitgedacht):
- 28 -<br />
1. die durch pädagogisches, didaktisches und methodisches Handeln<br />
angeleitete Ermöglichung <strong>der</strong> Aneignung domänenspezifischer, also<br />
fachlicher Wissensbestände in einer Form, die diese den Schülern<br />
verständlich und verstehbar macht und ihren Erfahrungshintergrund an<br />
fachsprachliche und fachwissenschaftliche Wissensbestände anschlussfähig<br />
werden lässt (fachliches Wissen und fachspezifische Kompetenzen im<br />
engeren Sinne).<br />
2. Die Einführung in die „Philosophie des Faches“ (vgl. Baumert 2003), also die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Fragen, wofür dieses Fach unersetzbar ist, was<br />
verloren geht, wenn man die Welt nicht auch mathematisch o<strong>der</strong> ästhetisch<br />
zu sehen vermag und damit die Einführung in unersetzbare Welt- und<br />
Selbstzugänge. Es geht dabei um die Aufschließung des grundlegenden<br />
Sinns, sich mit diesem Fach – auch wenn es nicht im Zentrum <strong>der</strong> eigenen<br />
Interessen liegt – auseinan<strong>der</strong> zu setzen (Einführung in spezifische Formen<br />
des Weltzugangs).<br />
3. Den Aufbau – dies allerdings als „Gesamtlehrkörper“ und als<br />
Gesamtbildungsaufgabe <strong>der</strong> Schule – von grundlegenden sprachlichen,<br />
moralischen, sozialen und kognitiven Kompetenzen im Sinne einer<br />
Dezentrierung des Selbst- und Weltverständnisses, wie es etwa von Piaget,<br />
Kohlberg o<strong>der</strong> von Habermas als eine zunehmend komplexere, reflexivere<br />
und autonomere Möglichkeit zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> sozialen, <strong>der</strong><br />
natürlichen und <strong>der</strong> subjektiven Welt gefasst worden ist (Dezentrierung und<br />
Autonomieentfaltung).<br />
4. Damit geht auch die Aufgabe <strong>der</strong> Begleitung <strong>der</strong> Selbst- und<br />
Identitätsentwicklung über die Kindheit in die Adoleszenz mit all ihren<br />
entscheidenden psychischen und kognitiven Verän<strong>der</strong>ungen einher: Etwa <strong>der</strong><br />
Entstehung und selbstbezogenen Ausbildung fachlicher Interessen und<br />
Weltzugänge, <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit und Reflexion <strong>der</strong> eigenen<br />
Herkunftsbezüge und des bisherigen Selbst- und Weltverständnissen, <strong>der</strong><br />
reflexiven Neuorientierung und Selbstverortung. Hier fungieren Lehrerinnen<br />
und Lehrer als mögliche signifikante, für die Bildungsbiographie hoch<br />
bedeutsame An<strong>der</strong>e (Selbst- und Identitätsentwicklung).<br />
5. Zudem führt die Schule über den Kreis naher sozialer Zusammenhänge<br />
hinaus und öffnet den Horizont für gesellschaftlich-soziale Bildungsprozesse<br />
im erweiterten Maßstab – also die grundlegende soziale, moralische und<br />
politische Dimension <strong>der</strong> Schule als eines organisatorisch strukturierten<br />
Raumes <strong>der</strong> erweiterten Gesellschaft. Darin werden Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
zum ersten Mal verbindlich mit <strong>der</strong> sozialen Welt übergreifend geregelter,<br />
verbindlichen Maßstäben unterliegen<strong>der</strong> gesellschaftlicher <strong>Institut</strong>ionen<br />
konfrontiert und darin lernen sie exemplarisch den Umgang mit<br />
universalistisch geregelten sozialen Ordnungen, die über primäre,<br />
vergemeinschaftete soziale Zusammenhänge wie Familie, Nachbarschaft<br />
o<strong>der</strong> Freundschaften hinausweisen (politische und soziomoralische<br />
Bildung).<br />
6. Schließlich – im starken Spannungsverhältnis zu den an<strong>der</strong>en Bereichen (vgl.<br />
oben) – die Zuteilung und Zuweisung von Bildungslaufbahnen und<br />
Lebenschancen in <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> Selektionsaufgaben von Anfang an<br />
(Selektionsaufgabe).<br />
Wenn die Aufgabenbereiche 1 und 6 für Lehrer zumeist selbstverständlich sind, so ist<br />
bereits die Aufgabe, den Schülern die Philosophie des Faches nahe zu bringen, also<br />
eine fachspezifische Sinnstiftung vorzunehmen, keineswegs selbstverständlich. Und
- 29 -<br />
die Aufgabenbereiche 3 bis 5, die nur in einer verallgemeinerten Perspektive auf die<br />
Gesamtbedeutung <strong>der</strong> Schule in den Blick geraten, sind häufig gegenüber <strong>der</strong><br />
Dominanz von und <strong>der</strong> Begrenzung auf die Fachinhalte abgeblendet. Gerade darin<br />
aber wird die eminente Bedeutung <strong>der</strong> Schule im vollen Umfang sichtbar, an <strong>der</strong><br />
je<strong>der</strong> Lehrer partizipiert und zu <strong>der</strong> er beiträgt.<br />
2. Strukturwandel des Aufwachsens<br />
Ich möchte im Folgenden nun die Herausfor<strong>der</strong>ungen in den Mittelpunkt rücken, die<br />
für Schule und Lehrer aus den Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis von Jugend und Schule<br />
resultieren. Dabei werde ich in einem ersten Schritt diese Verän<strong>der</strong>ungen skizzieren<br />
und insbeson<strong>der</strong>e auf Ambivalenzen hinweisen, die sich im Laufe <strong>der</strong> letzten<br />
Jahrzehnte im Verhältnis von Schule und Jugend herausgebildet haben (vgl. auch<br />
Helsper/Böhme 2002).<br />
Jugend und Schule – dieses Verhältnis erscheint, nicht nur auf den ersten Blick, als<br />
spannungsreich. Mitunter gar so spannungsreich, dass Hartmut von Hentig einmal<br />
vorgeschlagen hat, den frühadoleszenten Jugendlichen doch eine Auszeit von <strong>der</strong><br />
Schule zu gönnen, weil sie von grundsätzlichen Entwicklungs- und<br />
Individuationsprozessen umfassend in Anspruch genommen und Kopf und Sinne für<br />
die Schule nicht frei seien. Dazu ist – bei aller Relevanz, die dieser Hinweis besitzt –<br />
anzumerken, dass die Schule für die Entstehung von Jugend in ihrer mo<strong>der</strong>nisierten<br />
Gestalt zentral ist: Erst die Einführung <strong>der</strong> Schule für alle und die daran<br />
anschließende Expansion schulischer Bildung (auf 9 o<strong>der</strong> 10 Schuljahre) sowie die<br />
Expansion <strong>der</strong> „höheren“ Bildung haben die Freisetzung von Jugend als Zeit für<br />
Bildung, Auseinan<strong>der</strong>setzung, Reflexion und Wissenserwerb auch in<br />
außerschulischen Formen ermöglicht. Darin ruht das transformatorische, das<br />
innovative und Heranwachsende in ein Distanzverhältnis zu ihrer Herkunft und ihren<br />
bisherigen Weltsichten setzende Dezentrierungspotenzial <strong>der</strong> Schule: Schule<br />
ermöglicht die Erfahrung <strong>der</strong> Differenz, des An<strong>der</strong>s-Seins und -Werdens, <strong>der</strong><br />
Neuerung und Verän<strong>der</strong>ung sowohl im Sinne <strong>der</strong> Statustransformation als auch <strong>der</strong><br />
Transformation von Welt- und Selbstsichten. Daran gilt es gegenüber einer zu<br />
überbordenden Schulkritik zu erinnern: Schule ist historisch gesehen Raum <strong>der</strong><br />
Freisetzung und Optionsentfaltung von Jugend.<br />
Es ist dann schon fast ein historisches Paradox, dass dieser schulische Raum<br />
zunehmend als Raum <strong>der</strong> Verordnung, des Zwangs, <strong>der</strong> Heteronomie, <strong>der</strong><br />
Langeweile o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sinnlosigkeit für Jugendliche in Erscheinung tritt. Das, was<br />
historisch gesehen Freisetzung ist, tritt Jugendlichen dann als <strong>Institut</strong>ion mit eigenen<br />
Zwängen, Regeln, heteronom gesetzten Ansprüchen und damit gerade nicht als von<br />
ihnen gestalteter und gewollter Bildungsraum entgegen. Allerdings nur „fast“ ein<br />
historisches Paradox: Denn Schule ist von Anfang an – neben den idealen Entwürfen<br />
von Bildung – immer auch Ort <strong>der</strong> Sozialdisziplinierung, <strong>der</strong> Unterwerfung und<br />
Unterordnung, <strong>der</strong> Erzeugung „gelehriger Körper“, disziplinierter Charaktere, williger<br />
Untertanen in unterschiedlicher Deutlichkeit gewesen – am schärfsten in den zwei<br />
erziehungsstaatlichen Diktaturen <strong>der</strong> deutschen Geschichte. Dies markiert von<br />
Anfang an die Ambivalenz des Schulischen: Als Versprechen <strong>der</strong> Freisetzung und<br />
Erweiterung und als Einfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> disziplinierenden Unterwerfung.
- 30 -<br />
Darin sind Lehrer verstrickt und so erscheinen sie in Bil<strong>der</strong>n und Rückerinnerungen<br />
häufig auch in polarisierten Gestalten. Ich möchte hier – im Unterschied zur eher<br />
dominierenden Negativsicht – auf positive Entwürfe des Lehrers hinweisen:<br />
Etwa bei Sigmund Freud, <strong>der</strong> bei aller Ambivalenz gegenüber <strong>der</strong> Schule, in seiner<br />
Jubiläumsrede an seinem alten Gymnasium, die Bedeutung <strong>der</strong> Lehrer für die<br />
Bildung und Entwicklung <strong>der</strong> Gymnasiasten würdigte. Sie nehmen in den<br />
Entidealisierungsprozessen <strong>der</strong> Jugend, die Stelle des Vaters ein, <strong>der</strong> nun als Ideal<br />
entthront wird: „Diese Männer (die Gymnasialprofessoren, W.H.) die nicht einmal alle<br />
selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz. Darum kamen sie uns auch wenn<br />
sie noch sehr jung waren, so gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen<br />
auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater unserer<br />
Kindheitsjahre, und dann begannen wir, sie zu behandeln wie unsere Väter zuhause.<br />
Wir brachten ihnen die Ambivalenzen entgegen, die wir in <strong>der</strong> Familie erworben<br />
hatten, und mit Hilfe dieser Einstellung rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren<br />
leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren.“ (Freud 1979, S. 240)<br />
O<strong>der</strong> Albert Camus, kurz nachdem er den Literatur-Nobelpreis 1957 verliehen<br />
bekam, in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer: „Doch als ich die Nachricht<br />
erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre<br />
liebevolle Hand, die Sie dem armen, kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne<br />
Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von allem geschehen.“ (Camus 1996,<br />
Der erste Mensch, S. 376)<br />
O<strong>der</strong> Pierre Bourdieu, <strong>der</strong> große französische Soziologe in seinem „soziologischen<br />
Selbstversuch“, in dem er die Härte, die Demütigungen, die Not und Kämpfe im<br />
Internat, das „dunkle, nächtliche Gesicht“ <strong>der</strong> Schule, mit dem Unterricht kontrastiert,<br />
„wo völlig an<strong>der</strong>e Werte vermittelt wurden und die Lehrer, vor allem die Frauen, uns<br />
eine ganze Welt geistiger Entdeckungen und menschlicher Beziehungen nahe<br />
brachten, die man nur als verzaubert bezeichnen kann.“ (Bourdieu 2002, S. 103)<br />
Derartige autobiographische Schil<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> Kommentare zur Bedeutung von<br />
Lehrerinnen und Lehrern muten mitunter an, als wären sie ein Echo vergangener<br />
Bildungszeiten. Aber Vorsicht: Insbeson<strong>der</strong>e in schülerbiographischen Studien wird<br />
immer wie<strong>der</strong>, auch für die letzten Jahrzehnte, auf die große Bedeutung von<br />
Lehrerinnen und Lehrern verwiesen: So hebt etwa Dieter Nittel in seiner<br />
schülerbiographischen Studie zu Gymnasiasten hervor, dass Lehrer signifikante, also<br />
unersetzbare, für die Biographie überaus bedeutsame Erwachsene für Schüler<br />
werden können (Nittel 1992). In einer eigenen schülerbiographischen Studie des<br />
„Abstiegs“ vom Elitegymnasiasten zum Hauptschüler und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einmündung in<br />
die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule (vgl. die Fallstudie „Moritz“ in: Helsper<br />
1997) konnte verdeutlicht werden, dass insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Kunstlehrer in <strong>der</strong><br />
Oberstufe zu einer zentralen Person für die Stabilisierung <strong>der</strong> Bildungslaufbahn<br />
wurde: Über den Kunstunterricht hinaus eröffnete er als selbst praktizieren<strong>der</strong><br />
Künstler durch das Angebot an interessierte Schüler, einmal in <strong>der</strong> Woche bis in den<br />
Abend hinein mit ihm zusammen in seinem Atelier zu arbeiten, einen Diskussionsund<br />
insbeson<strong>der</strong>e ästhetischen Gestaltungs- und Auseinan<strong>der</strong>setzungsraum, <strong>der</strong> für<br />
Moritz zu einem entscheidenden Impuls für seine ästhetischen Bildungsprozesse<br />
sowie zu einem wichtigen Forum für seine biographische Auseinan<strong>der</strong>setzung und<br />
die Entwicklung seines Selbst wurde.<br />
In einer Studie an einem Gymnasium des Ruhrgebietes stießen wir in einem gerade<br />
abgeschlossenen Forschungsprojekt (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>) auf den Abiturienten<br />
Tobias Silone, <strong>der</strong> als Sohn italienischer Eltern, die seit Jahrzehnten ein Restaurant<br />
mit bestem Ruf betreiben, in Deutschland geboren wurde. Er ist einer <strong>der</strong> besten<br />
Abiturienten dieser Schule und von Eltern, Mitschülern und insbeson<strong>der</strong>e Lehrern
- 31 -<br />
gefeierter Abiturredner <strong>der</strong> Schüler mit einer zugleich mehr als krisengeschüttelten<br />
Schülerbiographie. Diese wurzelt zum einen in <strong>der</strong> hoch ambivalenten Platzierung in<br />
seiner Familie und den Erfahrungen <strong>der</strong> Mitarbeit im elterlichen Restaurant, aus<br />
denen <strong>der</strong> Wunsch resultiert, dem zu entkommen:<br />
„auch (.) äh bei meinem Bru<strong>der</strong> war extrem früh klar dat wir Akademiker werden<br />
wolln extrem früh weil wir nich dat Leben haben wollten von ma-unseren Eltern und<br />
von den an<strong>der</strong>n Leuten die wir kennengelernt haben nich dieset stundenlange<br />
Rumstehn (.) dieset stundelange rumstehn und den Leuten in den Arsch zu kriechen<br />
boahh dat war das schlimmste den Leuten in den Arsch zu kriechen...“<br />
Tobias erleidet somit einen doppelten Zwang und darin wie<strong>der</strong>um, eine<br />
Beschämung: Er ist stark in die Bedienung im elterlichen Restaurant eingebunden<br />
und muss dabei auch die Form wahren, erlebt dies als demütigende Unterwürfigkeit<br />
und mangelnde Würde auf Seiten seiner Eltern, was durch den Migrantenstatus<br />
zusätzlich verschärft wird und bei ihm als „soziale Scham“ in Erscheinung tritt. So<br />
erfährt er die Familie als beschränkende Enge und will zusammen mit seinem Bru<strong>der</strong><br />
diesem „Kerker“ entfliehen: „das Restaurant nenn ich immer noch <strong>der</strong> Kerker <strong>der</strong> sich<br />
Familie nennt“.<br />
Tobias Silone findet am Märkischen Gymnasium eine engagierte Lehrerschaft, <strong>der</strong>en<br />
Bildungsideale um Reflexion, Kritikfähigkeit und soziales Engagement kreisen. Hier<br />
findet er zum einen intellektuelle Anregungen („extrem viel gelernt“) und ein<br />
umfassendes Konzept eines kritischen, sich einmischenden politischen Bürgers, das<br />
die Lehrer verkörpern und for<strong>der</strong>n (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>). Und zum an<strong>der</strong>en eine<br />
Toleranz gegenüber expressiven, ekstatischen Formen jugendlichen Protestes und<br />
subkultureller Aktivitäten, in die er zeitweise stark eingebunden ist, so dass er – auch<br />
in einer Krisensituation, in <strong>der</strong> ihm die Verweisung von <strong>der</strong> Schule droht – Anwälte<br />
auf Seiten <strong>der</strong> Lehrer findet, die für ihn bürgen. In <strong>der</strong> Oberstufe beschließt er, sich<br />
aus den überbordenden jugendkulturellen Aktivitäten stärker zurückzuziehen.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Lehrer Heinrich, sein Sozialkundelehrer, wird für ihn – ohne<br />
dessen direktes Wissen – zu einer zentralen Bezugsperson, indem er Tobias durch<br />
sein breites Wissen, seine kritische Reflexivität, sein authentisches soziales und<br />
politisches Engagement beeindruckt. Tobias abonniert, ohne Wissen seiner Lehrer<br />
o<strong>der</strong> An<strong>der</strong>er, den Spiegel, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung und stellt, kein<br />
schlechter Schüler mit im Schnitt Zweien und Dreien, den Antrag, die zwölfte Klasse<br />
freiwillig wie<strong>der</strong>holen zu dürfen, um dem Abiturdurchschnitt für ein Medizinstudium<br />
nahe zu kommen. Auch Herr Steinke, den er anschließend als<br />
Sozialwissenschaftslehrer erhält, wird ganz ähnlich wie <strong>der</strong> Lehrer Heinrich<br />
beschrieben: umfassend wissend, kritisch, unnachgiebig reflexiv, bohrend und<br />
nachfragend. In einer zentralen Unterrichtsszene ist Tobias <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> über<br />
detailliertes Wissen zu den Geschwistern Scholl verfügt und gibt dem Lehrer Steinke<br />
zu erkennen, dass er regelmäßig verschiedene anspruchsvolle Zeitungen ebenso<br />
wie historische und aktuelle politische und sozialwissenschaftliche Bücher liest.<br />
Darüber erhält er dessen umfassende Anerkennung. Diese Anerkennung, dass<br />
An<strong>der</strong>e merken, wie Tobias formuliert, dass jemand vor ihnen steht „<strong>der</strong> wirklich<br />
gebildet ist“, ist für ihn äußerst bedeutsam. So wird er auch im elterlichen Restaurant<br />
dadurch ein An<strong>der</strong>er, indem er mit ausgesuchten gebildeten Gästen gezielt das<br />
Gespräch sucht:<br />
„ist natürlich toll wenn de dann im Restaurant (.) Ärzte Professoren Lehrer o<strong>der</strong><br />
sonst wer sitzen und man natürlich geschätzt wird und die Leute fragen ‚ach wo ist<br />
denn <strong>der</strong> Sohnemann wo isn <strong>der</strong> Junior’ <strong>der</strong> hat uns letztens was Tolles erzählt (.) is<br />
natürlich toll...“.
- 32 -<br />
Die Abiturrede, die das Thema Fremdheit und Interkulturalität im Rahmen schulischer<br />
Bildung zum Thema hat – und die ihm umfassende Anerkennung <strong>der</strong> Lehrer<br />
einbringt, bis hin zum Unglauben, dass er <strong>der</strong> Verfasser sei (Eltern recherchieren im<br />
Internet nach <strong>der</strong> Rede) – ist seine eigentliche Abiturprüfung. Darin reflektiert er<br />
implizit die eigene Bildungsbiographie als Frem<strong>der</strong> im Rahmen seiner Schule, die<br />
ihm zugleich entscheidende Transformationswege und neue Möglichkeiten eröffnet,<br />
in einer anspruchsvollen, intellektuell überzeugenden und sehr reflektierten Form.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Studie konnten wir für die von uns exemplarisch untersuchte<br />
Hauptschule herausarbeiten, welche existenzielle Bedeutung Lehrer dieser<br />
Hauptschule für die äußerst stützungsbedürftige und problembelastete Schülerschaft<br />
besaßen und Schülern durch ihre pädagogische Kultur <strong>der</strong> Anerkennung überhaupt<br />
noch Bildungsoptionen offen hielten (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>, Wiezorek/Helsper <strong>2006</strong>,<br />
Wiezorek <strong>2006</strong>).<br />
Schule und Lehrer bleiben also durchaus – wenn eventuell auch in neuen Formen –<br />
bedeutsam für die Bildungsprozesse <strong>der</strong> Schüler. Betrachten wir nun genauer die<br />
Wandlungen im Verhältnis von Schule und Jugend, die ich im Folgenden<br />
stichpunktartig skizzieren möchte:<br />
Vom Bildungsprivileg zum Bildungszwang<br />
- Bis in die 1960er Jahre hinein galt: Höhere Bildung war das Privileg weniger, was<br />
darin zum Ausdruck kam, dass noch rund vier Fünftel aller Schüler die<br />
Volksschule besuchten.<br />
- Der gravierende Wandlungsprozess innerhalb von vier Jahrzehnten lässt sich<br />
daran ablesen, dass nur noch ca. ein gutes Fünftel eines Jahrganges – wenn<br />
auch mit großen Unterschieden zwischen den Bundeslän<strong>der</strong>n – die Hauptschule<br />
besucht. Die ehemals selbstverständliche Normalschullaufbahn wird damit heute<br />
zu einer schulischen Exklusionskarriere. Um Berufe erlernen und in sie<br />
einmünden zu können, für die vor vier Jahrzehnten noch ein<br />
Hauptschulabschluss ausreichte, ist heute mindestens <strong>der</strong> Realschulabschluss,<br />
wenn nicht das Abitur erfor<strong>der</strong>lich.<br />
- Damit geht ein Zwang zur weiterführenden Bildung einher: Für Jugendliche ist<br />
<strong>der</strong> mittlere Bildungsabschluss inzwischen <strong>der</strong> notwendige Abschluss um<br />
überhaupt weiterführende Bildungs- und berufliche Optionen offen halten zu<br />
können.<br />
Kurz: Wenn Jugendliche berufliche Zukunftsaussichten haben wollen, müssen sie an<br />
weiterführen<strong>der</strong> Bildung partizipieren, so dass erweiterte Bildung zunehmend mit<br />
Zwang und Druck verbunden ist. Sie wird vom exklusiven Privileg zu einem<br />
notwendigen Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> zukünftigen Selbsterhaltung für Jugendliche.<br />
Vom Bildungsversprechen zum Bildungsparadoxon<br />
- Mit dieser Entwicklung geht einher, dass Jugendliche immer mehr in Bildung<br />
investieren müssen, immer stärker in das „schulische Spiel“ involviert sein<br />
müssen, ohne sich aber sicher sein zu können, dass dies auch Zukunftsoptionen<br />
eröffnet.<br />
- Wenn für Jugendliche, die schulisch versagen o<strong>der</strong> unter dem mittleren<br />
Bildungsabschluss bleiben, dies per se die wahrscheinliche Anbahnung von
- 33 -<br />
Exklusionskarrieren bedeutet, so ist dies bei weiterführenden Schulabschlüssen<br />
zwar unwahrscheinlicher, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen.<br />
- Auch für jene, die schulisch investieren, sich anstrengen und mittlere o<strong>der</strong><br />
höhere schulische Abschlüsse erreichen, ist damit keineswegs die Sicherheit<br />
verbunden, dass sie auch weitere Bildungs- und berufliche Möglichkeiten<br />
realisieren können, weil es zugleich zu einer „Inflationierung“ <strong>der</strong> höheren<br />
Bildungszertifikate kommt und sich damit <strong>der</strong> Wettbewerb um weitere<br />
Lebenschancen nun auch zwischen Jugendlichen mit höheren<br />
Bildungsabschlüssen abspielt (vgl. Bourdieu u.a. 1997).<br />
- Vor diesem Hintergrund wird es immer bedeutsamer, sich in <strong>der</strong> Schule und im<br />
Unterricht anzustrengen: Schuldistanz ist gleichbedeutend mit <strong>der</strong> Anbahnung<br />
von Ausschlusskarrieren. Und im oberen Bildungssegment ist das Abitur allein<br />
immer weniger hinreichend, um umfassende Möglichkeiten zu eröffnen: Es<br />
kommt immer stärker auf die Qualität des Abiturs, den Abiturdurchschnitt, den<br />
Besuch exklusiver Schulen mit gutem Ruf, hohem Sozialkapital <strong>der</strong> Eltern und<br />
Schüler, zahlreichen kulturellen und informellen Bildungsmöglichkeiten,<br />
verbunden mit Auslandsaufenthalten etc. an. Zugespitzt formuliert: Für die<br />
weitere Einmündung in privilegierte Bildungs- und Berufslaufbahnen macht nicht<br />
mehr <strong>der</strong> Besuch des Gymnasiums den Unterschied aus, son<strong>der</strong>n es kommt auf<br />
den Unterschied in <strong>der</strong> höheren Bildung an – von <strong>der</strong> Distinktion des<br />
Gymnasialen zur Distinktion im Gymnasialen.<br />
Kurz: Jugendliche sind damit konfrontiert, stärker in schulische Bildung investieren<br />
zu müssen, gezielt beson<strong>der</strong>s gute und anregungsreiche Schulen auszusuchen und<br />
auch neben <strong>der</strong> Schule weitere Bildungsanstrengungen zu unternehmen.<br />
Gleichzeitig steigt die Ungewissheit – selbst bei weiterführenden Schulabschlüssen<br />
– ob sich dies auch lohnt und welche weiteren Bildungswege und Lebensentwürfe<br />
gangbar und realisierbar sind. Damit wächst auch die Notwendigkeit für Jugendliche<br />
sowohl über umfassendes biographisches Orientierungswissen verfügen zu können<br />
als auch eine beratende Begleitung bei <strong>der</strong> Gestaltung von Bildungsbiographien zu<br />
besitzen.<br />
Von <strong>der</strong> Schule als Chance zur Schule als Risiko – o<strong>der</strong>: Die Kosten des<br />
schulisch gefor<strong>der</strong>ten erfolgszentrierten Erwerbsmenschen<br />
- Damit geht einher, dass die Schule – neben den Freiräumen die sie eröffnet –<br />
auch immer deutlicher als Belastungsraum für Jugendliche in Erscheinung tritt,<br />
nicht zuletzt deswegen, weil individuelle Leistung, gerade auch im Zuge <strong>der</strong><br />
Diskussion um PISA und Bildungsstandards, immer stärker zum Kernelement<br />
des Schulischen wird.<br />
- Dies lässt sich in Zahlen ausdrücken: Fast 40 % <strong>der</strong> 15-jährigen Schüler weisen<br />
in Form von Rückstellungen, Klassenwie<strong>der</strong>holungen o<strong>der</strong> Abstufungen<br />
Misserfolgs- o<strong>der</strong> Versagenskarrieren auf, davon fast 10 % mit mehrfachen<br />
Scheiternserfahrungen (Schümer 2005). Dabei ist <strong>der</strong> Wechsel zwischen<br />
Schulformen in <strong>der</strong> Regel ein Abstieg: PISA ermittelt ein Verhältnis von 1 : 5 für<br />
Aufstieg und Abstieg zwischen Schulformen (Län<strong>der</strong>differenz). Insbeson<strong>der</strong>e die<br />
Hauptschule wird im Laufe <strong>der</strong> Sekundarstufe I zum Ort, an dem sich<br />
Jugendliche mit Versagenskarrieren „sammeln“: Fast zwei Drittel <strong>der</strong><br />
Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind dadurch gekennzeichnet, gegenüber<br />
gut 40 % <strong>der</strong> Realschüler und lediglich 15 % <strong>der</strong> Gymnasiasten (ebd.). Dabei<br />
sind Jungen, Jugendliche aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Milieus
- 34 -<br />
sowie spezifische Migrantenjugendliche beson<strong>der</strong>s deutlich betroffen (vgl.<br />
Cortina u.a. 2003, Ditton 2004, Helsper/Hummrich 2005).<br />
- Für bereits benachteiligte und belastete Jugendliche kommt es zu einer<br />
„doppelten Benachteiligung“: Gundel Schümer (2004) kommt in einer<br />
vertiefenden Auswertung <strong>der</strong> PISA-Daten zum Ergebnis, dass sich insbeson<strong>der</strong>e<br />
in Hauptschulen, aber zum Teil auch in Gesamtschulen Jugendliche in Klassen<br />
sammeln, die durch schulische und außerschulische Versagenserfahrungen,<br />
lebensgeschichtlich entstandene Problembelastungen, schwierige soziale und<br />
familiäre Rahmenbedingungen beson<strong>der</strong>s betroffen sind. Dadurch kommt es zu<br />
einer doppelten Benachteiligung: Schon ökonomisch, sozial und kulturell<br />
marginalisierte Jugendliche mit familiären und schulischen<br />
Problemaufschichtungen finden sich in diesen Klassen zusammen, so dass eine<br />
äußerst belastete Lernatmosphäre entsteht, die im Vergleich mit gemischteren<br />
Klassen und Lerngruppen zur nochmaligen Benachteiligung in <strong>der</strong><br />
Lernentwicklung und Kompetenzentfaltung für diese Jugendlichen beiträgt.<br />
- In diesem Zusammenhang werden im Zuge sozialer Entmischungen, neuer<br />
Armut und destabilisierter Wohnregionen spezifische Schulen massiv mit<br />
Jugendlichen konfrontiert, die eine Kumulation von Problemlagen mit- und in die<br />
Schule einbringen, so dass Schulen selbst zum Risikoraum werden. Damit geht<br />
einher, dass aus diesen schulischen Problembelastungen verstärkte<br />
Schuldistanz, Schulverweigerung und -flucht, das umfassende Scheitern von<br />
Bildungskarrieren resultieren kann. Daraus resultieren für diese Schulen und<br />
insbeson<strong>der</strong>e die Lehrkräfte Herausfor<strong>der</strong>ungen beson<strong>der</strong>er Art, die nur unter<br />
spezifischen Bedingungen bewältigt werden können (vgl. Melzer,<br />
Wolfgang/Ehniger, Franz/Schubarth, Wilfried 2004, Helsper u.a. <strong>2006</strong>).<br />
- Das stark geglie<strong>der</strong>te und früh selektierende deutsche Schulsystem lässt zudem<br />
selektionsbedingte Lern- und Bildungsmilieus entstehen: Im Verlauf <strong>der</strong><br />
Sekundarstufe I erfahren Jugendliche mit ähnlichen kognitiven Voraussetzungen<br />
und Kompetenzen in den unterschiedlichen Schulformen eine unterschiedliche<br />
För<strong>der</strong>ung, so dass sich ihre Kompetenzen gegen Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />
deutlich auseinan<strong>der</strong> entwickelt haben. Dies gilt zudem für Jugendliche aus dem<br />
oberen und dem unteren Viertel <strong>der</strong> Sozialstruktur, wie PISA verdeutlichen<br />
konnte (vgl. Baumert u.a. 2001, Baumert u.a. <strong>2006</strong>).<br />
- Neben diese „objektiven“ Versagens- und Benachteiligungserfahrungen, treten<br />
damit einhergehende Belastungen: Die Bielefel<strong>der</strong> Studien zu jugendlicher<br />
Problem-, Stress-, Sucht- und psychosomatischen Belastung von Hurrelmann<br />
u.a. verdeutlichen, dass mit schulischen Leistungsproblemen, mit<br />
Schulversagen, aber auch mit <strong>der</strong> Angst vor Leistungsversagen durchgängig<br />
höhere Belastungen in Form von Drogen und Sucht, von Stress-,<br />
psychosomatischen Phänomenen aber auch von Zukunftsangst für Jugendliche<br />
verbunden sind. Dies zeigt sich auch in den Längsschnittstudien von Fend und<br />
<strong>der</strong> jüngsten Studie zur jugendlichen Gesundheit <strong>der</strong><br />
Weltgesundheitsorganisation (vgl. Bilz/Hähne/Melzer 2003, Hurrelmann/Mansel<br />
1998, Fend 2000).<br />
- Dabei sind spezifische Gruppen von Jugendlichen beson<strong>der</strong>s betroffen: 1.<br />
mehrfach scheiternde Jugendliche mit teilweise dramatischen Karrieren<br />
schulischen Scheiterns; 2. Jugendliche, die sich über Jahre immer wie<strong>der</strong> mit<br />
drohendem Scheitern konfrontiert sehen, sich gerade so „über Wasser halten“<br />
und dies als Langzeitstress erfahren; 3. zum Teil sehr gute und leistungsstarke<br />
Jugendliche aus Familien mit höchsten Bildungserwartungen und starkem<br />
Leistungsdruck, so dass die Familie als kompensatorisches, emotional
- 35 -<br />
stützendes Feld ausfällt (Familie als „verlängerter Arm <strong>der</strong> Schule“ bzw.<br />
„Überanpassung <strong>der</strong> Familie an die Schule“); 4. schließlich Jugendliche aus<br />
bildungsorientierten Familien mit hohen Schulabschlüssen und Bildungstiteln <strong>der</strong><br />
Eltern, wobei diese Jugendlichen deutlich unter diesen Bildungsabschlüssen<br />
bleiben (sogenannte „missratene Söhne und Töchter“).<br />
- Allerdings kann es Jugendlichen gelingen, sich gegen <strong>der</strong>artige Belastungen aus<br />
schulischen Versagenskarrieren zu immunisieren. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sie<br />
starke Einbindungen in subkulturelle Szenen und Cliquen aufweisen, die deutlich<br />
schuldistanziert o<strong>der</strong> schuloppositionell sind und darin auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Peers<br />
umfassende Anerkennung und emotionale Stützung erfahren (vgl. Fend 2000).<br />
Das Fatale daran ist, dass diese Stützung ihres Selbst und die Kompensation<br />
ihrer Entwertung durch diese Peermilieus zugleich eine weitere Verstärkung <strong>der</strong><br />
Schuldistanz impliziert, weil sie nun für schuloppositionelle Haltungen die<br />
Anerkennung ihrer Freunde erhalten.<br />
Kurz: Je nachdem welche Schulform und hier wie<strong>der</strong>um: welche Schule, mit welchen<br />
konkreten Bedingungen, Einzugsgebieten und regionalen Milieubezügen Jugendliche<br />
besuchen, erfahren sie eine sehr unterschiedliche För<strong>der</strong>ung und Unterstützung ihrer<br />
kognitiven Bildungsprozesse, ihrer Kompetenz- und Wissensentfaltung o<strong>der</strong> auch<br />
weitere Problemverschärfungen, Belastungen und Exklusion. Und für einen<br />
relevanten Teil <strong>der</strong> versagenden o<strong>der</strong> unter starkem Erfolgsdruck stehenden<br />
Jugendlichen resultieren daraus zusätzliche psychosoziale Belastungen und<br />
Destabilisierungen, die ihre schulischen Bildungsprozesse zusätzlich erheblich<br />
behin<strong>der</strong>n.<br />
Vom schulischen Bildungsmonopol zur Diversifizierung von Bildungs- und<br />
Lernorten Jugendlicher<br />
- Dieser These muss eine Relativierung vorausgeschickt werden: Das schulische<br />
Bildungsmonopol ist nämlich schon immer durch familiäre Bildung relativiert,<br />
denn die Familie ist neben <strong>der</strong> Schule ein zweiter zentraler Ort von<br />
Lernprozessen, die geradezu die Basis für schulische Bildungsprozesse<br />
darstellen. Gerade für das deutsche Schulsystem, das zeigt sich im<br />
internationalen Vergleich, sind diese familiär erworbenen Bildungsressourcen<br />
und das familiäre kulturelle Kapital hoch bedeutsam für den Erfolg in den<br />
schulischen Bildungsprozessen (vgl. Baumert u.a. 2003).<br />
- Daneben aber – und dies ist mit <strong>der</strong> These <strong>der</strong> Relativierung des schulischen<br />
Bildungsmonopols im Kern gemeint – entfalten sich vielfältige Möglichkeiten für<br />
Lernen und Bildung außerhalb <strong>der</strong> Schule: Im Rahmen von Vereinen und<br />
außerschulischen kulturellen Einrichtungen, im Kontext jugendkultureller<br />
Netzwerke und Peerzusammenhänge, im Zusammenhang neuer medialer,<br />
virtueller Lern- und Erfahrungsräume. All dies wird unter dem Stichwort einer<br />
Ausweitung und Pluralisierung informellen Lernens o<strong>der</strong> informeller Bildung<br />
gefasst (vgl. Grunert 2005).<br />
- Damit entstehen für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche neue und erweiterte Möglichkeiten<br />
eines freieren, offenen, selbstgesteuerten, insbeson<strong>der</strong>e auch medialen Zugangs<br />
zu umfassenden Wissensbeständen jenseits <strong>der</strong> Schule: Jugendliche können<br />
sich verstärkt eigengesteuerte Wissens- und Bildungszugänge, die sie viel<br />
stärker selbstständig gestalten können und die enger mit ihren Interessen<br />
verbunden sind, jenseits von Schule und Lehrern und den dort gegebenen<br />
asymmetrischen und zwangsförmigen Erfahrungsräumen eröffnen.
- 36 -<br />
- Insbeson<strong>der</strong>e im Zusammenhang jugendlicher Szenen und jugendkultureller<br />
Bildungsräume werden auch virtuose Bildungskarrieren möglich, indem sich<br />
Jugendliche im Zusammenhang jugendkultureller Praktiken, ästhetischer<br />
jugendkultureller Gestaltungsformen, im Zusammenhang jugendlicher Stile und<br />
Inszenierungsformen im Bereich von Musik, Tanz, Events, Körperpraktiken und<br />
Sport sowie <strong>der</strong> Gestaltung und Nutzung <strong>der</strong> virtuellen Medienwelten umfassend<br />
jugendkulturelles Kapital aneignen, das sie zu Vorreitern kultureller Neuerungen<br />
und Trends werden lässt (vgl. du Bois-Reymond 2000).<br />
- Damit ist auch eine Relativierung <strong>der</strong> Bildungsbedeutsamkeit von Schule und<br />
Unterricht für Jugendliche verbunden, die teilweise die für sie wesentlichen und<br />
zentralen Bildungs- und Erfahrungsprozesse neben und außerhalb <strong>der</strong> Schule<br />
vollziehen. So setzen sich kindlich-jugendliche Bildungsbiographien zunehmend<br />
aus ausdifferenzierten und pluralisierten Erfahrungsräumen und Bildungsorten<br />
zusammen, so dass Bildungsbiographien entstehen, die aus vielfältigen<br />
Puzzleteilen bestehen, die neben nach wie vor schulischen Bildungssegmenten<br />
zunehmend auch aus informellen, medialen und Peersegmenten bestehen.<br />
Kurz: Aus diesen Entwicklungen resultiert, dass die Schule und die Schulabschlüsse<br />
zwar einerseits immer bedeutsamer werden, zugleich aber die Schule durch an<strong>der</strong>e<br />
Wege <strong>der</strong> Wissensaneignung, des Lernens, <strong>der</strong> Entfaltung von Fähigkeiten neben,<br />
jenseits und auch gegen die Schule Konkurrenz erhält. Lehrer als Wissensvermittler<br />
werden in ihrer Position relativiert und <strong>der</strong> inhaltliche Sinn <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong><br />
Schulzeit wird damit begründungsbedürftiger und ist weniger selbstverständlich.<br />
Bildung wird nicht mehr ausschließlich von <strong>der</strong> Schule erwartet und die Schule kann<br />
in den Augen Jugendlicher sogar zu einem rigiden, mit weniger Optionen<br />
versehenen Bildungsraum werden, <strong>der</strong> sie von ihren eigentlichen Bildungs- und<br />
Erfahrungsprozessen eher abhält.<br />
Vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt – zur Ambivalenz von Individuationsund<br />
Autonomieansprüchen von Jugendlichen<br />
- Insgesamt ist die Jugendphase dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur<br />
lebensgeschichtlich „länger“ andauert, son<strong>der</strong>n dass es zu einer Vorverlagerung<br />
von Ansprüchen auf Teilhabe, Mitsprache, auf eigene Entscheidungs- und<br />
Handlungsspielräume bei Jugendlichen kommt. Jugendliche stellen also früher<br />
und weitergehen<strong>der</strong>e Ansprüche auf eigene Autonomie. Und sie erleben – selbst<br />
in schulischen Kulturen, die längst nicht mehr die Autorität und Machtasymmetrie<br />
früherer Jahrzehnte aufweisen – die Schule als fremd bestimmten, wenig<br />
partizipativen Raum, vor allem wenn es um die Kernzonen des Schulischen geht,<br />
etwa die Festlegung von Regeln o<strong>der</strong> die Gestaltung des Unterrichts (vgl. Krüger<br />
u.a. 2002, Helsper u.a. <strong>2006</strong>).<br />
- Dies ist eingebunden in eine Relativierung starrer und stark asymmetrischer<br />
Autoritäts- und Generationsbeziehungen zwischen Alt und Jung, Groß und Klein,<br />
Erwachsenen und Jugendlichen. Erwachsene und somit auch Lehrer werden<br />
fraglicher und befragbarer. Erwachsenen kommt angesichts schneller kultureller,<br />
technologischer und sozialer Wandlungsprozesse nicht mehr per se Achtung und<br />
Anerkennung zu. Alte sind nicht mehr, wie noch in traditionalen o<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>at<br />
mo<strong>der</strong>nisierten Gesellschaften, die Erfahrenen, Weisen und Wissenden, son<strong>der</strong>n<br />
eher diejenigen, die nicht mehr mitkommen o<strong>der</strong> längst veraltetes Wissen als<br />
Ballast mitschleppen. Akzeptable Erwachsene und Ältere erscheinen vielmehr<br />
„jugendlich“, also: offen für Neues, flexibel, wandlungsfähig, suchend und kreativ.
- 37 -<br />
Damit sind „Insignien <strong>der</strong> Jugend“ inzwischen zu Bewertungsstandards für<br />
Erwachsene geworden.<br />
- Lehrer sind damit – wie Thomas Ziehe das einmal formuliert hat (Ziehe 1991) –<br />
nicht mehr durch die Gratiskraft und kulturelle Selbstverständlichkeit, von<br />
Erwachsenenautorität, Generationsdifferenz und einem „geheiligten Kanon“<br />
hochkulturellen Wissens gestützt, über das sie monopolartig verfügen und<br />
wachen. Sie werden angreifbarer, ihr Tun wird legitimations- und<br />
begründungsbedürftiger. Sie stehen ungeschützter mit ihrer Individualität, ihrer<br />
konkreten Person für das ein, was sie tun, etwas was die Lehrerarbeit im Alltag<br />
mitunter so anstrengend werden lässt. Und so kommt es auch im schulischen<br />
Bereich zu einer Verschiebung <strong>der</strong> Machtbalancen zwischen Jugendlichen und<br />
Lehrkräften.<br />
- Die Anspruchshaltungen auf Teilhabe, Mitsprache, Partizipation, eigene<br />
Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten tragen Jugendliche nun auch an<br />
Schule und Lehrer heran, die vor dem Hintergrund <strong>der</strong> skizzierten<br />
Verschiebungen in den Generationsbeziehungen stärker als bislang mit Kritik,<br />
Infragestellung, Fragen nach dem Sinn, wofür das nötig ist, ob es nicht auch<br />
an<strong>der</strong>s geht etc. konfrontiert werden.<br />
- Daraus können – auf beiden Seiten – auch anstrengende Dauerbelastungen<br />
hinsichtlich ständig anfallen<strong>der</strong> kommunikativer Verständigungen,<br />
Aushandlungen, immer wie<strong>der</strong>kehren<strong>der</strong> Verflüssigung von getroffenen<br />
Vereinbarungen, immer wie<strong>der</strong> notwendiger Begründungen treten. Damit können<br />
auch „Entsicherungen“ einhergehen. Die verstärkte Diskussion über die<br />
entlastende, Ordnung und Gemeinsamkeit stiftende Bedeutung neuer Rituale<br />
und verbindlicher Regeln in den letzten Jahren, lässt sich wie ein Wi<strong>der</strong>hall auf<br />
diese Verflüssigungen und Entsicherungen lesen.<br />
Kurz: Im Zuge vorverlagerter und verstärkter Autonomieansprüche von Jugendlichen<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Abflachung von Machtasymmetrien und Autoritätsbeziehungen<br />
zwischen den Generationen, zwischen Jugendlichen und Lehrern wachsen<br />
Jugendlichen zum einen neue Freiräume, Beteiligungsmöglichkeiten und<br />
Handlungsspielräume zu. Zugleich entstehen dadurch auch Entsicherungen,<br />
Entregelungen und Verunsicherungen sowie anstrengende und mitunter aufreibende<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen immer wie<strong>der</strong> neu Vereinbarungen auszuhandeln, eine Art<br />
„kommunikativer Daueranstrengung“, die den Wunsch nach neuen entlastenden<br />
Routinen und Ritualen antreibt.<br />
Von personalisierter Autorität und Unterordnung zu fern wirkenden<br />
Systemzwängen und Selbstdisziplinierungsfor<strong>der</strong>ungen<br />
- Mit diesen Verschiebungen geht einerseits eine Entlastung einher: Lehrerinnen<br />
und Lehrer treten immer weniger als personifizierte Despoten und autoritativfurchteinflößende<br />
Charaktere in Erscheinung. Damit verlieren aber auch Lehrer –<br />
die diesen Extrempolen nicht zuneigen – Möglichkeiten <strong>der</strong> Durchsetzung. An<br />
diese Stelle rücken nun eher – im Horizont <strong>der</strong> gestiegenen Bedeutung<br />
schulischer Zertifikate – die Hinweise auf Platzierungschancen und -risiken,<br />
mögliche o<strong>der</strong> eher erschwerte Übergänge, die Realitätsferne o<strong>der</strong> -nähe von<br />
Bildungsplanungen.<br />
- Dies kann zu Entlastungen auf Seiten <strong>der</strong> Pädagogen führen: Lehrerinnen und<br />
Lehrer können zum einen auf diese Zwänge und systemischen Imperative<br />
verweisen und können diese an die Stelle eigener For<strong>der</strong>ungen setzen bzw.<br />
Schüler mit dem Verweis darauf indirekt zur Disziplinierung auffor<strong>der</strong>n: Ihr wisst
- 38 -<br />
ja, was euch erwartet, wenn ihr nicht ...! O<strong>der</strong>: In einem halben Jahr wird sich ja<br />
zeigen, wer von euch bei dieser Arbeitshaltung den Übergang in die Oberstufe<br />
schafft...!<br />
- Für die Jugendlichen können im Extremfall daraus zusätzliche Belastungen<br />
resultieren, wie ein Jugendlicher im Wechsel von einer noch relativ stark<br />
autoritativ geführten Schule auf eine liberale Gesamtschule formulierte: „Und da<br />
hab ich gemerkt, die Lehrer machen dir hier den Druck nicht mehr. Und da muss<br />
ich mir den Druck selber machen, wenn ich mein Abi bekommen will.“ In diesem<br />
Fall werden Jugendliche auf sich verwiesen, auf ihre Selbstdisziplinierung, indem<br />
die Pädagogen die Jugendlichen bei ihren eigenen Selbständigkeitsansprüchen<br />
„packen“ und sie auf ihre eigene Verantwortlichkeit, ihre Zuständigkeit verweisen,<br />
also das „Konzept des „individualisierten Fähigkeitsbesitzers“, <strong>der</strong><br />
selbstverantwortlich etwas aus sich machen will und muss, auf die Jugendlichen<br />
beziehen.<br />
Kurz: Wenn Lehrerinnen und Lehrer immer weniger mit einer autoritären Haltung<br />
Jugendlichen gegenüber treten, so ist dies einerseits als eine Humanisierung <strong>der</strong><br />
pädagogischen Beziehungen zu würdigen. An<strong>der</strong>erseits sind damit die Zwänge nicht<br />
verschwunden, son<strong>der</strong>n an fern wirkende, kaum beeinflussbare systemische<br />
Drohungen übergegangen. Diese schweben wie ein Damoklesschwert über den<br />
Jugendlichen, denen es angesichts dessen, dass Pädagogen ihnen gegenüber<br />
weniger als personalisierte Kontrollmacht in Erscheinung treten, gelingen muss, sich<br />
selbst so zu disziplinieren und zu kontrollieren, dass sie ihre Bildungslaufbahn<br />
sicherstellen können.<br />
Vom Bildungsmoratorium zur Ambivalenz von Schule und Jugendkultur –<br />
zwischen „Leistungsaskese“ und „Erlebnisekstase“<br />
- Jugendliche leben nicht mehr nur in einem „Bildungsmoratorium“, also einer für<br />
Bildung, Fähigkeits- und Wissensaneignung vorgesehenen relativ entlasteten<br />
Zeit, die allerdings – angesichts <strong>der</strong> skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen – durchaus<br />
immer stärker auch Ernstcharakter erhält. Sie leben gleichzeitig in einem<br />
jugendkulturellen Raum, <strong>der</strong> um Erlebnis und expressive Events zentriert und in<br />
den letzten Jahrzehnten enorm expandiert ist (vgl. schon Zinnecker 1987).<br />
- Diese unterschiedlichen Räume mit ihren unterschiedlichen Prinzipien <strong>der</strong><br />
Lebensführung, unterschiedlichen Erwartungen und Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
auszubalancieren, miteinan<strong>der</strong> zu vereinbaren, das Eine nicht auf Kosten des<br />
An<strong>der</strong>en zu vernachlässigen, das ist eine zentrale Hausfor<strong>der</strong>ung für<br />
Jugendliche. Jugendliche befinden sich also mitunter in einer Zerreißprobe<br />
zwischen dem gefor<strong>der</strong>ten Schülerhabitus des zielstrebigen, selbstkontrollierten<br />
und erfolgszentrierten Erwerbsmenschen (vgl. Fend 1991, <strong>2006</strong>) und dem<br />
jugendkulturellen Habitus des erlebnisorientierten, ekstatischen und expressiven<br />
Genussmenschen.<br />
- Dadurch, dass die Peers gleichermaßen in <strong>der</strong> Schule anwesend sind, kommt es<br />
zu einer jugendkulturellen Durchdringung <strong>der</strong> Schule. Jugend tritt damit innerhalb<br />
<strong>der</strong> Schule auch in einer nicht schulischen Form zu Tage. Jugendliche<br />
durchdringen damit den Unterricht, die Pausen, die Freizeiten <strong>der</strong> Schule mit<br />
jugendkulturellen Gehalten, Stilen, sinnlich-expressiven und erotischen<br />
Bedeutungen und Erfahrungen.<br />
- Bedeutsam ist, dass Jugendliche in <strong>der</strong> Schule, im Unterricht somit „zwei Stücke“<br />
vor unterschiedlichem Publikum aufführen: Was auf Seiten des offiziellen<br />
Unterrichts und <strong>der</strong> Lehrer Anerkennung und Applaus einbringt, kann auf Seiten
- 39 -<br />
<strong>der</strong> Klasse o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Peers gerade Geringschätzung auslösen. Das unterrichtliche<br />
Handeln <strong>der</strong> Schüler muss also immer nach zwei Seiten ausgelegt werden: Es<br />
muss peerverträglich und unterrichtstauglich sein und das passt nicht immer<br />
zusammen (vgl. Breidenstein <strong>2006</strong>).<br />
Kurz: Jugendliche agieren – verursacht durch die lebensgeschichtliche<br />
Vorverlagerung jugendlicher Ansprüche und die Expansion schulischer<br />
Bildungszeiten – immer länger im Spannungsfeld leistungs-, erfolgs- und an<br />
Selbstdisziplinierung orientierter schulischer Lebensführung einerseits und einer um<br />
Erlebnis, Ekstase und Event orientierten jugendkulturellen Lebensführung<br />
an<strong>der</strong>erseits. Diese Spannung auszubalancieren, so dass we<strong>der</strong> ein Ausschluss aus<br />
den jugendkulturellen Erfahrungswelten erfolgt (eine soziale und kulturelle<br />
Verarmung in einer Lebensform Schüler) noch diese Erfahrungswelten den Schulund<br />
Unterrichtsbezug unterminieren und die Bildungslaufbahn gefährden, das ist<br />
eine zentrale Aufgabe, die es in <strong>der</strong> Jugendbiographie zu bewältigen gilt und die sich<br />
immer spannungsreicher gestaltet.<br />
Von überschaubaren jugendlichen Stilen und Lebenslagen zur Pluralisierung<br />
und Ausdifferenzierung jugendlicher Lebenslagen im Zusammenspiel von<br />
sozialer Lage, Milieu, Ethnie, Geschlecht, Jugendkulturen und Region<br />
- Die bisher skizzierten Entwicklungen und Verän<strong>der</strong>ungen vereinfachen die Lage<br />
allerdings eher. Denn die skizzierten Entwicklungen treffen auf eine immer<br />
heterogener werdende Jugend, <strong>der</strong>en Ausgangslagen, Stile, Haltungen,<br />
Lebensführungen durchaus milieutypische Züge erkennen lassen, die sich aber<br />
mit unterschiedlichen jugendkulturellen, ethnischen, geschlechtsspezifischen und<br />
regionalen Stilelementen vermischen und überlagern. Inzwischen ist die<br />
Ausdifferenzierung von jugendkulturellen Stilen nicht nur weiter fortgeschritten,<br />
son<strong>der</strong>n es sind vielfältige Varianten von Ausdifferenzierungen innerhalb von<br />
Jugendstilen entstanden in Verbindung mit Stilmix, Retrostilen und Stilzitaten.<br />
- Dies impliziert für Jugendliche, dass ihre Orientierung in dieser pluralisierten<br />
Landkarte jugendlicher Stile, Kulturen und Lebensformen anspruchsvoller wird.<br />
Neben die lang- und mittelfristige Orientierung und Planung von<br />
Bildungsverläufen und Berufseinmündungen tritt somit auch die Anfor<strong>der</strong>ung,<br />
sich im Feld diverser Jugendstile und -kulturen zu platzieren, abzugrenzen und<br />
zu positionieren, um zugleich jugendkulturelle Zugehörigkeiten zu markieren aber<br />
auch Individualität zum Ausdruck zu bringen.<br />
- Und für die Schule impliziert dies, dass die Heterogenität und Differenzierung auf<br />
Seiten <strong>der</strong> Schüler zunimmt, so das angemessene Differenzierungen und<br />
schulische Profilbildungen immer bedeutsamer werden. Dies gilt selbst für die<br />
Hauptschule, die als die sozial homogenste Schulform betrachtet wird. Dies aber<br />
nur so lange, wie nicht ethnische, geschlechtsspezifische und jugendkulturelle<br />
Differenzen in den Blick genommen und zugleich höchst unterschiedliche<br />
Schulkarrieren markiert werden: Ehemalige Gymnasiasten o<strong>der</strong> Realschüler,<br />
treffen auf die Kin<strong>der</strong> von Asylbewerbern, verschiedenste Ethnien in <strong>der</strong> zweiten<br />
o<strong>der</strong> dritten Generation mit unterschiedlichsten jugendkulturellen Stilen auf<br />
deutschstämmige Jugendliche aus bildungsfernen Arbeitermilieus etc.<br />
Kurz: Die Orientierung Jugendlicher im immer heterogeneren und<br />
unübersichtlicheren Feld von Jugendstilen und -kulturen, die Herstellung von<br />
Zughörigkeiten, Abgrenzungen und Identifikationen wird zu einer immer<br />
anspruchsvolleren Aufgabe für die Herausbildung des jugendlichen Selbst und seiner<br />
Anerkennung im Feld <strong>der</strong> Gleichaltrigen (vgl. auch Fend 2000). Davon ist auch die
- 40 -<br />
Schule betroffen, die zunehmend mit heterogeneren Erscheinungsformen von<br />
Jugend, die immer weniger mit einfachen Zuordnungen und Klassifikationen zu<br />
fassen sind, konfrontiert wird. Die Schule selbst wird dadurch zu einem Feld, in dem<br />
es zwischen Jugendlichen zu einem Kampf um Anerkennung entlang jugendlicher<br />
Kulturen, Stile und Lebensformen kommt, Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die auch den<br />
Unterricht und die Bildungsprozesse erreichen und diese durchdringen.<br />
Aus diesen Verän<strong>der</strong>ungen und Transformationen im Verhältnis von Jugend und<br />
Schule folgt nun nicht, dass Lehrer(innen) bedeutungsloser geworden wären (vgl.<br />
oben). Vielmehr ergeben sich daraus neue Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Lehrprofession<br />
und insbeson<strong>der</strong>e die Gestaltung <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-Beziehungen. Diese sollen im<br />
Folgenden abschließend skizzenhaft entworfen werden.<br />
3. Konsequenzen aus den Strukturwandlungen des Verhältnisses von Schule<br />
und Jugend für Schule und Lehrer<br />
Die skizzierten Transformationen <strong>der</strong> Jugendphase und des Verhältnisses von<br />
Schule und Jugend haben für die professionelle Arbeit <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer<br />
Konsequenzen. Wenn die Verän<strong>der</strong>ung im Verhältnis von Jugendlichen, Lehrern und<br />
<strong>der</strong> Schule in eine Formel gebracht werden sollen, so lässt sich diese vielleicht<br />
folgen<strong>der</strong>maßen formulieren: Die Schule wird für Jugendliche – vor allem auch die<br />
sogenannte „höhere Bildung“ – banaler, alltäglicher, selbstverständlicher. Sie verliert<br />
– wie Ziehe und du Bois-Reymond formulieren (vgl. Ziehe 1996, du Bois-Reymond<br />
1998) – auch in Konkurrenz mit an<strong>der</strong>en Bildungsmöglichkeiten und<br />
Handlungsbereichen die Aura des Beson<strong>der</strong>en und Außeralltäglichen. Als so<br />
veralltäglichte Einrichtung expandiert sie zugleich in das Leben Jugendlicher und<br />
erfor<strong>der</strong>t mehr und größere Investitionen. Sie verliert an großen Sinnbezügen und<br />
symbolisch aufgeladener Bildungsbedeutung und gewinnt zugleich objektiv gesehen<br />
immer größere Bedeutung und Einfluss auf das Leben von Jugendlichen und ihre<br />
Zukunftschancen. Die Bedeutungssteigerung des Banalisierten – so lässt sich<br />
diese Formel formulieren.<br />
Ich möchte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige beson<strong>der</strong>s bedeutsame<br />
Aspekte für Lehrer und Schule als Folgen aus den skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen<br />
andeuten:<br />
Lehrer müssen verstärkt Antworten auf die Steigerung <strong>der</strong> Heterogenität und<br />
Pluralität bei Jugendlichen finden: Damit wird die spezielle Anfor<strong>der</strong>ung<br />
fallspezifisch zu diagnostizieren, den Ausgangslagen <strong>der</strong> Schüler gerecht zu werden,<br />
entsprechend zu differenzieren und zu individualisieren noch anspruchsvoller, die<br />
Orientierung an „Durchschnittsschülern“ immer schwieriger und gewissermaßen<br />
selbst zum Auslöser von Unterrichtskrisen und „Störfällen“. Dies kann nur<br />
ansatzweise individuell von einzelnen Lehrern bewältigt werden. Es bedarf vielmehr<br />
<strong>der</strong> umfassenden Schul- und Unterrichtsentwicklung, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />
systematischen Kooperation (nicht nur) zwischen Fachlehrern, son<strong>der</strong>n auch im<br />
Sinne von Klassen- o<strong>der</strong> Jahrgangsteams, <strong>der</strong> Entwicklung und Erprobung eines<br />
Tableaus unterschiedlicher Aufgabentypen und <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong><br />
Lehrerkooperation gerade auch im Unterricht. Und dazu bedarf es <strong>der</strong><br />
Implementierung <strong>der</strong>artiger Kooperations- und Entwicklungszeiten in die<br />
Lehrerarbeitszeit selbst, und zwar jenseits individueller Initiativen als organisatorisch
- 41 -<br />
vorgesehene wöchentliche professionelle Kooperations- und Austauschphasen im<br />
Rahmen spezifischer, auf die Schülerschaft und das Umfeld abgestimmter<br />
Schulprofile und -kulturen.<br />
Wenn die Hinweise zu den Verschiebungen hin zu Bildungszwang,<br />
Bildungsparadoxon und Schule als Risiko beachtet werden, dann muss daraus ein<br />
immer sensiblerer und vorsichtigerer Umgang mit Selektion und ein geschärftes<br />
Bewusstsein von Lehrkräften dafür resultieren, dass sie – auch jenseits eines engen<br />
professionellen Selbstverständnisses als Fachlehrer – tief- und weitreichend in die<br />
Selbstentwicklung und den Lebenslauf von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen eingreifen. Die<br />
Sensibilisierung und die Reflexion dieser Selektionsentscheidungen ist zwar von<br />
einzelnen Lehrern und Lehrergruppen im Rahmen von Einzelschulen zu leisten,<br />
stößt aber auf Handlungsgrenzen, weil es letztlich um grundlegende Probleme <strong>der</strong><br />
Schulorganisation geht. Hier sind die im Sinne stärkerer Bildungsgerechtigkeit<br />
fungierenden Schul-, Län<strong>der</strong>- und internationalen Vergleiche einerseits zu begrüßen:<br />
Sie ermöglichen – bei einem <strong>der</strong>art stark selektiven Schulsystem wie dem deutschen<br />
unerlässlich – eine stärkere Vergleichbarkeit und damit eine stärkere Gerechtigkeit<br />
und Gleichbehandlung. Zugleich kann mit diesen Vergleichen aber auch die Gefahr<br />
einher gehen, dass Leistung zum immer dominanteren Bezugspunkt in Schulen wird,<br />
was die Selektionsaufgabe von Lehrkräften eher noch stärker ins Zentrum rücken<br />
könnte. Insgesamt muss – vor dem Hintergrund <strong>der</strong> skizzierten Verschärfung <strong>der</strong><br />
Selektionsproblematik – das selektive Handeln in den Horizont <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Aufgabenkreise eingebettet werden. Selektion muss daran orientiert sein,<br />
Bildungsprozesse nicht zu belasten, son<strong>der</strong>n Bildungswege möglichst offen zu<br />
halten. Von daher sind Selektionsentscheidungen – z. B. das Ausson<strong>der</strong>n von<br />
Schülern o<strong>der</strong> das „Abschieben“ aus höheren Schulformen – beson<strong>der</strong>s<br />
begründungsbedürftig, auf die daraus resultierenden Probleme und Risiken für die<br />
Bildungswege von Schüler abzuklopfen und wie<strong>der</strong>um nur im Interesse (und im<br />
Gespräch) mit den betroffenen Jugendlichen und Eltern legitimierbar. Diese<br />
Orientierung verträgt sich gut mit einer Humankapitalperspektive, in <strong>der</strong> es letztlich<br />
darum geht, möglichst umfassend Bildungspotenziale zur Entfaltung zu bringen und<br />
dieselben möglichst nicht zu blockieren. Bei aller <strong>der</strong>artigen Sensibilität werden aber<br />
die strukturellen Wi<strong>der</strong>spruchsmomente zwischen <strong>der</strong> frühen und starken Selektion<br />
im deutschen Schulsystem und <strong>der</strong> professionellen Aufgabe <strong>der</strong> Initiierung und<br />
Beför<strong>der</strong>ung umfassen<strong>der</strong> Bildungsprozesse nicht wirklich aufzuheben sein.<br />
Weitreichen<strong>der</strong>e Entlastungen <strong>der</strong> Lehrerarbeit sind also nur im Rahmen<br />
umfassen<strong>der</strong> Umstrukturierungen des deutschen Bildungssystems zu erwarten, die<br />
entwe<strong>der</strong> in Richtung integrativerer Schulsysteme und späterer<br />
Selektionsentscheidungen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> stärkeren Öffnung zwischen Schulformen und<br />
<strong>der</strong> Erleichterung von Übergängen weisen müssen.<br />
Wenn die Diagnosen stimmig sind, dass Schule als Bildungs- und Lernraum von<br />
an<strong>der</strong>en Bildungs- und Erfahrungsräumen Konkurrenz erhält, eher veralltäglicht und<br />
entauratisiert wird und Jugendliche gleichzeitig in eine stärker auf Begründung und<br />
Legitimation drängende Haltung eintreten, dann resultieren daraus Konsequenzen<br />
für das professionelle Lehrerhandeln:<br />
1. Diese Herausfor<strong>der</strong>ung zu einer stärkeren Begründung und schulischen<br />
Sinnstiftung muss angenommen werden. Sowohl in expliziter Hinsicht, also<br />
immer dann, wenn mehr o<strong>der</strong> weniger grundlegende Anfragen nach dem<br />
Sinn, dem Zweck, warum überhaupt, warum nicht an<strong>der</strong>s etc. auftauchen.<br />
Vor allem aber auch in <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Sache, in <strong>der</strong> stärker als bislang die
- 42 -<br />
Bedeutung des Faches und <strong>der</strong> fachlichen Wissensbestände für<br />
Weltzugänge und -sichten, also die „Philosophie des Faches“ immer schon<br />
mit thematisiert, verdeutlicht und erfahrbar gemacht werden muss.<br />
2. Dies gilt nicht nur für einzelne Lehrer im Bezug auf die Sache, das Fach und<br />
des Sinn des Faches, son<strong>der</strong>n auch für die Gestaltung <strong>der</strong> Schulkultur <strong>der</strong><br />
einzelnen Schule. Kollegien und Einzelschulen können so auch eine<br />
schulkulturelle Sinnstiftung, eine Reauratisierung ihrer Schulen in<br />
Angriff nehmen. Dies kann allerdings nur im Rekurs auf die sozialräumliche<br />
Einbettung <strong>der</strong> Schule, die Lebenslagen und Einbettungen ihrer<br />
Schülerschaft und <strong>der</strong>en Sinn- und Erfahrungshorizonte gelingen. Schulen<br />
können dann zu Kontrasträumen werden, in denen Erfahrungen und<br />
kulturelle Praktiken möglich sind, die in an<strong>der</strong>en Handlungsbereichen fehlen<br />
und die mit Sinn versehen werden können: Etwa in <strong>der</strong> von uns untersuchten<br />
Hauptschule (vgl. Helsper u.a. <strong>2006</strong>) die Erfahrung eines verlässlichen, Halt<br />
und Struktur gebenden Bildungsraumes <strong>der</strong> Anerkennung und <strong>der</strong><br />
Abwesenheit von Missachtung; o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Schule als eines<br />
sozialen Ortes <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sozialen, ethischen und<br />
moralischen Fragen; bzw. <strong>der</strong> Schule als Ort <strong>der</strong> vertiefenden<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ästhetischen Ausdrucks- und Gestaltungsformen<br />
etc.<br />
3. Die Konkurrenz zu an<strong>der</strong>en Bildungs- und Erfahrungsräumen darf allerdings<br />
nicht dazu führen, diese schulisch imitieren zu wollen: Jugendkulturelle<br />
Erfahrungswelten sollen jugendkulturelle bleiben, ebenso wie mediale,<br />
virtuelle o<strong>der</strong> bildhafte Räume. Der Versuch, diese in pädagogische Settings<br />
einzuholen o<strong>der</strong> diese gar entsprechend umzugestalten, würde sie in ihrer<br />
eigentlich interessanten Qualität zunichte machen. Es gilt vielmehr<br />
demgegenüber die Schule als „Differenzraum“ zu profilieren, also als<br />
Bildungsraum, in dem etwas geschieht, das ansonsten in dieser Form selten<br />
ist: Vertiefung, Versenkung, Konzentration, Perspektivenaustausch,<br />
kommunikative Dichte, bohrendes, insistierendes Fragen, Entschleunigung<br />
und bei <strong>der</strong> Sache bleiben. Dies kann durchaus in höchst unterschiedlichen<br />
Formen zwischen reflexiv-kognitiven bis hin zu sinnlich-ästhetischen und<br />
praktisch-gestalterischen Formen geschehen und selbstverständlich<br />
Anschlüsse an außerschulische Erfahrungswelten und lebensweltliche<br />
Rahmungen ermöglichen, die den Differenzraum Schule anschlussfähig und<br />
für Erfahrungen übergängig machen.<br />
Wenn es richtig ist, dass Jugendliche im Kontext des Bildungsparadoxons und <strong>der</strong><br />
sowohl jugendkulturellen als auch biographisch möglichen heterogenen<br />
Lebensentwürfe biographisches Orientierungswissen, beratende Begleitung<br />
benötigen und die Schule insgesamt für die Selbstentwicklung Jugendlicher eine<br />
nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzt, dann bleiben – insbeson<strong>der</strong>e etwa für<br />
Jugendliche wie Tobias Silone o<strong>der</strong> auch Moritz (vgl. oben) – Lehrerinnen und<br />
Lehrer als bedeutsame, signifikante An<strong>der</strong>e für die Jugendbiographie auch in<br />
den skizzierten Verän<strong>der</strong>ungen nicht nur wichtig, son<strong>der</strong>n gewinnen auch neue<br />
Bedeutung. Dies zum einen durchaus im Sinne bildungsbiographischer<br />
Beratungsgespräche, aber vor allem auch im Sinne von an <strong>der</strong> Sache orientierten<br />
Sachwaltern von fachlichen Interessen und Weltzugängen im Zusammenhang <strong>der</strong><br />
Herausbildung bildungsbiographischer Interessensphären und Bildungs- sowie<br />
beruflicher Orientierungssuche: Was könnte mich so und warum so interessieren,<br />
dass ich dies noch lange vertiefen möchte? Dies gilt natürlich – man könnte auch
- 43 -<br />
erleichtert sagen: Gott sei Dank! – nicht für alle Jugendlichen gleichermaßen. Dies<br />
gilt aber insbeson<strong>der</strong>e für Jugendliche, die durch schulisches Scheitern und<br />
Versagenskarrieren gekennzeichnet sind und die Lehrer als signifikante,<br />
vertrauensvolle und anerkennende An<strong>der</strong>e benötigen, um überhaupt wie<strong>der</strong> Mut für<br />
schulische Bildungsprozesse zu schöpfen und sich fachlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen zu<br />
stellen. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e auch für Jugendliche, die biographisch und von ihren<br />
Lebenszusammenhängen stark belastet o<strong>der</strong> destabilisiert sind und verständnisvolle<br />
und emphatische Lehrer benötigen, damit sich nicht auch noch ihre schulische<br />
Situation destabilisiert. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e auch für Jugendliche, die über<br />
schulische Bildung Transformationen und Verän<strong>der</strong>ungen gegenüber ihrem<br />
Herkunftsmilieu anstreben (vgl. etwa das Beispiel von Tobias Silone) und hier Lehrer<br />
benötigen, die als Bildungsanwälte, Impuls- und Ratgeber und mitunter auch als<br />
Identifikationsfiguren dienen können. Das bedeutet nicht, dass Lehrer nun entgrenzt<br />
für alles zuständig sein müssen – also als Lehrer zugleich auch noch als Seelsorger,<br />
Sozialpädagoge, Jugend- o<strong>der</strong> Familientherapeut, Berufsberater etc. fungieren<br />
sollen.<br />
Wenn die Diagnosen tragen, dass Jugendliche stärker an selbstbestimmten,<br />
eigenständigen Entscheidungsmöglichkeiten und früheren Autonomieansprüchen<br />
orientiert sind und diese auch an Schule und Lehrer herantragen und dies zum einen<br />
in kritische Einschätzungen <strong>der</strong> Schule als eines fremdbestimmten Raumes münden<br />
kann, dies zum an<strong>der</strong>en aber auch zu kommunikativer Dauerbelastung und<br />
Entsicherung führen kann, dann gilt es für Lehrerinnen und Lehrer beides<br />
anzunehmen: Zum einen gilt es die Schule als jugendlichen Partizipationsraum<br />
zu stärken und die Autonomieansprüche <strong>der</strong> Jugendlichen stärker zur Geltung<br />
kommen zu lassen. Dies kann bis zu mehr o<strong>der</strong> weniger weit reichenden Modellen<br />
<strong>der</strong> Just-Community gehen, wie sie Lawrence Kohlberg entwickelt hat (vgl. etwa<br />
Oser/Althof 1992). Darin aber gilt es zum an<strong>der</strong>en übergreifend gültige, gemeinsam<br />
gestaltete und beschlossene Mindestregeln und Rituale zu institutionalisieren, in<br />
<strong>der</strong>en Rahmen weiterhin grundlegende Aushandlungen möglich sind, mittels <strong>der</strong>er<br />
aber zugleich ein verbindliches Regelwerk geschaffen wird, das Strukturen setzt und<br />
Orientierung ermöglicht, also: kommunikativ erzeugte Mindestverbindlichkeit und<br />
strukturgebende Verlässlichkeit, auf <strong>der</strong> Grundlage großer<br />
Partizipationsmöglichkeiten. Allerdings etwas, das mit neuen Schülergenerationen<br />
immer wie<strong>der</strong> erneuert und eventuell auch verän<strong>der</strong>t werden muss, weil das, was mit<br />
Schülerinnen und Schülern vor sechs Jahren ausgehandelt worden ist, angesichts<br />
einer neuen Schülergeneration bereits wie<strong>der</strong>um als außen- und fremdgesetzt<br />
erscheint.<br />
Wenn die Gesamtdiagnosen zu den Verän<strong>der</strong>ungen im Verhältnis von Schule und<br />
Jugend bilanziert werden, dann wird deutlich, dass daraus eine größere<br />
Störanfälligkeit, Fragilität und Erschwernisse für die Errichtung von<br />
Arbeitsbündnissen zwischen Lehrern und Schülern resultieren. Zu den skizzierten<br />
strukturellen Problemen und Belastungen bei <strong>der</strong> Errichtung eines professionellen<br />
Arbeitsbündnisses für Lehrerinnen und Lehrer kommen weitere Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
hinzu, die mit <strong>der</strong> Verschiebung von Machtbalancen, <strong>der</strong> Autonomisierung von<br />
Jugendlichen, dem Verlust von absichernden Traditionsstützen und Gratiskräften auf<br />
Seiten <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> stärkeren Begründungsbedürftigkeit schulischer Prozesse<br />
angesichts konkurrieren<strong>der</strong> Lernmöglichkeiten – um nur einiges zu nennen –<br />
einhergehen. Man mag das beklagen und die große Anstrengung und Kraft bis hin<br />
zur Erschöpfung, die das auch kostet, anführen. Darin liegen an<strong>der</strong>erseits auch
- 44 -<br />
Chancen, weil damit Krisen des Arbeitsbündnisses sichtbar und damit auch<br />
angehbar werden. Das bedeutet: Für Lehrkräfte wird es immer zentraler, um<br />
überhaupt die Grundlage für gemeinsam getragene Bildungs- und<br />
Unterrichtsprozesse zu sichern, gezielt an <strong>der</strong> Erzeugung, Erhaltung und<br />
Sicherung von Arbeitsbündnissen mit den einzelnen Schülern, im Zusammenhang<br />
<strong>der</strong> Klasse o<strong>der</strong> Lerngruppe insgesamt und in Verbindung mit den Eltern zu arbeiten.<br />
Auch wenn Arbeitsbündnisse immer zwischen konkreten Lehrern und jugendlichen<br />
Schülern geschlossen werden müssen (ein abstrakt, vorformulierter Vertrag, den es<br />
zu unterschreiben gilt, bietet hier keinen Ausweg!) können schulische<br />
Rahmenregelungen – wie oben ausgeführt – bedeutsam sein. Sie bilden ein<br />
Rahmenregelwerk, in das unterschiedlich gestaltete Arbeitsbündnisse „eingefügt“<br />
werden können. Allerdings: Schulprogramme und -profile bzw. in gemeinsamen<br />
Prozessen ausgehandelte Rahmenregeln, die zu eng sind und zu wenig Spielräume<br />
enthalten, können nötige Aushandlungsspielräume für Lehrer und Schüler zu stark<br />
einengen und zu neuen Problemen führen. Es kommt also auf genügend<br />
Aushandlungsspielräume in verbindlichen Regelwerken an. Auf dieser Grundlage<br />
können dann konkrete Lehrer und Lehrerinnen mit ihren Schülern „aushandeln“,<br />
welche Mindestanfor<strong>der</strong>ungen sie stellen, was sie erwarten, welche<br />
Mindestanfor<strong>der</strong>ungen die Schüler formulieren, welche Einspruchs- und<br />
Beschwerdeinstanzen es gibt, wie in Krisenfällen vorzugehen ist etc. Allerdings ist<br />
dabei auf einen grundlegenden Sachverhalt hinzuweisen: Jenseits aller Verträge und<br />
Kontrakte zwischen Lehrern und Schülern (vgl. Meyer 2004), ob auf Schul-,<br />
Jahrgangs-, Klassen-, Gruppen- o<strong>der</strong> auch Einzelebene, sind die faktischen, im<br />
alltäglichen Umgang zwischen Lehrern und Schülern vorliegenden<br />
Anerkennungsbeziehungen die entscheidende, gewissermaßen „gelebte“ Grundlage<br />
von Arbeitsbündnissen. Deren Tagfähigkeit erweist sich also nicht in schönen<br />
Vertragsformulierungen, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> konkreten Gestaltung <strong>der</strong> Lehrer-Schüler-<br />
Beziehungen.<br />
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943.<br />
Zinnecker, Jürgen (1987): Jugendkultur 1940 – 1985. Opladen.
- 47 -
- 48 -<br />
Prof. Dr. Ingrid Schoberth<br />
Religiöse Individualität und Christusbekenntnis. 1<br />
Theologische und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht<br />
„Ich bestimme selbst, was ich glauben will und was nicht; wenn ich will, daß ich im<br />
Licht stehe, dann stehe ich im Licht und wenn ich will, daß ich im Dunkel stehe, dann<br />
stehe ich im Dunkeln“. Dieser Satz eines Schülers <strong>der</strong> 9. Klasse scheint mir<br />
signifikant für die Frage nach <strong>der</strong> religiösen Individualität. Er drückt ein starkes<br />
Verlangen aus nach Selbstbestimmung, gerade im Feld des Religiösen. Er<br />
signalisiert seine Entschlossenheit, seinen Glauben selbst in die Hand zu nehmen.<br />
Und er will auch nicht, daß man ihm seine schlechten Gefühle nimmt; wenn er schon<br />
Zeiten hat, in denen es dunkel ist, dann will er dafür selbst verantwortlich sein.<br />
In gewisser Weise spricht sich in diesem Votum des Schülers aus, was<br />
Religionsunterricht zum Ziel haben soll: eine religiöse Individualität, die auf<br />
Selbstbestimmung basiert. Respekt vor <strong>der</strong> religiösen Individualität <strong>der</strong> Schüler ist die<br />
Voraussetzung dafür, mit ihnen ins Gespräch zu kommen; und es ist eine gute<br />
protestantische Überzeugung, in Glaubensdingen sich nichts vorschreiben zu lassen.<br />
Und dennoch stehen Religionslehrerinnen und -lehrer hier vor einem Dilemma. Der<br />
zitierte Schüler wollte mit seiner Formulierung seine Versuche mit okkulten Praktiken<br />
legitimierten: Kann ich das einfach als legitime religiöse Selbstbestimmung auf sich<br />
beruhen lassen? Ist hier <strong>der</strong> Religionsunterricht zu seinem Ziel gekommen o<strong>der</strong><br />
braucht <strong>der</strong> Schüler nicht vielmehr Lernmöglichkeiten, mit dem, was ihn bedrängt,<br />
an<strong>der</strong>s umzugehen als in okkulten Praktiken? Verbirgt er hinter seiner<br />
entschlossenen Selbstbestimmung seine Unsicherheit und sein Suchen? Wie ist mit<br />
ihm ins Gespräch kommen, daß einerseits seine Individualität Raum findet und<br />
zugleich das zur Geltung kommt, was ich zunächst noch unbestimmt mit dem Wort<br />
„Christusbekenntnis“ umschreiben möchte? „Christusbekenntnis“ soll dabei für das<br />
Spezifische des Religionsunterrichts stehen. Darauf werde ich noch zurückkommen.<br />
Die gegenwärtige Religionspädagogik betont mit Recht die Bedeutung <strong>der</strong> religiösen<br />
Individualität <strong>der</strong> Schüler; Jürgen Henkys und Friedrich Schweitzer stellen heraus:<br />
„Wenn es <strong>der</strong> Religionspädagogik nicht gelingt, sich auf die individuelle Religion zu<br />
beziehen, läßt sich keines ihrer Ziele erreichen.“ 2 Sie haben auch weiterhin Recht,<br />
wenn sie davor warnen, die Jugendlichen und ihre Religiosität vorschnell als<br />
hedonistisch und indifferent zu charakterisieren, weil das leicht abschätzig werden<br />
kann und die Sachlage kaum trifft. Wie die verschiedenen Jugendstudien <strong>der</strong> letzten<br />
Jahre zeigen, sind die Jugendlichen keineswegs weniger moralisch; sie sind vielmehr<br />
unsicher. Sie verdienen zunächst Achtung und Respekt in ihrem Suchen nach<br />
eigenen Wegen; zumal <strong>der</strong> Schüler ja unzweifelhaft Recht hat: In Glaubensdingen<br />
kann ihm letztlich niemand etwas vorschreiben.<br />
1 Vortrag auf dem „Tag für Lehrerinnen und Lehrer in <strong>der</strong> ev. Kirche von Westfalen“ am 10.03.<strong>2006</strong> in<br />
Dortmund.<br />
2<br />
Jürgen Henkys/ Friedrich Schweitzer, Atheismus – Religion – Indifferenz. Zur Situation <strong>der</strong><br />
Jugend in beiden Teilen Deutschlands vor und nach dem Fall <strong>der</strong> Mauer, in: PTh 85, 1996, 490–507,<br />
501. Henkys/Schweitzer betonen weiter: „Es hilft nicht weiter, Jugendliche als egozentrisch o<strong>der</strong><br />
hedonistisch zu bezeichnen o<strong>der</strong> ihre Indifferenz zu beklagen. Solche Charakterisierungen von<br />
Jugend stehen in <strong>der</strong> Gefahr abschätzig zu werden, ... und ... Sündenböcke zu identifizieren, die für<br />
die Erfolglosigkeit <strong>der</strong> eigenen Arbeit verantwortlich gemacht werden können.“ (aaO).
- 49 -<br />
Zur Achtung und zum Respekt gehört aber auch, daß man die Schüler in ihrer Suche<br />
nicht allein läßt. Die religionspädagogische For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schülerorientierung<br />
bedeutet darum nicht, daß die Kriterien, die den Religionsunterricht tragen, unscharf<br />
werden dürften. Daß das auch die Religionslehrerinnen und -lehrer als die zentrale<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung in ihrer Tätigkeit wahrnehmen und Religionsunterricht nicht in<br />
Stoffvermittlung aufgehen lassen wollen, hat die jüngst erschienene Studie zur<br />
„’Religion’ bei ReligionslehrerInnen“ 3 deutlich dokumentiert. Pointiert gesagt: Die<br />
Religionslehrer und –lehrerinnen sind frömmer als es ihnen große Teile <strong>der</strong><br />
Religionspädagogik erlauben wollen. Wie die starke christliche Motivation aber im<br />
Religionsunterricht zur Geltung kommen kann, ist das Problem, zu dessen<br />
Bearbeitung ich heute beitragen möchte. Weil das eine nicht auf Kosten des an<strong>der</strong>en<br />
gehen darf, will ich nach einem Weg des Lernens an <strong>der</strong> Schule fragen, in dem<br />
religiöse Individualität und Christusbekenntnis miteinan<strong>der</strong> ins Gespräch kommen.<br />
Ich will im ersten Teil an einem didaktischen Beispiel zeigen, daß <strong>der</strong> Bezug<br />
zwischen religiöser Individualität und Christusbekenntnis das Unterrichtsgeschehen<br />
nicht blockieren muß, son<strong>der</strong>n gerade erst in Bewegung setzen kann. Auf diesem<br />
Hintergrund soll dann in einem zweiten Teil genauer überlegt werden, was religiöse<br />
Individualität überhaupt heißen kann; dabei sind auch die Ambivalenzen, die zu<br />
diesem Begriff gehören, genauer in den Blick zu nehmen. Der dritte Teil führt dann<br />
aus, warum religiöse Individualität und Christusbekenntnis gerade nicht im<br />
Wi<strong>der</strong>spruch stehen, son<strong>der</strong>n aufeinan<strong>der</strong> verweisen. Im abschließenden vierten<br />
Teil werden die bisherigen Überlegungen wie<strong>der</strong> zurückgeführt in die Situation des<br />
Religionsunterrichts: Was ich pädagogisch wie theologisch als Zusammenhang von<br />
religiöser Individualität und Christusbekenntnis zeigen will, muß sich dort bewähren.<br />
Eine Begegnung mit dem Gekreuzigten<br />
Ich beginne mit einem Bild, weil Bil<strong>der</strong> nicht festlegen müssen. Der Musiker Michel<br />
Portal hat einmal gesagt: ‚Nichts ist unvernünftiger als ein Bild.’ Das macht Bil<strong>der</strong> für<br />
den Religionsunterricht so wichtig. ‚Unvernünftig’ kann hier heißen, daß ein Bild eine<br />
Vielzahl von Wahrnehmungen und Assoziation zuläßt, so daß sich für die Schüler die<br />
Möglichkeit ergibt, sich in den Raum hinein zu artikulieren, den das Bild öffnet, aber<br />
nicht festlegt. Das setzt natürlich voraus, daß die Bil<strong>der</strong> nicht lediglich als Illustration<br />
dienen und nicht einfach als Hinführung zum ‚Eigentlichen’ verbraucht werden. Bei<br />
Bil<strong>der</strong>n besteht immer die Gefahr, daß man etwas Bestimmtes damit will, bis dahin,<br />
daß ein Lehrer sagt: „seht ihr denn nicht, daß ...“ Damit wäre für die Schüler <strong>der</strong><br />
Raum <strong>der</strong> eigenen Wahrnehmungen verschlossen, bevor er eröffnet ist. So<br />
verständlich es ist, daß man seine Ziele im Religionsunterricht auch erreichen will –<br />
die Chance <strong>der</strong> Arbeit mit Bil<strong>der</strong>n besteht darin, daß das Ungeordnete und noch<br />
Unvernünftige zur Sprache kommt. Ein Bild ist eine Einladung, aus sich<br />
herauszugehen, um neu zu sehen. Das ist nicht ohne Risiko für den geplanten<br />
Unterrichtsablauf. Aber an diesem Risiko hängt die Möglichkeit des Lernens im<br />
Religionsunterricht.<br />
3<br />
‚Religion’ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses<br />
Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Berufsbiographische Fallanalysen und eine<br />
repräsentative Meinungserhebung unter evangelischen ReligionslehrerInnen in Nie<strong>der</strong>sachsen; hg.<br />
von Andreas Feige u.a., Münster 2000.
- 50 -<br />
Bild von Kasimir Malewitsch<br />
Sie sehen die ‚Studie zu einem Kruzifix’ von Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1930.<br />
Das Bild wird bestimmt von <strong>der</strong> Gestalt eines Gekreuzigten in eigentümlicher<br />
Kleidung. Das Gesicht zeigt die menschlichen Züge; die Arme sind weit ausgestreckt<br />
und ragen aus dem Bild. Kräftige schräge Linien glie<strong>der</strong>n den Hintergrund; zwei<br />
Kreuze sind zu sehen und ein Gebäude.<br />
Durch die Kreuzesdarstellung ist das Bild offenkundig auf die Christusgeschichte<br />
bezogen; <strong>der</strong> biblische Horizont ist also auch für Schüler sofort gegeben. Indem das<br />
Bild aber die klassische Ikonographie zugleich durchbricht, kann es Assoziationen<br />
und Erfahrungen öffnen: Die bekannte Szene zeigt neue Facetten. Durch das Bild<br />
kann zur Sprache kommen, was sonst verborgen bleibt: Düsteres, Dunkles und<br />
schmerzlich Erinnertes. Die Unbestimmtheit ist essentiell für die Wahrnehmung<br />
dieses Bildes und dann auch die Voraussetzung dafür, daß das Christusbekenntnis<br />
überhaupt ins Spiel kommen kann. Es ist keine traditionelle Darstellung, die fertig<br />
interpretiert und bekannt ist und damit in <strong>der</strong> Distanz bleibt. Eine klassische<br />
Kreuzesdarstellung würde für die Schüler wohl nur als Wie<strong>der</strong>holung des ihnen<br />
längst Bekannten wahrgenommen. Weil das Bild skizzenhaft bleibt und die Tradition<br />
gleichermaßen aufnimmt und bricht, eröffnet es Wahrnehmungen. Als Kunstwerk<br />
erfor<strong>der</strong>t es aber auch, daß ich mich mühe, mit ihm ins Gespräch zu kommen. In<br />
dieser Mühe erkenne ich schon den Anfang zu einer religiösen Sprachfähigkeit.
- 51 -<br />
Malewitschs Bild ist keine Illustration und hat nicht einfach eine Aussage, die man<br />
aufnimmt, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t heraus. Durch den Kontext <strong>der</strong> Christusgeschichte, in dem<br />
es steht, sind die Assoziationen aber auch nicht beliebig. Gerade so provoziert das<br />
Bild auch die Wi<strong>der</strong>stände, die Lernprozesse brauchen: Der Gekreuzigte,<br />
ausgebreitet wie lebendig und doch <strong>der</strong> Christus am Kreuz, im Gesicht starr und tot?<br />
Ist es überhaupt Christus o<strong>der</strong> nicht ein namenloser Gekreuzigter? Das Bild wird<br />
frem<strong>der</strong>, uneindeutiger, je länger man hinsieht. Sind es die Kreuze <strong>der</strong> Schächer im<br />
Hintergrund o<strong>der</strong> Grabkreuze, rechts ein Grabgebäude o<strong>der</strong> eine militärische<br />
Wachstation? Eine Schülerin entdeckte im Gekreuzigten den Papst: Was an<strong>der</strong>e als<br />
Gesicht wahrnehmen, hat sie als Mitra gedeutet; <strong>der</strong> Stellvertreter Christi am Kreuz?<br />
Assoziationen sind produktiv: Was ist das Kreuz <strong>der</strong> Kirche - hängt sie nicht schon<br />
längst am Kreuz? Ist sie für die Schüler längst gestorben?<br />
Das Bild for<strong>der</strong>t nicht Antworten; das Bild nimmt erst einmal hinein in ein Gespräch,<br />
in einen Raum, in dem die Christusgeschichte dabei ist. Unterrichtspraktisch hat das<br />
auch die Funktion, daß das Bild die Assoziationen sortiert und lenkt, so daß Schüler<br />
und Lehrer bei diesem Gekreuzigten bleiben. Das Unterrichtsgespräch bleibt um den<br />
auch zunächst namenlosen Gekreuzigten zentriert, aber es ist nicht determiniert. Die<br />
Lücken, die das Bild läßt, erlauben, daß Erfahrungen des Leides, Ängste, und die<br />
Sehnsucht nach dem Ende von Leid und Tod Bil<strong>der</strong> und Sprache finden.<br />
Malewitsch’ Bild des Gekreuzigten ermöglicht in elementarer und sicher sehr<br />
anfänglicher Weise Lernwege, die mit dem zusammenhängen, was ich als<br />
„Christusbekenntnis“ bezeichnet habe. Im eigenen Wahrnehmen und<br />
Nachbuchstabieren <strong>der</strong> eigenen Eindrücke kann man sich lösen von eingefahrenen<br />
Gedankenwegen und sich probeweise zubewegen auf eine Geschichte, in <strong>der</strong><br />
vielleicht auch die Schüler ihren Platz finden können. Wie hier religiöse Individualität<br />
und Christusbekenntnis zusammenkommen können, indem Vertrautes wie Fremdes<br />
<strong>der</strong> Christusgeschichte in neuem Zusammenhang erscheint, wird noch zu bedenken<br />
sein. Im tastenden, explorativen Gespräch ist es zunächst die Aufgabe <strong>der</strong><br />
Religionslehrerinnen und -lehrer, die Schüler bei ihrer Sprachfindung zu<br />
unterstützen; die Lehrenden sind gleichsam Anwalt <strong>der</strong> religiösen Individualität <strong>der</strong><br />
Schüler.<br />
Ich fasse diesen ersten Teil zusammen: Die Begegnung mit dem Christus des<br />
Glaubens erfor<strong>der</strong>t didaktisch offene Wege, die es ermöglichen, die eigene religiöse<br />
Individualität in Eindrücken und Erfahrungen, aber auch in Wi<strong>der</strong>stand und<br />
Zustimmung zu artikulieren.<br />
Bisher habe ich von religiöser Individualität gesprochen, als wäre dieser Begriff<br />
unproblematisch vorauszusetzen. Jetzt muß freilich dieser Begriff genauer bedacht<br />
werden.<br />
Die Ambivalenzen religiöser Individualität<br />
Ich habe diesen Begriff bisher unterminologisch gebraucht für die religiösen<br />
Einstellungen, Orientierungen, aber auch Vorbehalte <strong>der</strong> Schüler, die sie in den<br />
Religionsunterricht mitbringen. Der Begriff ist aber auch in <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Religionspädagogik und Religionssoziologie geradezu programmatisch.
- 52 -<br />
‚Individualität’ und ‚Selbstbestimmung’ können als Leitbegriffe <strong>der</strong> Gegenwartskultur<br />
gelten. Wenn in <strong>der</strong> religionspädagogischen Diskussion gegen alle institutionelle<br />
Vereinnahmung die Individualität <strong>der</strong> Schüler betont wird, dann steht das in Einklang<br />
mit einer gesellschaftlich vorherrschenden Orientierung. Hier manifestiert sich ein<br />
Ideal, das zu den Grundlagen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie gehört; die Termini sind<br />
aber auch empirisch offensichtlich von einiger Erklärungskraft, was dazu führt, daß in<br />
<strong>der</strong> Religionssoziologie das Konzept <strong>der</strong> Säkularisierung zunehmend abgelöst wird<br />
von dem <strong>der</strong> „Individualisierung“, wie es vor allem von Ulrich Beck vertreten wird.<br />
Der Blick auf die soziologische Diskussion zeigt allerdings auch, daß<br />
„Individualisierung“ nicht identisch ist mit einer Zunahme von individueller Freiheit<br />
und Selbstbestimmung. Aus dem soziologischen Befund einer „Individualisierung“<br />
läßt sich eine wachsende Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht unmittelbar ableiten.<br />
Mit <strong>der</strong> Vermehrung von Wahlmöglichkeiten und individuellen Lebensentwürfen ist<br />
die Belastung gestiegen, mit diesem Mehr an Optionen auch sinnvoll umzugehen.<br />
Wenn das aber nicht gelingt, dann ist das Resultat nicht ein Mehr an Freiheit,<br />
son<strong>der</strong>n umgekehrt eine umso größere Abhängigkeit von Strukturen, die man nicht<br />
durchschaut. 4 Das führt in eine paradoxe Situation, die an den Schülern<br />
wahrgenommen werden kann. Sie wollen ihre Individualität zeigen und tun das,<br />
indem sie die Markenkleidung tragen, die gerade angesagt ist; sie wollen sich selbst<br />
ausdrücken, indem sie die Events aufsuchen, in denen sie selbst sein wollen und<br />
sind dabei doch Konsumenten einer Erlebnisindustrie. Weil „Individualisierung“ noch<br />
nicht Individualität ist, brauchen sie Hilfe; die Bildung <strong>der</strong> Individualität und gerade<br />
auch <strong>der</strong> religiösen Individualität erweist sich als Aufgabe und ist keine schlichte<br />
Faktizität.<br />
„Individualisierung“ heißt also zunächst nur, daß die traditionellen <strong>Institut</strong>ionen an<br />
Bedeutung für die Sozialisationsvorgänge verlieren. 5 Dies betrifft alle <strong>Institut</strong>ionen, zu<br />
<strong>der</strong>en Sinn Bindungen gehören: Gewerkschaften, Parteien, Vereine und so<br />
offenkundig auch und gerade die Kirchen. Mit dem Bedeutungsverlust <strong>der</strong><br />
<strong>Institut</strong>ionen geht einher, daß tradierte Gewißheiten und Verbindlichkeiten sich<br />
auflösen. Der Bedeutungsschwund <strong>der</strong> traditionellen Verbindlichkeiten läßt sich<br />
verschieden deuten: Man kann hier eine Befreiung von überkommenen Beengungen<br />
sehen, man kann aber auch den Verlust an identitätsstützenden und -sichernden<br />
Funktionen beklagen. Beides gehört zum sozialen Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“,<br />
<strong>der</strong> darum ambivalent bleibt. Es sind, wie Beck prägnant formuliert, „riskante<br />
Freiheiten“. 6 Wenn Becks These zutrifft, daß die Gegenwart durch ein<br />
Reflexivwerden <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gekennzeichnet ist, dann hängt alles davon ab, ob es<br />
den Individuen auch gelingt, die notwendigen Reflexionsleistungen zu erbringen. Der<br />
Prozeß <strong>der</strong> „Individualisierung“ bedarf <strong>der</strong> starken Individuen; aber wie entstehen<br />
solche starken Individuen? Das wird im Individualisierungstheorem kaum bedacht.<br />
Die objektive Zunahme von Wahlmöglichkeiten und die subjektive Fähigkeit<br />
4<br />
Vgl. Michael Küggeler, „Ein weites Feld ...“ Religiöse Individualisierung als Forschungsthema,<br />
in: Karl Gabriel, Religiöse Individualisierung und Säkularisierung. Biographie und Gruppe als<br />
Bezugspunkt mo<strong>der</strong>ner Religiosität, Gütersloh 1996, 215–235, 217.<br />
5<br />
Henkys/ Schweitzer, Atheismus-Religion-Indifferenz, 497.<br />
6<br />
Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck<br />
und Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Auflage Frankfurt/M. 1994.
- 53 -<br />
entsprechen einan<strong>der</strong> nicht; es gibt Hinweise darauf, daß die Optionen nur von<br />
wenigen tatsächlich realisiert werden. 7<br />
Die Dialektik, die zum Begriff <strong>der</strong> Individualität gehört, wird deutlich, wenn man die<br />
Voraussetzungen bedenkt, die schon in <strong>der</strong> Vorstellung von einer Wahl enthalten<br />
sind. Es bedarf nicht nur <strong>der</strong> Alternativen, die ich habe, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Maßstäbe,<br />
mit denen ich sie bewerte. Solche Maßstäbe sind aber nicht durch ein isoliertes<br />
Individuum herzustellen, son<strong>der</strong>n entstehen in <strong>der</strong> Einbindung in einen sozialen<br />
Zusammenhang. Wenn das Autonomieideal mittlerweile zu einer generellen Reserve<br />
gegen institutionelle Bindungen geworden ist, dann gefährdet das Individualität, weil<br />
alles gleich gültig und damit gleichgültig zu werden droht.<br />
Ralf Dahrendorf hat darum auf die Bedeutung <strong>der</strong> Koordinaten hingewiesen,<br />
innerhalb <strong>der</strong>er Optionen erst Sinn ergeben. 8 Um überhaupt wählen zu können – und<br />
nicht zufällig <strong>der</strong> erstbesten Verlockung zu erliegen – braucht es Kriterien. Nach<br />
Dahrendorfs Analyse sind solche Kriterien oft genug aber gerade nicht vorhanden. Er<br />
sieht ein zentrales Dilemma <strong>der</strong> gegenwärtigen Kultur darin, daß sie „manchen – vor<br />
allem jungen Menschen – immer mehr Wahlmöglichkeiten zu offerieren scheint, ohne<br />
ihnen doch Entscheidungshilfe zu geben bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> Frage, welche<br />
Bedeutung es denn hätte, diese und nicht jene Option zu wählen.“ 9 Sinnvoll mit den<br />
Optionen umgehen setzt voraus, was Dahrendorf ‚Ligaturen’ nennt: Verbindlichkeiten<br />
und Bindungen. Im Begriff ‚Ligaturen’ klingen ‚Obligationen’, Verpflichtungen, an,<br />
aber auch ‚Religion’: Wenn Individualität diese Bindungen braucht, woher können sie<br />
unter den gegenwärtigen Bedingungen kommen? Mir scheint offenkundig, daß dies<br />
nicht restaurativ und rückwärtsgewandt geschehen kann. Kann es aber solche<br />
Ligaturen geben, die jenseits aller Nostalgie und jenseits aller Bevormundung<br />
Identifikationen ermöglichen, die tragen können und Halt geben? 10<br />
Dahrendorf erinnert nicht umsonst an die Bedeutung <strong>der</strong> Religion als eines <strong>der</strong><br />
wichtigen Systeme, die die Sinndimensionen im Leben eines Menschen tragen. Für<br />
die Gegenwartskultur ist bezeichnend, daß Religion durchaus akzeptiert ist; die<br />
Nachmo<strong>der</strong>ne ist keineswegs religionsfeindlich. Ihre Toleranz o<strong>der</strong> gar Sympathie für<br />
Religion basiert freilich darauf, daß man in Distanz bleiben will: Man ist durchaus<br />
bereit, sich auf religiöse Vorstellungen und Erfahrungen einzulassen, aber doch so,<br />
daß man sich auch je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> herausziehen kann. Diese Distanz ist aber nicht<br />
identisch mit religiöser Freiheit, son<strong>der</strong>n nur ein Teil von ihr. Zum Sinn von Religion<br />
gehören Verbindlichkeit und Gewißheit; sie sind Voraussetzung <strong>der</strong> Ausbildung einer<br />
starken Identität, die untrennbar mit Individualität verbunden ist. 11 Darum bedarf es<br />
auch postmo<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gewißheiten. 12 Die Entmächtigung <strong>der</strong> etablierten <strong>Institut</strong>ionen<br />
7<br />
Vgl. Pollack, Detlef: Zur neueren religionssoziologischen Diskussion des<br />
Säkularisierungstheorems; in: Dialog <strong>der</strong> Religionen 5/1995, 114–121.<br />
8<br />
Dahrendorf, Ralf: Das Zerbrechen <strong>der</strong> Ligaturen und die Utopie <strong>der</strong> Weltbürgergesellschaft; in:<br />
Riskante Freiheiten. Individualisierung in den mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften; hg. von Ulrich Beck und<br />
Elisabeth Beck-Gernsheim, 1. Aufl. Frankfurt/M. 1994, 421–436, 423.<br />
9<br />
Ebd.<br />
10<br />
Vgl. dazu Kroeger, Matthias: Die Notwendigkeit <strong>der</strong> unakzeptablen Kirche, München 1997.<br />
11<br />
Vgl. dazu Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung <strong>der</strong> neuzeitlichen Identität.<br />
Übersetzt von Joachim Schulte, 1. Aufl. Frankfurt/Main 1994, 17 u.ö.<br />
12<br />
Es wäre ein eigenes Thema, die Gewißheiten und Verbindlichkeiten, die dem postmo<strong>der</strong>nen<br />
Wahrheitsbewußtsein zugrunde liegen, und die starken Wertungen, die hinter <strong>der</strong> scheinbaren<br />
Wertepluralität liegen, zu untersuchen.
- 54 -<br />
und die Distanz zu religiösen Bindungen bedeutet nicht, daß ihre Funktion<br />
entbehrlich wäre: Wenn die etablierten <strong>Institut</strong>ionen diese Aufgabe nicht mehr<br />
erfüllen können, woher stammen dann die Gewißheiten und Strukturen, auf denen<br />
Identität und Individualität basieren?<br />
Ich fasse zusammen: Individualität ist nicht die bloße Möglichkeit <strong>der</strong> Wahl, son<strong>der</strong>n<br />
setzt spezifische Verbindlichkeiten voraus. Solche Verbindlichkeiten sind danach zu<br />
beurteilen, ob sie Freiheit ermöglichen o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n.<br />
Ich habe Dahrendorfs Begriff <strong>der</strong> Ligatur aufgenommen, weil er mir geeignet<br />
erscheint, solche posttraditionalen Verbindlichkeiten zu bezeichnen, zu <strong>der</strong>en Sinn<br />
es gerade gehört, daß sie Individualität nicht negieren, son<strong>der</strong>n bedingen. Als<br />
evangelische Theologin ist für mich die maßgebliche ‚Ligatur’ das, was ich bisher<br />
unbestimmt als „Christusbekenntnis“ bezeichnet habe. Das ist jetzt aufzunehmen und<br />
genauer zu umreißen.<br />
Christusbekenntnis an <strong>der</strong> Schule: die Ligatur <strong>der</strong> Freiheit<br />
Ich habe eingangs den Ausdruck „Christusbekenntnis“ damit umschrieben, daß er für<br />
das steht, was den Religionsunterricht ausmacht. Ich will das jetzt genauer fassen,<br />
indem ich in einer ersten Überlegung zunächst auf seine inhaltliche Dimension<br />
verweise. Da ist also etwa an die formulierten Bekenntnisse zu denken, die in ihrem<br />
gottesdienstlichen Gebrauch als Verdichtungen des christlichen Glaubens<br />
gesprochen werden. Vom Bekenntnis soll hier also ausdrücklich die Rede sein im<br />
Sinne des christlichen Dogmas, das dem Reden von <strong>der</strong> christlichen Religion Sinn<br />
und Bestimmtheit gibt.<br />
Es wäre allerdings nicht nur pädagogisch fatal, son<strong>der</strong>n würde vor allem dem<br />
christlichen Sinn des Dogmas wi<strong>der</strong>sprechen, wollte man von den Schülern<br />
verlangen, es ohne Wi<strong>der</strong>stand und ohne Auseinan<strong>der</strong>setzung zu übernehmen. Das<br />
aber gilt nicht nur an <strong>der</strong> Schule: Das Bekenntnis ist kein festes und unkritisch zu<br />
akzeptierendes Lehrgebäude, son<strong>der</strong>n verweist auf die je neue Suche nach <strong>der</strong><br />
Wahrheit, die uns von Gott zukommt. Die Orientierung am Bekenntnis ist für einen<br />
christlichen Religionsunterricht unabdingbar in dem strikt theologischen Sinn, wie ihn<br />
Hans Joachim Iwand formulierte: „daß es hier um die Wahrheit geht, daß es nicht<br />
darum geht, alte Wahrheit im neuen Gewande zu bekommen, son<strong>der</strong>n daß es darum<br />
geht, die Wahrheit zu finden“. 13 Was im Bekenntnis zur Sprache kommt, ist immer<br />
neu; darum kann man die christliche Lehre nicht an<strong>der</strong>s haben als in <strong>der</strong><br />
gemeinsamen Bewegung in einem Raum, <strong>der</strong> durch das Bekenntnis abgesteckt ist.<br />
Es ist ganz treffend, daß schon in dem Ausdruck „christliche Lehre“ beides gemeint<br />
ist: Die Tätigkeit des Lehrens wie sein Inhalt.<br />
Mit Iwand wäre festzuhalten, daß erst da im eigentlichen Sinn vom Dogma<br />
gesprochen werden kann, wo es in meinem Leben ankommt, wo es durch meine<br />
Individualität hindurch Gestalt gewinnt, also auch durch alle Vorbehalte und<br />
Brechungen hindurchgeht. Diese Bewegung zeichnet die Aufgabe und die<br />
Möglichkeit des Religionsunterrichts an <strong>der</strong> Schule vor: Es geht darum, die eigenen<br />
13<br />
Iwand, Hans Joachim: Der mo<strong>der</strong>ne Mensch und das Dogma; in: <strong>der</strong>s., Vorträge und<br />
Aufsätze, hg. von Dieter Schellong und Karl Gerhard Steck , München<br />
1966, 91–105; 98, Hervorhebung von hier.
- 55 -<br />
Wege so buchstabieren zu lernen, daß an ihnen die Freiheit spürbar wird, die von<br />
Christus her auf uns zukommt. In diesem Versuch einer neuen Wahrnehmung des<br />
eigenen Lebens, auch wenn es manchmal scheinbar gar nicht um religiöse o<strong>der</strong><br />
explizit christliche Themen geht, kann das Christusbekenntnis den Raum bestimmen,<br />
in dem <strong>der</strong> Religionsunterricht sich bewegt. Das kann zweifellos nur im<br />
experimentellen Umgang sein, im Ausprobieren <strong>der</strong> neuen Perspektiven, die das<br />
Bekenntnis eröffnet.<br />
Weil dieser experimentelle Charakter nicht nur aus den schulischen Bedingungen<br />
resultiert, son<strong>der</strong>n zum Sinn des Christusbekenntnisses selbst gehört, durchstreicht<br />
es nicht die religiöse Individualität, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t sie geradezu ein. Religiöse<br />
Individualität lebt und bildet sich im Abarbeiten an Verbindlichkeiten und<br />
Gewißheiten, die sicher zunächst oft als sperrig und fremd erfahren werden. Wenn<br />
diese Überlegungen zutreffen, dann steht <strong>der</strong> Religionsunterricht vor <strong>der</strong> Aufgabe,<br />
christlichen Glauben als Ligatur <strong>der</strong> Freiheit wahrnehmen zu lernen, zur Sprache zu<br />
bringen und kritisch zu reflektieren. Habe ich bisher vom Bekenntnis im Sinne des<br />
Dogmas gesprochen, so muß nun auch seine an<strong>der</strong>e Bedeutung genannt werden:<br />
<strong>der</strong> Akt des Bekennens. Damit ist eine Dimension im Blick, die noch einmal darüber<br />
hinausgeht, daß das Bekenntnis ein Fremdes sein kann, an dem ich mich abarbeiten<br />
kann. Das Christusbekenntnis ist aber auch mehr als Ligatur; es impliziert eine<br />
Beteiligung <strong>der</strong> Person bis hin zur personalen Identifikation. Zur Verbindlichkeit, die<br />
das Wesen solcher Ligaturen ausmachen, gehört ja nicht nur ihre kulturelle<br />
Vorgegebenheit, son<strong>der</strong>n daß ich sie für mich gelten lasse.<br />
Gerade das ist aber für viele anstößig, beson<strong>der</strong>s auch im Kontext <strong>der</strong> Schule. Sie<br />
sehen im verpflichtenden Charakter des Bekenntnisses eine unerträgliche Zumutung<br />
für die religiöse Individualität <strong>der</strong> Schüler, die heute so nicht mehr aufrechterhalten<br />
werden könne. Sicher kann die Schule nicht <strong>der</strong> Ort des freimütigen Bekennens sein;<br />
schulischer Religionsunterricht bewegt sich vielmehr in einem Raum, in dem die<br />
persönliche Verbindlichkeit des Bekenntnisses nicht eingelöst werden kann und soll.<br />
Der personale Sinn des Bekenntnisses darf gleichwohl nicht negiert werden; ich sehe<br />
sogar hier eine spezifische Chance des Religionsunterrichts, wenn deutlich bleibt,<br />
daß es sich allenfalls um versuchsweise Identifikation handeln kann, die nie<br />
gezwungen ist, die Distanz ganz aufzugeben. Wie ich am Bild von Kasimir<br />
Malewitsch zu zeigen versucht habe, kann man versuchsweise, phantasievoll und<br />
kritisch die eigenen Erfahrungen, Ängste und Sehnsüchte in <strong>der</strong> Christusgeschichte<br />
unterbringen, ohne zur Zustimmung genötigt zu sein. Gerade solches Ausprobieren<br />
kann aber meiner Individualität neue Perspektiven zuspielen.<br />
Wird hier vom Christusbekenntnis an <strong>der</strong> Schule gesprochen, dann heißt das für den<br />
Unterricht also nicht, einen Akt des Bekennens an <strong>der</strong> Schule herbeiführen zu<br />
wollen. Das öffentliche Bekenntnis hat seinen Ort in <strong>der</strong> Liturgie des Gottesdienstes<br />
o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Konfirmationszeit: In <strong>der</strong> Konfirmationshandlung wird den Konfirmanden<br />
dezidiert zugemutet, die ausdrückliche Selbstidentifikation mit dem christlichen<br />
Bekenntnis zu vollziehen – wie ernst das auch immer jeweils genommen wird. Für<br />
die Gemeindepädagogik wie für die Erwachsenenpädagogik sehe ich hier einigen<br />
Reflexionsbedarf, sich genau darüber Rechenschaft abzulegen, wie diese Balance<br />
zwischen Verbindlichkeit und Distanz im Kontext <strong>der</strong> Gemeinde wahrzunehmen ist.<br />
Im schulischen Religionsunterricht jedenfalls bleibt das Christusbekenntnis offener<br />
Bezugspunkt: Auch wenn die Schüler in <strong>der</strong> Regel getaufte Christen sind, erfor<strong>der</strong>t<br />
<strong>der</strong> Ort Schule diese relative Distanz. Aber in dieser Distanz liegt auch die genuine
- 56 -<br />
Chance, daß einerseits religiöse Individualität reifen kann. An<strong>der</strong>erseits kann so auch<br />
das Christusbekenntnis seine Kraft entfalten unter Menschen, die immer am Anfang<br />
stehen, es langsam kennenzulernen. Dazu sind Lernwege erfor<strong>der</strong>lich, in <strong>der</strong> die<br />
Schüler das Bekenntnis als Bewegung anfänglich wahrnehmen können. Die Schüler<br />
werden so in die lebendige Bewegung hingenommen, die auch dem theologischen<br />
Sinn des Bekenntnisses entspricht. Darum ist auch <strong>der</strong> Anspruch nicht gering, <strong>der</strong><br />
mit diesem Charakter des Vorläufigen und Erprobenden verbunden ist. Dieses<br />
Erproben kann <strong>der</strong> Modus sein, in dem die existenzielle Bedeutung des<br />
Bekenntnisses im schulischen Unterricht erscheint.<br />
Ich fasse zusammen: Der schulische Religionsunterricht kann die Verbindlichkeit des<br />
Christusbekenntnisses nicht personal einfor<strong>der</strong>n; seine Kontur erhält er aber daraus,<br />
daß er sich auf die Substanz dieser Verbindlichkeit einläßt, diese als Eröffnung von<br />
Individualität erprobt und versuchsweise Identifikationsmöglichkeiten anbietet.<br />
Religionsunterricht im Horizont des Christusbekenntnisses<br />
Ich will mich nun konzentrieren auf didaktische Folgerungen, die sich für die Arbeit<br />
am Bekenntnis ergeben. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Bild von Malewitsch, die<br />
am Anfang meines Vortrags stand, kann für den ersten didaktischen Schritt stehen,<br />
<strong>der</strong> explorativ und offen die Schüler zu einer Bewegung einlädt, feste Vorstellungen<br />
hinter sich zu lassen, die eine Begegnung mit dem Christus oft verhin<strong>der</strong>n. Diese<br />
Bewegung dient einer Verfremdung, um hinter den manchmal allzu bekannten<br />
Christusbil<strong>der</strong>n eine Begegnung mit dem Christus selbst zu ermöglichen; diese<br />
Bewegung erlaubt aber auch, die eigenen Wi<strong>der</strong>stände zu formulieren. Diese<br />
Bewegung ins Offene braucht aber nun auch als Gegengewicht solche Wege, die<br />
zum Verstehen des Bekenntnisses führen. In diesem Zusammenhang habe ich von<br />
<strong>der</strong> Ligatur gesprochen, die das Christusbekenntnis ausmacht: Zum<br />
Christusbekenntnis, in dem <strong>der</strong> Religionsunterricht Sinn und Richtung hat, gehört das<br />
Verpflichtende und Orientierende.<br />
Das Verstehen dieser Ligatur <strong>der</strong> Freiheit soll nun im Unterricht angebahnt werden,<br />
so daß die Schüler zu einer begründeten Stellungnahme befähigt werden, die sie<br />
zwar nicht in die Situation des Bekenntnisses führt, aber die sie gleichsam in die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Christus führt. Wenn ein Curriculum für einen Kurs in <strong>der</strong> 12.<br />
Klasse als Aufgabe formuliert, die Schüler zu einer Christusbegegnung anzuleiten,<br />
die ein verfestigtes Gottesbild aufbricht und in das Reden <strong>der</strong> Christen von Jesus<br />
Christus einführt, dann liegt das durchaus in <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong> hier vorgestellten<br />
Überlegungen. So wichtig auch die Kenntnis <strong>der</strong> zentralen Texte <strong>der</strong> christlichen<br />
Tradition ist, wie sie im Curriculum vorgesehen ist: Religionspädagogisch muß hier<br />
einen Schritt weitergegangen und gefragt werden, was dieses Bekenntnis dann auch<br />
für mich bedeuten kann.<br />
Für eine unterrichtliche Realisierung könnte sich anbieten, das Bekenntnis des<br />
Hauptmanns aus Mk 15 aufzugreifen. Der Hauptmann ist einer, „<strong>der</strong> dabeistand, ihm<br />
gegenüber, und sah, daß er so verschied“. Angesichts des Leidens und <strong>der</strong><br />
Verlassenheit Jesu am Kreuz spricht er das Bekenntnis aus: „Wahrlich, dieser<br />
Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Die religionspädagogische Arbeit zielt darauf,<br />
Schüler in diese Situation hineinzuziehen: Dem Gekreuzigten gegenüber Aufstellung<br />
zu nehmen, ob sie ihm freundlich o<strong>der</strong> feindlich gestimmt sind. Didaktisch läßt sich<br />
das in Weiterführung <strong>der</strong> Arbeit am Bild von Malewitsch durchführen: Unser Blick auf
- 57 -<br />
das Bild führt in das Gegenüber zum Gekreuzigten: Wir sehen ihn wie <strong>der</strong><br />
Hauptmann. Ich würde diese Gestalt des Hauptmanns zunächst einführen, ohne sein<br />
Bekenntnis zu zitieren. „Was meinen Sie: Was sagt <strong>der</strong> römische Hauptmann, <strong>der</strong><br />
hier dabeisteht?“ Erst in einem weiteren Schritt wäre in <strong>der</strong> Lektüre des Bibeltexts<br />
dieser Wendung des Bekenntnisses angesichts des Leidens nachzudenken.<br />
Auch die Schüler erreicht dieses Angesicht des Leidens: Wer könnte dieser für mich<br />
sein? Für eine wie immer vorläufige Antwort brauchen die Schüler Raum und Zeit.<br />
Daß solches Nachdenken schon vor aller religiösen Bestimmtheit in unserer<br />
gegenwärtigen Kultur schwierig genug ist, kann ich hier nur nennen. Der Hauptmann<br />
gibt ihnen nun eine Verstehenshilfe vor. Er ermöglicht damit die Öffnung des<br />
Christusbekenntnisses auf die Schüler hin. Man könnte sagen, mit diesem<br />
Bekenntnis geht die Auseinan<strong>der</strong>setzung um diesen Jesus am Kreuz, <strong>der</strong> Diskurs um<br />
diesen Christus weiter.<br />
Um in diese Bewegung des Christusbekenntnisses hineinzuführen, die dem<br />
christlichen Glauben eigentümlich ist, braucht es beides: Phasen offener<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung und Phasen des Abarbeitens an geprägter Tradition; dabei sind<br />
didaktisch sehr genau offene Lernwege, die die Erfahrungen und Perspektiven <strong>der</strong><br />
Schüler zulassen, auszubalancieren mit solchen Einheiten, die dieser Offenheit<br />
Orientierung geben, damit sie nicht zur Beliebigkeit wird. Orientierung am Bekenntnis<br />
heißt demnach nicht, daß die Gegenstände des Unterrichts vorgezeichnet wären,<br />
son<strong>der</strong>n daß alle Fragen des Lebens letztlich in einer Perspektive erscheinen, die<br />
durch das Christusbekenntnis bestimmt ist.<br />
Das Ziel des Religionsunterrichts kann demnach nicht die Herbeiführung von<br />
Glauben o<strong>der</strong> die Zustimmung zum Bekenntnis sein; es wäre schon viel erreicht,<br />
wenn die Schüler die Bedeutung des Christusbekenntnisses verstehen lernen sowohl<br />
nach seiner inhaltliche, kognitiven Seite wie nach seiner existenziellen Relevanz. In<br />
dieser Bestimmung sehe ich auch eine notwendige Entlastung <strong>der</strong><br />
Religionslehrerinnen und -lehrer: Weil das Gelingen <strong>der</strong> Lernwege ohnehin keiner<br />
garantieren kann 14 , genügt es, diese Orientierung im Blick zu behalten. Daß es zu<br />
einer Begegnung von Christusbekenntnis und religiöser Identität kommt, die sich<br />
dann als überzeugend und tragfähig erweisen kann, kann pädagogisch und<br />
didaktisch nicht hergestellt werden; es muß am Ende offen bleiben, wie die Schüler<br />
mit ihrer Lebensgeschichte jeweils darauf antworten.<br />
Ich kann die Richtung hier nur andeuten, in <strong>der</strong> sich religiöse Individualität und<br />
Christubekenntnis noch einmal neu durchdringen. Denn vom leidenden Christus her<br />
geraten die Kategorien in Bewegung, an denen wir Individualität normalerweise<br />
messen. Hier sehe ich auch Ansatzpunkte, um mit dem eingangs zitierten Schüler ins<br />
Gespräch zu kommen, <strong>der</strong> für seine lichten wie für seine dunklen Stunden selbst<br />
verantwortlich sein will. Der Gekreuzigte durchbricht die Fiktion des selbstmächtigen<br />
Subjekts, die mein Schüler so eigensinnig durchhalten wollte. Auch wo ihm das<br />
Dunkel wi<strong>der</strong>fährt, will er es nicht passiv hinnehmen, son<strong>der</strong>n will es wenigstens<br />
selbst gemacht haben. Wie kann dem Schüler die Gelegenheit gegeben werden,<br />
seine trotzige Selbstbehauptung einmal hinter sich zu lassen? Hier verbinden sich<br />
14<br />
Oelkers, Jürgen: Erziehen und Unterrichten. Grundbegriffe <strong>der</strong> Pädagogik in analytischer<br />
Sicht, Darmstadt 1985, (EdF), 218: „Der Lehrer weiß nie, was <strong>der</strong> Schüler wirklich lernt, selbst wenn<br />
dieser intendiert, zu lernen, weil auch <strong>der</strong> beste Test immer nur einen Ausschnitt des Gelernten<br />
verdeutlichen würde.“
- 58 -<br />
religionspädagogische und seelsorgliche Aufgabe: Wie ist es möglich, daß er Wege<br />
findet, seine Einsamkeit nicht hinter <strong>der</strong> Geste des magischen Machers verstecken<br />
zu müssen, son<strong>der</strong>n fähig wird, diese Trauer auch auszuhalten?<br />
Ich fasse zusammen: Individualität und Christusbekenntnis kommen zusammen,<br />
wenn die eigene Lebensgeschichte sich öffnet für das, was in Tod und Auferstehung<br />
Jesu Christi ansichtig wird.<br />
Schluß<br />
Ich komme zum Schluß: Der Religionsunterricht mutet den Schülerinnen und<br />
Schülern die Anstrengung zu, einen eigenen individuellen Weg zu suchen und die je<br />
individuelle Realisierung dieser Herausfor<strong>der</strong>ung zu bedenken, auszuprobieren und<br />
zu reflektieren. Wie Schüler auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung reagieren, ist nicht im Voraus<br />
zu bestimmen; aber darin, daß sie fähig werden, diese Herausfor<strong>der</strong>ung zu<br />
realisieren und sie individuell zu beantworten, sehe ich eine Chance gegenwärtigen<br />
Religionsunterrichts, <strong>der</strong> sowohl die religiöse Individualität respektiert und för<strong>der</strong>t als<br />
auch das Christusbekenntnis in vielen Facetten zur Sprache bringen kann, damit es<br />
nicht fremd bleibt. Daß in <strong>der</strong> Begegnung mit dem Christusbekenntnis die eigene<br />
religiöse Individualität sprachfähiger werden kann: Damit wäre ein wesentliches Ziel<br />
des Religionsunterrichts benannt. Sicher ist solche wachsende Sprachfähigkeit noch<br />
entfernt vom eigenen Christusbekenntnis. Aber sie ist die Voraussetzung dafür, daß<br />
die christliche Religion wie<strong>der</strong> als etwas wahrgenommen werden kann, was für mein<br />
Leben von elementarer Bedeutung ist; erst dann wie<strong>der</strong>um ist das<br />
Christusbekenntnis in seiner Relevanz erkennbar. Der postmo<strong>der</strong>ne Schein <strong>der</strong><br />
Unverbindlichkeit von Religion kann nur aufgelöst werden, wenn erkennbar wird, daß<br />
es hier um die Fragen geht, die sich in jedem eigenen Leben stellen. Das Freilegen<br />
dieser Fragen ist <strong>der</strong> erste Schritt.<br />
Ich fasse zusammen: Das Christusbekenntnis ist gleichsam <strong>der</strong> Verbündete <strong>der</strong><br />
religiösen Individualität, indem es die Gleichgültigkeit aufbricht und den Raum<br />
schafft, in dem nach Gültigem gesucht wird: Was könnte es sein, das in meinem<br />
Leben gelten kann und das mein Leben tragen kann?<br />
Dabei muß spürbar bleiben, daß <strong>der</strong> Christus auch den Lehrenden immer neu<br />
begegnet und nicht in <strong>der</strong> Sicherheit des Gelernten und Gewußten aufgeht. Das setzt<br />
auf Seiten <strong>der</strong> Lehrenden die Souveränität voraus, den Spuren folgen zu können, die<br />
in den Wahrnehmungen und Assoziationen <strong>der</strong> Schüler gelegt sind. Die Kompetenz<br />
dazu müssen die künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer und die künftigen<br />
Religionslehrerinnen und -lehrer in ihrem ganzen Theologiestudium erwerben. Die<br />
Überlegungen dazu, wie das Christusbekenntnis den Religionsunterricht bestimmen<br />
kann, indem es die Individualität <strong>der</strong> Schüler ernster nimmt als das oft die Schüler<br />
selbst tun, haben darum auch Konsequenzen für die religionspädagogische Arbeit an<br />
<strong>der</strong> Universität. Es scheint mir offensichtlich, daß ein offener und zugleich<br />
theologisch orientierter Umgang mit den Gegenständen und Themen des<br />
Religionsunterrichts nur dann möglich ist, wenn Religionspädagogik den<br />
Studierenden nicht nur als eine Angelegenheit von Methodenkenntnis und<br />
Materialfundus begegnet, son<strong>der</strong>n auch mich als Lehrenden in die Bewegung des<br />
Christusbekenntnisses hineinzieht.
- 59 -<br />
Weil es auch im Religionsunterricht um verantwortete Theologie geht, ist es für die<br />
Ausbildung unabdingbar, daß sich die Religionspädagogik deutlich und erkennbar als<br />
theologische Disziplin versteht. Sie fragt in ihrer spezifischen Weise ebenso nach<br />
dem Ganzen <strong>der</strong> Theologie wie jede an<strong>der</strong>e Disziplin. Ihre Beson<strong>der</strong>heit ist es, daß<br />
sie dies in beständigem Blick auf die Adressaten des Religionsunterrichts tut.<br />
Lehrende, Studierende und Schüler stehen gleichsam miteinan<strong>der</strong> vor dem Bild des<br />
Gekreuzigten und suchen nach den neuen Perspektiven, die von ihm eröffnet sind.<br />
Die Religionspädagogik hat ihren Anteil an <strong>der</strong> Aufgabe, die Studierenden zu<br />
befähigen, selbständig und verantwortet mit theologischen Fragen und<br />
Zusammenhängen umzugehen. Im Blick auf die Praxis des Unterrichts bleibt so das<br />
Christusbekenntnis auch eine Herausfor<strong>der</strong>ung für die religiöse Individualität <strong>der</strong><br />
Studierenden selbst.
- 60 -<br />
Prof. Dr. Bernd Schrö<strong>der</strong>:<br />
Schule mit Profil –<br />
christliche Präsenz (in <strong>der</strong> Schule) nicht allein im Religionsunterricht<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
Hätte es den ersten Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong> schon in den 1968er und 70er<br />
Jahren gegeben, wäre es zu diesem Forum mit großer Wahrscheinlichkeit nicht<br />
gekommen.<br />
- Dass Religionsunterricht mit Kirche zu tun hat, das suchten damals viele<br />
möglichst zu kaschieren – zu frisch war die Erinnerung an die pastorale<br />
Überhöhung und Bevormundung <strong>der</strong> Religionslehrer im Zeichen <strong>der</strong><br />
Evangelischen Unterweisung, zu kritisch standen die Zeitgenossen <strong>der</strong><br />
<strong>Institut</strong>ion Kirche gegenüber.<br />
In Reaktion auf die früheren kirchennahen, binnentheologisch entwickelten<br />
Konzeptionen <strong>der</strong> EU und des hermeneutischen RU rief man nach<br />
Problemorientierung, nach kirchen- und religionskritischer<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung, nach Selbständigkeit und Kontaktlosigkeit <strong>der</strong> Schule<br />
und <strong>der</strong> Religionslehrer gegenüber <strong>der</strong> verfassten Kirche.<br />
- Dass eine Schule Profil brauchen könnte, kam damals kaum jemand in den<br />
Sinn – zu frisch war die Erinnerung an die wechselseitige Abschottung <strong>der</strong><br />
humanistischen und <strong>der</strong> naturwissenschaftlich-technischen Ideale höherer<br />
Bildung, zu froh war man, die Schule endlich auf ihr Kerngeschäft, den<br />
Unterricht, konzentriert zu haben und die Mitsprache äußerer Kräfte – sei es<br />
die Kirche, seien es an<strong>der</strong>e Hüter von Tradition – eingedämmt zu haben.<br />
In Reaktion auf die erste deutsche „Bildungskatastrophe“, 1964 durch Georg<br />
Picht ausgerufen, konzentrierte man die Schule auf Unterricht. Er wurde<br />
lernziel-orientiert, curricular durchgeplant, lerntheoretisch analysiert und –<br />
jedenfalls <strong>der</strong> Intention nach – einem kontinuierlichen Verbesserungsprozeß<br />
unterzogen. Schulleben galt demgegenüber als Allotria, als Ablenkung vom<br />
Wesentlichen.<br />
Im Jahr <strong>2006</strong> gibt es nun aber diesen Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong> und auch dieses<br />
Forum – beides aus gutem Grund. Ich möchte deshalb in meinem Impuls Gründe<br />
nennen, warum Sie und mich die Frage nach <strong>der</strong> Kooperation von Schule und<br />
Kirchengemeinde, die Frage nach dem Profil von Schule umtreibt, und dann einige<br />
Anregungen vortragen, um durch Kooperation von Schule und Kirche das Profil von<br />
Schule zu schärfen.<br />
1. Schule mit Profil – Impulse aus Schulpolitik und Schulforschung<br />
Gegenwärtig ist es Konsens in Schulpolitik und pädagogischer Schulforschung:<br />
Schule, die einzelne Schule braucht Profil. Alle Leitbegriffe <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Schuldebatte – ich nenne nur: „Schulprogramm“, „Schulautonomie“ und<br />
„Schulentwicklung“ – weisen darauf hin.<br />
Der Schultheoretiker Helmut Fend gehörte 1986 zu den ersten, die <strong>der</strong>gleichen<br />
for<strong>der</strong>ten. Von seiner For<strong>der</strong>ung, „die einzelne Schule als pädagogische<br />
Handlungseinheit“ anzuerkennen – so <strong>der</strong> Untertitel seines Aufsatzes „Gute Schule -<br />
schlechte Schule“ 1 – war es nicht weit bis zum Postulat, Schulautonomie und<br />
1 Veröffentlicht in: Die deutsche Schule 78 (1986), 275-293.
- 61 -<br />
Schulprogramme zu för<strong>der</strong>n. Weite Kreise gezogen hat seine Idee – nun freilich<br />
weniger streng strukturreformerisch als vielmehr appellativ reformpädagogisch –<br />
Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre durch den Aufruf des Bielefel<strong>der</strong> Reformpädagogen Hartmut<br />
von Hentig „Die Schule neu denken“ (München 1993; erweiterte Neuausgabe 2003):<br />
Die von ihm gefor<strong>der</strong>te „Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ (ebd., 189)<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass Kin<strong>der</strong> und Jugendliche in <strong>der</strong> Schule keineswegs<br />
nur unterrichtet werden, son<strong>der</strong>n „die wichtigsten Lebenserfahrungen machen“<br />
können sollen (180). Und die <strong>der</strong>gestalt zur „Polis“ (189) gemauserte Schule ist<br />
individuell. Von Hentig schrieb schon 1993: Schulen sollten ihre „Autonomie“<br />
beantragen „müssen“ (ebd., 237). 2<br />
Und schließlich: In den 90er Jahren blühte auch die Schulentwicklungs-Forschung<br />
auf. Schon 1973 war hier in Dortmund auf Beschluss des Landtages das erste<br />
bundesdeutsche „<strong>Institut</strong> für Schulentwicklungsforschung“ mit Sitz in Dortmund<br />
gegründet worden, seit 1980 gibt dieses <strong>Institut</strong> um Hans-Günter Rolff das<br />
„Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung“ heraus, doch richtig dicht wurde <strong>der</strong> Teppich <strong>der</strong><br />
Publikationen etwa Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre. 3<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit zeigen empirische Schulleistungsforschungen zwar, dass die<br />
Qualität <strong>der</strong> einzelnen Schule nur ein Faktor unter mehreren (neben <strong>der</strong> Schulform,<br />
dem Klassenklima und vor allem dem „durchschlagenden“ Gewicht individueller<br />
Fähigkeiten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler!) ist, um Leistungsunterschiede von<br />
Schulen zu erklären, 4 doch unbeschadet dieser Relativierung bleibt<br />
„Schulentwicklung“ und damit Schulprofil eines <strong>der</strong> wirkmächtigsten pädagogischen<br />
Postulate <strong>der</strong> 90er Jahre.<br />
Der Ruf nach Schulprogrammen fand auch in Schulpolitik und Schulpraxis ein großes<br />
Echo. Bundesweit zuerst waren es wohl die Lehrpläne für die Grundschule in<br />
Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 1985, die nicht nur Richtlinien für Unterricht<br />
enthielten, son<strong>der</strong>n auch den Ausbau des Schullebens for<strong>der</strong>ten. 5 Mittlerweile findet<br />
sich dieser Topos in zahlreichen ministeriellen Verlautbarungen aller Bundeslän<strong>der</strong> –<br />
er gehört gleichsam zum Grundbestand bildungspolitischer Optionen. 6 Und seit den<br />
90er Jahren hat man in Verlängerung dieser Anstöße zudem das Paradigma von<br />
Schulpolitik und -verwaltung gewechselt (Berlin 1989, Hessen 1991, NRW 1995).<br />
Zentralistische Ansätze zur Schulreform gelten ebenso als gescheitert wie die<br />
einseitige Fixierung <strong>der</strong> Schule auf Unterricht. An die Stelle ministerieller Initiativen<br />
2 Dazu jetzt Dirk Kutting: Gesinnungsbildung. Die humanistische Schul- und Bildungstheorie Hartmut<br />
von Hentigs in theologischer Sicht, Marburg 2004.<br />
3 Vgl. etwa Per Dalin/Hans-Günter Rolff/H. Buchen: <strong>Institut</strong>ioneller Schulentwicklungs-Prozeß, Bönen<br />
(1990) 4 1998 und Elmar Philipp/Hans-Günter Rolff: Schulprogramme und Leitbil<strong>der</strong> entwickeln. Ein<br />
Arbeitsbuch, Weinheim (1998) 4., erw.A. 2004, o<strong>der</strong> Heinz Klippert: Pädagogische Schulentwicklung,<br />
Weinheim/Basel 2000.<br />
4 Die Qualität <strong>der</strong> einzelnen Schule vermag – je nach Studiendesign – zwischen 9 und 18% <strong>der</strong><br />
Varianz bei Leistungsunterschieden von Schulen zu erklären; die Klasse (Klassenklima,<br />
Unterrichtsstil) erklärt etwa 5%, die Schulform ca. 10% Varianz. Entscheidende „Einflussfaktoren<br />
[liegen indes wie gesagt] auf <strong>der</strong> individuellen Ebene von Schülerinnen und Schülern“ – so Martin<br />
Bonsen/Andreas Büchter/Stefanie van Ophuysen: Im Fokus: Leistung, in: Jahrbuch <strong>der</strong><br />
Schulentwicklung Bd. 13, hg. von Heinz Günter Holtappels u.a., Weinheim/München 2004, 187-223,<br />
hier 222 (vgl. beson<strong>der</strong>s 213ff.).<br />
5 Hier etwa Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule: Evangelische Religionslehre, hg. vom<br />
Kultusminister des Landes NRW, Köln 1985.<br />
6 Über den Fortgang <strong>der</strong> Diskussion in NRW informiert insbeson<strong>der</strong>e das „Forum Schule“, hg. vom<br />
Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest. Siehe www.forum-schule.de.
- 62 -<br />
soll die Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative <strong>der</strong> Einzelschule treten. 7 Der Staat<br />
soll lediglich den Rahmen schulischen Handelns festschreiben; alles an<strong>der</strong>e soll<br />
gleichsam ´bottom – up’ erfolgen, aus <strong>der</strong> Schule und dem Kollegium heraus<br />
entwickelt werden. Folgerichtig waren etwa in NRW per Erlass von 1997 alle Schulen<br />
verpflichtet worden, bis Ende des Jahres 2000 ein Schulprogramm zu entwickeln; 8<br />
bundesweit hatten 2002 knapp 50% <strong>der</strong> Schulen aller Schulformen Schulprogramme<br />
entwickelt. 9 Ergänzend wird Schulautonomie, also die Personal- und<br />
Sachmittelbewirtschaftung sowie die Organisation schulischer Abläufe in<br />
Verantwortung <strong>der</strong> einzelnen Schule ausgelotet – in NRW etwa durch das Projekt<br />
Selbständige Schule. 10<br />
Systematisch dargestellt umfasst die Arbeit am Schulprofil mehrere<br />
Baustellen, <strong>der</strong>en gleichzeitiges Öffnen einerseits notwendig,<br />
an<strong>der</strong>erseits beunruhigend ist.<br />
[Folie: Schulprofil - und Faktoren seiner Entwicklung]<br />
So verstanden führt Schulprofil-Arbeit Organisations-, Unterrichts- bzw. Schullebens- und eben<br />
Personalentwicklung zusammen. 11 Diese Dimensionen gegeneinan<strong>der</strong> auszuspielen, ist wenig<br />
sinnvoll – zugleich sprechen manche pragmatischen Überlegungen dafür, die Unterrichtsentwicklung<br />
in den Mittelpunkt zu stellen, etwa diejenige, dass hier die Lehrer/innen am ehesten Handlungsbedarf<br />
sehen, dass sie hier am schnellsten Wirkung erzielen können und dass Unterricht nun einmal „<strong>der</strong><br />
Kernbereich <strong>der</strong> Lehrertätigkeit“ ist. 12<br />
Man mag diese Entwicklung beurteilen wie man will – in jedem Fall ist sie für die, die<br />
sich nolens volens mit Schulpolitik beschäftigen, bemerkenswert: Sie ist Konsens<br />
unter Erziehungswissenschaftlern und Bildungspolitikern!<br />
Und in <strong>der</strong> Tat ist dieser Konsens zu begrüßen – es ist gut, dass die einzelne Schule<br />
an Profil gewinnt, denn<br />
7<br />
Dazu Johannes Bastian: Autonomie und Schulentwicklung, in: <strong>der</strong>s. (Hg.): Pädagogische<br />
Schulentwicklung. Schulprogramm und Evaluation, Hamburg 1998, 13-24. Zum Stand <strong>der</strong><br />
Gesetzeslage und Initiativen <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> vgl. dort den Beitrag von Elmar Diegelmann / Karin<br />
Porzelle: Schulprogramm und Evaluation. Aktivitäten, Materialien und Programme <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong>,<br />
165-182, sowie Heinz Günter Holtappels: Schulprogramm als Schulentwicklungsinstrument? In:<br />
Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung Bd. 12, hg. von Hans-Günter Rolff u.a., Weinheim/München 2002,<br />
199-208.<br />
8 1986-91 lief in NRW erstmalig ein Modellversuch zur „Weiterentwicklung von Schulprogrammen in<br />
<strong>der</strong> Grundschule“; <strong>der</strong> genannte Erlass stammt vom 25.6.1997, die ministerielle Broschüre<br />
„Schulprogramm – eine Handreichung“ erschien in Frechen 1998; über den Stand des Erreichten<br />
informiert etwa Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Schulprogrammarbeit auf dem<br />
Prüfstand. Ergebnisse <strong>der</strong> Evaluation, Soest/Bönen 2002. Gegenwärtig steht die permanente „interne<br />
Evaluation“ (durch Schüler- und Elternfeedbacks, zentrale Lernstandserhebungen u.a.) und<br />
Fortschreibung <strong>der</strong> Schulprogramme im Mittelpunkt schulpolitischer Maßgaben (s. Erlass vom 15.Mai<br />
2003).<br />
In an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wurde die Entwicklung von Schulprogrammen gar nicht (so z.B. im Saarland) o<strong>der</strong><br />
erst später schulrechtlich festgeschrieben (so verlangte z.B. Rheinland-Pfalz erst bis Ende des<br />
Schuljahres 2002/3 von je<strong>der</strong> Schule ein sog. Qualitätsprogramm).<br />
9 Holtappels 2002 (s.o. Anm. 7), 207.<br />
10 Laufzeit 2002-2009; vgl. Wilfried Lohre u.a. (Hg.): Verantwortung für Qualität, Bd. 1: Grundlagen des<br />
Projekts, Troisdorf 2004, hier 95.<br />
11 Vgl. Hans-Günter Rolff: Entwicklung von Einzelschulen, in: Jahrbuch <strong>der</strong> Schulentwicklung 10<br />
(1998), 295-326, hier 305.<br />
12 So mit Klippert 2000 (s.o. Anm. 3), 15.
- 63 -<br />
- die Profilierung von Schule for<strong>der</strong>t und erfor<strong>der</strong>t die pädagogischen Gaben<br />
und Engagements <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer. Profilbildung nimmt sie als<br />
Menschen und Pädagogen mit individuellem Profil und Ethos ernst – und<br />
schreibt sie nicht länger auf eine Rolle als pädagogische Vollzugsbeamte fest.<br />
- die Profilierung von Schule ermöglicht ihr Eingehen auf örtliche<br />
Gegebenheiten: auf die Schülerschaft, auf kommunale gesellschaftliche<br />
Konstellationen, auf beson<strong>der</strong>e Lernchancen, die sich etwa aus <strong>der</strong> Präsenz<br />
bestimmter Wirtschaftsbetriebe, bestimmter kultureller Einrichtungen etc.<br />
ergeben („Öffnung von Schule“).<br />
- die Profilierung von Schule ermöglicht den Aufbau ungewöhnlicher<br />
Bildungsangebote und trägt dem Umstand Rechnung, dass es in <strong>der</strong> Schule<br />
nicht nur standardisierbares Wissen und standardisierbare Fähigkeiten zu<br />
erwerben gibt, son<strong>der</strong>n jeweils neue methodische und fachliche Wege in den<br />
Kosmos des Wissens und Könnens gebahnt werden.<br />
- die Profilierung von Schule wertet „Schulleben“, „Erziehungsarbeit“ und<br />
„überfachliche“ methodische o<strong>der</strong> didaktische Optionen für Unterricht auf – <strong>der</strong><br />
Fachunterricht tritt relativ zurück. 13<br />
Es ist gut, dass all dies gleichsam „offiziell“ wie<strong>der</strong>entdeckt wird – viele mögen darum<br />
gewusst haben und aus diesen Motiven in Schulen gearbeitet haben, aber nun erst<br />
findet es ausdrücklich Anerkennung als schulisch sinnvolle Optionen.<br />
Freilich sind mit <strong>der</strong> Profilierung von Schule auch Schwierigkeiten verbunden:<br />
- Die erste Schwierigkeit ist einem Paradox geschuldet: Die Profilierung von<br />
Schule soll vom Kollegium gestaltet und gewollt werden – und eben dies wird<br />
nun von oben angeordnet. Wie gesagt: Hier begegnet ein schulpolitisches<br />
Paradox, das dem allgemeinen pädagogischen Paradox strukturell verwandt<br />
ist.<br />
- Die zweite Schwierigkeit: Über <strong>der</strong> Individualität von Schule darf nun nicht ins<br />
Hintertreffen geraten, dass Schulen junge Menschen mit vergleichbarem<br />
Wissen und Können ausstatten sollen. Die Einführung von<br />
Bildungsstandards ist insofern ein sachnotwendig komplementäres<br />
Moment gegenwärtiger Schulpolitik. Ob Standards ein taugliches Instrument<br />
sind, ob die Orientierung an ihnen die Profilierung von Schule gleichsam<br />
aufsaugen wird, ob sie den Ungeist des „teaching for testing“ in Schulen<br />
verstärken werden – das muss man sehen. Doch die Spannung zwischen<br />
sinnvoller pädagogischer Profilierung <strong>der</strong> Einzelschule und notwendiger<br />
Allgemeinheit schulischer Bildung muss man sehen und bearbeiten.<br />
- Eine dritte Schwierigkeit: Bemerkenswert wenig ist bei all den Reformen<br />
<strong>der</strong>zeit von <strong>der</strong> Grundidee pädagogischen Handelns die Rede – von <strong>der</strong><br />
För<strong>der</strong>ung des Einzelnen, von „Bildung“ im emphatischen Sinne als Hilfe auf<br />
dem Weg vom Person-sein zum Subjekt-werden. Ausgangspunkt <strong>der</strong><br />
Reformen ist vielmehr die mangelnde Leistungsfähigkeit des Bildungswesens,<br />
die Ertragsverbesserung von Schule ist ihr Ziel. Kurz: Es geht um die<br />
Verbesserung <strong>der</strong> Organisation „Schule“, nicht um die Schüler/innen<br />
o<strong>der</strong> gar die Lehrerinnen.<br />
Und schließlich möchte ich eine vierte Problemanzeige einspeisen, die unmittelbar zu<br />
unserem heutigen Thema führt. So groß die Koalition <strong>der</strong> Fürsprecher einer<br />
13 Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Schulprogrammarbeit auf dem Prüfstand.<br />
Ergebnisse <strong>der</strong> Evaluation, Soest/Bönen 2002, 19.
- 64 -<br />
Profilbildung von Schule auch ist, bei aller Renaissance von Schulleben spielt<br />
Religion, insbeson<strong>der</strong>e christliche Religion bisher kaum eine Rolle. Das ist um so<br />
bemerkenswerter als bis Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts (vielerorts bis in die 60er Jahre<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts!) Religion die Säule des Schullebens war. Mit den Worten Karl<br />
Ernst Nipkows formuliert: „Nicht ohne geschichtliche Ironie ist nun eine Situation im<br />
Entstehen begriffen, in <strong>der</strong> die Freiheit und <strong>der</strong> plurale Spielraum, die die Kirchen<br />
an<strong>der</strong>en lange Zeit nicht zugestehen wollten, ihnen selbst vorenthalten wird. Das<br />
Christentum wird in seiner Bedeutung für das Schulcurriculum und die Schulkultur in<br />
Schulgesetzen nicht mehr erwähnt, und <strong>der</strong> Religionsunterricht, das Kernstück <strong>der</strong><br />
ehemals christlichen Schule, wird marginalisiert.“ 14 Heute gilt: Schulpolitik und<br />
pädagogische Schulforschung sind auf dem Auge „Religion“ weitgehend blind!!<br />
- In den schulpolitischen Agenden <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> jedenfalls spielt Religionsund<br />
Ethikunterricht, spielt <strong>der</strong> gesamte Bereich pädagogischer Daseins- und<br />
Wertorientierung kaum eine Rolle.<br />
Schaut man zurück auf die reformerischen Ansätze <strong>der</strong> vergangenen Jahre<br />
stehen im Mittelpunkt jedenfalls organisatorische Optionen: Verkürzung <strong>der</strong><br />
Schulzeit (G 8), Ganztagsschule, Bildungsstandards und die Verbesserung<br />
<strong>der</strong> Leistungsfähigkeit im Blick auf künftige internationale<br />
Vergleichsuntersuchungen – und zwar dezidiert nur in den vermeintlichen<br />
Kernfächern Deutsch, Mathe, dazu eine Fremdsprache und eine<br />
Naturwissenschaft, schließlich auch die Schulentwicklung in allen Facetten,<br />
die ich eingangs nannte – von religiöser Bildung und Wertorientierung als<br />
Aufgabe <strong>der</strong> Schule ist dabei so gut wie nie die Rede. Am deutlichsten wird<br />
diese Leerstelle an den nordrhein-westfälischen Reformschriften –<br />
angefangen vom Rahmenkonzept „Gestaltung des Schullebens und Öffnung<br />
<strong>der</strong> Schule“ (1988) über die Denkschrift „Zukunft <strong>der</strong> Bildung – Schule <strong>der</strong><br />
Zukunft“ (1995) bis hin zum Modellvorhaben „Selbständige Schule“<br />
(2002/2003). Sie alle verlieren über Werte und Religion kaum ein Wort. Das<br />
hat den Vorzug, dass Werte und christliche Religion nicht in den Geruch<br />
kommen, staatlich funktionalisiert zu werden; es hat den Nachteil, dass sie<br />
überhaupt kaum mehr in den Blick kommen.<br />
- Noch drastischer fällt <strong>der</strong> Blick auf die schultheoretische und pädagogische<br />
Literatur aus. Kaum ein Autor o<strong>der</strong> eine Autorin, <strong>der</strong> Werte und christliche<br />
Religion reflexiv berücksichtigt.<br />
Mit Dietrich Benner, Hartmut von Hentig, Wolfgang Klafki, Jürgen Oelkers und<br />
einigen wenigen an<strong>der</strong>en sind die Namen <strong>der</strong> gegenwärtigen Pädagogen<br />
schnell benannt, die sich auf den Diskurs über Wertfragen o<strong>der</strong> gar Religion<br />
einlassen. 15<br />
- Und schließlich: Die gesellschaftliche und politische Stimmungslage spiegelt<br />
Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Orientierung in Fragen <strong>der</strong> Lebensführung.<br />
Weniger die Orientierung an Idealen o<strong>der</strong> unverrechenbaren Kriterien ist<br />
gefragt als vielmehr das Ergreifen von – primär: ökonomischen – Chancen in<br />
einer Lebenswelt, <strong>der</strong>en Spielräume mittlerweile im Prinzip unbegrenzt sind,<br />
14 Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt, Gütersloh 1998, hier Bd. 2, 93.<br />
15 Entsprechend resümieren auch Albert Biesinger / Friedrich Schweitzer: „Von Religion ist in dieser<br />
Literatur [gemeint ist: erziehungswissenschaftliche Literatur zum Thema Schulentwicklung] so gut wie<br />
gar nicht die Rede“ (in: Religionspädagogische Perspektiven, in: Achim Battke u.a. (Hg.):<br />
Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002, 77-99, hier 78). Vgl. dazu Karl<br />
Ernst Nipkow: Religiöse Bildung in einer pluralen Welt, Gütersloh 1998, hier Bd. 2, 96ff., Friedrich<br />
Schweitzer: Pädagogik und Religion, Stuttgart u.a. 2003.
- 65 -<br />
sich für das Individuum vor Ort aber in <strong>der</strong> Regel durchaus als eng begrenzt<br />
darstellen. Wenn ich es recht sehe, dann dominieren aufs ganze gesehen<br />
mittlerweile „negative“ Werte: <strong>der</strong> Schutz vor ..., die Freiheit von ..., die<br />
Toleranz. Es handelt sich dabei um negative Werte nicht in dem Sinn, dass sie<br />
min<strong>der</strong>wertig sind o<strong>der</strong> destruktiv o<strong>der</strong> moralisch abzulehnen, son<strong>der</strong>n<br />
„negativ“ in dem Sinn, dass sie kein Bekenntnis zu ..., kein Plädoyer für ...,<br />
keine Ich-Botschaft enthalten. Schlechte Zeiten für „Religion“.<br />
Man mag sagen, das sei vor allem ein Problem <strong>der</strong> Kirchen bzw. aller Religionsgemeinschaften<br />
i.S. des Grundgesetzes – gewiß; doch im Kern geht es hier um ein<br />
pädagogisches Problem, nämlich dies, dass mit dem RU und dem Christentum<br />
auch <strong>der</strong> Themenbereich „Sinnsuche / Lebensdeutung“ aus dem Gesichtskreis<br />
<strong>der</strong> Schul- und Bildungsreform zu verschwinden droht – als ob eine gute Schule<br />
darauf verzichten könnte!<br />
Kurz: Schule mit Profil – ja; doch um den Beitrag evangelischer Religion zu einer<br />
solchen Schule muss gerungen werden. We<strong>der</strong> Staat noch Lehrerkollegium klagen<br />
einen solchen Beitrag ein – und das obwohl Schule etwa in Nordrhein-Westfalen per<br />
Verfassung und Schulordnungsgesetz auf die Weitergabe von Werten verpflichtet ist:<br />
„Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor <strong>der</strong> Würde des Menschen und Bereitschaft zum<br />
sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel <strong>der</strong> Erziehung. Die Jugend soll<br />
erzogen werden im Geiste <strong>der</strong> Menschlichkeit, <strong>der</strong> Demokratie und <strong>der</strong> Freiheit, zur<br />
Duldsamkeit und zur Achtung vor <strong>der</strong> Überzeugung des an<strong>der</strong>en, zur Verantwortung<br />
für die Erhaltung <strong>der</strong> natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur<br />
Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.“ 16 In diesem Rahmen muss und darf<br />
von den Sachwaltern religiöser Bildung in <strong>der</strong> Schule ein Beitrag evangelischer<br />
Religion zum Profil von Schule angestoßen, vertreten und seinerseits profiliert<br />
werden!<br />
2. Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung – Impulse aus <strong>der</strong><br />
Religionspädagogik<br />
Zu den Facetten Schulautonomie und Schulentwicklung können Religionspädagogik<br />
und Kirche nur bedingt etwas beitragen (sie können es wohl nur bei Schulen in<br />
eigener Trägerschaft); sie werden sich vielmehr auf eines <strong>der</strong> Standbeine von<br />
Schulreform konzentrieren, die Schulprogramme, und dazu vor allem die<br />
Lehrerbildung bedenken. Dabei geht es jeweils um die pädagogische Mitte <strong>der</strong><br />
Schulreform, um die Akzentuierung <strong>der</strong> Inhalte und didaktischen Optionen von<br />
Unterricht und Schulleben.<br />
Warum haben Religionspädagoginnen und Religionspädagogen Interesse an einer<br />
Schule mit Profil, namentlich an einer Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung,<br />
an einer Schule mit christlicher Präsenz nicht allein im Religionsunterricht? Es kann<br />
und darf hier nicht die Sorge <strong>der</strong> Kirche um ihren gesellschaftlichen Stellenwert<br />
angeführt werden, ebenso wenig ein etwaiges missionarisches Interesse.<br />
Die Begründung für eine Schule mit Profil im Bereich religiöser Bildung muss<br />
vielmehr eine doppelte sein – eine, die einerseits den pädagogischen und politischen<br />
Gestaltern von Schule einsichtig ist, an<strong>der</strong>erseits auch den Trägern christlicher<br />
16 Art. 7 <strong>der</strong> Verfassung des Landes NRW von 1950, wortgleich auch des Schulordnungsgesetzes<br />
dieses Landes von 1952, hier zitiert nach „Informationen zum RU in NRW ..., hg. i.A. <strong>der</strong><br />
Landeskirchenämter <strong>der</strong> EKiR, <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong> und <strong>der</strong> Lippischen Landeskirche. o.O. 1995, 11 und 13.
- 66 -<br />
Präsenz in <strong>der</strong> Schule, also den (Religions-)Lehrerinnen und Lehrern, z.T. auch den<br />
Schüler/innen und nicht zuletzt den Kirchen.<br />
Holzschnittartig will ich fünf Begründungsfiguren nennen.<br />
Erstens: eine bildungstheoretische Begründung<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist ein wichtiger Bestandteil<br />
schulischer Bildung, weil sie Schüler/innen und Lehrerkollegium – und damit indirekt<br />
auch die Profilbildung <strong>der</strong> Schule - erfahrbar zur Daseins- und Wertorientierung<br />
provoziert. Gerade angesichts <strong>der</strong> oben beschriebenen Dominanz „negativer“ Werte<br />
geht es hier um eine notwendige Provokation durch Position.<br />
Einschlägige Angebote steuern so zum schulischen Bildungsangebot eine wichtige<br />
Facette bei. Sie lassen bereits als Angebot für alle Schulangehörigen erfahrbar<br />
werden, dass Bildung nicht nur die Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten aus<br />
verschiedenen Kompetenzbereichen umfasst, nicht nur die Ausprägung eines<br />
Habitus dauerhafter Lernwilligkeit, son<strong>der</strong>n eben auch die Notwendigkeit einer<br />
Daseins- und Wertorientierung, die sich in <strong>der</strong> Gestaltung und Deutung des eigenen<br />
Lebens nie<strong>der</strong>schlägt.<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU soll und wird sich somit nicht<br />
funktionalisieren lassen, um Schüler/innen einlinig eine bestimmte Moral ans Herz zu<br />
legen – sie ist schwerlich ein Instrument <strong>der</strong> „Wertevermittlung“ – ; sie kann aber sehr<br />
wohl überhaupt die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Fragen <strong>der</strong> Lebensführung, mit Wegen<br />
<strong>der</strong> sinnvollen Deutung ihre Lebens beför<strong>der</strong>n.<br />
Sie kann das vor allem deshalb,<br />
- weil sie Schüler/innen an ihrem Lebensmittelpunkt, <strong>der</strong> Schule, erreicht und<br />
christliche Religion mit ihrer Situation dort „verspricht“ (Ernst Lange),<br />
- weil sie die im Unterricht dominierende distanziert-analytische Betrachtung<br />
von Religion exemplarisch aufbricht und zu probeweiser Identifikation mit<br />
religiöser Praxis einlädt.<br />
Zweitens: eine schülerorientierte Begründung<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist als Bestandteil von Schule<br />
legitim und notwendig, weil sie einzelnen Schülerinnen und Schülern Lebenshilfe und<br />
Lernwege religiöser Bildung erschließt.<br />
Ging es eben noch um die Bereicherung des Bildungsspektrums von Schule, so geht<br />
es hier um die Bildungsperspektiven des Einzelnen. Angebote christlicher Präsenz in<br />
<strong>der</strong> Schule richten sich an Schülerinnen und Schüler, prinzipiell aber auch an<br />
Lehrerinnen und Lehrer in einem Bereich, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule stets in Gefahr steht, zu<br />
kurz zu kommen: Sie stehen für die Zuwendung zum Einzelnen, für Lebenshilfe und<br />
Rückenstärkung.<br />
Ob Seelsorge o<strong>der</strong> Sozialarbeit, freizeitähnliche o<strong>der</strong> gottesdienstliche Angebote –<br />
stets rücken die Angebote christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule För<strong>der</strong>ung und<br />
Unterstützung Einzelner in den Vor<strong>der</strong>grund. Damit können sie Einzelnen bei <strong>der</strong><br />
Reflexion und Gestaltung ihres Lebens helfen; sie stellen aber in jedem Fall, also<br />
bereits als Angebot, ein Symbol dar für die Aufmerksamkeit von Schule für den<br />
Einzelnen und seine Lebenskrisen.<br />
Gerade dies scheint mir angesichts gewisser Krisenindizien <strong>der</strong> Sozialform Schule –<br />
Leistungsorientierung und Aufmerksamkeits- und Lernstörungen, Aggression und<br />
Gewalt etc. – von nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Bedeutung zu sein.<br />
Drittens: eine sozialisationstheoretische Begründung<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil sie<br />
unterrichtliche religiöse Bildung unterstützt und verstärkt.
- 67 -<br />
Sozialisationstheoretisch kann Religionsunterricht als zwei- o<strong>der</strong> gar nur einstündiges<br />
Fach allein kaum effizient sein – zu wenig wird er gestützt durch eine quasi<br />
selbstverständliche Partizipation <strong>der</strong> Schüler/innen an Kirche, durch private<br />
kirchennahe Frömmigkeit, durch homogene Sozialisationsimpulse unter peers und<br />
an<strong>der</strong>en signifikanten An<strong>der</strong>en. Das Thema des RU, die Frage nach Gott und nach<br />
dem Sinn des Lebens, kann nur davon profitieren, wenn es gleichsinnig an an<strong>der</strong>en<br />
Orten außerhalb wie innerhalb <strong>der</strong> Schule thematisiert wird.<br />
An dieser Effizienz muss nicht nur die Kirche als (Mit-)Verantwortliche für den RU<br />
Interesse haben, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Staat als verantwortlicher Träger und die Schule<br />
vor Ort. Sie profitiert davon, wenn in <strong>der</strong> Selektions- und Allokationsinstanz Schule<br />
Fenster zur Selbstreflexion, zu altruistischem Verhalten, zu zweckfreiem<br />
Engagement offen gehalten werden. Christlicher Präsenz nicht allein im RU kommt<br />
eine korrektiv-kompensatorische Funktion zu, die gerade in <strong>der</strong> Schule Not tut, weil<br />
die Aufenthaltsdauer von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen in <strong>der</strong> Schule immer länger und<br />
immer prägen<strong>der</strong> wird.<br />
Viertens: eine theologische Begründung<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil<br />
darin christliche Religion authentisch Gestalt findet.<br />
Die Mitte christlicher Religion ist nicht <strong>der</strong> Diskurs darüber, son<strong>der</strong>n die religiöse<br />
Praxis. Glauben ist eine existentielle Grundhaltung, die sich nicht auf Kognition<br />
beschränken lässt, son<strong>der</strong>n auf ethische Bewährung und spirituellen Ausdruck<br />
drängt. Christliche Religion ist mehr als Wissen, sie will gestaltet werden: fides<br />
quaerens expressionem.<br />
Von dieser schlichten Grundüberlegung her ergibt sich, dass einerseits die Inhalte<br />
des Religionsunterrichts auf Angebote gelebter Religion verweisen und angewiesen<br />
sind, dass an<strong>der</strong>erseits Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, die sich<br />
dem Christentum verbunden fühlen, im Zeichen positiver Religionsfreiheit in <strong>der</strong><br />
Schule Raum finden sollten, ihrer Religiosität Ausdruck zu verleihen – zumal dann,<br />
wenn diese zeitlich und sachlich zunehmend als ihr Lebensmittelpunkt fungiert<br />
(Ganztagsschule).<br />
Fünftens: ein ekklesiologisches bzw. kirchenschulpolitisches Argument<br />
Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des RU ist legitim und notwendig, weil sich<br />
darin das Bildungsengagement und das Bildungspotential <strong>der</strong> Kirche nie<strong>der</strong>schlägt,<br />
eben ihr bildungsdiakonisches Selbstverständnis.<br />
Schulgottesdienste, seelsorgliche Angebote u.ä. sind nicht als Streben nach<br />
kirchlich-christlicher (Fremd-)Bestimmung und Überformung <strong>der</strong> Schule zu<br />
verstehen, son<strong>der</strong>n, ökonomisch gesprochen, als Dienstleistung bzw., theologisch<br />
formuliert, als diakonische Tat.<br />
Kirche erweist sich in diesen Angeboten als ‚Kirche für an<strong>der</strong>e’ (Dietrich Bonhoeffer),<br />
<strong>der</strong> es damit nicht um Rekrutierung von Mitglie<strong>der</strong>n, Selbsterhalt o<strong>der</strong><br />
Machtausübung geht, son<strong>der</strong>n um Hilfestellung im Bereich <strong>der</strong> Daseins- und<br />
Wertorientierung, auch um Hilfestellung bei <strong>der</strong> Bewältigung konkreter Übergangsund<br />
Krisensituationen für junge Menschen.<br />
Diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist niemand verpflicht, doch es steht je<strong>der</strong>mann<br />
frei. Für die Zielgruppe handelt es sich also um ein freiwillig wählbares Angebot; für<br />
die Kirche bzw. die Christ/innen als Anbieter handelt es sich so gesehen – ich<br />
verweise auf das „Wort zur Schulfrage“ <strong>der</strong> Synode <strong>der</strong> EKD von 1958 – um einen<br />
„freien Dienst an einer freien Schule“.
- 68 -<br />
Fünf Gründe habe ich genannt; fünf Gründe, warum sich Religionspädagoginnen und<br />
-pädagogen nicht auf Unterricht allein konzentrieren, son<strong>der</strong>n christliche Präsenz in<br />
<strong>der</strong> Schule auch jenseits des RU in Blick nehmen sollten.<br />
3. Christliche Präsenz nicht allein im RU – was ist gemeint?<br />
Gestatten Sie mir an dieser Stelle zunächst eine Bemerkung zur Begrifflichkeit: Es ist<br />
nicht ganz einfach, für christlich-religiöse Angebote zum Schulprogramm bzw. zum<br />
Schulprofil eine angemessene Bezeichnung zu finden.<br />
Im katholischen Bereich ist die Rede von „Schulseelsorge“ o<strong>der</strong> „Schulpastoral“<br />
üblich geworden – manche evangelischen Kirchen übernehmen diesen Begriff; doch<br />
mir scheint er als Programmbegriff nicht beson<strong>der</strong>s glücklich gewählt. Denn die<br />
Breite <strong>der</strong> Angebote vom Gottesdienst bis zur schulnahen Jugendarbeit ist –<br />
jedenfalls in evangelischer Tradition – schwerlich unter dem Dach <strong>der</strong> „Seelsorge“<br />
zu bündeln. Gerade außerhalb <strong>der</strong> Poimenik, also des wissenschaftlichen<br />
Fachgespräches über Seelsorge, wird unter „Seelsorge“ wie selbstverständlich Vier-<br />
Augen-Begegnung, individualisierte seelische Stärkung verstanden – also etwas, das<br />
im Schulleben eher die Ausnahme als die Regel, auf keine Fall aber gemeinsamer<br />
Nenner aller Angebote ist.<br />
Auch die Rede von <strong>der</strong> „schulbezogenen Arbeit <strong>der</strong> Kirchen“ birgt problematische<br />
Aspekte, denn sie betont zu sehr die (Initial-)Bedeutung <strong>der</strong> schulexternen <strong>Institut</strong>ion<br />
Kirche. Schulprogramme sollten jedoch aus <strong>der</strong> Schule selbst heraus entstehen;<br />
innerschulische Schaltstelle christlich-religiös geprägter Angebote sind in <strong>der</strong> Regel<br />
die Religionslehrer/innen. Erst bei <strong>der</strong> Realisierung von Angeboten sind die Kirchen<br />
mit ihren Ressourcen unverzichtbar. 17<br />
Vorschlagen möchte ich Ihnen deshalb einen an<strong>der</strong>en Begriff, nämlich diesen:<br />
„Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im Religionsunterricht“. Dieser<br />
Begriff umschließt viele Handlungsfel<strong>der</strong> und er betont, darin sehe ich vor allem<br />
seinen Vorzug, die Initiative und Verantwortung christlicher Schulangehöriger für die<br />
entsprechenden Angebote. Denn, dies ist ein entscheiden<strong>der</strong> Punkt, christlichreligiöse<br />
Angebote zum Schulleben legitimieren sich rechtlich und sachlich vor allem<br />
daraus, dass sie den Bedürfnissen und Interessen <strong>der</strong> Schulangehörigen genügen –<br />
nicht aus den Handlungsmöglichkeiten <strong>der</strong> <strong>Institut</strong>ion Kirche. Die Begriffsklärung führt<br />
insofern auch zu einer sachlich gewichtigen Einsicht: Christliche Religion und Kirche<br />
können nur so viel zur Schule beitragen, wie die Schulangehörigen selbst abrufen,<br />
anstoßen o<strong>der</strong> auch selbst einbringen!<br />
Typisierend sind vor allem vier Formen christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits<br />
des Religionsunterrichts zu unterscheiden (Schulgottesdienst, Schulseelsorge,<br />
Schulsozialarbeit, schulnahe Jugendarbeit), hinzu kommen unterrichtsbezogene o<strong>der</strong><br />
aus dem Unterricht erwachsene Projekte.<br />
[Folie: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im RU]<br />
Näher erläutern möchte ich zwei, die das Potential <strong>der</strong> Kooperation von Schule und<br />
Kirche illustrieren.<br />
Das Kirchliche Angebot (Evangelische Kontaktstunde) betrifft bislang lediglich<br />
Grundschulen – obwohl es prinzipiell auch auf die Sekundarstufe I zu beziehen wäre.<br />
Es ist eine Beson<strong>der</strong>heit Nordrhein-Westfalens.<br />
17 Systemtheoretisch wird die Rolle <strong>der</strong> Kirchen bei <strong>der</strong> „Schulseelsorge“ reflektiert in Gundo Lames:<br />
Schulseelsorge als soziales System, Stuttgart u.a. 2000.
- 69 -<br />
Unter <strong>der</strong> Bezeichnung „Kontaktstunde“ wird Kirchengemeinden seit dem Schuljahr<br />
1998/99 die Chance eröffnet, im Rahmen von Schule („Schulveranstaltung“) im<br />
Umfang einer Wochenstunde mit Grundschülerinnen und -schülern <strong>der</strong> 3. und 4.<br />
Klasse zu arbeiten. Die Organisationsform kann variieren (vom einstündigen Angebot<br />
pro Woche bis hin zum monatlichen Blocktag), die Inhalte sollten mit dem Lehrplan<br />
koordiniert werden, sind aber grundsätzlich frei wählbar – Schwerpunkt sollen das<br />
„Leben <strong>der</strong> Kirchengemeinde“ und „Formen gelebter christlicher Existenz“ sein. Eine<br />
Umfrage hat gezeigt, dass tatsächlich „das Kirchenjahr und seine Feste,<br />
Fragestellungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und die jeweils eigene Kirchengemeinde“ den Inhalt von<br />
Kontaktstunden bestimmen. 18 Gestaltet wird die Kontaktstunde von den Pfarrer/innen<br />
o<strong>der</strong> pädagogisch qualifizierten Mitarbeitenden <strong>der</strong> Kirchengemeinde; die Gemeinde<br />
hat auch die Personal- und Sachkosten zu tragen.<br />
Kurz: Die Kontaktstunde ist ein Beispiel für den hohen Einsatz vieler<br />
Kirchengemeinde am Lernort Schule; auch ein Beispiel für wirkungsvolle und<br />
zugleich kooperationsintensive Arbeit an <strong>der</strong> Schnittstelle von Schule und Gemeinde.<br />
Die Gemeinden sehen mehr positive Effekte als sie selbst erwartet haben; auch<br />
Religionslehrer/innen sehen sie eher als Ergänzung zum RU und Einladung zur<br />
Zusammenarbeit mit einer Kirchengemeinde denn als Konkurrenz! 19<br />
Das Angebot „Jugendkirche“ richtet sich an Jugendliche – nicht nur, aber eben auch<br />
an Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> Sekundarstufen I und II, allgemeiner und<br />
berufsbilden<strong>der</strong> Schulen. Hinter dem Begriff verbergen sich im Wesentlichen<br />
folgende Ideen:<br />
- die Idee aktiv, durchaus missionarisch auf Jugendliche zuzugehen und sich<br />
auf ihren Stil genauso einzulassen wie auf ihre Lebenswelt: „nicht nur das<br />
Evangelium, son<strong>der</strong>n auch die bisherigen ‚Tabus’ ... Kirchenräume,<br />
Gemeinde, Gottesdienst werden ... in die Lebenswelt junger Menschen<br />
‚hineinübersetzt’ ...“.<br />
- die Idee, Jugendlichen im Rahmen <strong>der</strong> Kirche, aber überparochial eigene<br />
Gestaltungsräume anzubieten – „Räume“ wird dabei wörtlich verstanden: Im<br />
Mittelpunkt <strong>der</strong> Arbeit steht ein „herausragende[r] Raum, idealerweise „ein<br />
alter Kirchenraum, <strong>der</strong> selbst eine beson<strong>der</strong>e Aura besitzt“ und „vielfältig<br />
nutzbar sein [muss] – für ein Tanzfest ebenso wie für Abendandachten“,<br />
- die Idee, nicht von Erwachsenen etwas für junge Menschen anzubieten,<br />
son<strong>der</strong>n Jugendliche etwas für sich selbst und An<strong>der</strong>e erproben und<br />
realisieren zu lassen; Ältere fungieren als Mentoren; Im Idealfall wird aus und<br />
in <strong>der</strong> Jugendkirche eine „eigene Jugendgemeinde“. 20<br />
Jugendkirchen in Deutschland bieten ein breites Programm: Evangelisch o<strong>der</strong><br />
katholisch geerdet bieten sie Gottesdienste und Theater, Kunstprojekte und<br />
Performances, Cafés und Seelsorge, sozialdiakonische Angebote (Abendbrotstisch,<br />
Beratungen) und klassische Gruppenarbeit. In <strong>der</strong> Regel steckt die Kontaktpflege mit<br />
Schulen noch in den Kin<strong>der</strong>schuhen, aber viele <strong>der</strong> Trägergruppen haben diese<br />
Kooperation im Blick – und das ist gut so, denn Jugendkirchen könnten gerade auch<br />
benachbarten Schulen Gestaltungsfreiräume bieten, über die so we<strong>der</strong> die Schule<br />
noch die herkömmliche Kirchengemeinde verfügen können. Kooperationsprojekte<br />
zwischen Kunstunterricht und RU können hier Platz finden, Schulgottesdienste in<br />
18 Bernd Schrö<strong>der</strong>: Evangelische Kontaktstunde an Grundschulen, Neukirchen 2003, 99.<br />
19 Zu den Wirkungen Schrö<strong>der</strong> 2003 (s.o. Anm. 18), 114ff.121 und 123.<br />
20 Hier nach Anne Winter: ein starkes stück kirche. Das Projekt Jugendkirche in Württemberg.<br />
Zwischendokumentation, Stuttgart 2005, 34. 198.41. Vgl. zu Jugendkirchen ansonsten etwa Hans<br />
Hobelsberger u.a. (Hg.): Experiment Jugendkirche, Kevelaer 2003, und das Themenheft<br />
„Jugendkirchen“ <strong>der</strong> Zeitschrift „das baugerüst“ 2005, Heft 3.
- 70 -<br />
an<strong>der</strong>er Gestalt, Offerten <strong>der</strong> schulnahen Jugendarbeit. In jedem Fall gelten Schulen<br />
als „Begegnungsflächen, Adressaten und Kooperationspartner“ (Konzept <strong>der</strong><br />
Jugendkirche effata in Münster, 2002).<br />
Im Bereich von <strong>EKvW</strong> und EKiR gibt es bislang noch keine evangelisch-landeskirchliche<br />
Jugendkirche; allerdings gibt es die ev.-freikirchlichen Jugendgemeinden „taste of heaven“ in Essen<br />
(www.taste-of-heaven.de), „jump“ in Mülheim (www.jump-youthchurch.de), „U-turn“ in Wuppertal<br />
(www.trax-online.de) und einige katholische Jugendkirchen in Münster, Oberhausen, Bocholt und<br />
Dortmund. 21<br />
4. Was die Kirche tut, tun kann und soll, um christliche Präsenz im und<br />
außerhalb des RU zu stärken<br />
Die evangelische Kirche ist schon jetzt mit hohem Einsatz an Personal, Know-how<br />
und finanziellen Mitteln engagiert für christliche Präsenz nicht allein im RU. Ich rufe<br />
einige Bausteine in Erinnerung, die unmittelbar in den Schulen bzw. den<br />
Religionslehrer/innen spürbar sind.<br />
- Die Kirche unterstützt den Religionsunterricht wie sonst keine schulexterne<br />
<strong>Institut</strong>ion irgendein an<strong>der</strong>es Schulfach.<br />
Diese För<strong>der</strong>ung beschränkt sich keineswegs auf Mitbestimmung von<br />
Lehrplänen und Vokation <strong>der</strong> Lehrenden. Sie schließt kirchenpolitische<br />
Fürsprache in verschiedenen Formen und v.a. ein dichtes Netz von<br />
Fortbildungs- und Unterstützungsangeboten durch ihre Pädagogischtheologischen<br />
<strong>Institut</strong>e (PTI) und die Schulreferate ein. Am häufigsten genutzt<br />
und am unmittelbarsten hilfreich dürften die kreiskirchlichen o<strong>der</strong> regionalen<br />
Mediotheken sein.<br />
Die Kirche trägt so bei zu einem Religionsunterricht, dessen didaktisches und<br />
methodisches Niveau nicht hinter demjenigen an<strong>der</strong>er Fächer zurückbleibt<br />
(Stichworte: Handlungsorientierung, selbständiges bzw. aktivierendes Lernen /<br />
Freiarbeit, Einsatz von Medien und Internet usw.), vielmehr in <strong>der</strong> Geschichte<br />
<strong>der</strong> Fachdidaktiken oft genug den didaktischen Takt angab und noch immer<br />
angibt (z.B. bei <strong>der</strong> Vernetzung mit an<strong>der</strong>en Fächern innerhalb <strong>der</strong> eigenen<br />
Fächergruppe [Kooperation zwischen ev. und kath. RU; EU] wie außerhalb<br />
ihrer [etwa mit Geschichte, Biologie, Deutsch, Kunst]. 22<br />
- Die Kirche, dieses Mal nicht als landes- o<strong>der</strong> kreiskirchliche Dachorganisation,<br />
son<strong>der</strong>n als Parochialgemeinde vor Ort unterstützt o<strong>der</strong> trägt zahlreiche nicht<br />
unmittelbar unterrichtsbezogene Angebote zum Schulprogramm wie etwa<br />
Gottesdienste, Seelsorge, im Grundschulbereich „Kontaktstunden“, an<br />
weiterführenden Schulen „Tage religiöser Orientierung“ u.ä.m.<br />
- Und drittens, nicht zu vergessen, besteht ein wichtiger Beitrag <strong>der</strong> Kirchen zur<br />
Schulentwicklung in exemplarischen Schulreformen und modellhaftem<br />
Handeln an ihren eigenen Schulen, den Schulen in kirchlicher Trägerschaft.<br />
Ich nenne hier nur Ansätze zu diakonischem Lernen („Diakonisches<br />
Praktikum“ in Stufe 12 eines Gymnasiums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „sozial-diakonische“<br />
Lernbereich an Klasse 7 am Ev. Schulzentrum Leipzig), die Thematisierung<br />
21 Übersicht unter www.jugendkirchen.org.<br />
22 Diese beiden ersten Ebenen werden anschaulich beschrieben in dem Beitrag von Hans-Walter<br />
Nörtersheuser: Der Beitrag des RUs zur Schulentwicklung <strong>der</strong> Realschulen, in: Achim Battke u.a.<br />
(Hg.): Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg u.a. 2002, 132-159.
- 71 -<br />
ethischer Probleme in Naturwissenschaft und Technik o<strong>der</strong><br />
Schulpartnerschaften und an<strong>der</strong>e Projekte zu weltweitem Lernen. 23<br />
- Viertens und letztens ist auf den indirekten Beitrag <strong>der</strong> Kirchen zur Schule<br />
hinzuweisen. Dieser Beitrag besteht schlicht und einfach in ihrer öffentlichen<br />
Präsenz, dank <strong>der</strong>er sie als beinahe einzige <strong>Institut</strong>ion <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Gesellschaft Fragen <strong>der</strong> Lebensführung latent o<strong>der</strong> ausdrücklich expliziert und<br />
zwar auf <strong>der</strong> Grundlage überindividueller, identifizierbarer Deutungsmuster.<br />
Man muss ihre Deutungsmuster nicht teilen – doch <strong>der</strong> Qualitätsunterschied<br />
zu Einlassungen des Lifestyle-Fernsehens (“Für dich tue ich alles“), aber auch<br />
<strong>der</strong> Pop-Kultur („König <strong>der</strong> Löwen“) liegt auf <strong>der</strong> Hand. Die Kirchen leisten<br />
„Arbeit an <strong>der</strong> symbolischen Form des Christentums“, 24 und – die soeben<br />
erschienene vierte EKD-Mitgliedschaftsumfrage zeigt es – die Menschen<br />
wünschen genau diese Arbeit. Auch wenn sie selbst nicht an Kirche<br />
partizipieren, bejahen sie zu einem guten Teil diese Deutearbeit <strong>der</strong> <strong>Institut</strong>ion<br />
Kirche. 25<br />
Eben diese öffentliche Präsenz ist <strong>der</strong> notwendige Hintergrund, <strong>der</strong><br />
„Lebensrückhalt“ (so hat es die Synode <strong>der</strong> EKD formuliert 26 ) für die drei<br />
an<strong>der</strong>en zuvor genannten Beiträge von Kirche und christlicher Religion zur<br />
Schule – ohne sie wären Religionsunterricht und Schulleben bloß „ein<br />
tönendes Erz o<strong>der</strong> eine klingende Schelle“ (1. Kor 13,1).<br />
Obwohl also die evangelische Kirche bereits in hohem Maße präsent und engagiert<br />
ist, könnte sie christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule durch verschiedene<br />
Akzentsetzungen und Initiativen symbolisch o<strong>der</strong> tatsächlich effektiv verstärken. Vier<br />
solcher Akzente will ich nennen.<br />
4.1. Wertschätzung für das Engagement <strong>der</strong> Religionslehrer/innen zum Ausdruck<br />
bringen, aber auch ihr eigenes Engagement nicht unter den Scheffel stellen<br />
In einem schönen Buch namens „Mitarbeit in Kirche und Gemeinde“ beschreibt Karl<br />
Foitzik, langjähriger Professor für Religionspädagogik an <strong>der</strong> Ev. Fachhochschule<br />
Nürnberg, das magische Viereck <strong>der</strong> Mitarbeiterpflege: „Wertschätzung, Begleitung,<br />
För<strong>der</strong>ung und Beratung“. 27 Die evangelische Kirche ist um ihre Mitarbeiter/innen im<br />
Bereich <strong>der</strong> religiösen Bildung, um die Religionslehrer/innen eindrücklich bemüht –<br />
an zwei Eckpunkten dieses Vierecks würde ich indes noch Verbesserungsbedarf<br />
sehen: bei <strong>der</strong> Begleitung, namentlich <strong>der</strong> spirituellen Begleitung, und bei <strong>der</strong><br />
Wertschätzung.<br />
„Begleitung“ ist ein weites Feld. Begleitung heißt: Unterstützung anbieten, aber<br />
nicht aufdrängen, ermutigen, aber nicht kanalisieren. Im fachlichen Sinne ist diese<br />
Form von Begleitung durchaus etabliert; im spirituellen Sinne hingegen nicht.<br />
Geistliche Begleitung kann heißen: Religiöse Besinnungstage für Kollegien, kann<br />
heißen: Einladung an Einzelne in eine Kommunität o<strong>der</strong> ein Kloster auf Zeit, kann<br />
heißen: Übung in Gebet und Meditation in Form eines Kurses. Doch welche<br />
23 Dazu näherhin Handbuch Evangelische Schulen, Gütersloh 1999.<br />
24 Zitat – gegen den Sinn des dortigen Duktus angeführt – aus Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche,<br />
Gütersloh 2002, 49. Vgl. auch Reiner Preul: So wahr mir Gott helfe! Religion in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Gesellschaft, Darmstadt 2003.<br />
25 Dazu Wolfgang Huber/Johannes Friedrich/Peter Steinacker (Hg.): Kirche in <strong>der</strong> Vielfalt ihrer<br />
Lebensbezüge, Gütersloh <strong>2006</strong>, 457 und 459.<br />
26 Friedrichroda 1997. Bericht über die erste Tagung <strong>der</strong> neunten Synode <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />
Deutschland vom 22. bis 25. Mai 1997, Hannover 1997, 243-250, hier 250.<br />
27 Karl Foitzik: Mitarbeit in Kirche und Gemeinde, Stuttgart 1998, hier 81.
- 72 -<br />
Religionslehrerin o<strong>der</strong> welcher Religionslehrer fühlt sich in diesem Sinne geistlich<br />
begleitet? Zu fragen ist allerdings auch: Welcher Religionslehrer o<strong>der</strong> welche<br />
Religionslehrerin würde sich dies überhaupt wünschen?<br />
Umfragen zeigen: Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Themen möglicher Unterstützung haben<br />
daran zwar nur wenige RL Interesse – allerdings ist es insgesamt mehr als ein Viertel<br />
<strong>der</strong> evangelischen Religionslehrerschaft, „eine ausgesprochen große ‚Min<strong>der</strong>heit’“ 28 !<br />
Und ich möchte zweierlei zu bedenken geben: Die Formulierung des erfragten Items<br />
ist nicht beson<strong>der</strong>s einladend geraten („Einübung spiritueller Praxis“); sie lässt<br />
jedenfalls nicht erkennen, dass es bei diesem Thema um personorientierte<br />
Begleitung, Ermutigung und Bereicherung des eigenen Glaubenslebens geht. Und<br />
ein Zweites kommt hinzu: Dass RL für das Thema geistliche Begleitung durchaus<br />
offen sein können, zeigt ihr hohes Interesse an Fortbildung zur „Alltagsbedeutung<br />
von Religion“ und „erfahrungsbezogenen Zugängen zur Bibel“ – es dürfte den<br />
befragten RL klar sein, dass man die Alltagsbedeutung von Religion und<br />
erfahrungsbezogene Zugänge zur Bibel nicht erschließen kann, ohne die Bedeutung<br />
von Religion für den eigenen Alltag und die eigenen Erfahrungen mit <strong>der</strong> Bibel<br />
bewusst werden zu lassen. Kurz: Die Begleitung von RL durch kirchliche<br />
Fortbildungseinrichtungen sollte es auf den Versuch ankommen lassen, stärker zu<br />
thematisieren „wo <strong>der</strong> Glaube wachsen kann“ (Fulbert Steffensky) – <strong>der</strong> eigene<br />
Glaube und <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler.<br />
Ebenso wichtig – und insgesamt ebenso vernachlässigt – scheint mir<br />
„Wertschätzung“ zu sein. Gewiss, die ganze oben angeführte Infrastruktur ist als<br />
Ausdruck von Wertschätzung lesbar, aber ad hominem, als persönliche<br />
Wertschätzung ist sie nur mit Mühe erkennbar. Unmittelbarer als Zuspruch erlebt<br />
werden dürften Dinge wie dieser „erste Lehrerinnen- und <strong>Lehrertag</strong>“ <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong><br />
(10.3.<strong>2006</strong>), Dinge wie ein Neujahrsempfang <strong>der</strong> Religionslehrer/innen anlässlich<br />
eines neuen Schuljahres (so erlebt im KK Duisburg 2005) o<strong>der</strong> ein regionaler<br />
„Religionslehrertag“ (so üblich im Saarland), ein Supervisionsangebot o<strong>der</strong> vielleicht<br />
auch ein Vokations-Erinnerungstag mit Gottesdienst.<br />
Allerdings will ich daneben auch kleine Zeichen <strong>der</strong> Wertschätzung erwähnen, die<br />
zudem zum Ausdruck bringen, dass die Kirche(ngemeinde) um ihre eigene<br />
Beteiligung an RU und Schulleben weiß: Wie wäre es, wenn Religionslehrer/innen<br />
ihre Arbeit häufiger einmal im Gemeindebrief vorstellen könnten, wenn ihre Namen<br />
dort genannt würden, wenn gemeindebezogene Veranstaltungen in <strong>der</strong> Schule (z.B.<br />
Schulgottesdienste) auch im Gemeindeprogramm ausgewiesen würden?<br />
Ich lasse es bei diesen Hinweisen und Fragen – und <strong>der</strong> Überzeugung, dass Gutes<br />
im Bereich von Wertschätzung und Begleitung nicht teuer sein muss; das Zeichen<br />
zählt.<br />
4.2. Geh-Strukturen im Blick auf Schule aufbauen<br />
Eine Gemeinsamkeit <strong>der</strong> meisten kirchlichen Angebote zur Stärkung des<br />
Religionsunterrichts o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Religionslehrer/innen besteht in Folgendem: Sie setzen<br />
voraus, dass Religionslehrer/innen auf sie zugehen o<strong>der</strong> eben ein Angebot in<br />
Anspruch nehmen. Die Kirche arbeitet hier im Paradigma <strong>der</strong> „Komm-Struktur“. Wer<br />
etwas möchte, muss zu ihr kommen.<br />
Wenn mich nicht alles täuscht, darf die Kirche nach Meinung <strong>der</strong><br />
Religionslehrer/innen hier ruhig das Paradigma wechseln und Geh-Strukturen<br />
aufbauen. Gewiss: Religionslehrer/innen wünschen sich keineswegs „Kirche in <strong>der</strong><br />
28 Andreas Feige/Werner Tzscheetzsch: Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat?<br />
Ostfil<strong>der</strong>n/Stuttgart 2005, 40; vgl. 38f.
- 73 -<br />
Schule“, sie wünschen sich insbeson<strong>der</strong>e keine „Aufsichtsfunktion“ <strong>der</strong> Kirche, wohl<br />
aber eine Verstärkung ihrer Bringeleistungen – vor allem in drei Bereichen: bei <strong>der</strong><br />
Elternarbeit, bei <strong>der</strong> Kontaktaufnahme mit den Schüler/innen und bei <strong>der</strong><br />
Qualitätssicherung des RU. Bemerkenswert finde ich zudem den Wunsch von einem<br />
Drittel <strong>der</strong> Religionslehrerschaft, dass die kirchlich Zuständigen verstärkt „Kontakt zu<br />
den Schulen halten“ mögen! 29<br />
Kurz: Aufsichtsfunktion von Kirche im Blick auf die Schule – bitte beibehalten, aber<br />
nicht verstärken, Unterstützungs- und Qualitätssicherungsfunktion bitte noch stärker<br />
wahrnehmen!<br />
O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gesagt: Auf jeden Fall nicht „Religion ohne Kirche“ (aber auch keine<br />
„Kirche in <strong>der</strong> Schule“)! Das galt schon für Nie<strong>der</strong>sachsen, wo man im Jahr 2000 ein<br />
„entspanntes Klima“ zwischen Kirche und RL konstatieren konnte; erst recht gilt es<br />
2005 für Baden-Württemberg, wo man von „einer betont freundlich-positiven<br />
Offenheit“ <strong>der</strong> RL gegenüber Kirche ausgehen kann! 30<br />
Ein wenig tastend möchte ich vorschlagen, über zwei Optionen kirchlicher<br />
Schularbeit nachzudenken –<br />
einmal über eine Verstärkung von Angeboten im Blick auf einzelne Schulen o<strong>der</strong><br />
die Schulen einer Region. Schulreferent/innen könnten durch die themenzentrierte<br />
Interaktion mit den Fachkonferenzen von Schulen o<strong>der</strong> auch von mehreren<br />
benachbarten Schulen zusammen gezielter Fortbildung und Begleitung anbieten –<br />
und tatsächlich beratend wirken. Als Modell kann diesbezüglich SCHILF dienen,<br />
schulinterne Lehrerfortbildung. Gewiss wären entsprechende Signale <strong>der</strong> RL bzw.<br />
<strong>der</strong> Fachkonferenzen hilfreich, denn auch Schulreferent/innen sind nur Menschen,<br />
die Ermutigung brauchen, um mit ihren zentralen Fortbildungstradition zu brechen.<br />
Dabei müssen sich beide Seite klar sein, dass schulbezogene Fortbildung<br />
verbindlicher ist als offene Angebote – verbindlicher für die Kollegien, die dann auch<br />
an verabredeten Maßnahmen teilnehmen müssen, verbindlicher für die<br />
Schulreferent/innen, die Themen „pünktlicher“ (Rudolf Englert), passgenauer<br />
aufbereiten müssen.<br />
Mein zweiter Vorschlag hat ein ähnliches Gefälle. Ich denke an „Patenschaften“<br />
zwischen Schulen und Kirchengemeinden, vielleicht auch zwischen<br />
Religionslehrer/innen und Pfarrer/innen. Sie können aus den besagten<br />
gemeinsamen Veranstaltungen herauswachsen, vielleicht auch von den „Schul- und<br />
Bildungsreferaten“ vermittelt werden. Innerhalb dieser Patenschaften können<br />
Projekte <strong>der</strong> Zusammenarbeit angebahnt werden; die tragenden Personen können<br />
sich wechselseitig beraten: Pfarrer/innen können die Tätigkeit <strong>der</strong> RL schulkritisch<br />
spiegeln; Religionslehrer/innen können Pfarrer/innen etwa im KU didaktisch beraten.<br />
Diese Art <strong>der</strong> Begegnung könnte außerordentlich hilfreich sein, um <strong>der</strong><br />
wechselseitigen Entfremdung und <strong>der</strong> Versäulung <strong>der</strong> Arbeitsfel<strong>der</strong> zu wehren.<br />
4.3. Der Versäulung (hier Schule – dort Gemeinde) wehren<br />
Die Idee <strong>der</strong> Patenschaften weist auf eine Schwierigkeit im Verhältnis von Schule<br />
und Kirche hin, die ich als grundsätzliche empfinde: die recht hermetische Trennung<br />
zwischen den Schul- bzw. Bildungsbezogenen Teilen kirchlicher Arbeit und den<br />
klassisch-gemeindebezogenen, von vielen noch immer als „eigentlich“ wichtigsten<br />
empfundenen!<br />
Um zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zumindest zu mil<strong>der</strong>n, dass schulische und gemeindliche<br />
Arbeit weiterhin so unverbunden nebeneinan<strong>der</strong> stehen, um also <strong>der</strong> Versäulung zu<br />
29 Feige/Tzscheetzsch 2005 (s.o. Anm.28), 66.<br />
30 Feige/Tzscheetzsch 2005 (s.o. Anm. 28), 112; vgl. 67.
- 74 -<br />
wehren, gilt es Pfarrer/innen die Scheu vor schulbezogener Arbeit zu nehmen – und<br />
umgekehrt: den Religionslehrer/innen die Scheu vor gemeindlicher Arbeit!<br />
Fraglos setzt dies Begegnungen voraus, zudem Akzentverschiebungen in <strong>der</strong><br />
Ausbildung bei<strong>der</strong> Berufsgruppen, die jeweils auch Seitenblicke auf das Berufsprofil<br />
<strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en Seite enthalten sollte, doch ich meine: Auch eine<br />
Umstrukturierung einer kirchlichen Einrichtung, nämlich <strong>der</strong> Schulreferate könnte hier<br />
hilfreich sein.<br />
In <strong>der</strong> Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden aus <strong>der</strong> Absicht <strong>der</strong> Kirche,<br />
Brücken zur Lehrerschaft zu schlagen, 31 könnten sie nun auch die komplementäre<br />
Seiten dieses Brückenschlags in ihren Aufgabenkatalog aufnehmen: die Verbindung<br />
<strong>der</strong> Religionslehrer/innen mit den Gemeinden und die gemeinsame, wechselseitig<br />
kritisch-konstruktive Bearbeitung pädagogischer Herausfor<strong>der</strong>ungen in Schule und<br />
Gemeinde!<br />
Heißen bisher nur die einschlägigen beratenden Ausschüsse <strong>der</strong> Kirchenkreise in <strong>der</strong><br />
Regel „Ausschuss für Schul- und Bildungsfragen“ (Beispiel: <strong>der</strong> ABS <strong>der</strong><br />
Kirchenkreise Ottweiler, Saarbrücken und Völklingen), so scheint es mir sinnvoll auch<br />
die Schulreferate fortan als Schul- und Bildungsreferate zu benennen und<br />
auszugestalten – im KK Herford ist dies schon geschehen („Referat für pädagogische<br />
Handlungsfel<strong>der</strong> in Schule und Kirche“ 32 ) und dem Vernehmen nach sind durchaus<br />
die erhofften positiven Vernetzungseffekte eingetreten.<br />
Was bedeutet diese Umbenennung in <strong>der</strong> Sache? Über die Schulreferate sollten<br />
auch gemeindepädagogische Fragen transportiert werden; zu ihrem Auftrag sollte<br />
neben religionsdidaktischer Fortbildung auch die Organisation<br />
gemeindepädagogischer Fort- und Weiterbildungen gehören; sie sollten nicht zuletzt<br />
Veranstaltungen organisieren und Themen als gemeinsame bewusst machen, die<br />
sowohl für Religionslehrer/innen als auch für Pfarrer/innen relevant sind: etwa solche<br />
zur Nachbarschaft von Schule und Gemeinde, etwa solche zu Fragen <strong>der</strong><br />
Jugendseelsorge, etwa solche zur subjektorientierten Didaktik, etwa solche zur<br />
Alltagsbedeutung von Religion usw.<br />
Die Schulreferate sind prinzipiell zur Bearbeitung dieser Doppelaufgabe in <strong>der</strong> Lage,<br />
weil ja im Allgemeinen Pfarrer/innen das Amt des Schulreferenten ausfüllen, die<br />
beides kennen: Schule und Kirchengemeinde. In <strong>der</strong> Regel wird dies eine<br />
Ausweitung des Stellenbudgets <strong>der</strong> Schulreferate erfor<strong>der</strong>n; doch ich meine, <strong>der</strong> zu<br />
erhoffende Ertrag würde dies rechtfertigen. Zumindest sollte <strong>der</strong>gleichen in einigen<br />
Kirchenkreisen modellhaft erprobt werden.<br />
4.4. Lebensrückhalt für christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule werden - Gottesdienst für<br />
Schülerinnen und Schüler einladend gestalten<br />
Schließlich: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule nicht allein im Religionsunterricht nützt<br />
nichts, wenn sie nicht an den Orten gelebter christlicher Religion, in den<br />
Kirchengemeinden wie<strong>der</strong>zuentdecken ist, Verstärkung und anregende Anschauung<br />
findet. „Eine lebendige Kirche ist <strong>der</strong> Lebensrückhalt des Religionsunterrichts“ 33 – so<br />
31 Vgl. dazu für den Bereich <strong>der</strong> <strong>EKvW</strong> Hinweise bei Alfred Kessler: Schule, Religionsunterricht und<br />
Kirchlicher Unterricht im Wandel, Bielefeld 2000, passim; einige wenige Hinweise zum Bereich <strong>der</strong><br />
EKiR und zu Schulreferaten allgemein bei Jürgen Frank: Zum Profil kirchlicher Bildungsverantwortung<br />
[anlässlich des 60-jährigen Jubiläums <strong>der</strong> Benennung von Schulreferenten in <strong>der</strong> EKiR], s.<br />
www.schulreferat.info (Notiz in „Schule und Kirche. Informationen zu Bildungs- und Erziehungsfragen“<br />
<strong>2006</strong>, Heft 1, 27).<br />
32 Siehe www.schulreferat-herford.de.<br />
33 Friedrichroda 1997. Bericht über die erste Tagung <strong>der</strong> neunten Synode <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />
Deutschland vom 22. bis 25. Mai 1997, Hannover 1997, 243-250, hier 249f. (Punkt 12).
- 75 -<br />
hat es die EKD in einer „Kundgebung zum Religionsunterricht“ 1997 formuliert – und<br />
dieser Satz gilt erst recht im Blick auf christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule jenseits des<br />
RU.<br />
An diesem Lebensrückhalt hapert es indes seit langem vor allem in einem<br />
bestimmten, für christliche Religion konstitutiven Bereich: im Bereich <strong>der</strong> Feier des<br />
Gottesdienstes. Trotz verschiedener, mehr o<strong>der</strong> weniger tiefgreifen<strong>der</strong><br />
Reformideen 34 nehmen am Gottesdienst von Gemeinden kaum Jugendliche und<br />
junge Erwachsene teil. Gerade die sonntäglichen Gottesdienste in Gemeinden sind<br />
weitgehend gleichbleibende, traditionsgeleitete Veranstaltungen für „Eingeweihte“,<br />
für erwachsene Gemeindeglie<strong>der</strong>.<br />
Bedenkt man Gottesdienste aus <strong>der</strong> Perspektive evangelischer<br />
Bildungsverantwortung ist dies ein bedenklicher Zustand: Jugendliche partizipieren<br />
kaum am zentralen Vollzug gemeindlichen Lebens; Gottesdienste finden ohne<br />
personale Einbettung allein in <strong>der</strong> räumlichen Mitte <strong>der</strong> Gemeinde statt; ihre<br />
Funktion, die Kommunikation des Evangeliums in ritueller Gestalt wird kaum mehr<br />
wahrnehmbar. 35<br />
Dabei kommt Gottesdiensten mit Jugendlichen, zur Not auch nur für sie, nicht<br />
allein gemeindebildende, son<strong>der</strong>n bildende Funktion schlechthin zu. Gottesdienst<br />
gibt – um eine Formulierung Peter Biehls verfremdend aufzunehmen – zu lernen.<br />
Und: Gottesdienst zu gestalten, sich in einen Gottesdienst einzufinden, ist ein<br />
„Lernprozess“ (Dieter Trautwein), konstitutiv für christliche Religion.<br />
Solche Gottesdienste erfor<strong>der</strong>n die Flexibilisierung <strong>der</strong> Gottesdienstzeiten<br />
(Schulgottesdienst, Schulentlassfeier, Osternacht u.a.), die Variation <strong>der</strong> liturgischen<br />
Formen (Partizipation, Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> Sprache und Elemente, Variation <strong>der</strong><br />
Predigt u.a.), die pointiertere Versprechung von Evangelium und Alltag (Sprache mit<br />
gegenwartsbezogenen Bil<strong>der</strong>n, Themen- statt Textorientierung u.a.).<br />
Hier ist in <strong>der</strong> Tat ein „Ruck“ nötig in <strong>der</strong> Kirche, doch zweierlei ermutigt hier zu<br />
forschem Vorgehen: Die „Orientierung an Jugendlichen kommt allen<br />
Gottesdienstteilnehmern zugute.“ 36 Und: Der Kin<strong>der</strong>gottesdienst, in seiner heutigen<br />
Form aus einer ähnlichen Krisis erwachsen, ist ein sehr erfolgreiches Modell – seit<br />
langem schon nehmen, relativ gesehen zur Zahl kindlicher Kirchenmitglie<strong>der</strong>, mehr<br />
Kin<strong>der</strong> an Gottesdiensten teil als Erwachsene! 37<br />
5. Was die Schule tut, tun darf und gewinnen kann, wenn sie christliche<br />
Präsenz im und außerhalb des RU stärkt<br />
Die Schule ist kein Sachwalter <strong>der</strong> Kirche – sie soll es auch nicht werden.<br />
Dennoch hat sie das Recht und auch ein Interesse daran, christliche Präsenz in <strong>der</strong><br />
Schule zu stärken – ebenso wie sie das Recht hat und Interesse daran haben<br />
könnte, die Präsenz an<strong>der</strong>er signifikanter Religionen, etwa des Islam, in <strong>der</strong> Schule<br />
zu stärken. Rechtlich gesehen bewegt sie sich gegenüber allen Religionen in<br />
34 Exemplarisch genannt seien Hans-Martin Lübking (Hg.): Gottesdienst für Jugendliche, 6 Bände,<br />
Düsseldorf 1996-2001, und Timo Rieg/Christoph Urban (Hg.): Jugendgottesdiesnt 2.0, Bochum 2001,<br />
und Timo Rieg (Hg.): Jugendgottesdienste Powerpack: 40 Komplettentwürfe für die Gestaltung von<br />
Gottesdiensten, Andachten und Events mit Jugendlichen, Bochum 2003.<br />
35 Zur Analyse vgl. beson<strong>der</strong>s Christian Grethlein: Gottesdienst ohne Jugendliche?! Texte aus <strong>der</strong><br />
VELKD 92/1999; zudem Mechthild Bangert: Jugendliche und Gottesdienst, in: Christian<br />
Grethlein/Günter Ruddat (Hg.): Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 176-193.<br />
36 Hans Martin Lübking: Vorwort, in: <strong>der</strong>s. (Hg.): Gottesdienst für Jugendliche, Perikopenreihe 1,<br />
Düsseldorf 1996, 4-6, hier 5.<br />
37 Vgl. Christian Grethlein: Grundfragen <strong>der</strong> Liturgik, Gütersloh 2001, 284-292, hier 291 (allerdings<br />
ohne aktuelle empirische Daten).
- 76 -<br />
Äquidistanz bzw. mit gleicher Offenheit für die Ausgestaltung positiver<br />
Religionsfreiheit!<br />
- De facto mag das bisweilen an<strong>der</strong>s wirken, weil sich keine an<strong>der</strong>e Religion in<br />
Deutschland anheischig macht, in eben solcher Qualität und institutioneller<br />
Uneigennützigkeit mit Schule zu kooperieren und Bildungsmitverantwortung<br />
wahrzunehmen. Ein Islam etwa, <strong>der</strong> dies täte und von seinen theologischen<br />
und kulturellen Voraussetzungen tun könnte, ist durchaus wünschenswert,<br />
aber m.E. noch nicht zu erkennen. Doch das faktische Ungleichgewicht än<strong>der</strong>t<br />
nichts daran, dass – rechtlich gesehen – alle Religionen (die bestimmte<br />
rechtliche Voraussetzungen als Körperschaft des öffentlichen Rechts erfüllen)<br />
in gleicher Weise präsent sein könnten.<br />
- Noch spielt die christliche Religion in <strong>der</strong> Schule eine außerordentlich wichtige<br />
Rolle – eine Rolle, die sich etwa in <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Schule als christliche<br />
Gemeinschaftsschule Ausdruck verschafft. Die so verstandene Schule, darauf<br />
machen Juristen aufmerksam, dient nicht <strong>der</strong> „institutionellen Sicherung“ <strong>der</strong><br />
Kirchenzugehörigkeit, son<strong>der</strong>n ist Ausdruck des Elternwillens und <strong>der</strong><br />
tatsächlich christlichen Mehrheit <strong>der</strong> Schulangehörigen.<br />
Die christliche Gemeinschaftsschule „kann nur den Rahmen bilden dafür, daß sich die soziale<br />
Umwelt des Kindes dort, wo sie von Glaubenshaltung geprägt ist, auch in <strong>der</strong> Schule<br />
Beachtung verschaffen darf. Daher wird die Schule stets nur so christlich sein, wie es Lehrer<br />
und Schüler [sowie Eltern] sind ...“. Die Charakterisierung von Schulen als christliche<br />
Gemeinschaftsschule trägt also dem Prae <strong>der</strong> elterlichen Erziehungsverantwortung und <strong>der</strong><br />
Sozialisationsfunktion von Schule Rechnung. „Ein Mehr, insbeson<strong>der</strong>e eine institutionelle<br />
Verpflichtung <strong>der</strong> Lehrer und des Lehrstoffs auf die ‘gemeinsamen Grundlagen <strong>der</strong><br />
Christlichen Bekenntnisse’ würde <strong>der</strong> freiheitlichen Ordnung <strong>der</strong> Verfassung [und dem<br />
Toleranzgebot, das innerhalb einer für alle Schüler alternativlosen Schule gelten muß]<br />
wi<strong>der</strong>streiten.“ 38<br />
Die christliche Gemeinschaftsschule, das ist ebenfalls entscheidend wichtig,<br />
legt keineswegs „Lehrinhalte und Erziehungsziel ... auf ein<br />
Glaubenschristentum fest“. „Die Bejahung des Christentums bezieht sich<br />
[vielmehr] in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und<br />
Bildungsfaktors, nicht auf die Glaubenswahrheit und ist damit ... auch<br />
gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen<br />
Kulturkreises gerechtfertigt.“ Dies ist eine Schlüsselformulierung: Nicht <strong>der</strong><br />
christliche Glaube, son<strong>der</strong>n das Christentum als kultureller Prägefaktor wird<br />
mit <strong>der</strong> Rede von <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaftsschule zur Grundlage <strong>der</strong><br />
Schule erklärt. Genau aus diesem Grund impliziert die Christlichkeit <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule nicht eine missionarische Haltung gegenüber Nicht-<br />
Christen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en „Isolierung“. 39<br />
Kurz: Eine Schule, die sich christlicher Präsenz öffnet, wird keineswegs zu einer<br />
kirchlichen Schule; sie trägt damit lediglich <strong>der</strong> Religionsfreiheit, <strong>der</strong> positiven<br />
Religionsfreiheit (Art. 4.2 GG – Recht auf „ungestörte Religionsausübung“), und dem<br />
Elternrecht (Art. 6.2 GG) Rechnung. Dabei ist sie zugleich an den Schutz an<strong>der</strong>er<br />
Rechtsgüter gebunden, namentlich an die Achtung <strong>der</strong> negativen Religionsfreiheit<br />
(Art. 4.1 GG). In <strong>der</strong> Praxis heißt dies: Christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule ist ein<br />
38 Zitate aus Christoph Link: Art.: Bekenntnisschule III., in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart /<br />
Berlin 2., vollständig neubearb. A. 1975, 164-170, hier 167.<br />
39 Zitate aus dem Beschluß des BVerfG vom 17. Dezember 1975, dokumentiert in: Entscheidungen<br />
des Bundesverfassungsgerichts 41 (1976), 29-64, hier 56.62 und 64.
- 77 -<br />
Angebot – nicht mehr, aber auch nicht weniger – dessen Annahme o<strong>der</strong><br />
Nichtannahme in jedem Fall freiwillig bleiben muss.<br />
Soviel an dieser Stelle zum Recht <strong>der</strong> Schule, christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule zu<br />
stärken. Warum aber kann und sollte sie ein Interesse daran haben?<br />
Weil sie ein Interesse an ganzheitlicher, die Person betreffen<strong>der</strong> Bildung (hier: unter<br />
Einschluss von Sinn- und Wertfragen) hat.<br />
Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Unterstützung bestimmter sozialer Überzeugungen und<br />
Verhaltensmuster hat, <strong>der</strong>en Verbreitung durch christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule<br />
zwar nicht intendiert, de facto aber geleistet wird (hier etwa: altruistisches<br />
Engagement, soziale Verbindlichkeit, ästhetisches Interesse).<br />
Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Stärkung und Stabilisierung <strong>der</strong> einzelnen Schülerinnen<br />
und Schüler (hier: seelsorglich-gottesdienstlich-jugendbegleitende Zuwendung) hat.<br />
Weil sie ein Interesse an <strong>der</strong> Einbindung von Schule in das Gemeinwesen und seine<br />
<strong>Institut</strong>ionen (hier: die Kirche) hat.<br />
Und weil sie ein Interesse daran hat, dass Schüler wie Lehrer sich bewusst halten,<br />
dass sie von Voraussetzungen leben, die sie nicht selbst geschaffen haben, dass<br />
menschliche Leistung und gesellschaftlich-schulische Wertsetzungen nicht<br />
verabsolutiert werden dürfen. Wenn man so will: Der Schule liegt an christlicher<br />
Präsenz um ihrer Selbstbegrenzung willen. Religion tut Not um pädagogischer<br />
Selbstbescheidung willen (genauer: um die regulative Idee pädagogischer<br />
Selbstbescheidung institutionell präsent zu halten). 40<br />
Diese Selbstbescheidung als regulative Idee tut Not angesichts <strong>der</strong> Wertvorstellungen, die in den<br />
aktuell favorisierten Reformvorschlägen wirksam werden: „Entfaltung von Individualität“ und<br />
Verantwortung (NRW, Zukunft <strong>der</strong> Bildung – Schule <strong>der</strong> Zukunft), Selbständigkeit und Effizienz (Heinz<br />
Klippert) 41 , vor allem aber Leistungsfähigkeit und Elitebildung und nicht zuletzt Sozialisation in die<br />
Konkurrenzgesellschaft (Schulzeitverkürzung). Evangelisches Bildungsverständnis, das im RU ebenso<br />
wie in christlicher Präsenz in <strong>der</strong> Schule Ausdruck finden soll, hält demgegenüber bewusst: „Im<br />
Prozeß <strong>der</strong> Bildung geht es ... um den Prozeß <strong>der</strong> Subjektwerdung des Menschen in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
als ein ständiges Freilegen seiner ihm gewährten Möglichkeiten. Diesem Prozeß bleibt das<br />
Personsein als Grund <strong>der</strong> menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung stets voraus. Subjekt muß <strong>der</strong><br />
Mensch im Prozeß seiner Bildung erst werden. Person ist er immer schon“ 42 – daraufhin gilt es die<br />
Schule zu optimieren, nicht zuerst und allein auf die effiziente Organisation hin.<br />
6. Was Religionslehrer/innen tun und weiterhin tun sollten um <strong>der</strong> christlichen<br />
Präsenz im und außerhalb des RU willen<br />
Keine Angst: Keineswegs schwebt mir vor, dass die Religionslehrerinnen und -lehrer<br />
„christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule“ gänzlich selbst in die Hand nehmen und nun auch<br />
diese Aufgabe noch schultern. Sie können und sollen alles dies nicht selber<br />
„machen“. Was sie selber sollten, ist nach meiner Meinung Folgendes:<br />
- Sie sollten den Religionsunterricht nicht unter Wert verkaufen, d.h. sich nicht<br />
scheuen, existentielle Fragen anzusprechen, den Platz daseins- und<br />
40 Diesen Gedanken stellt Karl Ernst Nipkow dar, um das Interesse des Staates am RU in <strong>der</strong> Schule<br />
zu begründen; vgl. <strong>der</strong>s.: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh (1990) 2.<br />
durchges. A. 1992, 436f.<br />
41 Heinz Klippert: Pädagogische Schulentwicklung, Weinheim/Basel 2000.<br />
42 Peter Biehl: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und das Problem <strong>der</strong> Bildung. Zur Neufassung<br />
des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer Perspektive, in: <strong>der</strong>s.: Erfahrung, Glaube und Bildung,<br />
Gütersloh 1991, 124-223, hier 156.
- 78 -<br />
wertorientieren<strong>der</strong> Fragen im Unterricht und die Grenzen ihrer unterrichtlichen<br />
Behandlung ausdrücklich markieren, auch durchaus über den Unterricht<br />
hinaus in den Raum und auf die Notwendigkeit gelebter Religion verweisen.<br />
- Sie können besser als niemand sonst im Blick auf christliche Präsenz in <strong>der</strong><br />
Schule Handlungsbedarf identifizieren, ggf. entsprechende Angebote<br />
anstoßen und im Kollegium begründen, Kontakt aufnehmen zu Menschen, die<br />
hier hilfreich sein können. Sie können umgekehrt so gut wie niemand an<strong>der</strong>s<br />
sonst schulexternen Trägern christlich-religiöser Elemente des Schullebens<br />
beratend zur Seite stehen, ihre Angebote zu koordinieren und zu vertreten,<br />
o<strong>der</strong> – zumindest – nicht skeptisch-abweisend reagieren, wenn eine<br />
Kirchengemeinde, ein Zweig <strong>der</strong> evangelischen/katholischen Jugendarbeit<br />
o<strong>der</strong> eine Caritas o<strong>der</strong> ein Diakonisches Werk einschlägige Aktivitäten<br />
anbietet. Sie als Religionslehrer/innen sind de facto die leibhaftigen<br />
„Schnittstellen“, Mittler zwischen Schule und Gemeinde – und ich bitte Sie,<br />
diese Aufgabe als Ihre zu erkennen.<br />
- Und auch Sie können wie die kirchlichen Mitarbeiter/innen „dran bleiben“ am<br />
Know-how für christliche Präsenz in <strong>der</strong> Schule: Kin<strong>der</strong>- und jugendgerechte<br />
Gottesdienste, Seelsorge an Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, Formen<br />
sozialpädagogischer Arbeit gehören nicht zum originären Kompetenzbereich<br />
von Religionslehrerinnen und -lehrern, wohl aber in den Horizont schul- und<br />
religionspädagogischer Arbeit. Angesichts dessen, dass Liturgik, Poimenik<br />
und z.T. auch Sozialpädagogik ihrerseits beachtliche Scheu vor<br />
schulbezogenen Fragen haben, können Sie sich bereits durch die bloße<br />
beharrliche Frage nach Gottesdienst, Seelsorge und Sozialarbeit mit<br />
Schüler/inne/n große Verdienste erwerben.<br />
Damit komme ich zum Schluss:<br />
Wenn Schule mehr sein soll als Unterricht, gerade auch im Bereich <strong>der</strong> Religion,<br />
dann erfor<strong>der</strong>t dies Mut. Nicht je<strong>der</strong> und jede im Kollegium wird Ihr Engagement<br />
gutheißen, die meisten werden Sie vielmehr kritisch beäugen und kommentieren.<br />
Auch die Schülerinnen und Schüler werden Ihnen – je nach Schulform – nicht<br />
unbedingt um den Hals fallen. Deshalb erfor<strong>der</strong>n einzelne Schritte den Mut, sich als<br />
Repräsentant christlicher Religion in Anspruch nehmen zu lassen, und zugleich den<br />
Mut zum Experiment. Aber beides lohnt sich – denn es wird vielen Schülerinnen und<br />
Schülern christliche Religion von einer bisher unbekannten Seite zeigen, wird in<br />
ihnen vielleicht bisher stumme Saiten zum Klingen bringen, wird ihnen hoffentlich zu<br />
<strong>der</strong> Erfahrung verhelfen, dass christliche Religion keine weltfremde Angelegenheit<br />
ist, son<strong>der</strong>n ihrem Leben dienen will.<br />
Theologisch wie pädagogisch ist es jedenfalls an <strong>der</strong> Zeit nach Spuren Gottes im<br />
Alltag <strong>der</strong> Schule, in unserer zwar „religionsproduktiven“ (Joachim Höhn), aber<br />
glaubenssubversiven Lebenswelt zu suchen.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
79<br />
Schulprofil – und Faktoren seiner Entwicklung<br />
Schulprogramm Schulentwicklung Schulautonomie Lehrer/innenbildung<br />
Pädagogische Dimension<br />
von Schulreform<br />
Organisatorische Dimension<br />
von Schulreform<br />
<strong>Institut</strong>ionelle Dimension<br />
von Schulreform<br />
Personale Dimension von<br />
Schulreform<br />
Betr. Unterricht und<br />
außerunterrichtliches<br />
Schulleben, insbeson<strong>der</strong>e<br />
schulische Bildungsangebote<br />
an Schüler/innen, Eltern und<br />
ggf. Öffentlichkeit<br />
Betr. interne Arbeitsabläufe<br />
von Kollegium und<br />
Schulleitung, konzeptionelle<br />
Arbeit und Evaluation<br />
Betr. Verwaltung von<br />
Sachmitteln und Personal<br />
Betr. Qualifikation, Fortbildung,<br />
Arbeit am pädagogischen Ethos<br />
und persönliche Begleitung<br />
(Wertschätzung, Beratung,<br />
Unterstützung) <strong>der</strong> Lehrerinnen<br />
und Lehrer
80<br />
CHRISTLICHE PRÄSENZ IN DER SCHULE NICHT ALLEIN IN RELIGIONSUNTERRICHT – EINE ÜBERSICHT<br />
UNTERRICHTSBE-<br />
ZOGENE PROJEKTE<br />
SCHULGOTTESDIENST SCHULSEELSORGE SCHULSOZIALARBEIT SCHULNAHE JUGENDARBEIT<br />
TRÄGER DES<br />
ANGEBOTS<br />
Unterrichtsförmiges,<br />
didaktisch<br />
reflektiertes Handeln<br />
Liturgisches Handeln<br />
Individuellberatendes<br />
Handeln<br />
För<strong>der</strong>ung / Hilfe für<br />
sozial benachteiligte<br />
Einzelne o<strong>der</strong> Gruppen<br />
Freizeitangebote während bzw.<br />
nach <strong>der</strong> Schule<br />
VON DER<br />
SCHULE<br />
INITIIERTE<br />
UND<br />
GETRAGENE<br />
ANGEBOTE<br />
Fächerübergreifend<br />
e Projekte zu<br />
Aspekten von<br />
Religion (etwa mit<br />
Kunst, Geschichte,<br />
Biologie u.a.)<br />
- „Jesus“ in <strong>der</strong><br />
Kunst,<br />
- Kirchengeschichte<br />
<strong>der</strong> Region,<br />
- Naturwissenschaft<br />
und Glaube<br />
Stilleübungen (im<br />
Rahmen des RU)<br />
„Frühschicht“ / 10<br />
Minuten für Gott<br />
Raum <strong>der</strong> Stille /<br />
Schulkapelle<br />
Gospel-Chor<br />
Kummerkasten<br />
Schülermentoren<br />
Seelsorge-<br />
Sprechstunde<br />
Nachmittagsbetreuung /<br />
Hausaufgabenhilfe<br />
Mediation/<br />
Streitschlichtung<br />
Schulbuchbörse<br />
Schülercafé<br />
Filmreihe (Religion im Film)<br />
Schulpartnerschaften/<br />
Schüleraustausch, in denen<br />
Religion Thema werden kann<br />
(etwa mit Schulen in <strong>der</strong> Türkei<br />
o<strong>der</strong> Israel)<br />
VON DER<br />
KIRCHE<br />
GETRAGENE<br />
ANGEBOTE<br />
Kirchraumpädagogik<br />
Kirchliches Angebot<br />
(Evangelische<br />
Kontaktstunde)<br />
Schulgottesdienst<br />
„Sieben Wochen ohne“<br />
Jugendkirche<br />
Scheidungsgruppe<br />
Tage religiöser<br />
Orientierung /<br />
religiöse<br />
Schulwoche<br />
Mädchentreff /<br />
Jungentreff<br />
Beratung/Hilfe in<br />
Notlagen durch<br />
Diakonisches Werk<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit in<br />
schulnahen Räumen<br />
„Freizeiten“ mit spirituellem Akzent<br />
(z.B. Taizé, Jugend-Camp)<br />
Thematische Projekttage in<br />
Zeitnischen <strong>der</strong> Schule<br />
(bewegliche Ferientage)
Prof. Dr. Annette Scheunpflug<br />
Wie gut sind evangelische Schulen?<br />
- 81 -
- 82 -
- 83 -
- 84 -
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- 91 -
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- 96 -
- 97 -<br />
Präses Alfred Buß<br />
Predigt über 2. Korinther 3, 17<br />
Text: 2. Korinther 3,17<br />
Der Herr ist Geist. Wo aber <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.<br />
Anrede<br />
Habt Ihr’s nicht eine Nummer kleiner, möchte man sagen: Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn<br />
ist, da ist Freiheit. Kriegen wir denn diese Brücke im Alltag überhaupt gebaut: Schule<br />
und Freiheit und Geist des Herrn?<br />
Schule und Freiheit, daraus wird ein Reim in Schulfrei, Hitzefrei – Ferien: also in<br />
Freiheit von Schule; im Losgelassen-werden von schulischer Verpflichtung; wenn<br />
man über seine Zeit selber bestimmen kann. Das sehen wohl beide so – Lehrerinnen<br />
und Lehrer wie Schülerinnen und Schüler.<br />
Und Geist? Was meint das? Spirit? Esprit? Geht das zusammen: Schulalltag und<br />
Esprit? O<strong>der</strong> trifft die amerikanische Wendung eher das, was wir bei Schule<br />
empfinden: Ain’t gotten no spirit?<br />
I<br />
Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit - wie mit einem Fanfarenstoß setzte<br />
Paulus den Menschen in Korinth den neuen Ton des Evangeliums ins Ohr. Der hohe<br />
Ton <strong>der</strong> Freiheit ist bis heute ungebrochen Wer von Freiheit redet, kann auf<br />
Zustimmung hoffen: Freiheit ist das einzige, was zählt – Freiheit ist das einzige, was<br />
fehlt sang Marius Müller Westernhagen.<br />
Wer lässt sich heute noch etwas vormachen o<strong>der</strong> vorschreiben? Was ich denke und<br />
glaube, das bestimme doch ich. Schülerinnen und Schülern ist das längst<br />
selbstverständlich. Jugendliche sind überall dabei, sie selbst zu werden, nicht nur<br />
hier in Westfalen. Sie sind unterwegs auf <strong>der</strong> Reise zum Ich. Früh morgens will es<br />
noch nicht recht gelingen. „Ich muß erst zu mir selbst kommen“, sagt schläfrig die<br />
heranwachsende Tochter/ <strong>der</strong> heranwachsende Sohn. Aber wann ist ein Mensch bei<br />
sich selbst? Er braucht dafür den Morgen und den Abend, die ganze Woche, das<br />
Jahr, bei Lichte besehen: das ganze Leben. Nie gab es so viele Optionen, das Ich zu<br />
füttern wie für diese Generation. Du darfst säuselt es allerorten. Was für dich richtig<br />
ist, das entscheidest du ganz individuell. Traditionen und <strong>Institut</strong>ionen verlieren an<br />
Bedeutung. Nur auf den rasanten Wandel ist Verlass.<br />
Wo aber geht die Reise hin, was ist das Ziel? Verän<strong>der</strong>n wir heute mehr und<br />
schneller, als wir beherrschen können - wie Zauberlehrlinge ohne Zauberspruch? Wir<br />
spornen unsere Kin<strong>der</strong> an, im Fortschritt mitzuhalten; wer aber lehrt sie das<br />
Schritthalten? Wo sind die Marksteine <strong>der</strong> Erinnerung, <strong>der</strong> Vergewisserung, <strong>der</strong><br />
Besinnung? Ja, über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Was ist<br />
das für eine Freiheit, die wir hierzulande leben? Grenzenlos, atemlos, besinnungslos.<br />
Auch geistlos?<br />
II<br />
Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, eine Wan<strong>der</strong>gruppe mit Spitzensportlern<br />
und Behin<strong>der</strong>ten bei Nebel durch unwegsames Gelände zu führen, und zwar so,<br />
dass alle bei bester Laune möglichst gleichzeitig an drei unterschiedlichen Zielorten
- 98 -<br />
ankommen. Dieses Bild benennt kurz und knapp Überfor<strong>der</strong>ung. An Lehrer richten<br />
sich die unterschiedlichsten Erwartungen von Schülern, Eltern, Wirtschaft,<br />
Gesellschaft und Politik. Überfor<strong>der</strong>ung lähmt. Überfor<strong>der</strong>ung zieht nach unten.<br />
Überfor<strong>der</strong>ung geht Menschen auf den Geist. Ain’t gotten no spirit.<br />
Mich hat Schule auch überfor<strong>der</strong>t. Ich habe in meiner Schulkarriere hautnah erlebt,<br />
was Auslesen statt För<strong>der</strong>n bedeutet. Mit 10 Jahren kam ich aufs Gymnasium, vom –<br />
auch sprachlich-platten Land in eine Klasse mit Jungen nur aus <strong>der</strong> Stadt. Hast Du<br />
Schiss?, fragte mich einer. Ich wusste nicht zu antworten, kannte ich den Ausdruck<br />
doch nicht. Überfor<strong>der</strong>ung verschlägt einem im Wortsinn die Sprache. Sie ist dann<br />
nicht mehr bunt und vielgestaltig. Es gilt nur noch, irgendwie user und server<br />
aufeinan<strong>der</strong> zu justieren, um den Code zu entschlüsseln. Dabei schrumpft <strong>der</strong> Geist<br />
bis zur Unkenntlichkeit. Eine wahrhaft gut erfundene Geschichte mag diesen<br />
Zusammenhang illustrieren: Ein Sprachcomputer soll den Satz: Der Geist ist willig,<br />
aber das Fleisch ist schwach zuerst ins Russische und dann zurück ins Deutsche<br />
übersetzen. Das Ergebnis lautet: Der Schnaps ist gut, aber das Fleisch taugt nichts.<br />
Geist verkommt zum Spiritus, zum Sprit. Bis heute kann ich den Geist von Schule<br />
riechen, wenn man mich mit verbundenen Augen hineinführt. Ich rieche und<br />
assoziiere dann das Althochdeutsche geist, nie<strong>der</strong>ländisch geest, englisch ghost von<br />
<strong>der</strong> Wurzel gheis = aufgebracht sein, schau<strong>der</strong>n, erschrecken. Der Geist wird zum<br />
Gespenst.<br />
Wie kommt das – nicht nur sprachlich – überfor<strong>der</strong>te Ich dann noch zu sich selbst?<br />
Wohl nur durch Ichsteigerung. Je<strong>der</strong> Mensch hat doch die Freiheit, etwas aus sich zu<br />
machen. Es scheint doch auf <strong>der</strong> Hand zu liegen, dass ein Menschen das ist, was er<br />
aus sich macht. Man sagt, Freiheit erschöpfe sich in <strong>der</strong> Sorge des Menschen um<br />
sich selbst und man sei dann am Ziel, wenn man es im Leben möglichst weit<br />
gebracht hat. Je<strong>der</strong> ist seines Glückes Schmied. Wer frei sein will, muss bereit sein,<br />
an<strong>der</strong>e Menschen auszunutzen. Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich.<br />
Nur ich denk an mich. Man kann das sagen und schöner noch singen, sogar im<br />
Kanon, so dass ein Wohlklang daraus wird. Aber den Wi<strong>der</strong>spruch singt man nicht<br />
weg. Kein Mensch kann von sich aus sprechen. Er muss zuvor hören. Kein Mensch<br />
kann von sich aus lieben, er muss zuvor geliebt werden. Kein Mensch kann von sich<br />
aus vertrauen, er muss zuvor Vertrauen erfahren. Es überfor<strong>der</strong>t jeden Menschen,<br />
wenn er sich nur um sich selbst drehen, und dabei ein eigenes Ich werden soll.<br />
Was gehört dazu, ein Ich zu werden?<br />
III<br />
Der Herr ist Geist. Geist - hebräisch ruach; griechisch pneuma - hat in <strong>der</strong> Bibel viele<br />
Bedeutungen, nur eine nicht: es heißt dort nie Gespenst. Aber: ruach hat die<br />
Bedeutung Wind, Atem, Geist, Leben, Charisma, Antriebskraft, Energie, Dynamik,<br />
Vitalität...<br />
Beim Propheten Ezechiel befindet sich ein bemerkenswerter Satz (Ez. 1,28b; 2,1f)<br />
Und ich hörte eine Stimme, sprechend. Und sie sprach zu mir: Menschenkind, stell<br />
dich auf deine Füße, ich will mit dir reden! Da kam ruach in mich (Geist, Wind, Atem,<br />
Lebenskraft) und sie (die ruach) stellte mich auf meine Füße, und ich hörte, was er<br />
zu mir sprach.<br />
Wer o<strong>der</strong> was stellt Ezechiel hier auf seine Füße? Er sich selbst? Er hört ja: Stell dich<br />
auf deine Füße. O<strong>der</strong> etwas, das von außen in ihn hin einkommt? Da kam ruach in
- 99 -<br />
mich und stellte mich auf meine Füße. Wer ist Subjekt? Wer tut etwas und mit wem<br />
geschieht etwas? Es bleibt offen, was einer tut und was ihm geschieht. Diese<br />
sprachliche Unschärfe ist wohl so gewollt, die Ungenauigkeit ist Ausdruck höchster<br />
Genauigkeit, stellt <strong>der</strong> Bochumer Alttestamentler Jürgen Ebach zu dieser Stelle fest.<br />
Es bleibt unscharf, was ein Mensch tut und was ihm wi<strong>der</strong>fährt, wenn Gottes Geist<br />
am Werk ist. Wir kennen das auch aus <strong>der</strong> Umgangssprache: Meine Lebensgeister<br />
kehrten zurück, sagen wir o<strong>der</strong> Meine Lebensgeister erwachten wie<strong>der</strong>. Wo Gottes<br />
Geist weht, kommt Leben in uns und die Lebensgeister kehren zurück. Es bedarf<br />
mehr als des Ich, das um sich selber kreist, um zum Ich zu werden, um im Vollsinn<br />
Ich sagen zu können. Das Ich bedarf einer von außen kommenden Kraft, bedarf <strong>der</strong><br />
Kommunikation, <strong>der</strong> Beziehung. Allein auf sich selbst bezogen ist <strong>der</strong> Mensch<br />
eingekrümmt in sich selbst, incurvatus in se ipsum – so definiert Luther Sünde.<br />
Freiheit aber ist ein Geschenk. Freiheit kommt aus Anerkennung. Schon in <strong>der</strong> Taufe<br />
wurde uns gesagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ein<br />
Mensch hat Wert und Würde allein, weil er da ist. Unabhängig von dem, was ein<br />
Mensch aus sich macht, hat er als Person eine unverrechenbare Würde. Wo Gottes<br />
Geist weht, erfahren wir Anerkennung und die weckt unsere Lebensgeister. Gottes<br />
Geist befreit zum Leben. Das Geschenk ist die tiefe Lebensgewissheit, dass wir viel<br />
mehr sind als das, was wir leisten o<strong>der</strong> anrichten. Das Geschenk ist ein getröstetes<br />
Herz. Wo <strong>der</strong> Geist Gottes weht, da kann ein Mensch aufatmen und durchatmen.<br />
Wirklich Ich sagen können ist immer mehr als nur Ich sagen: Ein eigener Mensch<br />
sein können, bedeutet, das Entscheidende empfangen zu haben und immer wie<strong>der</strong><br />
neu zu empfangen. Das schenkt eine unglaubliche Freiheit.<br />
IV<br />
Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Aber we<strong>der</strong> über den Geist des Herrn<br />
noch über die Freiheit können wir einfach verfügen. Wir können sie nicht mitnehmen,<br />
im Pult aufgewahren und jeden Tag ein Stückchen davon abschneiden. Wir leben<br />
von Grundlagen, die uns nicht einfach zur Verfügung stehen. Aber wir können dem<br />
Geist des Herrn Raum geben, damit sein frischer Wind bei uns wehen kann. Wie ihm<br />
Raum geben? Indem wir unter uns eine Mitte frei lassen für Gott; in je<strong>der</strong> Schule zum<br />
Beispiel eine Mitte frei räumen für Gott. Freiheit und Gemeinschaft wachsen dort, wo<br />
es einen Sinn für das Heilige gibt. Aus dieser Mitte wächst eine Freiheit aus Bindung<br />
und eben keine Beliebigkeit. Sie wurzelt in Gott.<br />
Diese Freiheit aus Bindung an Gott führt in die Verantwortung für an<strong>der</strong>e. Wie ein<br />
frischer Luftzug in stickiger Luft befreit sie Menschen. Es ist eine Befreiung, wenn<br />
Menschen selber schreiben, lesen und rechnen können, wenn Menschen sich in <strong>der</strong><br />
Welt orientieren und an<strong>der</strong>en Orientierung geben können. Bildung ist die Grundlage<br />
für die Freiheit, sich in Gesellschaft und Beruf einzubringen. Hingegen wird keine<br />
noch so reformfreudige Schule bei Jugendlichen fruchten, wenn sie in<br />
Arbeitslosigkeit mündet, in <strong>der</strong> Botschaft also: ihr werdet nicht gebraucht. Kein<br />
Mensch darf wegen seiner Herkunft in <strong>der</strong> Entwicklung behin<strong>der</strong>t werden. Darum<br />
setzt <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Freiheit uns an die Arbeit, Menschen durch Bildung von Fesseln<br />
zu befreien.<br />
Nein, wir haben es nicht eine Nummer kleiner: Schule, Freiheit und <strong>der</strong> Geist des<br />
Herrn gehören ganz eng zusammen.<br />
Mit den Worten von Hans Dieter Hüsch:<br />
Wie oft hat er uns verlassen
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<strong>der</strong> Heilige Geist,<br />
das heißt eigentlich<br />
wir haben ihn verlassen;<br />
wie oft hat er es uns schwer gemacht,<br />
das heißt, wir haben es ihm schwer gemacht;<br />
und es gibt ja auch Tage bei uns,<br />
wo wir ihn wirklich nicht spüren mit unserem kleinen<br />
Menschenglauben,<br />
wo wir ihn uns jedes Mal aufs Neue erfühlen müssen<br />
und glücklich sind,<br />
wenn das Schwere plötzlich in uns abfällt<br />
und <strong>der</strong> Geist<br />
hier in uns und bei uns ist und Probleme sich aus dem<br />
Staub machen und die Menschen wie<strong>der</strong><br />
anfangen zu lächeln.<br />
Ja, wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!<br />
Amen.