Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

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Im folgenden Abschnitt gilt es daher herauszuarbeiten, inwieweit das Bewusstsein über die Nicht-Kalkulierbarkeit von Situationen dennoch (oder gerade deshalb) zu einer Kategorie für Vertrauen werden kann. Hierbei gehe ich von folgender These aus: In Situationen einfacher Kontingenz muss ich aufgrund der verfügbaren Informationen eine Entscheidung treffen. Diese Entscheidung fokussiert die Motivationsstruktur des anderen und es bleibt meine Entscheidung, ob ich demjenigen zutraue, dass er entsprechend handelt oder nicht. Situationen, welche doppelt kontingent kodiert sind, müssen mit der Konzeption genuiner Ungewissheit umgehen. Jede Rationalität kann daher nur begrenzte Rationalität sein, und die Komplexität der Situation lässt sich nicht mehr nur über reine Nutzenmaximierung reduzieren. Vertrauen wird damit zu einer Entscheidung unter Ungewissheit in doppelt kontingenten Situationen. Begrenzte Rationalität Kontingent, in der Semantik von Luhmann, ist alles, was nicht notwendig und nicht unmöglich ist. Wenn man nun als Ausgangspunkt menschlichen Handelns die Existenz des Sozialen zugunsten einer prinzipiell rationalistischen Fundierung 79 auflöst, so entsteht letztlich eine Situation vollkommener Kontingenz, in der alles möglich ist, aber deshalb auch alles in Frage gestellt werden muss und letztlich nichts mehr entschieden werden kann. In diesem Sinne argumentiert Kappelhoff (1992), dass jede rein rationalistische Theorie immer nur in einem sozialen Rahmen anwendbar ist bzw. diesen implizit voraussetzt. Ansonsten ist das Soziale, als das Ganze, nicht mehr das „Mehr“ seiner einzelnen Teile, sondern verbleibt als die Summe der Aggregate – bspw. von Ressourcen und Interessen. „Eine Theorie rationalen Handelns, in der die Rationalität ihre Grenzen in der gegebenen Ressourcen-verteilung findet, vertritt sicher nur eine halbierte Rationalität, in der das kritisch reflexive Potential menschlicher Vernunft nicht hinreichend berücksichtigt wird“ (ebd. 224). Die Limitierung der Rationalität, in einem temporär nicht bezweifelten Rahmen, wird damit zu einer notwendigen Voraussetzung für die Überwindung einer prinzipiell rationalistischen Reizüberflutung. „Von daher sind alle Theorien rationalen Handelns notwendig Theorien beschränkter Rationalität“ (ebd. 226, kursiv im Orig.). Auch Zintl (1993) argumentiert, dass es bei einer ökonomischen Analyse eines sozialen Gegenstandes wie Vertrauen unvermeidlich ist, implizite Modifikationen der Annahmen vorzunehmen. Unter rein egoistischen, nutzenmaximierenden Akteuren käme es in einer Welt, 79 ...einer individualistisch rationalistischen Grundlegung des Sozialen schlechthin. 95

in der Informationen kostspielig und die individuellen Informationsverarbeitungskapazitäten begrenzt sind, überhaupt nicht zu modellierbaren Transaktionen. Implizit geht die Modellierung daher von Akteuren aus, deren Opportunismus zwar der jederzeit drohende Ausnahmezustand ist, die jedoch im Übrigen routinemäßig Regeln respektieren. Und vor allem: die genau dasselbe den anderen Akteuren mit Selbstverständlichkeit unterstellen“ (ebd. 112). Im Alltag ist damit das Problem der totalen Kontingenz bereits gelöst, zum Beispiel durch kulturelle Routinen. Das Vertrauensproblem lässt sich aber nicht durch den Verweis auf die prinzipielle Limitierung von Rationalität lösen. Wenn Handlungen durch Routinen oder potentielle Sanktionen vorentschieden sind, werden die Kontingenzen ausgeblendet und damit auch die Vertrauensproblematik. Wenn Situationen entschieden sind bzw. das Risiko für eine Handlung von anderen getragen wird, ist Vertrauen nicht nötig. Doppelte Kontingenz „Alles auf andere Menschen bezogene Erleben und Handeln ist darin doppelt kontingent, dass es nicht nur von mir, sondern auch vom anderen Menschen abhängt, den ich als ebenso frei und ebenso launisch wie mich selbst begreifen muss“ (Luhmann 1972, 62f). Die Freiheit des anderen ist es also, sich prinzipiell auch anders entscheiden zu können. Damit wird Vertrauen zu der Erwartung, dass sich der andere im Sinne der Vertrauensbeziehung und der damit verbundenen Erwartungen entscheidet. In dieser Konzeption kann Freiheit nicht mehr als Risiko definiert werden, als ein Risiko, welches probabilistisch bearbeitbar ist. Diese Freiheit kann nicht mehr auf Wahrscheinlichkeiten reduziert werden. Diese Freiheit ist gerade die Bedingung der Möglichkeit für die Vertrauenswürdigkeit des anderen. Die Erwartung der Vertrauenswürdigkeit des anderen ist damit mehr als eine bloße Prognose. Vertrauen stützt sich dann erstens darauf, dass der Treuhänder meines Vertrauens ebenso seinen Entscheidungen und seinen Erwartungen mein mögliches Verhalten zugrunde legt; sowie zweitens, dass seine Erwartungen auch eine Prognose meiner Erwartungen enthalten (vgl. auch Ziegler 1997, 245). Eine solche Situation lässt sich nicht mehr parametrisch rekonstruieren. Oder in den Worten von Gambetta (1988): „It is necessary not only to trust others before acting cooperatively, but also to believe that one is trusted by others” (216). Vertrauen ist nicht nur eine Kategorie der Erfüllung oder der Wiederkehr des Immergleichen, sondern das gegenseitige Sicheinlassen auf die Ungewissheit des anderen. Damit kommt der Vertrauenswürdigkeit – sowohl der eigenen als auch der des anderen – eine höhere Bedeutung zu als es ökonomische Kalkulationen je erklären können. „Vertrauen kann man nur einer 96

„<strong>in</strong> <strong>der</strong> Informationen kostspielig <strong>und</strong> die <strong>in</strong>dividuellen Informationsverarbeitungskapazitäten<br />

begrenzt s<strong>in</strong>d, überhaupt nicht zu modellierbaren Transaktionen. Implizit geht die<br />

Modellierung daher von Akteuren aus, <strong>der</strong>en Opportunismus zwar <strong>der</strong> je<strong>der</strong>zeit drohende<br />

Ausnahmezustand ist, die jedoch im Übrigen rout<strong>in</strong>emäßig Regeln respektieren. Und vor<br />

allem: die genau dasselbe den an<strong>der</strong>en Akteuren mit Selbstverständlichkeit unterstellen“ (ebd.<br />

112).<br />

Im Alltag ist damit das Problem <strong>der</strong> totalen Kont<strong>in</strong>genz bereits gelöst, zum Beispiel<br />

durch kulturelle Rout<strong>in</strong>en. Das <strong>Vertrauen</strong>sproblem lässt sich aber nicht durch den Verweis auf<br />

die pr<strong>in</strong>zipielle Limitierung von Rationalität lösen. Wenn Handlungen durch Rout<strong>in</strong>en o<strong>der</strong><br />

potentielle Sanktionen vorentschieden s<strong>in</strong>d, werden die Kont<strong>in</strong>genzen ausgeblendet <strong>und</strong> damit<br />

auch die <strong>Vertrauen</strong>sproblematik. Wenn Situationen entschieden s<strong>in</strong>d bzw. das Risiko für e<strong>in</strong>e<br />

Handlung von an<strong>der</strong>en getragen wird, ist <strong>Vertrauen</strong> nicht nötig.<br />

Doppelte Kont<strong>in</strong>genz<br />

„Alles auf an<strong>der</strong>e Menschen bezogene Erleben <strong>und</strong> Handeln ist dar<strong>in</strong> doppelt<br />

kont<strong>in</strong>gent, dass es nicht nur von mir, son<strong>der</strong>n auch vom an<strong>der</strong>en Menschen abhängt, den ich<br />

als ebenso frei <strong>und</strong> ebenso launisch wie mich selbst begreifen muss“ (Luhmann 1972, 62f). Die<br />

Freiheit des an<strong>der</strong>en ist es also, sich pr<strong>in</strong>zipiell auch an<strong>der</strong>s entscheiden zu können. Damit wird<br />

<strong>Vertrauen</strong> zu <strong>der</strong> Erwartung, dass sich <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> <strong>Vertrauen</strong>sbeziehung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

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Risiko def<strong>in</strong>iert werden, als e<strong>in</strong> Risiko, welches probabilistisch bearbeitbar ist. Diese Freiheit<br />

kann nicht mehr auf Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten reduziert werden. Diese Freiheit ist gerade die<br />

Bed<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Möglichkeit für die <strong>Vertrauen</strong>swürdigkeit des an<strong>der</strong>en.<br />

Die Erwartung <strong>der</strong> <strong>Vertrauen</strong>swürdigkeit des an<strong>der</strong>en ist damit mehr als e<strong>in</strong>e bloße<br />

Prognose. <strong>Vertrauen</strong> stützt sich dann erstens darauf, dass <strong>der</strong> Treuhän<strong>der</strong> me<strong>in</strong>es <strong>Vertrauen</strong>s<br />

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legt; sowie zweitens, dass se<strong>in</strong>e Erwartungen auch e<strong>in</strong>e Prognose me<strong>in</strong>er Erwartungen<br />

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rekonstruieren. O<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Worten von Gambetta (1988): „It is necessary not only to trust<br />

others before act<strong>in</strong>g cooperatively, but also to believe that one is trusted by others” (216).<br />

<strong>Vertrauen</strong> ist nicht nur e<strong>in</strong>e Kategorie <strong>der</strong> Erfüllung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kehr des Immergleichen,<br />

son<strong>der</strong>n das gegenseitige Siche<strong>in</strong>lassen auf die Ungewissheit des an<strong>der</strong>en. Damit kommt <strong>der</strong><br />

<strong>Vertrauen</strong>swürdigkeit – sowohl <strong>der</strong> eigenen als auch <strong>der</strong> des an<strong>der</strong>en – e<strong>in</strong>e höhere Bedeutung<br />

zu als es ökonomische Kalkulationen je erklären können. „<strong>Vertrauen</strong> kann man nur e<strong>in</strong>er<br />

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