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Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

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E<strong>in</strong>leitung<br />

E<strong>in</strong>e dpa- Meldung <strong>in</strong> <strong>der</strong> FAZ vom Freitag 26. Mai 2000 (S.10) lautet:<br />

„Nicht vorsätzlich e<strong>in</strong> Leben opfern“, kurz zusammengefasst be<strong>in</strong>haltet <strong>der</strong> Artikel Folgendes:<br />

E<strong>in</strong>e Operation zur Trennung siamesischer Zwill<strong>in</strong>ge hat <strong>in</strong> Italien e<strong>in</strong>en heftigen Streit<br />

unter Ärzten hervorgerufen. Die Mutter <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> die Mediz<strong>in</strong>er sehen e<strong>in</strong>e Operation als<br />

letzte Hoffnung auf Rettung. Allerd<strong>in</strong>gs steht fest, dass nur e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> beiden drei Monate alten<br />

Mädchen gerettet werden kann, die an<strong>der</strong>e Schwestern muss geopfert werden. Die Frage<br />

lautet: Unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff vertretbar?<br />

Die Ärzte haben bereits e<strong>in</strong>e Wahl getroffen, welches <strong>der</strong> beiden Mädchen das e<strong>in</strong>zige<br />

Herz erhalten wird. Nämlich dasjenige, welches die Stärkere <strong>der</strong> Schwestern ist. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Entscheidung weigerte sich e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> betroffenen Ärzte jedoch mitzumachen, weil er es<br />

moralisch nicht verantworten kann, vorsätzlich e<strong>in</strong> Menschenleben zu opfern. Daraufh<strong>in</strong><br />

wurde ihm von mehreren Seiten vorgeworfen, dass er sich se<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen Verantwortung<br />

entziehe. Was <strong>der</strong> Autor des Artikels nicht wusste: noch bevor die Operation am 29. Mai<br />

vorgenommen werden konnte, verstarben beide K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Was hat das mit <strong>Vertrauen</strong> zu tun o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gefragt, wie viel verschiedene Facetten<br />

hat <strong>Vertrauen</strong> <strong>in</strong> dieser kurzen Geschichte? Da ist die Mutter, welche aus e<strong>in</strong>em Slum <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Nähe von Lima stammt <strong>und</strong> um die halbe Welt gereist ist, um Hilfe zu f<strong>in</strong>den. Sie hofft auf<br />

jeden Strohhalm, <strong>der</strong> im Wasser treibt <strong>und</strong> vertraut darauf, dass es jemanden geben wird, <strong>der</strong><br />

ihr helfen kann. Da s<strong>in</strong>d die Ärzte, welche die Entscheidung treffen, das stärkere Mädchen auf<br />

Kosten des schwächeren zu opfern. Sie vertrauen darauf, dass erstens die mediz<strong>in</strong>ische<br />

Entscheidung mit all ihren Risiken die richtige ist <strong>und</strong> zweitens vertrauen sie darauf, dass diese<br />

Wahl auch moralisch <strong>in</strong>teger ist. D.h. sie vertrauen darauf, dass, wenn es e<strong>in</strong>e Abwägung von<br />

Leben im S<strong>in</strong>ne von entwe<strong>der</strong>–o<strong>der</strong> gibt, man auf den biologisch Stärkeren setzen darf, da<br />

dieser vielleicht e<strong>in</strong>e höhere Chance hat, überhaupt überleben zu können. Dass dies letztlich<br />

e<strong>in</strong> völlig willkürliches Kriterium ist, steht damit nicht zur Debatte, denn schließlich könnte<br />

man ja auch das Kriterium aufstellen, dass das hübschere o<strong>der</strong> das vermutlich <strong>in</strong>telligentere<br />

Mädchen gerettet werden muss. Die Ärzte verlassen sich also darauf, dass das Kriterium:<br />

„wenn schon Leben, dann das stärkere K<strong>in</strong>d“ richtig ist. E<strong>in</strong>e Entscheidung, die <strong>in</strong> dieser Art<br />

von besagtem an<strong>der</strong>en Arzt gerade nicht geteilt wird. Aber auf welche Kriterien vertraut er?<br />

Warum sche<strong>in</strong>t für ihn e<strong>in</strong>e Relativierung von Leben ethisch <strong>und</strong> moralisch nicht möglich zu<br />

se<strong>in</strong>, während an<strong>der</strong>e Ärzte vom genauen Gegenteil überzeugt s<strong>in</strong>d? Die Konsequenz für ihn ist<br />

es, nicht e<strong>in</strong>zugreifen <strong>und</strong> die Zwill<strong>in</strong>ge ihrem Schicksal zu überlassen, im <strong>Vertrauen</strong> darauf,<br />

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