Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

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01.12.2014 Aufrufe

Ein Beispiel für Erstens wäre die Mafia, wo es ausgesprochen wahrscheinlich ist, dass die einzelnen Mitglieder dem ihnen entgegengebrachten Vertrauen gerecht werden wollen. Dadurch, dass das Netz der Verpflichtung und Überwachung sehr eng ist, kann man eben eher davon ausgehen, dass bestehende Versprechen gehalten, als nicht gehalten werden. Bei der zweiten Frage nach der tatsächlich „umgesetzten“ Menge an gegenseitigen Verpflichtungen mag man sich klassische Familienoberhäupter von hierarchisch strukturierten und ausgedehnten Familien vorstellen. Diese verfügen oft über eine außerordentlich große Menge an „Gutschriften“ über vormals eingegangene Verpflichtungen, die sie nach Bedarf auch entsprechend einlösen (C 399). Die „Spielregeln“ für die Erzeugung sozialen Kapitals sind wohl nicht exakt im Voraus bestimmbar, sie werden einem jedoch sehr schnell bewusst, wenn man sie über- oder auch unterschreitet. Überdimensionierte Vorleistungen, mit denen sich ein Nachbar bspw. im Voraus – vielleicht, weil er gerade Zeit hat – ein Kapital für zukünftige schlechte Zeiten ansammeln möchte, sind dabei ebenso fragwürdig wie ein Zuviel an Gegenleistung, die den Treugeber vielleicht gerade dadurch beschämen sollen. Luhmann folgert daraus für manche Situationen der Rat, dass man fremdem Vertrauen, dem man nicht gewachsen ist, nach Möglichkeit entschlüpfen soll. Er bestärkt die Aussage mit den Memoiren von Tirpitz, der die „leichte Ungnade“ als das günstigste Verhältnis zum Monarchen definierte (Luhmann 1989, 47). Folgerung Vertrauen ist ein Mechanismus, der Handeln ermöglicht, indem er die Komplexität der Umwelt reduziert. Diese Reduktion ist ein Zusammenspiel zwischen sozial existenten Handlungsmustern und individuellen Entscheidungen innerhalb dieser Strukturen 9 . Vertrauen stellt sich insofern als Problem dar, dass das Gewähren von Vertrauen mit einer Vorleistung verknüpft ist, welche Erwartungen und Hoffnungen auf eine Gegenleistung in der Zukunft erzeugt. Indem sich die Akteure auf dieser Basis gegenseitig Kredit gewähren, schaffen und erhalten sie soziales Kapital. Dieses Kapital möchte ich als einen Spielraum bezeichnen, innerhalb dessen spezielle Gesetze herrschen, welche durch die beteiligten Akteure implizit oder in bestimmten Maße auch explizit ausgehandelt wurden. Der „Abrechnungsmodus“ von Leistungen wird unter der Perspektive des sozialen Kapitals ein anderer sein als ohne dieses 9 Insofern reduzieren soziale Räume immer schon Komplexität: die sozialen Spielregeln sind auf dem Land anders als in der Stadt, in einer Armee anders als in einem modernen IT-Unternehmen. 19

Kapital. Wenn Nachbarschaft in einem solidarischen Sinne funktioniert, dann muss man nicht (mehr) kalkulieren um zu helfen oder helfen um zu kalkulieren. 10 Ein weiteres Beispiel soll das bisher Gesagte abrunden und zum nächsten Abschnitt überleiten: Coleman (C 393 u. 400) stellt fest, dass üblicherweise das Verhältnis zwischen Arzt und Patient als eine Beziehung bestand, in welcher der Patient dem Arzt Vertrauen schenkt. Der Arzt besaß die Kontrolle über die Ereignisse, die über Leben und Tod entscheiden, so dass die Patienten sich in einer „unermesslichen Schuld“ gegenüber dem Arzt empfanden, was sie durch hohe Bezahlung, Dankbarkeit, Ehrerbietung und hohem beruflichen Prestige parierten. Allerdings hat sich dieses Verhältnis in den USA dahingehend gewandelt, dass immer mehr Patienten Ärzte wegen Fahrlässigkeit verklagten. Dies wiederum hat zu einer Verteuerung bestimmter medizinischer Behandlungen geführt, so dass einige Ärzte ihre Privatpraxen aufgegeben haben, bis hin zur Weigerung von Geburtshelfern, Rechtsan-wältinnen oder Ehefrauen von Rechtsanwälten als Patienten zu behandeln. Resultat: Ein Mangel an sozialen Beziehungen, welche auf Vertrauen aufgebaut waren, führt zu vermehrten Kosten und reduzierter medizinischer Versorgung. Auch Preisendörfer (1995, 265) bedient sich desselben Beispiels und bietet für die Seite des Patienten vier Lösungsmöglichkeiten an, einer „Übervorteilung“ durch den Arzt zu entgehen. Erstens könnte man die Beziehung zu Ärzten ganz meiden, sicherheitshalber verbunden mit einer Ausbildung zum Laienmediziner. Zweitens könnte man eine Risikostreuung vornehmen, indem man Diagnosen und Rezepten nur dann vertraut, wenn man sich mehreren Ärzten gleichzeitig „ausgesetzt“ hat. Der Versuch einer Personalisierung der Arzt-Patienten-Beziehung als dritter Weg durch gemeinsame Segeltouren und Golfspielen ließe immer noch ein Restrisiko verbleiben, und viertens vor jeder Behandlung auf eine vertragliche Regelung zu drängen, bedarf einerseits eines gewissen juristischen Sachverstandes und andererseits des Vertrauens in das Funktionieren übergeordneter Instanzen der Rechtsprechung. Coleman bietet als Alternative zu dieser kostspieligen Erosionsdynamik von Vertrauens-beziehungen die soziale Erfindung der Organisation an, deren Strukturelemente nicht mehr aus Personen bestehen, sondern aus Positionen (C 416). Damit wird eine Form sozialen Kapitals geschaffen, die ihre Stabilität auch angesichts instabiler Individuen bewahren kann. Der Patient muss nicht stets aufs neue mit seinem Arzt verhandeln, sondern kann sich 10 Die Erwünschtheit einer sozialen Norm ist aber kein hinreichender Grund für ihre Existenz. So mag man einsehen, dass Tempo 50 eigentlich zu schnell für ein Wohnbereich ist, diese Einsicht allein ist jedoch nicht hinreichend für viele Autofahrer dies deswegen zu unterlassen - dazu jedoch später ausführlicher. 20

Kapital. Wenn Nachbarschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solidarischen S<strong>in</strong>ne funktioniert, dann muss man nicht<br />

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überleiten: Coleman (C 393 u. 400) stellt fest, dass üblicherweise das Verhältnis zwischen Arzt<br />

<strong>und</strong> Patient als e<strong>in</strong>e Beziehung bestand, <strong>in</strong> welcher <strong>der</strong> Patient dem Arzt <strong>Vertrauen</strong> schenkt.<br />

Der Arzt besaß die Kontrolle über die Ereignisse, die über Leben <strong>und</strong> Tod entscheiden, so dass<br />

die Patienten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „unermesslichen Schuld“ gegenüber dem Arzt empfanden, was sie<br />

durch hohe Bezahlung, Dankbarkeit, Ehrerbietung <strong>und</strong> hohem beruflichen Prestige parierten.<br />

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Auch Preisendörfer (1995, 265) bedient sich desselben Beispiels <strong>und</strong> bietet für die Seite<br />

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entgehen. Erstens könnte man die Beziehung zu Ärzten ganz meiden, sicherheitshalber<br />

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Risikostreuung vornehmen, <strong>in</strong>dem man Diagnosen <strong>und</strong> Rezepten nur dann vertraut, wenn man<br />

sich mehreren Ärzten gleichzeitig „ausgesetzt“ hat. Der Versuch e<strong>in</strong>er Personalisierung <strong>der</strong><br />

Arzt-Patienten-Beziehung als dritter Weg durch geme<strong>in</strong>same Segeltouren <strong>und</strong> Golfspielen<br />

ließe immer noch e<strong>in</strong> Restrisiko verbleiben, <strong>und</strong> viertens vor je<strong>der</strong> Behandlung auf e<strong>in</strong>e<br />

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<strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits des <strong>Vertrauen</strong>s <strong>in</strong> das Funktionieren übergeordneter Instanzen <strong>der</strong><br />

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Coleman bietet als Alternative zu dieser kostspieligen Erosionsdynamik von<br />

<strong>Vertrauen</strong>s-beziehungen die soziale Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Organisation an, <strong>der</strong>en Strukturelemente<br />

nicht mehr aus Personen bestehen, son<strong>der</strong>n aus Positionen (C 416). Damit wird e<strong>in</strong>e Form<br />

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kann. Der Patient muss nicht stets aufs neue mit se<strong>in</strong>em Arzt verhandeln, son<strong>der</strong>n kann sich<br />

10 Die Erwünschtheit e<strong>in</strong>er sozialen Norm ist aber ke<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichen<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> für ihre Existenz. So mag man<br />

e<strong>in</strong>sehen, dass Tempo 50 eigentlich zu schnell für e<strong>in</strong> Wohnbereich ist, diese E<strong>in</strong>sicht alle<strong>in</strong> ist jedoch nicht<br />

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