Vertrauen und Vertrauensspielräume in Zeiten der Unkontrollierbarkeit

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„Die Utopie vom totalen Unternehmertum ignoriert die institutionelle Strukturierung von Lebensläufen und die Unverzichtbarkeit sozialer Sicherheit für zivilisierte Lebensformen. Sie macht die Beweglichkeit des Geldes zum Maßstab für die Flexibilität des Menschen, ein Rennen, das für das sterbliche, verletzliche, auf Hilfe anderer Menschen angewiesene irdische Individuum ausgehen muss wie der Wettlauf des Hasen mit dem Igel. ... (In Konsequenz werden sie, d. Verf.) ein Gefühl permanenten Ungenügens und Versagens entwickeln“ (Deutschmann 1999, 168f). Arbeitnehmer werden zukünftig also nur noch eine Chance haben, wenn sie selbst zu Unternehmern mutieren. Die Konsequenz eines ausschließlich unternehmerischen Handelns wird dann nichts anderes sein als eine individualistische Gesellschaft. Die permanente Revolutionierung der wirtschaftlichen Struktur, die von den Unternehmen betrieben wird, schlägt zwangsläufig zunächst auf die sozialen Verhältnisse und am Ende auf sie selbst zurück. Das Geld in der modernen Gesellschaft ist das allgemeine Mittel, das aufgrund seiner Allgemeinheit seinen Mittelcharakter verliert. Es ist dadurch in der Lage, alle Sinndimensionen zu umfassen und macht damit den finanziellen Erfolg zum unmittelbaren Maßstab allen sozialen Handelns schlechthin (vgl. ebd. 162). Wenn Geld, Erfolg und Macht zu den einzig wirksamen Antriebskräften werden, dann ist das sozialdarwinistische Szenario schon Realität. Die „Starken“ setzen sich durch, die „Schwachen“ müssen sehen, wie sie mit Billigjobs oder Sozialhilfe zurecht kommen. Ein solcher Neoliberalismus bringt die „Individualisierung“ auf den Punkt: jeder ist sich selbst der Nächste und der Markt allein entscheidet. Wenn die rücksichtslose Verfolgung der Eigeninteressen und die Konkurrenz um Geld und Macht die allein bestimmenden Handlungsalternativen sind, stellt sich die Frage, wie durch diese Variante eines gesellschaftlichen Naturzustandes überhaupt soziales Kapital gebildet werden kann. Wie soll eine Gesellschaft – als Gesellschaft – noch zusammengehalten werden? Woher sollen die sozialen Ressourcen kommen, die einen verträglichen Umgang der Menschen untereinander sichern? 115 Woher soll die Bereitschaft zu sozialem Engagement, woher die Fähigkeit zur Kooperation kommen? (vgl. Bergmann 1998, 336) Die Forderung der Personalchefs, nur noch sozial kompetente Akteure einzustellen, die per se über ein derartiges soziales Kapital verfügen, ist als kurzfristige Aktion nachvollziehbar, da soziales Kapital kaufen billiger ist, als es selbst herzustellen, auf lange Sicht kann es nicht funktionieren – und wenn doch, werden die Kosten anderswo anfallen. 115 Vgl. bspw. den sozialen Verpflichtungscharakter von Verpflichtungen. 139

Jenseits eines reinen Opportunismus‘ Abraham Lincoln (16. Präsident der USA 1860-1865) drückte es wie folgt aus: „Schafft die Zölle ab und unterstützt den Freihandel, dann werden unsere Arbeiter in jedem Bereich der Wirtschaft wie in Europa auf das Niveau von Leibeigenen und Paupern heruntergebracht“ (zit. n. Martin/ Schumann 2000, 137). Das Dilemma um die Grenzenlosigkeit des Marktes ist nicht gerade neu, und dass der Markt allein keine gerechte Verteilung – auch nicht der Arbeit schaffen kann, ist als Aussage eigentlich trivial, da Gerechtigkeit überhaupt keine Kategorie des Marktes darstellt. Die Argumentation für die Notwendigkeit eines politischen Rahmens, in dem die Wirtschaft agieren kann, muss folglich aus einer anderen Richtung kommen. Es gilt aufzuzeigen, auf wessen Kosten sich der freie Markt entwickelt und inwieweit Kultur, Gesellschaft und Politik nur noch zu Restgrößen globaler Wirtschaftsprozesse werden. „Der real existierende Kapitalismus braucht, wenn er nicht an fühlloser Kälte zugrunde gehen soll, außer der unsichtbaren Hand des Marktes auch ein sichtbares Herz“ (Sommer 2000, 1). Aufgrund wirtschaftlicher Krisen, und hierbei insbesondere aufgrund der verfestigten Arbeitslosigkeit, sind über die Jahre die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftlichen Voraussetzungen, auf die ein funktionsfähiger Markt angewiesen ist, brüchig geworden. „Wenn ich nämlich auf einen Wochenmarkt gehe, erwarten die Gemüsehändler und der Obsthändler von mir, dass ich ihren Stand nicht umwerfe; ich erwarte von ihnen, dass sie mich nicht jedes Mal über den Tisch ziehen. Treu und Glauben oder die guten Sitten nennen ehrbare Kaufleute solche verlässliche Erwartungen. Wenn umgekehrt immer mehr private Sheriffs an den Kaufhaustüren den Ladendiebstahl einzudämmen suchen, dann sind sie nicht bloß eine Antwort auf die Nachfrage der Geschäftsleute, sondern der Ausdruck einer wachsenden Schieflage der Einkommensverteilung“ (Hengsbach 1999, 118). Kann es eine neoliberale Variante der Zivilgesellschaft überhaupt geben, wenn „Selbstverantwortung“ und „Zivilgesellschaft“ nur beschönigende Worte für eine Politik sind, welche die Kosten und Probleme auf den so genannten selbstverantwortlichen Bürger abwälzt: „Hier wird das hohe Wort der Selbstverantwortung missbraucht und Individuen werden zu Müllschluckern aller sozialen und ökonomischen Folgeprobleme privater Gewinnmaximierung und des Staatsabbaus gemacht“ (Beck 2000,11). Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt allerdings die Forderung nach Bürgerarbeit dar. Bürgerarbeit ist dann das freiwillige soziale Engagement jenseits von Erwerbsarbeit und Freizeitbeschäftigung. Sie ist gemeinwohlorientiert und soll nichtmarktgängige Tätigkeitsfelder erschließen und so die Folgen des Bedeutungsschwunds 140

„Die Utopie vom totalen Unternehmertum ignoriert die <strong>in</strong>stitutionelle Strukturierung<br />

von Lebensläufen <strong>und</strong> die Unverzichtbarkeit sozialer Sicherheit für zivilisierte Lebensformen.<br />

Sie macht die Beweglichkeit des Geldes zum Maßstab für die Flexibilität des Menschen, e<strong>in</strong><br />

Rennen, das für das sterbliche, verletzliche, auf Hilfe an<strong>der</strong>er Menschen angewiesene irdische<br />

Individuum ausgehen muss wie <strong>der</strong> Wettlauf des Hasen mit dem Igel. ... (In Konsequenz<br />

werden sie, d. Verf.) e<strong>in</strong> Gefühl permanenten Ungenügens <strong>und</strong> Versagens entwickeln“<br />

(Deutschmann 1999, 168f). Arbeitnehmer werden zukünftig also nur noch e<strong>in</strong>e Chance haben,<br />

wenn sie selbst zu Unternehmern mutieren. Die Konsequenz e<strong>in</strong>es ausschließlich<br />

unternehmerischen Handelns wird dann nichts an<strong>der</strong>es se<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividualistische<br />

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Die permanente Revolutionierung <strong>der</strong> wirtschaftlichen Struktur, die von den<br />

Unternehmen betrieben wird, schlägt zwangsläufig zunächst auf die sozialen Verhältnisse <strong>und</strong><br />

am Ende auf sie selbst zurück. Das Geld <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft ist das allgeme<strong>in</strong>e<br />

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unmittelbaren Maßstab allen sozialen Handelns schlechth<strong>in</strong> (vgl. ebd. 162). Wenn Geld, Erfolg<br />

<strong>und</strong> Macht zu den e<strong>in</strong>zig wirksamen Antriebskräften werden, dann ist das sozialdarw<strong>in</strong>istische<br />

Szenario schon Realität. Die „Starken“ setzen sich durch, die „Schwachen“ müssen sehen, wie<br />

sie mit Billigjobs o<strong>der</strong> Sozialhilfe zurecht kommen.<br />

E<strong>in</strong> solcher Neoliberalismus br<strong>in</strong>gt die „Individualisierung“ auf den Punkt: je<strong>der</strong> ist sich<br />

selbst <strong>der</strong> Nächste <strong>und</strong> <strong>der</strong> Markt alle<strong>in</strong> entscheidet. Wenn die rücksichtslose Verfolgung <strong>der</strong><br />

Eigen<strong>in</strong>teressen <strong>und</strong> die Konkurrenz um Geld <strong>und</strong> Macht die alle<strong>in</strong> bestimmenden<br />

Handlungsalternativen s<strong>in</strong>d, stellt sich die Frage, wie durch diese Variante e<strong>in</strong>es<br />

gesellschaftlichen Naturzustandes überhaupt soziales Kapital gebildet werden kann. Wie soll<br />

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sozialen Ressourcen kommen, die e<strong>in</strong>en verträglichen Umgang <strong>der</strong> Menschen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

sichern? 115 Woher soll die Bereitschaft zu sozialem Engagement, woher die Fähigkeit zur<br />

Kooperation kommen? (vgl. Bergmann 1998, 336) Die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Personalchefs, nur noch<br />

sozial kompetente Akteure e<strong>in</strong>zustellen, die per se über e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges soziales Kapital<br />

verfügen, ist als kurzfristige Aktion nachvollziehbar, da soziales Kapital kaufen billiger ist, als<br />

es selbst herzustellen, auf lange Sicht kann es nicht funktionieren – <strong>und</strong> wenn doch, werden die<br />

Kosten an<strong>der</strong>swo anfallen.<br />

115 Vgl. bspw. den sozialen Verpflichtungscharakter von Verpflichtungen.<br />

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