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Bitter ist nicht das Gegenteil von süß! Indes - Glashütte Original

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3·2008<br />

Momentum<br />

W I N T E R<br />

MAGAZIN FÜR ZEITZEUGEN & MOMENTAUFNAHMEN<br />

Schreiben<br />

im Takt<br />

Isabel Allende über den<br />

Rhythmus <strong>von</strong> Leben und Literatur


Perfekt ausgestattet. Einfach komfortabler.<br />

Der neue Art SL mit nur 90 mm Gerätetiefe.<br />

Mit Art SL präsentiert Loewe einen Fernseher in ultraschlankem Slimline-Design. Doch trotz<br />

weniger als 90 mm Gerätetiefe müssen Sie <strong>nicht</strong> auf eine umfangreiche Ausstattung verzichten.<br />

Von der Full-HD-Aufl ösung über die innovative 100Hz Technologie bis hin zur 24p Kinofi lmdarstellung<br />

<strong>ist</strong> alles an Bord. Der Empfang <strong>von</strong> HDTV-Bildern <strong>ist</strong> ebenso integriert wie deren Aufnahme,<br />

über den Festplattenrecorder mit 250 GB. Mehr Informationen unter www.loewe.de


Dr. Frank Müller,<br />

Geschäftsführer <strong>Glashütte</strong> <strong>Original</strong><br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

Womöglich überrascht es Sie, <strong>von</strong> uns ein Magazin geschenkt zu bekommen,<br />

<strong>das</strong> sich scheinbar nur nebenbei mit Uhren beschäftigt. Doch <strong>das</strong><br />

hat seinen guten Grund: Mit Momentum möchten wir als <strong>Glashütte</strong>r<br />

Uhrenmanufaktur weniger unsere feinen Uhren, sondern <strong>das</strong> faszinierende Thema der<br />

Zeit mit all ihren vielseitigen Facetten an sich thematisieren.<br />

Mit dieser Ausgabe haben wir etwas zu feiern: Zehn Mal <strong>ist</strong> Momentum nun schon<br />

erschienen. Üblich wäre jetzt ein aufgepepptes Jubiläumsheft; stattdessen lassen wir Sie<br />

teilhaben u.a. an der traditions reichen Bäderkultur in Japan und an etwas, <strong>das</strong> uns<br />

allzeit auf Schritt und Tritt begleitet – me<strong>ist</strong>erliches Schuhwerk. Zudem gehen wir einen<br />

Schritt voran, in Richtung Nachhaltigkeit – mit einem zusätz lichen kleinen Geschenk<br />

an die Natur und somit die Menschheit: Ab dieser Ausgabe halten Sie ein Momentum aus<br />

umweltzertifiziertem Luxo-Satin-Papier in der Hand.<br />

Viel Freude mit diesem Geschenk wünscht Ihnen<br />

Zehnte Ausgabe Editorial<br />

Momentum 3· 2008 3


Titel: © 2008 Lori Barra<br />

4<br />

Spektrum Inhalt<br />

Spektrum Momentum<br />

08<br />

INTERVIEW<br />

Sie <strong>ist</strong> die berühmteste zeitgenössische Schriftstellerin<br />

weltweit – und trotzdem <strong>nicht</strong> den Verfüh -<br />

rungen des Ruhms verfallen. Ein Gespräch mit<br />

Isabel Allende über Familie, Zeit und Ge<strong>ist</strong>er<br />

NOVUM<br />

KULTURNEWS ................................................................................................06<br />

Sehens- und Erlebenswertes rund um den Globus<br />

ZEITZEUGE<br />

„DIE WELT IST EIN GEHEIMNISVOLLER ORT“ ...............................08<br />

Ein Interview mit der Schriftstellerin Isabel Allende<br />

MOMENTE<br />

ZAHN DER ZEIT .............................................................................................14<br />

Was bleibt übrig <strong>von</strong> den Schriftstücken, Bildern, Filmen unserer Epoche?<br />

ZEITZONEN<br />

JAPAN UNTER DAMPF .................................................................................20<br />

Sehr beliebt, entspannend und gesund – die Onsen-Thermen<br />

KALENDARIUM<br />

NEUIGKEITEN VON GLASHÜTTE ORIGINAL ......................................27<br />

Don Kosaken im Atrium; Mu<strong>nicht</strong>ime & Viennatime; Buchtipp<br />

MANU FACTUM<br />

DIE KUNST DER GRAVUR ..........................................................................28<br />

Wie <strong>das</strong> uralte Handwerk der Gravur die Zeit überdauert<br />

Momentum 3· 2008<br />

3·2008<br />

14<br />

SPEICHERMEDIEN<br />

Vorbei die Zeit der großen Bibliotheken<br />

– Schriftstücke, Bilder, Filme werden auf<br />

immer kompakteren Medien ge speichert.<br />

Doch die Haltbarkeit <strong>ist</strong> oft fragwürdig ...<br />

20<br />

JAPAN<br />

Onsen-Thermen bieten Japanern und ausländischen<br />

Gästen wunderbare Entspannung.<br />

Über die Faszination des heißen Wassers –<br />

und was der Besucher wissen sollte<br />

ZEITSTRÖMUNG<br />

SCHUHE FÜR DEN HERRN ........................................................................34<br />

Exklusive Schuhmanufakturen zeigen ihre edelsten Stücke<br />

TENDENZ<br />

BITTE SEHR, DANKE SCHÖN ..................................................................40<br />

Was schenkt man wem wo? Die Zeremonie des Gebens und ihre Regeln<br />

STIL DER ZEIT<br />

SCHWARZE MAGIE ......................................................................................44<br />

Mal feurig, mal zartschmelzend, immer sinnlich – Schoko-Kreationen<br />

ZEITFENSTER<br />

ZAHLEN & FAKTEN ......................................................................................48<br />

Verblüffend, erschreckend, kurios ...<br />

MOMENTAUFNAHME<br />

LICHT INS DUNKEL .....................................................................................49<br />

Innovative Sixties: Leuchtreifen fürs Auto


28<br />

GRAVUREN<br />

Ob auf Metall, Glas oder Stein – die Kunst<br />

des Gravierens wird <strong>von</strong> Generation<br />

zu Generation weitergereicht. Und doch<br />

gehen die Me<strong>ist</strong>er des verzierenden<br />

Handwerks mit der Zeit<br />

FRANCOISE<br />

HAUSER<br />

<strong>ist</strong> freie Journal<strong>ist</strong>in<br />

und Buchautorin mit<br />

dem Schwerpunkt<br />

Asien und schreibt<br />

für diverse Online-<br />

Magazine und zahl -<br />

reiche Reisezeit schriften.<br />

Für Momentum<br />

hat sie sich in die<br />

hei ßen Fluten der<br />

japani schen Thermalbäder<br />

begeben, ab<br />

Seite 20<br />

ANDREAS<br />

ACHMANN<br />

hat sich als Fotograf<br />

auf Stillife spezialisiert<br />

und setzt Objekte ge -<br />

konnt in Szene. Seine<br />

Fotos sind in internatio<br />

nalen Zeitschriften<br />

zu sehen. Für Momentum<br />

nahm er sich der<br />

exklusiven Herrenschuhe<br />

an und prä sentiert<br />

sie vor unge wöhnlichem<br />

Hintergrund,<br />

ab Seite 34<br />

34<br />

SCHUHE<br />

Hochwertiges Schuhwerk gehört zum<br />

Outfit des Gentlemans wie der edle Anzug<br />

und die feine Armbanduhr. Momentum<br />

präsentiert eine hochkarätige Auswahl<br />

<strong>von</strong> Schuhen für den Herrn<br />

44<br />

40<br />

SCHOKOLADE<br />

Vollmilch-Nuss? Das war einmal –<br />

die Chocolatiers <strong>von</strong> heute zaubern<br />

sinnliche Kreationen, die wahre<br />

Geschmackskunstwerke sind<br />

SCHENKEN<br />

Die Tradition des Gebens und Nehmens reicht<br />

lange zurück – und <strong>ist</strong> alles andere als einfach.<br />

Um Fettnäpfchen bei Gastge schenken weltweit<br />

zu vermeiden, sollte man einige länderspezifi<br />

sche Eigenheiten kennen


Novum Kultur<br />

Prämierte Momente<br />

Eindrücklich, faszinierend, nachdenklich: Aus<br />

zehn verschiedenen Bereichen prämiert die<br />

Stif tung World Press Photo jährlich die besten<br />

Pressefotos. Die Ausstellung geht rund um die<br />

Welt, zum intensiven Betrachten der Bilder gibt<br />

es zudem <strong>das</strong> World Press Photo Yearbook.<br />

Auf den Bildern links: Schulmädchen auf dem<br />

Land in der Osttürkei, 1. Preis in der Kategorie<br />

Fotoserien, Rubrik Porträt.<br />

AUSSTELLUNG: 15.11.–8.12. LUCCA, ITALIEN; 19.–30.11. OITA, JAPAN; 28.11.–21.12. OPOLE, POLEN; 8.–30.12.<br />

LJUBLJANA, SLOWENIEN; 20.12.–18.1.2009, KAPFENBERG, ÖSTERREICH. INFOS: WWW.WORLDPRESSPHOTO.ORG<br />

DAS BUCH „WORLD PRESS PHOTO 08“ IST IN DER EDITION BRAUS, WACHTER VERLAG, ERSCHIENEN, 160 SEITEN, 24 EURO<br />

6 Momentum 3· 2008<br />

Der Preis geht<br />

nach Tallinn<br />

Das junge Kumu Art Museum in Tallinn<br />

hat es geschafft: Unter 38 Bewerbungen<br />

<strong>von</strong> Museen aus 22 Ländern erhielt es<br />

den „European Museum of the Year<br />

Award 2008“ – und damit die Bronzeskulptur<br />

„The Egg“ <strong>von</strong> Henry Moore als<br />

Leih gabe. Mit seiner ungewöhnlichen<br />

Architektur – halbmondförmig mit scharf -<br />

kantigem Ende – und einer Ausstellungsfläche<br />

<strong>von</strong> 5.000 qm, auf der estnische<br />

Kunst vom 18. Jahrhundert bis heute<br />

ge zeigt wird, <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Kumu Art Museum<br />

zu einer besonderen kulturellen Attrak -<br />

tion der estnischen Hauptstadt geworden.<br />

KUMU ART MUSEUM, WEIZENBERGI 34/VALGE 1,<br />

10127 TALLINN, ESTLAND. INFOS: WWW.EKM.EE<br />

Multimedia im MoMA<br />

Von November bis Februar gibt <strong>das</strong> Museum of Modern Art in New York<br />

sein Marron Atrium in die kreativen Hände der weltbekannten Schwei -<br />

zer Videokünstlerin Pipilotti R<strong>ist</strong> – zur fantasievollen Gestaltung. Die<br />

Besucher laufen durch 7,50 Meter hohe „moving images“ oder sitzen<br />

auf <strong>von</strong> der Künstlerin designten Sitz-Inseln. Verspielt und provokativ<br />

vermischen R<strong>ist</strong>s Multimedia-Installationen Fantasie und Realität.<br />

„PIPILOTTI RIST“, AUSSTELLUNG, MUSEUM OF MODERN ART, NEW YORK,<br />

19. NOVEMBER 2008 BIS 2. FEBRUAR 2009. INFOS: WWW.MOMA.ORG<br />

Fotos: Vanessa Winship, Agence Vu<br />

Hölderlin<br />

zum Hören<br />

Die Berliner Staatsoper Unter den<br />

Linden bereichert den Herbst in<br />

der Hauptstadt mit einer Uraufführung:<br />

Am 16.11. wird hier die Oper „Hölderlin – eine Expedition“<br />

<strong>von</strong> Peter Ruzicka zum ersten Mal vor Publikum<br />

gespielt. Thema <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> die bloße Bio grafie<br />

Friedrich Hölderlins, vielmehr werden die philosophi -<br />

schen, kosmologischen und ge schicht lichen Dimensionen<br />

des großen Dichters in einem klang vollen<br />

Gesamtkunstwerk interpretiert.<br />

„HÖLDERLIN – EINE EXPEDITION“, STAATSOPER UNTER DEN LINDEN,<br />

BERLIN. TERMINE: 16., 21., 25., 29.11., 2.12. 2008.<br />

INFOS UND TICKETS: WWW.STAATSOPER-BERLIN.DE<br />

Fotos: Picture Alliance (2), Imago, Kasskara/DG


Vier Tage feinster Genuss<br />

Die Kunst der Kulinarik steht im Mittelpunkt des Luxus-Food-Festivals<br />

„Cirque Culinaire“ im Peninsula Hotel in Tokio: Vier Tage lang kommen<br />

mehr als 30 Küchenchefs, Winzer und Bierbrauer aus aller Welt zusammen,<br />

um ihre Kreationen feiern und genießen zu lassen. Mit dabei sind u.a.<br />

Greg Doyle vom Pier aus Sydney, Kelly McCown vom Rubicon Estate,<br />

Napa Valley, USA, Kiyomi Mikuni vom Hôtel de Mikuni, Tokio,<br />

Vincent Chaperon <strong>von</strong> Dom Pérignon, Frankreich.<br />

„CIRQUE CULINAIRE“, THE PENINSULA HOTEL, TOKIO, 21. BIS 24. NOVEMBER 2008,<br />

INFOS: TOKYO.PENINSULA.COM<br />

Sting goes Asia<br />

Musikalische Reise ins Mittelalter: Zusammen mit<br />

dem Lautenspieler Edin Karamazov – einem<br />

Virtuosen seines Fachs – spielt Sting auf seiner Asien-<br />

Tour Lieder seines Albums „Songs from the<br />

Labyrinth“ – klassische, melancholische Stücke des<br />

Songschreibers John Dowland (1563–1626).<br />

„STING & EDIN KARAMAZOV“, KONZERT, 7.12.2008 KUALA<br />

LUMPUR, 8.12.2008 SINGAPUR; 10.12.2008, HONGKONG.<br />

INFOS: WWW.STING.COM<br />

K U L T U R +++ W E L T W E I T +++ K U L T U R +++ W E L T W E I T +++ K U L T U R +++ W E L T W E I T +++<br />

125. Jubiläum Metropolitan Opera New York, viele Sondervorstellungen, sechs Neuproduktionen, z.B. „Der Troubadour“ <strong>von</strong> Verdi, Spielzeit 2008/09,<br />

Infos: www.metopera.org +++ Balmain Art & Craft Show, zeitgenössische Kunst und Kunsthandwerk <strong>von</strong> hunderten australischen Künstlern, Sydney,<br />

Balmain, 8./9. November 2008, Infos: www.balmainartandcraftshow.com.au +++ Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen<br />

Kunst, Ausstellung, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, bis 25. Januar 2009<br />

Barockfassaden + Glitzer-Casinos<br />

Designer-Shops + Fusion-Küche<br />

Bungee-Jump + Drachentanz<br />

DAS SOLLTEN SIE ERLEBT HABEN!<br />

Fremdenverkehrsbüro Macau<br />

Schenkendorfstr. 1<br />

65187 Wiesbaden<br />

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Mit der Schnellfähre nur 45 Minuten vom Flughafen Hongkong


Zeitzeuge Isabel Allende<br />

8 Momentum 3· 2008<br />

„Ich habe meine Berufung gefunden:<br />

Ich bin eine Geschichtenerzählerin“


„Die Welt <strong>ist</strong> ein<br />

geheimnisvoller Ort“<br />

Keine zeitgenössische Schriftstellerin <strong>ist</strong> so berühmt<br />

wie sie – mit dem Roman „Das Ge<strong>ist</strong>erhaus“ gelang Isabel Allende<br />

1982 der Durchbruch, seitdem wird jedes ihrer Bücher ein Erfolg.<br />

Mit südamerikanischer Power, Optimismus und dem Blick unter<br />

die Oberfläche der Welt me<strong>ist</strong>ert die gebürtige Chilenin die<br />

Herausforderungen ihres bewegten Lebens<br />

Frau Allende, stimmt es, <strong>das</strong>s Sie alle Ihre Bücher am 8. Januar<br />

begonnen haben?<br />

Ja, <strong>das</strong> stimmt. Mein erstes Buch, „Das Ge<strong>ist</strong>erhaus“, begann ich<br />

am 8. Januar 1981 als Brief an meinen sterbenden Großvater. Der<br />

Roman war sehr erfolgreich, und so entschloss ich mich, mein<br />

zweites Buch am selben Tag zu beginnen – als Glücksbringer so -<br />

zusagen. Genauso machte ich es dann auch mit dem dritten Buch.<br />

Zuerst war <strong>das</strong> nur Aberglauben, dann wurde es für mich eine Frage<br />

der Disziplin. Mein Leben <strong>ist</strong> kompliziert, und ich muss einige<br />

Monate im Jahr für meine schriftstellerische Tätigkeit freihalten.<br />

Ein festes Startdatum hilft mir dabei.<br />

In fast allen Ihren Büchern spielt die Familie eine wichtige Rolle,<br />

auch in Ihrem neuesten, „Das Siegel der Tage“. Wie wichtig <strong>ist</strong> für<br />

Sie die Familie?<br />

Ich habe zwei Memoiren-Bücher über meine Familie geschrieben,<br />

„Paula“ und „Das Siegel der Tage“; aber <strong>das</strong> Thema Familie spielt<br />

in allen meinen Büchern eine Rolle. In meinem ersten Roman,<br />

„Das Ge<strong>ist</strong>erhaus“, war die Familie Trueba eine Art Mikrokosmos,<br />

in dem sich die h<strong>ist</strong>orischen Ereignisse des Landes Chile widerspiegeln.<br />

Ich war in meinem Leben Reisende, politischer Flücht -<br />

ling und Immigrantin. An jedem Ort, an dem ich lebte, habe ich<br />

Interview Maike Zürcher Fotos Lori Barra<br />

ver sucht, ein kleines Völkchen Freunde um mich zu sammeln, um<br />

die Verwandten zu ersetzen, die ich bei der Ausreise aus meinem<br />

Land verloren habe. In Kalifornien habe ich meinen Sohn, meine<br />

Schwiegertochter und drei Enkel sowie einige Freunde, die für<br />

mich auch zu meiner Familie zählen.<br />

Wie schaffen Sie es, sich im trubeligen Großfamilien-Alltag Zeit für<br />

sich zu nehmen?<br />

Als Schriftstellerin verbringe ich viel Zeit allein und in absoluter<br />

Stille. Für mich <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Schreiben wie Meditieren, und ich bezeichne<br />

es gern als eine „Zeit für mich“, <strong>nicht</strong> unbedingt als „Arbeit“. Außerdem<br />

führe ich ein sehr geordnetes Leben. Ich habe drei Menschen<br />

um mich, die sich um mich kümmern und mich bei meiner Arbeit<br />

unterstützen: Mein Mann Willie kümmert sich um Verträge, Geld,<br />

<strong>das</strong> Haus, die Reisen und unser soziales Leben, meine Schwie ger -<br />

tochter Lori leitet neben meiner Stiftung auch noch meine Fami lie,<br />

und meine Ass<strong>ist</strong>entin Juliette <strong>ist</strong> verantwortlich für <strong>das</strong> Büro,<br />

Interviews, Termine, Korrespondenz und so weiter.<br />

Welche Zeit in Ihrem Leben hat Sie am me<strong>ist</strong>en geprägt?<br />

Mein Leben wurde <strong>von</strong> verschiedenen Ereignissen geprägt: <strong>von</strong><br />

meinem Vater mit drei Jahren verlassen zu werden, die Geburt<br />

Momentum 3· 2008<br />

9


Zeitzeuge Isabel Allende<br />

„Ich sage <strong>nicht</strong>, <strong>das</strong>s wir in einer perfekten Welt leben,<br />

bestimmt <strong>nicht</strong>. Aber sie <strong>ist</strong> ohne Frage besser als früher“<br />

meiner beiden Kinder Paula und Nicolas. Dann kam der<br />

Militärputsch in Chile 1973, der Umzug nach Amerika zu meinem<br />

Mann Willie Gor don 1987 und schließlich die Krankheit und der<br />

Tod meiner Toch ter 1991. Ich sollte auch die Veröffentlichung<br />

meines ersten Buchs 1981 erwähnen, denn dadurch wurde ich zur<br />

Schrift stel lerin. Das hat mein Leben nachhaltig verändert.<br />

Inwiefern haben die politischen Erfahrungen in Chile Sie beeinflusst?<br />

Der Militärputsch veränderte mein Leben. Wegen dieses Ereig -<br />

nisses ging ich mit meinem damaligen Mann und meinen Kindern<br />

nach Venezuela ins Exil, verlor meine Großfamilie, meine Arbeit<br />

und mein Land. Mein erster Roman <strong>ist</strong> ein Versuch, all <strong>das</strong> auf<br />

diese Weise Verlorene wiederzufinden.<br />

Haben Sie den Namen Allende – Salvador Allende war der Cousin<br />

Ihres Vaters – jemals als Last empfunden?<br />

Ich trage den Namen Allende mit Stolz und einem Gefühl <strong>von</strong><br />

Verantwortung. Ich habe ihn nie als Bürde empfunden; ich weiß,<br />

<strong>das</strong>s er für viele Menschen eine große Bedeutung hat.<br />

Haben Sie die Erfahrung gemacht, <strong>das</strong>s Zeit Wunden heilt? In Ihrem<br />

Leben mussten Sie Abschied <strong>von</strong> vielen geliebten Menschen nehmen,<br />

u.a. <strong>von</strong> Ihrer Tochter Paula, die mit 28 Jahren starb. Wie sind Sie<br />

damals über diesen unvorstellbaren Schmerz hinweggekommen?<br />

Die Zeit hilft beim Heilungsprozess, aber die Trauer über den<br />

Verlust eines Kindes verschwindet nie. Ich mag diese Trauer und<br />

möchte auch gar <strong>nicht</strong>, <strong>das</strong>s sie vorübergeht. Sie macht mich zu<br />

einem besseren Menschen. Die Erinnerung an meine Tochter lebt<br />

in mir weiter. Paula wohnt auf sanfte Art in meinem Herzen, meinem<br />

Leben und meinem Schreiben. Das erste Jahr nach ihrem Tod<br />

− für die me<strong>ist</strong>en die schmerzhafteste Zeit − überlebte ich, indem<br />

ich <strong>das</strong> Buch „Paula“ schrieb. Das Schreiben half mir zu verstehen<br />

und zu akzeptieren, was geschehen war.<br />

Ge<strong>ist</strong>er, z.B. <strong>von</strong> Verstorbenen, spielen in Ihren Büchern immer<br />

wieder eine Rolle – auch in Ihrem persönlichen Leben?<br />

Ich kann <strong>nicht</strong> alles erklären, was geschieht. Die Welt <strong>ist</strong> ein sehr<br />

geheimnisvoller Ort. Ich bin auch kein Mensch, der viel Kontrolle<br />

ausübt, sondern gebe mich eher dem Unbekannten und Uner klär -<br />

lichen hin, Zufällen, Prophezeiungen, prophetischen Träumen,<br />

Intuition, kleinen, alltäglichen Wundern. All diese Dinge sind in mei-<br />

10 Momentum 3· 2008<br />

nem Leben präsent und finden sich auch in meinen Büchern wieder.<br />

Ich kann keine Ge<strong>ist</strong>er sehen, aber ich glaube daran, <strong>das</strong>s ich <strong>von</strong><br />

spirituellen Wesen umgeben bin. Alles, was ex<strong>ist</strong>iert, <strong>ist</strong> beseelt.<br />

Sie sind in Peru geboren, haben in Chile und Venezuela gelebt,<br />

heute in den USA. Was bedeutet Heimat für Sie – und wo <strong>ist</strong> Ihre?<br />

Heimat <strong>ist</strong> da, wo meine Familie <strong>ist</strong>. Kalifornien <strong>ist</strong> heute meine<br />

Heimat, aber ich stehe auch mit einem Bein in Chile. Ich habe<br />

meine chilenischen Wurzeln <strong>nicht</strong> vergessen.<br />

Im Jahr 1992 haben Sie die amerikanische Staatsbürgerschaft<br />

angenommen. Wie kam es zu diesem Schritt?<br />

Ich wollte die Staatsbürgerschaft, weil ich meine Kinder unterstützen<br />

musste und sie legal in die USA bringen wollte. Außerdem<br />

hatte ich Willie geheiratet und mich dazu entschieden, dieses Land<br />

zu meiner ständigen Heimat zu machen.<br />

Sind Sie ein optim<strong>ist</strong>ischer Mensch – glauben Sie an die Kraft der<br />

positiven Gedanken?<br />

Ich bin Optim<strong>ist</strong>in und ich glaube, <strong>das</strong>s unser Ge<strong>ist</strong> zu außergewöhnlichen<br />

Dingen fähig <strong>ist</strong>. Er kann krank machen, aber auch zur<br />

Heilung beitragen. Man muss aber vorsichtig sein mit der Theorie<br />

des „positiven Denkens“, die den Einzelnen für alles Schlechte<br />

verantwortlich macht, <strong>das</strong> passiert: Wer Krebs bekommt, <strong>ist</strong> selbst<br />

schuld, denn er hatte negative Gedanken – diese Art <strong>von</strong> Unsinn.<br />

Welches Ihrer zahlreichen Bücher bedeutet Ihnen am me<strong>ist</strong>en?<br />

„Paula“, denn es half mir, den Tod meiner Tochter zu verarbeiten.<br />

Es hat die Erinnerung an sie wachgehalten und gab mir die Mög -<br />

lich keit, eine Stiftung zu gründen, die ihre Arbeit würdigt und fortführt.<br />

Außerdem hat es Tausende <strong>von</strong> Lesern auf der ganzen Welt<br />

berührt. Ich bekomme viele, viele Briefe <strong>von</strong> meinen Lesern, und<br />

die me<strong>ist</strong>en erwähnen „Paula“.<br />

Ihre Bücher spielen in verschiedenen Jahrhunderten. Für „Inés<br />

meines Herzens“ gingen Sie sogar bis ins 16. Jahrhundert zurück.<br />

Wie hat es Ihnen in der Vergangenheit gefallen? Haben Sie dort<br />

etwas Lehrreiches für die Gegenwart entdeckt?<br />

Wenn ich mich für meine Bücher mit der Geschichte beschäftige,<br />

dann fällt mir auf, wie wenig die Menschen sich doch verändert<br />

haben. Wir machen immer noch dieselben Fehler. Wir werden


„Ich glaube, <strong>das</strong>s unser Ge<strong>ist</strong> zu<br />

außergewöhnlichen Dingen fähig <strong>ist</strong>“<br />

Momentum 3· 2008<br />

11


Zeitzeuge Isabel Allende<br />

12 Momentum 3· 2008<br />

„Meine Enkel sind klüger,<br />

größer und gesünder – wie könnte<br />

ich ihnen einen Rat geben?“


<strong>von</strong> den gleichen Gefühlen beherrscht: Gier, Macht und Angst.<br />

Wir handeln immer noch irrational und grausam. Wir begehen<br />

immer noch Gräueltaten gegen andere Menschen.<br />

Mit Ihrem zweiten Ehemann Willie Gordon sind Sie seit 20 Jahren<br />

verheiratet. Glauben Sie, <strong>das</strong>s die Liebe stärker <strong>ist</strong> als die Zeit?<br />

Und womit hält man die Liebe über lange Zeit lebendig?<br />

Willie und ich hatten Glück, denn wir haben einander gefunden<br />

und uns verliebt. Wir kommen aus verschiedenen Kulturen, und<br />

zu Beginn hatten wir <strong>nicht</strong> viel mehr gemeinsam, als <strong>das</strong>s wir uns<br />

beide mochten. Wir haben viele Höhen und Tiefen erlebt, viele Veränderungen,<br />

viel Kummer und Verlust, und es gab sogar Momente,<br />

in denen wir über Scheidung sprachen. Aber wir haben nie aufge -<br />

hört, an unserer Beziehung zu arbeiten. Eine Therapie hat uns in<br />

dieser schweren Zeit sehr geholfen. Der Funke <strong>ist</strong> noch am Leben.<br />

Gehören Sie zu den Menschen, die sagen, früher war vieles besser?<br />

Auf keinen Fall!! In den 65 Jahren meines Lebens <strong>ist</strong> die Welt besser<br />

geworden, <strong>nicht</strong> schlechter. Ich wurde mitten im Zweiten Welt -<br />

krieg geboren, als Millionen <strong>von</strong> Menschen in Konzentrations la -<br />

gern abgeschlachtet wurden, als zwei Atombomben Hiroshima und<br />

Nagasaki zerstörten, als europäische Länder weite Landstriche dieser<br />

Erde kolonialisierten und ausbeuteten, als vielerorts noch offen<br />

Skla ven gehandelt wurden. Ich habe die Frauenbewegung miterlebt,<br />

die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, die Ein füh -<br />

rung <strong>von</strong> Gesetzen zum Schutz <strong>von</strong> Kindern und der Um welt, zur<br />

Beendigung <strong>von</strong> sexueller Ausbeutung und häuslicher Gewalt, zur<br />

Unterstützung <strong>von</strong> Senioren und Behinderten und vieles mehr.<br />

Heute sind wir besser informiert und technisch sehr weit fortgeschritten.<br />

Wir haben die Möglichkeit, mehr Leute als jemals zuvor<br />

mit Nahrungsmitteln zu versorgen, auszubilden und für ihre Ge -<br />

sund heit zu sorgen. Ich sage <strong>nicht</strong>, <strong>das</strong>s wir in einer perfekten Welt<br />

leben, bestimmt <strong>nicht</strong>. Aber sie <strong>ist</strong> ohne Frage besser als früher.<br />

Wie gehen Sie mit dem Älterwerden um?<br />

Es macht keinen Spaß, älter zu werden, aber es lässt sich <strong>nicht</strong><br />

vermeiden, also sieht man den Tatsachen besser ins Auge. Mein<br />

persönliches Rezept für ein Altern in Würde <strong>ist</strong>: seinen eigenen<br />

Weg verfolgen und sich <strong>nicht</strong> dabei beschweren, etwas Kreatives<br />

tun, jemandem seine Liebe schenken, anderen helfen und umgeben<br />

<strong>von</strong> Familie und Freunden leben.<br />

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Zukunft der Kinder<br />

<strong>von</strong> heute, z.B. Ihrer Enkelkinder, denken? Was für einen Rat geben<br />

Sie ihnen?<br />

Meine Enkel sind klüger, größer und gesünder als meine Gene ra -<br />

tion. Ihnen stehen bessere Bildungsmöglichkeiten und mehr Res -<br />

sour cen als uns zur Verfügung, um die Zukunft der Welt zu<br />

sichern. Sie werden ganz bestimmt gute Arbeit le<strong>ist</strong>en. Aller dings<br />

erben sie auch viele Probleme, doch <strong>das</strong> haben sie mit allen<br />

Gene rationen seit Anbeginn der Zeitrechnung gemein. Sie sind besser<br />

auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet, deswegen<br />

mache ich mir <strong>nicht</strong> allzu viele Sorgen um sie. Einen Rat? Wie<br />

könnte ich ihnen einen Rat geben? Sie wissen so viel mehr als ich!!<br />

Sie sind die weltweit bekannteste zeitgenössische Schriftstellerin<br />

– gab oder gibt es immer noch Momente, in denen Sie innerlich<br />

einen Schritt zurücktreten und zu sich selbst sagen: „Ich kann es<br />

eigentlich gar <strong>nicht</strong> glauben, <strong>das</strong>s mein Leben so verlaufen <strong>ist</strong>“?<br />

An jedem 8. Januar, wenn ich mich auf ein neues Buch vorbereite,<br />

habe ich Angst und bin voller Zweifel. Jedes Buch <strong>ist</strong> anders −<br />

eine neue Welt, die ich allein und mit viel Geduld erforschen muss.<br />

Das Schreiben <strong>ist</strong> eine Beschäftigung, die demütig macht! Ich<br />

fühle mich <strong>nicht</strong> wie eine Berühmtheit und lebe auch <strong>nicht</strong> so. Ja,<br />

manchmal trete ich einen Schritt zurück, betrachte mein Leben und<br />

bin dankbar, <strong>das</strong>s ich immer geliebt wurde und <strong>das</strong>s ich meine<br />

Berufung gefunden habe: Ich bin eine Geschichtenerzählerin.<br />

Isabel Allende Vita<br />

Isabel Allende wird am 2. August 1942 in Lima, Peru als Tochter eines<br />

chilenischen Diplomaten geboren. 1945 geht die Mutter mit Isabel und<br />

ihren beiden Geschw<strong>ist</strong>ern nach Chile zurück; die Kinder wachsen in<br />

der Obhut <strong>von</strong> Mutter und Großvater auf. 1962 heiratet Isabel Miguel<br />

Frías, ein Jahr später wird Tochter Paula geboren, 1966 Sohn Nicolás.<br />

Von 1967 an schreibt sie als Journal<strong>ist</strong>in für diverse Magazine in Chile.<br />

1973 putscht General Pinochet gegen die Regierung, Präsident Salvador<br />

Allende, der Cousin <strong>von</strong> Isabels Vater, wird – vermutlich – ermordet.<br />

Zwei Jahre später zieht die Familie nach Venezuela, für 13 Jahre, Isabel<br />

schreibt für die venezolanische Zeitung „El Nacional“. Als der Groß -<br />

vater 1981 im Sterben liegt, verfasst sie einen Brief an ihn, aus dem<br />

<strong>das</strong> Manuskript <strong>von</strong> „Das Ge<strong>ist</strong>erhaus“ wird. Der Roman wird 1982 in<br />

Barcelona publiziert und zu einem Welterfolg, der in der Verfilmung<br />

<strong>von</strong> 1993 mit Meryl Streep, Jeremy Irons, Antonia Banderas u.a. gipfelt.<br />

1987 lässt sich Isabel <strong>von</strong> Miguel scheiden, 1988 heiratet sie den<br />

US-Amerikaner Willie Gordon in San Francisco. In der Zwischenzeit<br />

erscheinen weitere Romane wie „Eva Luna“ und „Der unendliche<br />

Plan“. 1992 stirbt die Tochter Paula an der Stoffwechselkrankheit<br />

Porphyrie. Den Schmerz über den Verlust verarbeitet die Mutter in<br />

dem Buch „Paula“, <strong>das</strong> weltweit zu einer Flut <strong>von</strong> emotionalen Leser -<br />

reaktionen führt, die bis heute anhalten. 1996 gründet sie die Isabel<br />

Allende Foundation in Erinnerung an ihre Tochter. Die Stiftung unterstützt<br />

Organisationen, die Frauen und Kindern helfen. Isabel Allende<br />

lebt mit ihrer Familie in Kalifornien und schreibt bis heute jedes Jahr<br />

ein Buch; zuletzt erschien „Das Siegel der Tage“ (Suhrkamp Verlag 2008).<br />

Momentum 3· 2008<br />

13


Fotos: Getty, Fotolia<br />

Momente Speichermedien<br />

Zahn der Zeit<br />

Privatleute und Behörden sammeln mehr Schriftstücke,<br />

Bilder und Filme an als je zuvor; neue Speicherformen<br />

bieten dafür genug Platz. Aber viele übersehen, <strong>das</strong>s unsere<br />

Daten dort weit gefährdeter sind als auf den alten Medien<br />

Text Jan Lehmhaus<br />

A<br />

ls 1799 im Niltal der Stein <strong>von</strong> Rosette entdeckt<br />

wurde, ermöglichte die eingemeißelte dreisprachige<br />

Inschrift aus dem Jahr 196 vor Chr<strong>ist</strong>us die<br />

Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen<br />

und erschloss uns so die längst untergegangene<br />

Hochkultur am Nil. In Yunjusi, südwestlich <strong>von</strong><br />

Peking gelegen, geben über 15 000 Steintafeln Auskunft über Leben<br />

und Glauben im China des 7. bis 13. Jahrhunderts. Die Mönche,<br />

die sie gravierten, vergruben sie anschließend als Vermächtnis an<br />

die Nachwelt. Wenn in ferner Zukunft Archäologen durch die tiefen<br />

Erdschichten graben, in denen dann die Reste unserer Zivilisation<br />

liegen, bleibt ihnen sicher manches rätsel haft. Nach schriftlichen<br />

Zeugnissen werden sie womöglich vergebens suchen. Silbrig schimmernde<br />

DVDs können sie für Talismane eines Mondkults halten<br />

oder für profanen Schmuck, Disketten und Speicherchips vielleicht<br />

für Zahlungsmittel. Dass eben diese Fund stücke einmal<br />

gefüllt waren mit großen Mengen Texten, Bildern, Musik und<br />

Filmen, werden die Forscher <strong>nicht</strong> erfahren, denn all diese Daten,<br />

Schlüssel zu unserer Zeit, sind dann längst vergangen.<br />

Fast jeder fotografiert, viele filmen digital, wir alle<br />

schreiben Mails, manchmal auch noch Briefe auf Papier, füllen<br />

Formulare aus, mal elektronisch, mal mit dem Kugelschreiber, die<br />

dann in amtlichen Archiven lagern. In den Bibliotheken haben sich<br />

über Jahrhunderte Abermillionen <strong>von</strong> wissenschaftlichen Schriften<br />

angesammelt, und die Fernsehanstalten bewahren in ihren Kellern<br />

ein komplettes bewegtes Bild unserer Welt auf, <strong>von</strong> Fachleuten<br />

do ku mentiert und kommentiert. Zweifellos wurde in keiner Zeit<br />

vor der unseren so vieles aufgeschrieben, aufgenommen und ge -<br />

spei chert. Und womöglich wird <strong>von</strong> kaum einer Zeit so wenig<br />

über dauern, weil wir unsere wichtigen Aufzeichnungen <strong>nicht</strong><br />

sorgfältig aufbewahren. Es <strong>ist</strong> gerade die stetig wachsende Menge<br />

<strong>von</strong> Daten, die uns vorschnell zu Platz sparenden Medien greifen<br />

lässt, ohne deren Zuverlässigkeit zu prüfen. So wie die NASA, die<br />

vor Jahren ihre Unterlagen ver<strong>nicht</strong>ete, nachdem sie auf Mikrofilm<br />

kopiert worden waren – und die Filme dann falsch lagerte. Heute<br />

In Stein gemeißelte Inschriften überstehen mühelos mehrere<br />

Jahrtausende und geben uns heute Auskunft über die Kulturen,<br />

die sie hervorbrachten. Aber: Ihre Vervielfältigung war mühsam,<br />

der Platzbedarf enorm und die Mobilität gleich null


können sich frisch gebrannte Musik-CDs, <strong>von</strong> der Sonne bestrahlt,<br />

bald an keine Melodie mehr erinnern, Notebook-Festplatten rücken<br />

nach dem Sturz vom Tisch weder die Backup-freie Seminararbeit<br />

heraus noch die besten Urlaubsfotos, die kaum noch jemand druckt<br />

oder gar in Alben klebt. Das sind moderne Pannen. So fahrlässig<br />

aber sind wir mit unseren Aufzeichnungen schon viel länger –<br />

und <strong>das</strong> im ganz großen Stil.<br />

Papierfachleute wie der Chemiker Manfred Anders<br />

sehen längst „unsere größten Wissensspeicher bedroht“: die Bibliotheken.<br />

Als im 19. Jahrhundert für Buchdruck und Akten mehr<br />

und mehr Papier benötigt wurde und es <strong>nicht</strong> mehr genug <strong>von</strong><br />

den zu seiner Herstellung benötigten Lumpen gab, verfielen die<br />

Hersteller auf Holzschliff als Grundstoff. Zusammen mit einem<br />

neuen, zeitsparenden Verfahren, die Oberflächen der Bögen zu<br />

glätten, machte der <strong>das</strong> Papier so säurehaltig, <strong>das</strong>s es sich selbst<br />

Pergament, hier eine mittel -<br />

alterliche Handschrift,<br />

kann bei sachgerechter<br />

Lagerung weit mehr als<br />

1.000 Jahre überstehen.<br />

Teuer und aufwendig in der<br />

Herstellung, taugte es zu<br />

seiner Zeit als exklusiver<br />

Daten-Träger für wenige<br />

des Lesens Kundige<br />

Tonbänder bedürfen idealer Bedingungen an Luftfeuchtigkeit<br />

und Temperatur, um die gespeicherten Daten<br />

für Jahrzehnte zu erhalten. Noch bevor <strong>das</strong> Magnetfeld<br />

der Erde sie langsam löscht, wird bei diesem Medium<br />

womöglich die alternde Abspiel-Hardware zum Problem<br />

Momentum 3· 2008<br />

15


16 Momentum 3· 2008<br />

Momente Speichermedien<br />

zerfressen musste. Während herkömmliches Papier über Jahr hun -<br />

derte benutzbar bleiben konnte, erreichte <strong>das</strong> neue Massen pro dukt<br />

bestenfalls ein Alter <strong>von</strong> 100 Jahren.<br />

Anders arbeitet man am Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig<br />

(ZfB), einer Ausgründung der Deutschen Nationalbibliothek. Das<br />

Problem der mangelnden Haltbarkeit wurde früh vorausgeahnt.<br />

Es gab schon um 1900 erste Verfahren, den Verfall zu stoppen, die<br />

ließen sich aber nur auf einzelne Blätter anwenden und waren für<br />

die me<strong>ist</strong>en Bibliotheken <strong>nicht</strong> interessant. Seit 1980 wird – aus<br />

wirtschaftlichen, <strong>nicht</strong> aus konservatorischen Gründen – kaum<br />

noch saures Papier hergestellt, trotzdem sind in vielen Bibliot he -<br />

ken heute 70 Prozent der Bestände betroffen. Am ZfB <strong>ist</strong> man<br />

längst in der Lage, ganze Bücher zu entsäuern und ihre jeweilige<br />

Restlebenserwartung um den Faktor 4 bis 5 zu verlängern.<br />

Aber in der gebotenen Eile <strong>ist</strong> es schwer zu sagen, was zuerst<br />

gerettet werden sollte. Die wichtigsten Titel? Die Deutsche Büche rei<br />

in Leipzig zum Beispiel mag <strong>nicht</strong> entscheiden, was später einmal<br />

für wichtig erachtet wird, und lässt die Bücher egalitär der Sig na tur<br />

nach behandeln. An anderen Stellen fehlt es noch an Problem -<br />

Die Kompaktkassette <strong>ist</strong> wie<br />

<strong>das</strong> Tonband auf eine Speicherzeit<br />

<strong>von</strong> einigen Jahren ausgelegt,<br />

erreicht diese aber erfahrungsge -<br />

mäß <strong>nicht</strong>. Me<strong>ist</strong> wenig schonend<br />

behandelt, wird sie oftmals schon<br />

nach kurzem Einsatz als Bandsalat<br />

aus dem Auto-Kassetten -<br />

radio gepult<br />

bewusstsein: „Die Ämter benutzen viel Recycling-Papier“, weiß<br />

Anders. Das <strong>ist</strong> vom Umwelt-Standpunkt aus löblich, aber <strong>das</strong><br />

Öko-Produkt steht unter „oxidativem Stress“ und <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> dauerhaft<br />

aktentauglich. Ist ein Buch bereits stark angegriffen, wird es<br />

am ZfB auch restauriert, <strong>das</strong> <strong>Original</strong> soll erhalten bleiben, <strong>nicht</strong><br />

nur wegen seines auratischen Werts. Es <strong>ist</strong> nach der Behandlung<br />

wieder haltbarer als alle neuen Speichermedien, inklusive der<br />

jeweils neuesten digitalen. „Digitalisierung erhöht die Verfüg bar keit.<br />

Dem Bestandsschutz dient sie <strong>nicht</strong>.“<br />

Am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in<br />

Karlslruhe müht man sich auch um den Erhalt kultureller Werte.<br />

Um die Bänder mit früher Videokunst vorführbar zu halten oder<br />

überhaupt erst wieder abspielbar zu machen, wurde vor Jahren<br />

<strong>das</strong> „Labor für antiquierte Videosysteme“ eingerichtet. Für etwa 50<br />

verschiedene Videoformate, die einander im Laufe der schnellen<br />

technischen Entwicklung ablösten, gibt es hier Abspiel- und Auf -<br />

nahmegeräte, die, längst vom Markt verschwunden, kaum noch<br />

irgendwo aufzutreiben sind. „Häufig <strong>ist</strong> die Abspiel-Hard ware <strong>das</strong>


Disketten waren mit ihrer Anfälligkeit für Staub und Magnetfelder nie ein sicherer<br />

Speicherort für wichtige Dateien. Sind die nach ein paar Jahren doch noch erhalten – und besorgt sich der Besitzer<br />

<strong>das</strong> passende Laufwerk –, bleibt die Frage, welche Software sie noch erkennt<br />

größte Problem“, sagt Martin Häberle, Technischer Leiter des<br />

Ausstellungsbereichs. „Wegen ihrer hoch integrierten Elektronik lässt<br />

sie sich kaum reparieren oder gar nachbauen.“<br />

Die immer schnelleren Zyklen, in denen längst auch im digitalen<br />

Bereich Datenträger und entsprechende Abspielgeräte entwickelt<br />

und bald darauf abgelöst werden, sind ein Problem, mit dem man<br />

sich bei Nestor beschäftigt, einem 2003 gegründeten deutschen<br />

Kompetenznetzwerk für digitale Langzeitarchivierung, <strong>das</strong> weltweit<br />

mit ähnlichen Einrichtungen kooperiert. Bei Nestor bemüht<br />

man sich auch, für die beschränkte Haltbarkeit der Medien <strong>das</strong><br />

Bewusstsein zu schaffen, in den Behörden zum Beispiel, die, zum<br />

E-Government aufgerufen, oftmals übersehen, <strong>das</strong>s einmal digital<br />

gespeicherte Grundbücher ohne weiteres Zutun sicher <strong>nicht</strong> die<br />

gesetzlich vorgeschriebenen 100 Jahre vorgehalten werden können.<br />

„Die 80er- und 90er-Jahre setzten auf CD und DVD,<br />

weil sie berührungsfrei abgetastet werden, keiner mechanischen<br />

Abnutzung ausgesetzt sind“, erinnert sich Informatik-Professor<br />

Matthias Hemmje, der bei Nestor mitwirkt. Womöglich klang für<br />

den Heimanwender auch der Vorgang, <strong>das</strong> Brennen, vertrauenerweckend<br />

– so, als entstehe etwas für die Ewigkeit. Inzwischen aber<br />

weiß man längst, <strong>das</strong>s auch die optischen Medien empfindlich<br />

sind – lichtempfindlich vor allem. An manchen Archiven geht man<br />

laut Hemmje vorsichtig <strong>von</strong> einer Beständigkeit <strong>von</strong> zehn bis<br />

zwanzig Jahren aus. „Da stellt sich auch die Frage nach der<br />

Verantwortlichkeit der Hersteller, die ihre Produkte bislang kaum<br />

einmal mit einem Hinweis auf die Haltbarkeit versehen.“ Und <strong>ist</strong><br />

<strong>das</strong> Medium noch intakt und die Abspiel-Hardware vorhanden,<br />

garantieren Softwarehersteller <strong>nicht</strong> dafür, <strong>das</strong>s ihre Programme<br />

noch Dateien einer jahrealten Vorgängerversion lesen können,<br />

erzeugt mit einem inzwischen überholten Betriebssystem.<br />

„Wir müssen wohl lernen, mit dem Wandel zu leben“, sagt<br />

Hemmje. Das heißt: die Datensammlungen regelmäßig umzukopieren<br />

und dabei auch an neue technische Standards anzupassen.<br />

Hemmje hofft auf <strong>das</strong> Entstehen einer Dienstle<strong>ist</strong>ungsbranche, die<br />

diese Aufgaben in absehbarer Zeit <strong>nicht</strong> nur für Unternehmen und<br />

Behörden, sondern auch für Privatleute übernimmt. Sichern ließen<br />

sich die Bestände dann vielleicht am besten mit Grid-<br />

Systemen, sich selbst verwaltenden Speicher-Netz -<br />

werken aus vielen, auch geografisch getrennten<br />

Computern, die die Gefahr des Daten -<br />

verlustes minimieren.<br />

Bis ein Consumer-Markt für die<br />

Langzeit archivierung entstanden<br />

<strong>ist</strong>, empfiehlt Hemmje, sich<br />

„wie um die Steu er er klä -<br />

rung“ einmal im Jahr um<br />

die angesammelten Daten<br />

zu kümmern. Denn<br />

noch macht sie kein<br />

Medium so si cher, als<br />

wären sie in Stein<br />

gemeißelt. ✺<br />

„Lebenslanges Hörvergnü<br />

gen“ versprachen die<br />

ersten Audio-CDs im Booklet,<br />

heute finden sich solche<br />

Angaben <strong>nicht</strong> mehr. Nicht nur<br />

selbst gebrannte CDs verlieren<br />

die gespeicherten Informationen<br />

im Laufe der Zeit. Fachleute<br />

halten einen Umkopier zyklus <strong>von</strong><br />

über zehn Jahren für fahrlässig


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Fotos: Getty, Picture-Press, G.Giesler<br />

20 Momentum 3· 2008<br />

Zeitzonen Japan<br />

Japan unter<br />

Dampf<br />

Text Françoise Hauser


Rund zwanzi gtausend heiße Q uellen blubbern un d sprud eln im<br />

japanischen I nselreich. Kein Wunder, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Badin den Ons en-<br />

Thermen als u rjapanisches Freizeit vergnügen gilt. Undals gesundes d azu!<br />

E<br />

s dampft und brodelt, in der Luft<br />

hängt der dezente Duft <strong>von</strong><br />

Limo nen. Hin und wieder lichtet<br />

ein kühler Luftzug den<br />

Dampf, gibt den Blick frei auf<br />

einige wenige Besucher des<br />

Bade beckens. Ein wohliger Seufzer, leises<br />

Wasser plätschern – nur <strong>das</strong> Rauschen des<br />

Hirose-Flusses vor dem Fenster unterbricht die<br />

Stille. Wer im Onsen <strong>von</strong> Sakunami in die heißen<br />

Fluten sinkt, sucht die Erholung vom All -<br />

tag, die totale Entspannung. Und wird fündig.<br />

Übersetzt bedeutet Onsen schlicht<br />

„heiße Quelle“ – und steht doch für ein ganzes<br />

Erholungskonzept, <strong>das</strong> auch Nicht-Japaner nach<br />

nur einem Besuch geradezu abhängig macht.<br />

Der Kern: Baden hat erst einmal wenig mit<br />

Säubern zu tun. Die nötige Körperpflege erledigt<br />

der Besucher des Onsens noch vor dem Bad. Viel<br />

wichtiger <strong>ist</strong> die völlige Entspannung <strong>von</strong> Körper<br />

und Ge<strong>ist</strong> zugleich: Beruf und Alltag in Japan fordern<br />

viel Einsatz und Anpassungsgabe. Im Onsen<br />

freilich entdeckt Japan seine Verbun den heit mit der<br />

Natur. Während die mehr als 40°C heißen gemeinschaftlichen<br />

Thermalbecken auch die härteste Muskel -<br />

verspannung geradezu wegschmelzen, darf der Blick über<br />

die Landschaft wandern. Das entspannt den Ge<strong>ist</strong>, lädt ihn<br />

ein zum Träumen und reinigt die Seele. So kommt es, <strong>das</strong>s<br />

Onsenbäder eigentlich immer an landschaftlich schöner Stelle<br />

liegen, oft an rauschenden Bächen oder malerischen Seen. Wohl<br />

auch aus diesem Grund hat Kitsch in den Onsen <strong>nicht</strong>s zu suchen.<br />

Geschmackvoll, unaufdringlich und architektonisch me<strong>ist</strong> traditionell,<br />

sind sie vor allem in Holz und Stein gehalten.<br />

Onsen sind <strong>nicht</strong> zum Reinigen da –<br />

in die heißen Quellen taucht man<br />

sauber ein. Vorher wäscht man den Körper<br />

an Waschstationen, abgespült wird<br />

mit einem Holzbottich<br />

Momentum 3· 2008<br />

21


22 Momentum 3· 2008<br />

Zeitzonen Japan<br />

Wie so viele Verrichtungen in Japan – zum Beispiel<br />

bei der traditionellen Teezubereitung – gelten auch im<br />

Onsen die Handgriffe als Teil der Zeremonie<br />

Sofern möglich, verfügt jedes Onsen auch über eine<br />

„Rotemburo“-Außenanlage. Hinter dem Begriff verbergen sich romantische<br />

Fels-Pools inmitten japanischer Gärten. Egal ob unter rosa Kirschblüten<br />

oder rotem Ahorn, auch hier <strong>ist</strong> die Aussicht liebevoll gestaltet, kein<br />

Grashalm dem Zufall überlassen. Schon bei der Planung achten die<br />

Gärtner darauf, <strong>das</strong>s dem Auge zu jeder Jahreszeit eine harmonische<br />

Aussicht geboten wird. Besonders im Winter, der in Japan bitterkalt<br />

werden kann, erfreuen sich die Rotemburo größter Beliebtheit. Mit<br />

etwas Glück wirbeln dem Besucher die Schneeflocken um den<br />

Kopf, hängen schwere Eiszapfen <strong>von</strong> den Felsen am Beckenrand,<br />

während er selbst gemütlich im heißen Wasser sitzt. Oft auch<br />

Männer und Frauen gemischt – eine echte Überraschung für<br />

den westlichen Besucher, der sich erst einmal in der falschen<br />

Abteilung wähnt.<br />

Seite an Seite köchelt hier die Verkäuferin mit dem Arzt und<br />

dem Hausme<strong>ist</strong>er des nahe gelegenen Pachinko-Spielsalons<br />

– vor den strengen Regeln des Onsens sind alle gleich. Und<br />

gerade die Regeln sind es, die dem Ge<strong>ist</strong> Halt geben: Jeder<br />

Schritt <strong>ist</strong> ritualisiert, <strong>von</strong> geradezu meditativer Qua lität.<br />

Wer in Japan aufwächst, braucht keine weiteren On sen-<br />

Erläuterungen. Der Ausländer wohl – kein Wun der, <strong>das</strong>s<br />

er schnell zu einer potenziellen Störquelle wird: Alle<br />

Meter scheint es, steht ein Schuhwechsel an. Am Ein -<br />

Die wichtigsten Onsen-Regeln<br />

Achtung, Schuhwerk-Wechsel! Ausgewiesene Toiletten-<br />

Schuhe, die ausschließlich für <strong>das</strong> stille Örtchen vorgesehen<br />

sind, warten diskret neben der Tür auf den Gast.<br />

Sie später nachlässig zu entführen, versetzt Japaner in<br />

Ekel und Schrecken!<br />

Vor dem Bad bitte gründlich waschen. Die Besucher seifen<br />

sich an den Waschstationen im Sitzen ein, abgespült wird<br />

per Holzbottich.<br />

Während die Außenanlagen oft gemischt genutzt werden,<br />

sind die Innenanlagen nach Geschlechtern getrennt.<br />

Besucher sollten daher unbedingt darauf achten, in der<br />

richtigen Sektion zu landen.<br />

Es dürfen keine Seifenreste ins Wasser des Beckens<br />

gelangen.<br />

Im Becken wird ausschließlich nackt gebadet.<br />

Laute Unterhaltungen gelten als ungehobelt.<br />

Schweiß auf der Stirn wird mit einem kleinen Handtuch<br />

abgetupft.<br />

Vor dem Betreten der Umkleiden trocknen sich die Gäste ab.<br />

Großflächige Tätowierungen sind im Onsen <strong>nicht</strong> gerne<br />

gesehen, denn sie gelten als Zugehörigkeitssymbol der<br />

lokalen Yakuza-Mafia.


Wer s ich an die hohe Temper atur des<br />

Onsen-Wa ss ers gewöhnt hat, wird mit<br />

Tiefen-Entspannung für Körper und<br />

Ge<strong>ist</strong> belohnt<br />

Momentum 3· 2008<br />

23


Zeitzonen Japan<br />

24 Momentum 3· 2008<br />

Als A usgle ic h für den Alltags -Stress sind<br />

die Onsen-Thermen in Japan h eiss begehrt –<br />

140 Million e n Besucher zähle n die Bäder jährli ch


gang in die Onsen-Anlage (Schuhwechsel), einige Meter über die frischen<br />

Tatami-Matten (Schuhwechsel), in den Außen bereich (Schuhwechsel)<br />

und irgendwann ganz sicher auch der Besuch auf dem stillen Örtchen<br />

(Schuhwechsel). Gerade hier lauern die Fett näpfchen. Allzu oft vergisst<br />

der Besucher <strong>von</strong> auswärts, sich der Toilettenschlappen wieder<br />

zu entledigen und trägt sie zum Ent set zen der einheimischen<br />

Besucher direkt bis zum Beckenrand.<br />

Die Mär, viele Onsen würden fremdländische<br />

Besucher daher abweisen, bewahrheitet sich me<strong>ist</strong> je doch<br />

<strong>nicht</strong>: Längst hat man sich darauf verlegt, mit einem kurzen<br />

Etikette-Briefing für ausländische Disziplin zu sorgen.<br />

Glaubt man den englischsprachigen Hand outs,<br />

haben die Onsen-Besitzer vom Wäschewaschen im<br />

Becken, Kopfsprung und Taucherbrille bis zum<br />

Stöpsel-Ziehen nach dem Bad schon so ziemlich<br />

jeden Fauxpas gesehen.<br />

Wer sich den Regeln unterwirft, wird jedoch<br />

belohnt, auch wenn der Aufenthalt in den heißen<br />

Quellen sich als unterschätzte Disziplin herausstellt:<br />

Während der geübte Onsen-Gänger mit<br />

45°C scheinbar mühelos umgeht, gehört beim<br />

fremden Besucher immer auch ein kleines<br />

Tänzchen am Beckenrand und viel Luftholen<br />

dazu: Onsen sind heiß! Wirklich heiß! Nur wer<br />

sich Zeit lässt, hat eine Chance, bis zur Hals -<br />

krause im Wasser zu landen. Dann allerdings<br />

setzt die berühmte Muskelentspannung ein, die<br />

jeder Beschreibung trotzt. Schön macht Onsen<br />

allerdings eher auf lange Sicht: Das heiße Bad<br />

kurbelt die Hautdurchblutung an, kein Wun -<br />

der, <strong>das</strong>s mancher Ausländer mit knallrotem<br />

Kopf geradezu zu verglühen scheint. Wie entspannend<br />

der Onsen-Aufenthalt wirklich <strong>ist</strong>,<br />

merkt der Gast me<strong>ist</strong> erst auf der Taxifahrt<br />

nach Hause. Keine fünf Minuten dauert es, da<br />

kippt der Kopf an die Rückenlehne und der<br />

Ge<strong>ist</strong> in die entspannte Willenlosigkeit.<br />

Bei allen Ritualen – kein Onsen<br />

gleicht dem anderen. Viele Japaner und manch<br />

ein Tour<strong>ist</strong> setzen sich daher die ambitionierte<br />

Aufgabe, möglichst viele Thermen zu probieren –<br />

Was ausländische Gäste<br />

unbedingt beachten sollten:<br />

Bei einem Besuch im Onsen<br />

werden bis zu vier Mal die<br />

Schuhe gewechselt<br />

Momentum 3· 2008<br />

25


26 Momentum 3· 2008<br />

Zeitzonen Japan<br />

Onsen-Anlagen sind im Einklang<br />

mit den natürlichen<br />

Gegebenheiten gebaut –<br />

schön fürs Auge: vom Wasser<br />

glänzende Steine<br />

immerhin 140 Millionen Besucher zählen die japanischen Onsen jährlich! –, und<br />

führen leidenschaftliche Fachgespräche über die Vorzüge der verschiedenen<br />

Badeorte. Gelegenheit gibt es dazu allemal, ja selbst die Hoffnung, es könne sich<br />

die eine oder andere neue Quelle auftun, <strong>ist</strong> keinesfalls überzogen: Die japanischen<br />

Inseln sind noch immer in Bewegung. Gleich drei tektonische Platten reiben<br />

sich hier aneinander und häufen dabei <strong>das</strong> Inselreich auf. Die Neben -<br />

erschei nungen sind sprichwörtlich erschütternd: Erd beben in so großer Zahl,<br />

<strong>das</strong>s sie kaum einer mehr zählt, aktive Vulkane im ganzen Land. Und heiße<br />

Quellen, überall.<br />

Wer die Onsen besucht, <strong>ist</strong> also immer live dabei, wenn die Geotektonik zu -<br />

schlägt. Die Hitze in den Knochen, mit dampfender Haut und weichem Gang,<br />

fällt es leicht, an die Bewegung der Erdplatten unter den Füßen zu glauben. ✺<br />

Japans beste Thermalbäder<br />

Geradezu vermessen <strong>ist</strong> es, angesichts der rund 3.000 Onsen-Anlagen eine Handvoll zu<br />

den besten zu erklären. Trotzdem – hier eine Auswahl der absoluten Highlights:<br />

Beppu<br />

Der kleine Ort im Nordwesten der Insel Kyushu <strong>ist</strong> <strong>das</strong> japanische Thermalbad schlechthin!<br />

An über 3.800 Stellen sprudelt <strong>das</strong> heiße Wasser aus dem Boden, dazu kommen<br />

Geysire und allerhand andere geothermische Attraktionen. Selbst abgebrühte Onsen-<br />

Gänger finden in Beppu ihre Grenzen: Viele der lokalen Quellen, auch als Jigoku (Hölle)<br />

bekannt, sind definitiv zu heiß zum Baden. Etliche <strong>von</strong> ihnen werden stattdessen<br />

zum Kochen genutzt.<br />

Weitere Infos: www.beppu-navi.jp<br />

Yufuin Onsen<br />

Der traditionelle Ort liegt <strong>nicht</strong> weit <strong>von</strong> Beppu, ebenfalls auf Kyushu. Seine Quellen gelten<br />

als besonders muskelentspannend.<br />

Weitere Infos unter www.yufuin.gr.jp<br />

Gero Onsen<br />

Das Thermalbad liegt 100 km südlich <strong>von</strong> Nagoya auf der Hauptinsel Honshu und <strong>ist</strong> seit<br />

dem 10. Jahrhundert als Thermalbad bekannt.<br />

Nach japanischer Vorstellung gehört Gero zu den drei besten Onsen des Landes.<br />

Weitere Infos: www.att-japan.net/modules/tinyd0/rewrite/tc_116.html<br />

Hakone Onsen, Kanagawa<br />

80 km südwestlich <strong>von</strong> Tokio liegt der Badeort in einem erloschenen Krater,<br />

direkt am Berg Fuji. Idyllisch-japanischer kann der Ausblick eigentlich <strong>nicht</strong> werden!<br />

Ideal als Erholung nach einer Fuji-Expedition.<br />

Infos: http://www.att-japan.net/modules/tinyd0/rewrite/tc_82.html<br />

Dogo Onsen<br />

in Matsuyama auf Shikoku. Mit über 3.000 Jahren Geschichte wahrscheinlich Japans<br />

ältestes Onsen. Der Bonus: In den Straßen des Ortes verkehren alte Dampf-Eisenbähnchen.<br />

Weitere Infos: www.mcvb.jp/convention/english<br />

Kusatsu Onsen<br />

Seit dem Mittelalter gilt Kusatsu Onsen in der Präfektur Gunma als Upper-Class-Badeort<br />

– und Japans Nummer eins unter den Bädern.<br />

Die Stimmung <strong>ist</strong> entsprechend stilvoll.<br />

Weitere Infos: www.kusatsu-onsen.org


Die Messung des Augenblicks<br />

Als erste Ausgabe der Schriftenreihe des Deutschen Uhrenmu -<br />

seums <strong>Glashütte</strong> bietet <strong>das</strong> Buch <strong>von</strong> Herbert Dittrich detaillierte<br />

Informationen zur Ausstellung und beantwortet Fragen, die sich<br />

dem Besucher vielleicht erst nach dem Museumsrundgang aufdrängen.<br />

Dieses Begleitbuch <strong>ist</strong> für alle gedacht, die <strong>das</strong> Gesehene<br />

noch vertiefen möchten und mehr über die Entwicklung der<br />

ehemaligen Bergbaustadt zum Zentrum deutscher Uhrmacherkunst,<br />

die Gründer der ersten Uhrenmanufakturen und die verschiedenen<br />

Möglichkeiten der Zeitmessung erfahren möchten. Die<br />

mehr als 160-jährige Tradition der Uhrmacherkunst in <strong>Glashütte</strong><br />

wird dabei ebenso beleuchtet wie die Frage, woher man die<br />

genaue Zeit nach <strong>Glashütte</strong> holte und wie sie bewahrt und übertragen<br />

wurde. Ein Glossar am Ende des Buches enthält Definitionen,<br />

zahlreiche Abbildungen und Erklärungen der wichtigsten<br />

Begriffe der Zeitmessung.<br />

„DIE MESSUNG DES AUGENBLICKS. WIE DIE GENAUE ZEIT NACH GLASHÜTTE KAM“ VON<br />

PROF. DR. HERBERT DITTRICH, HERAUSGEBER: STIFTUNG DEUTSCHES UHRENMUSEUM<br />

GLASHÜTTE – NICOALS G. HAYEK. SANDSTEIN VERLAG, DRESDEN, 13,50 EURO.<br />

ERHÄLTLICH IM DEUTSCHEN UHRENMUSEUM GLASHÜTTE, IM BUCHHANDEL UND ÜBER<br />

WWW.AMAZON.DE. ISBN 978-3-940319-37-1<br />

Time für München und Wien<br />

Vom 31. Oktober bis 2. November findet im Aktionsforum<br />

Praterinsel in München Deutschlands größte Uhrenausstellung<br />

statt. Auf 1.500 m² erwartet die Besucher ein ganzes<br />

Wochenende lang eine eindrucks volle Schau der großen uhrmacherischen<br />

Innovationen der Gegenwart. So wird sich<br />

bei der MUNICHTIME die gesamte Welt des feinen Uhrenbaus<br />

präsentieren – insgesamt über 60 renommierte Uhrenmarken.<br />

Das Konzept dieser Ausstellung entspricht dem<br />

Vorbild der erfolgreichen VIENNATIME, die sich in den vergangenen<br />

Jahren abseits der Messen in Basel und Genf zur<br />

bedeutendsten europäischen Uhrenschau entwickelt hat.<br />

MUNICHTIME, 31. OKTOBER BIS 2. NOVEMBER 2008, AKTIONSFORUM PRATER -<br />

INSEL, VIENNATIME, 7. BIS 9. NOVEMBER 2008, MUSEUMSQUARTIER WIEN.<br />

INFOS: WWW.MUNICHTIME.DE UND WWW.VIENNATIME.AT<br />

Neuigkeiten Kalendarium<br />

Russische Klänge in <strong>Glashütte</strong><br />

Mit winterlichen Liedern und<br />

gefühlvollen Balladen – begleitet<br />

vom ergreifenden Klang der<br />

Balalaika – wird der Chor der<br />

Don-Kosaken Viktor Kuleschow<br />

am 4. Dezember „Abendstimmung<br />

am Don“ in <strong>das</strong> Atrium<br />

der Manufaktur <strong>Glashütte</strong><br />

<strong>Original</strong> zaubern.Aus den klaren<br />

Stimmen der 23 Sänger wird<br />

dann die russische Seele erklingen.<br />

Die Kosakenlieder erzählen<br />

<strong>von</strong> heldenhaft geschlagenen<br />

Schlachten, <strong>von</strong> Schicksal, Träumen<br />

und Sehnsüchten. Ihre<br />

Schönheit, schwebend zwischen 4. DEZEMBER 2008, ATRIUM,<br />

Heiterkeit und Wehmut, wärmt MANUFAKTUR GLASHÜTTE<br />

die Herzen des Publikums. Der ORIGINAL. KARTEN SIND IN DER<br />

Chor gastierte bereits mit MANUFAKTUR UND AN ALLEN<br />

großem Erfolg in vielen Ländern BEKANNTEN VORVERKAUFS -<br />

Europas. Sein Gründer und<br />

STELLEN ERHÄLTLICH. EINLASS:<br />

Leiter <strong>ist</strong> der Sänger Viktor 19.00 UHR, BEGINN 19.30<br />

Kuleschow, der selbst aus einer UHR, PREIS: VVK 17 EURO,<br />

Kosaken-Familie stammt. AK: 19 EURO<br />

Momentum 3· 2008 27


Fotos: Getty, Imago, Picture Allliance/Picture Press (6)<br />

Manu Factum Gravur<br />

28 Momentum 3· 2008<br />

Gravieren <strong>ist</strong> ein uraltes Handwerk, <strong>das</strong><br />

über Jahrhunderte weitergegeben wurde und<br />

auf Metall, Glas und sogar Stein Kunstwerke<br />

entstehen lässt


Text Elizabeth Doerr<br />

Die Gravur zählt vielleicht <strong>nicht</strong> zu den Tech ni ken,<br />

die zur Herstellung einer Uhr unerlässlich sind,<br />

doch ohne sie wäre die Mechanik des Zeit mes sers<br />

nur eine seelenlose Maschine und ihr Metall so<br />

kalt und leblos wie die Erde, aus der es gefördert<br />

wurde. In ihrer Funktion als dekoratives Medium<br />

<strong>ist</strong> die Gravur durch <strong>nicht</strong>s zu ersetzen, und sie <strong>ist</strong> ganz ohne<br />

Frage eine Wissenschaft für sich – mit einer eigenen Geschichte,<br />

eigenen Techniken und eigenen Künstlern.<br />

Die ersten Gravuren auf Metall sind aus dem 5. Jahrhundert v.<br />

Chr. überliefert. Oft wurde diese Kunstform mit anderen Techniken<br />

wie etwa dem Ziselieren und Treiben kombiniert. Anders als bei der<br />

Gravur wird bei diesen Techniken mit einem Hammer und einem<br />

speziell geformten Metallstab eine Vertiefung in den Werk stoff<br />

geschlagen. Bei der Handgravur hingegen wird immer ein kurzer,<br />

sehr scharfer Metallstab, der so genannte Stichel, <strong>von</strong> Hand über<br />

eine Oberfläche bewegt, wodurch sich viel schärfere Linien erzeugen<br />

lassen als mit anderen Werkzeugen. Mit der Entwicklung der<br />

Alphabete gewann diese Kunstform zunehmend an Bedeutung.<br />

Das fünfzehnte Jahrhundert n. Chr. war der Höhe -<br />

punkt der Gravur als Kunstform. Dies lag <strong>nicht</strong> nur daran, <strong>das</strong>s sie<br />

zur Ausschmückung <strong>von</strong> Rüstungen und Gedenkstücken verwendet<br />

wurde und die Heraldik in dieser Zeit eine entscheidende<br />

Rolle spielte, sondern vor allem daran, <strong>das</strong>s sich die Gravur in der<br />

Renaissance im Zusammenspiel mit den frühen Ausprägungen<br />

des Buchdrucks zu einer eigenen Kunstform entwickelte. Gegen<br />

Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wirkten herausragende Me<strong>ist</strong>er<br />

Die Steingravur zählt zu den frühesten<br />

Gravurformen, wie hier auf einer Wand<br />

in Medînet Hâbu, dem Grabtempel <strong>von</strong><br />

Ramses III. im ägyptischen Luxor<br />

der Gravur. Der berühmteste war Albrecht Dürer (1471–1528), der<br />

als der größte Liniengraveur aller Zeiten gilt und dieses Medium<br />

zu vollkommenem Ausdruck brachte. Dürer war ein Pionier<br />

sowohl auf dem Gebiet der Liniengravur als auch in der Kunst der<br />

Radierung. Im siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert<br />

verlagerte sich der Mittelpunkt der Gravurkunst <strong>von</strong> Deutschland<br />

und den Niederlanden nach Westen und Süden. Insbesondere in<br />

Frankreich und Italien gewannen Porträt-Gravuren an Beliebtheit.<br />

Da diese Gravuren mit Hilfe <strong>von</strong> Tinte und Papier<br />

auch gedruckt wurden, lässt sich die Gravur als erste Kunstform<br />

verstehen, die erfolgreich industrielle Techniken in der Kunst<br />

anwandte. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fertigten<br />

kommerzielle Graveure die ersten Maschinengravuren, und mit<br />

der industriellen Revolution kam den Gravurmaschinen auch in<br />

der künstlerischen Gravur eine immer größere Bedeutung zu. Die<br />

Handgravur wurde <strong>von</strong> maschinellen Abroll-Prägeverfahren und<br />

gewerblichen Gießverfahren abgelöst und war bald so gut wie<br />

ausgestorben – außer zur Ausschmückung <strong>von</strong> Schusswaffen,<br />

Messern, Geschenken und persönlichen Gegenständen wie<br />

Zigaretten etuis, Haarbürsten und Taschenuhren.<br />

Auch heute werden die me<strong>ist</strong>en Gravuren mit verschiedenen<br />

Techniken maschinell ausgeführt. Handgravuren sind weiterhin<br />

selten, und noch seltener findet man Künstler, die diese Technik<br />

beherrschen. Es verwundert <strong>nicht</strong>, <strong>das</strong>s dieses Handwerk in die<br />

Uhrmacherei abgewandert <strong>ist</strong>, eine weitere traditionelle Kunst form<br />

der Alten Welt. Da die Erzeugnisse beider Tätigkeiten bequem<br />

transportiert werden können, sind die beiden Kunstformen ideale<br />

Im fünfzehnten Jahrhundert erreichte die Kunst der<br />

Gravur ihren Höhepunkt. Durch den Einsatz <strong>von</strong> Tinte<br />

und Papier wurde sie zum industriellen Druckverfahren<br />

Momentum 3· 2008<br />

29


Manu Factum Gravur<br />

Partner. Als exquisite und exakte Kunstform ergänzt die Gravur<br />

<strong>das</strong> Erscheinungsbild präziser Uhren und deren Gangwerk ideal.<br />

Die eingravierte Linie <strong>ist</strong> eine einfache und universelle<br />

Art der Ausschmückung. Bei der Intaglio-Gravur wird sie per<br />

Hand direkt in die Oberfläche des gewählten Metalls geritzt. Bei<br />

der Reliefgravur entstehen die Linien und Flächen „ex negativo“,<br />

so <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Motiv aus der Oberfläche hervortritt. Bei der Ätz radie -<br />

rung dagegen wird die Metallplatte mit einer Säure oder Beize<br />

korrodiert – mit Salpetersäure, Schwefel oder einer Salzsäure-<br />

Mischung, die auch als „Holländisches Bad“ bekannt <strong>ist</strong>. Diese<br />

Technik stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Dürer war<br />

einer ihrer Vorreiter. Sie <strong>ist</strong> noch heute weit verbreitet und wird<br />

bei Armbanduhren für eine exakte Motivwiedergabe mit einer<br />

körnigen Textur eingesetzt. Die moderne Bezeichnung für diese<br />

Technik <strong>ist</strong> „chemische Gravur“.<br />

Heute werden Gravuren me<strong>ist</strong> <strong>von</strong> Maschinen durchgeführt. In<br />

der industriellen Fertigung kommen unter anderem Laser und CNC-<br />

Maschinen mit Diamantgravur und Diamantfräser zum Einsatz.<br />

Am Werkzeugarsenal des Me<strong>ist</strong>ergraveurs hingegen hat sich im<br />

Lauf der Zeit kaum etwas geändert. Eine wichtige Innovation war<br />

natürlich <strong>das</strong> Mikroskop, <strong>das</strong> die Augen des Graveurs schont und<br />

es ihm damit ermöglicht, bis ins hohe Alter hinein winzige Metall -<br />

stücke zu bearbeiten. Jochen Benzinger, einer <strong>von</strong> weniger als einer<br />

Handvoll selbstständigen Me<strong>ist</strong>ergraveuren, die es noch in Deutschland<br />

gibt, geht seinem Handwerk jedoch am liebsten auf die traditionelle<br />

Art und Weise nach – und <strong>das</strong> bedeutet auch, sich bei<br />

der Arbeit allein auf <strong>das</strong> eigene Auge zu verlassen. „In meiner<br />

Werkstatt arbeiten wir nach den alten Traditionen und verwenden<br />

nur traditionelle Handwerkzeuge und entsprechende Techniken.“<br />

Benzingers Spezialität sind ornamentale Gravuren, die er mit<br />

sichtbarem Elan ausführt und die er mit überbordenden Mustern<br />

und Motiven mit Weinranken und Blättern ausschmückt. Dabei<br />

berücksichtigt er natürlich auch Kundenwünsche. Zunächst skizziert<br />

er <strong>das</strong> Muster mit einem Ble<strong>ist</strong>ift leicht auf die Oberfläche<br />

und bereichert es dann frei <strong>von</strong> Hand um Weinranken und Blätter.<br />

So wird jedes Motiv zum Unikat.<br />

Amerikanische Profigraveure (<strong>das</strong> Äquivalent zum<br />

europäischen Me<strong>ist</strong>ergraveur) verzieren häufig Schusswaffen und<br />

Messer. Neben den klassischen Monogrammen und Initialen arbeiten<br />

diese Graveure ihre Motive oft dreidimensional aus und fügen<br />

feine Schattenabstufungen und fließende Farbverläufe ein, so <strong>das</strong>s<br />

beinahe fotoreal<strong>ist</strong>ische Porträts entstehen. Eine hierfür verwendete<br />

Technik <strong>ist</strong> die Bulino-Gravur, bei der eng gesetzte Linien<br />

und Punkte so miteinander kombiniert werden, <strong>das</strong>s verschiedene<br />

30 Momentum 3· 2008<br />

Abstufungen <strong>von</strong> Schatten und 3D-Effekte erreicht werden. Der<br />

Graveur schafft so eine Illusion, durch die <strong>das</strong> Bild dem Betrachter<br />

fast wörtlich „ins Auge springt“. Um diesen Effekt zu erzielen, zeichnet<br />

der Graveur den Grundumriss des gewählten Musters auf die<br />

Oberfläche und verstärkt die Konturen durch besonders feine Linien.<br />

Metall <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>das</strong> einzige Material, <strong>das</strong> sich für<br />

Gravuren eignet. Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) tat den be -<br />

rühmten Ausspruch: „Manches Glas erhält seine Form durch die<br />

Glasbläserei, manches wird gedrechselt und anderes graviert wie<br />

Silber.“ Durch Plinius wissen wir, <strong>das</strong>s römische Handwerker<br />

Me<strong>ist</strong>er im Zuschneiden und Gravieren <strong>von</strong> Glas waren. Sie perfektionierten<br />

die komplizierte Technik des Kameenschnitts, bei<br />

der verschiedene Schichten <strong>von</strong> Glas nacheinander und punktuell<br />

geritzt werden, bis <strong>das</strong> Motiv hervortritt. Die deutsche, böhmische<br />

und tschechische Glas- und Steinschneidekunst, eine regionale<br />

Kunstform, erreichte ihren Höhepunkt während des Barock und<br />

hat bis heute überdauert. Im achtzehnten und neunzehnten Jahr -<br />

hundert herrschten pittoreske Motive vor, die in der Technik der<br />

Radgravur ausgeführt wurden. Im Frankreich des späten neunzehn-<br />

Julius Assmann 4 Technische Daten<br />

Mit ihrem ungewöhnlich gestalteten Gehäuse kann <strong>das</strong> Modell Julius Assmann 4<br />

als Taschenuhr an der Goldkette oder als Armbanduhr am Band aus Louisiana-<br />

Krokodilleder getragen werden. Neben einer Gravur auf dem skelettierten<br />

Kaliber 46 zeichnet sich dieses außergewöhnliche Stück hoher Uhrmacherkunst<br />

durch eine eingravierte Nummer auf dem aufklappbaren Deckel aus, die ihre<br />

besondere Exklusivität hervorhebt. Wie auch bei den anderen Modellen der Assmann-Edition<br />

ex<strong>ist</strong>ieren nur 25 Stück dieses technisch und ästhetisch<br />

anspruchsvollen Schatzes der Uhrmacherkunst.<br />

www.glashuette-original.com


Selbstporträt <strong>von</strong> Albrecht Dürer auf Holz aus dem Jahr 1500<br />

(links oben). Die Gravur auf den flachen, skelettierten<br />

Komponenten gibt dem Kaliber 46-12 <strong>von</strong> <strong>Glashütte</strong> <strong>Original</strong><br />

besondere Raffinesse (rechts oben). Zeitgenössische<br />

Glasgravur mit John F. Kennedy <strong>von</strong> Hans-Georg Werlich in<br />

Sachsen (links). Detailreich ausgeführte Gravuren auf<br />

modernen Jagdwaffen der Jagd- und Sportwaffenfabrik GmbH<br />

in Suhl (links unten). Eine Kupferdruckwalze wird bei<br />

Prinovis in Nürnberg auf Fehler geprüft (rechts unten)<br />

Momentum 3· 2008<br />

31


Manu Factum Gravur<br />

ten Jahrhunderts entstanden durch Ätzradierungen romantische Ver -<br />

zierungen als Gravuren und Kameen. Im frühen zwanzigsten Jahr -<br />

hundert zeichneten sich England und Skandinavien durch viel fältigen<br />

Einsatz der Radgravur bei modernen Glas verzie rungen aus.<br />

In den letzten vier Jahrzehnten wurden verstärkt<br />

Dia mant gravuren, Gravuren mit Gravierstiften und Radgravuren<br />

eingesetzt, darunter Dekorationen in Intaglio- (Motiv wird in oder<br />

unter die Oberfläche geritzt) und Relieftechnik (Motiv steht über<br />

der Oberfläche) sowie Kameenschnitte und Ätzradierungen. Seit<br />

einiger Zeit kommen auch Sandstrahlgebläse zum Einsatz.<br />

Auch Murano, die legendäre Glas-Insel vor Venedig, zeichnete<br />

sich vor allem durch ihre Glasgravuren aus. Zu Beginn des fünfzehnten<br />

und sechzehnten Jahrhunderts wurde dort <strong>das</strong> „Sgraffito“<br />

32 Momentum 3· 2008<br />

In seiner Werkstatt in Pforzheim übt Jochen Benzinger die<br />

fast vergessene Kunst des Guillochierens auf h<strong>ist</strong>orischen<br />

Rundzug-Maschinen aus und widmet sich der ornamentalen<br />

Gravur (links). Auf dem Formel-1-Pokal sind die Unterschriften<br />

der Weltme<strong>ist</strong>er eingraviert (links unten). Jan Zander <strong>von</strong><br />

der Azura Laser AG in Berlin prüft eine Glasplatte mit der<br />

Lasergravur einer Raubkatze (rechts unten)<br />

erfunden, ein Glas mit einer Goldschicht, die mit einer Nadel eingeritzt<br />

wird. Vincenzo D’Angelo machte die Diamantgravur auf<br />

Spiegeln und anderen Glasartikeln bekannt. Einige Jahrhunderte<br />

später wurden auch Kupferräder zur Gravur eingesetzt, und 1831<br />

wurde erstmals <strong>das</strong> berühmte Kr<strong>ist</strong>allglas graviert.<br />

Auch Steine lassen sich gravieren, und der Kameen -<br />

schnitt erfreut sich <strong>von</strong> alters her großer Beliebtheit. Dabei wird<br />

der Stein quasi im Relief gestaltet. Besonders die Halbedelsteine<br />

Onyx und Chalzedon eignen sich für diese Kunst, bei der ein<br />

Diamantkopf auf einem Schwungrad eingesetzt wird. Heute übernehmen<br />

me<strong>ist</strong> moderne Laser die Stein- und Glasgravur. Doch<br />

egal, welche Oberfläche auf diese Art verschönert wird – <strong>nicht</strong>s<br />

kann die me<strong>ist</strong>erhafte Hand des Künstlers ersetzen. ✺


Handwerkskunst.<br />

Kunsthandwerk.<br />

<strong>Glashütte</strong> <strong>Original</strong>.<br />

Stifter des Deutschen Uhrenmuseums <strong>Glashütte</strong>.<br />

Handgravur der Schmetterlingsbrücke für <strong>das</strong> Kaliber 66<br />

Die PanoInverse XL.<br />

Kleine filigrane Details, mit größtem<br />

Fingerspitzengefühl kunstvoll graviert, machen<br />

diese Uhr zu einem unverwechselbaren<br />

Unikat. Ihr Handaufzugwerk Kaliber 66 <strong>ist</strong><br />

feinste Mechanik, <strong>von</strong> Hand gefertigt in der<br />

großen Tradition der Uhrenmanufaktur<br />

<strong>Glashütte</strong> <strong>Original</strong>. Erfahren Sie mehr über<br />

uns unter www.glashuette-original.com<br />

oder Telefon +49 35053 46 0.


Zeitströmung Schuhe<br />

34 Momentum 3· 2008<br />

Schuhe<br />

für den Herrn<br />

W<br />

Ähnlich wie die zum Typ und zum Anlass passende Uhr<br />

entscheiden die Schuhe über die Wirkung des Trägers.<br />

Ob edle Konfektion oder Maßarbeit: Hochwertiges Schuhwerk<br />

macht Karriere unter Nadelstreifen und Soutane<br />

Text Jan Lehmhaus Fotos Andreas Achmann


In einem würdigen Hamburger Stadthaus <strong>von</strong> 1888<br />

hat sich Benjamin Klemann mit seinem Familienbetrieb niedergelassen. Hier entstehen die<br />

Klemannschen Maßschuhe, vom Anfertigen der Le<strong>ist</strong>en bis zur finalen Leder-Politur in<br />

Hand arbeit. Klemanns Modelle orientieren sich an den klassischen Grundtypen des Schuhbaus –<br />

ideal für die Hanseaten unter der Kundschaft, die sich weniger Extravaganz in Form und<br />

Farbe wünschen, sondern sich lieber Ungewöhnliches le<strong>ist</strong>en, <strong>das</strong> <strong>nicht</strong> sofort zu erkennen <strong>ist</strong>.<br />

So wie diese Schuhe aus Juchtenleder <strong>von</strong> der „Metta Catharina“: Es <strong>ist</strong> fest, geschmeidig und<br />

bei aufmerksamer Pflege unverwüstlich – seit 200 Jahren. Im 18. Jahrhundert war <strong>das</strong><br />

widerstandsfähige russische Juchtenleder in ganz Europa begehrt. Auf dem Seeweg <strong>von</strong><br />

St. Petersburg nach Genua sank die „Metta Catharina“ im Sturm vor der Küste <strong>von</strong> Cornwall.<br />

Als <strong>das</strong> Wrack knapp zwei Jahrhunderte später entdeckt und die Ladung gehoben wurde, war<br />

<strong>das</strong> Leder fast schadlos. Benjamin Klemann gehört zu den weltweit drei Schuhmachern,<br />

die daraus ganz besondere Schuhe bauen dürfen.<br />

W<br />

Ein Full Brogue wie der <strong>von</strong> Benjamin Klemann <strong>ist</strong> an seiner lochverzierten Flügelkappe zu erkennen.<br />

Für seine Modelle aus ehrwürdig altem Juchtenleder empfiehlt der Schuhmacher eine regelmäßige Behandlung mit Nerzöl<br />

Momentum 3· 2008<br />

35


Zeitströmung Schuhe<br />

Natürlich war es nur ein Gerücht, <strong>das</strong>s Papst Benedikt Schuhe <strong>von</strong> Prada trage.<br />

Tatsächlich hat der Pontifex einen weit exklusiveren Lieferanten: Adriano Stefanelli nämlich, Schuh -<br />

macher in Novara, Italien, der schon die Slipper für Johannes Paul II. fertigte, in feinstem Leder, päpstlichem<br />

Rot – gratis natürlich, schließlich sei er gläubiger Katholik und nehme vom Papst keinen einzigen<br />

Cent, so Stefanelli. Andere Kunden zahlen umso lieber dafür, zu seiner Klientel gehören zu dürfen. Die<br />

bleibt nämlich klein, weil der Me<strong>ist</strong>er <strong>nicht</strong> mehr als vier paar Schuhe im Monat fertig stellen kann –<br />

und sich nebenher auch noch um den Testimonial-Nachwuchs kümmert: um Kardinal Tarcisio Bertone<br />

zum Beispiel. Der <strong>ist</strong> einer der einflussreichsten Männer im Vatikan und gilt als durchaus „papabile“.<br />

Als leidenschaftlichem Fußballfan wird ihm scherzhaft nachgesagt, er treibe heimlich die Gründung einer<br />

vatikanischen Nationalmannschaft voran. Alle Dementis konnten Stefanelli <strong>nicht</strong> da<strong>von</strong> abhalten, schon<br />

mal dieses Paar Stollenschuhe zu bauen, mit Bertones Namen neben der Flagge der Vatikanstadt.<br />

W<br />

Stefanellis Spezialität sind leichte Schuhe aus feinstem Leder. Dieses Konzept <strong>ist</strong> im Prinzip auch auf dem Fußballplatz erfolg -<br />

versprechend, wo seit Jahrzehnten stets die schwereren Stollenschuhe gegen Modelle mit weniger Gewicht verlieren


Seit 1879 schon fertigt Crockett & Jones in Northampton, der<br />

h<strong>ist</strong>orischen Leder-Metropole des Königreichs, <strong>das</strong> ganze Programm klassischer britischer<br />

Herrenschuhe: Loafer für die Freizeit, offiziell wirkende Oxfords und robustere Boots für<br />

die Wochenenden im Landhaus. Natürlich entstehen bei Crockett & Jones auch Paare in<br />

reiner Handarbeit; besondere Tradition aber liegt in der alten Technik des Goodyear-Verfahrens,<br />

des maschinellen Rahmennähens, wie es <strong>das</strong> Haus seit mehr als 125 Jahren praktiziert.<br />

Insgesamt sind es 200 oftmals mühsame Arbeitsschritte, die zum kompletten Schuh führen;<br />

acht Wochen dauert es, bis ein Paar fertiggestellt <strong>das</strong> Werk verlässt und in die Geschäfte wandert,<br />

die Crockett & Jones in London unterhält, dazu in Birmingham, Paris, New York und<br />

Brüssel. Der erste Schritt aber <strong>ist</strong> die Auswahl des geeigneten Leders. Auch Crockett & Jones<br />

lässt sich <strong>von</strong> Gerbereien aus ganz Europa mit bestem Rohstoff beliefern.<br />

W<br />

Der Boot „Cottesmore“ aus maronenfarbenem Kalbsleder <strong>ist</strong> ein sogenannter Jodhpur, ein kurzer Reitstiefel, den der Legende nach der<br />

dortige Maharadscha erfand. Mit der Schnalle lassen sich lange Hosen im Schaft fixieren<br />

Momentum 3· 2008<br />

37


Zeitströmung Schuhe<br />

Wenn John Lobb in London heute vielen als König der Schuhmacher gilt,<br />

war der Beginn der Firmengeschichte alles andere als glanzvoll. John Lobb, Sohn eines Farmers<br />

aus Cornwall, taugte nach einem Beinbruch und einer missratenen Operation <strong>nicht</strong> mehr<br />

für die Landarbeit; ihm blieb die Lehre als Schuhmacher und die Hoffnung auf ein besseres<br />

Leben in Australien, wo er Goldgräbern Boots mit Nugget-Geheimfach baute. Ein paar Stiefel, die<br />

er auf gut Glück dem Prinzen <strong>von</strong> Wales sandte, änderte alles; Lobb wurde Hoflieferant und<br />

ging zurück nach London. Fortan traf sich in seinem Laden in der St. James Street, was<br />

Vermögen, Rang und Namen hatte. Auch heute verlassen nur feinste Maßschuhe die Werkstatt,<br />

und alle tragen zwei Royal Warrants. Diese Zeichen für den Hoflieferanten-Status, beim Prinzen<br />

<strong>von</strong> Wales und dem Herzog <strong>von</strong> Edinburgh, unterscheiden die Londoner Schuhe <strong>von</strong> den<br />

Produkten der gleichnamigen Firma in Paris.<br />

W<br />

Sorgsam klassifiziert Lobb auch Unterarten seiner Klassiker: hier ein Monk mit Doppelschnalle und durch zweifache Naht begrenzter<br />

Kappe. Schick zum Geschäftsanzug, aber – auch in Schwarz – <strong>nicht</strong> formell genug für den abendlichen Empfang


274 Jahre Schuhmacher-Tradition in einem Familienbetrieb sind in<br />

einer Warenwelt, in der handwerkliche H<strong>ist</strong>orie viel gilt, <strong>von</strong> großem Werbe-Wert – und zugleich<br />

eine enorme Last für die neunte Generation, die solch ein betagtes Unternehmen im<br />

21. Jahr hundert führt. Floris van Bommel, der zusammen mit seinem Bruder Reynier die seit<br />

1734 bestehende niederländische Manufaktur van Bommel führt und für Design und Marketing<br />

verantwortlich zeichnet, provoziert mit dem Claim: „Since 1734, bla, bla, bla ...“ Dabei bleibt<br />

<strong>das</strong> Haus – der Titel des königlich niederländischen Hoflieferanten verpflichtet – dem klassischen<br />

Programm treu, produziert in seiner Luxus-Linie „Noble Blue“ in Handarbeit Full Brogues,<br />

One-Cut-Modelle und Norweger. Daneben aber entstehen für die „Floris van Bommel“-Kollektion<br />

neuartige Designs, teils in metallisch glänzendem Leder. Floris traut sich was; <strong>nicht</strong> nur<br />

mit seinen Rock-Videos im Internet, sondern auch mit Crossover-Schuh-Kreationen für junge<br />

Manager. Traditionelle Formen macht er sportlicher, Schweres leicht.<br />

W<br />

Die schlichten Oxford-Schuhe mit ihrer geschlossenen Schnürung sind die richtige Ausrüstung für offizielle Anlässe.<br />

Für Floris van Bommels Variante in silbrig glänzendem Kalbsleder sollten die jedoch <strong>nicht</strong> zu ernst sein<br />

Momentum 3· 2008<br />

39


Fotos: Getty (2)<br />

40 Momentum 3· 2008<br />

Tendenz Schenken


Bitte sehr, danke schön<br />

X<br />

Schenken <strong>ist</strong> mehr als Geben und Nehmen –<br />

es <strong>ist</strong> eine Zeremonie für sich. Wie <strong>ist</strong> die Tradition des<br />

Präsente-Tauschs entstanden? Und was sollte der<br />

Gast weltweit beachten, tun und lassen?<br />

DText Maike Zürcher<br />

ie bunte Schleife löst sich, <strong>das</strong> glitzernde Ge -<br />

schenkpapier fällt raschelnd zu Boden, beglückt<br />

zieht <strong>das</strong> Enkelkind einen riesigen Plastikbagger<br />

aus dem Karton. Die Großmutter – Urheberin des<br />

Geschenks – strahlt mit dem Kind um die Wette.<br />

Schwer zu sagen, wer sich mehr freut, Be schenk -<br />

ter oder Schenkende. „Wenn Sie jemanden für einen Augenblick<br />

glücklich machen, dann sind Sie möglicherweise auch für einen<br />

Augenblick glücklich. Und <strong>das</strong> <strong>ist</strong> die ganze Anstrengung schon<br />

wert“, sagt der Soziologieprofessor Helmuth Berking, der sich in<br />

seinem Buch „Schenken – Zur Anthropologie des Gebens“ mit<br />

dem Thema beschäftigt. Zum Geburtstag, Namenstag, Frühlings fest,<br />

zu Weihnachten, als Gastgeschenk – oder einfach als aufmerksame<br />

Geste zwischendurch: Gelegenheiten zum Schenken schaffen die<br />

Menschen sich, wann immer sie <strong>das</strong> Bedürfnis haben, jemandem<br />

eine Freude zu bereiten. Oder wenn es die Tradition beziehungsweise<br />

Höflichkeit verlangt.<br />

Der oft so selbstlos erscheinende Akt des Schen kens<br />

<strong>ist</strong> allerdings <strong>nicht</strong> immer ein rein altru<strong>ist</strong>ischer. Wenn auch <strong>nicht</strong><br />

bewusst, so steckt doch oft eine Erwartung da hin ter. Sei es <strong>das</strong><br />

dankbare Aufleuchten der Augen des Enkel kinds oder ein Ge dan ke<br />

wie „Bei diesem Diamantring muss sie einfach ,Ja’ sagen.“ Respektive<br />

unter Geschäftspartnern: „Angesichts dieser großzügigen Ein -<br />

la dung zum Dinner kann die Unterschrift unter den Vertrag <strong>nicht</strong><br />

lange auf sich warten lassen.“<br />

Früher sicherte <strong>das</strong> Schenken – insbesondere <strong>von</strong> Nahrungs mitteln –<br />

<strong>das</strong> Überleben und den Frieden ganzer Volksstämme und Sippen.<br />

Auch Frauen waren <strong>nicht</strong> davor gefeit, hin und wieder als<br />

Geschenk-Objekte herausgeputzt und weitergereicht zu werden.<br />

Fern <strong>von</strong> Uneigennützigkeit, hat sich der Brauch des Schenkens<br />

aus dem Akt des Tauschens ergeben. Statt wie beim Kaufen, wo<br />

Geld gegen Ware getauscht wird, wird Ware mit Ware vergolten.<br />

Dieses System des wechselseitigen Gebens, <strong>das</strong> dem Schenken zu -<br />

grunde liegt, hat der französische Ethnologe Marcel Mauss 1925 in<br />

seinem Buch „Die Gabe“ bei den neuseeländischen Maori be -<br />

schrieben: „Es gibt eine Art Tauschsystem oder vielmehr eine Art,<br />

Geschenke zu machen, die zu einem späteren Zeitpunkt zurück -<br />

gegeben werden müssen. Zum Beispiel tauscht man getrockneten<br />

Fisch gegen eingemachte Vögel.“ Heutzutage zeichnen sich Ge -<br />

schen ke häufig dadurch aus, <strong>das</strong>s sie gerade <strong>nicht</strong> lebensnotwendig<br />

sind, sondern durch ihre eigentliche „Überflüssigkeit“ einen<br />

besonderen Luxus darstellen und den Empfänger überraschen.<br />

Dass Geschenke verpflichten, macht sich <strong>nicht</strong> nur die<br />

moderne Werbepsychologie durch kleine, lockende Gaben wie<br />

Parfüm proben oder USB-Sticks zu Nutze. 1492 notierte Chr<strong>ist</strong>o pher<br />

Kolumbus: „Ich sah, <strong>das</strong>s eine Tapetenleinwand über meinem<br />

Bett <strong>das</strong> Wohlgefallen des Königs erregte; ich schenkte sie ihm<br />

und gab ihm ferner eine Kette mit sehr schönen Bernsteinkugeln,<br />

die ich am Hals trug, rote Schuhe und ein Sprengfläschchen mit<br />

Orangenblütenwasser; er freute sich über diese Dinge so sehr (...)<br />

und sagte, wenn ich <strong>von</strong> hier etwas brauchte, so stünde die ganze<br />

Insel zu meiner Verfügung.“<br />

Momentum 3· 2008<br />

41


42 Momentum 3· 2008<br />

Tendenz Schenken<br />

Ein Tabu sollte <strong>das</strong> Weiterreichen <strong>von</strong> Geschenken<br />

sein. Auch wenn es noch so sehr reizt, die Kr<strong>ist</strong>all-Ente <strong>von</strong> der<br />

Großtante bei der nächstbesten Gelegenheit der unsympathischen<br />

Gattin des Kollegen in die Hände zu drücken – man sollte es tunlichst<br />

lassen. Erstens fällt die Geschmacklosigkeit des Geschenks<br />

auf einen selbst zurück, zweitens besteht immer die Gefahr, <strong>das</strong>s<br />

es auffliegt. Nicht immer ging man diskret mit Geschenktem um:<br />

So ließ im Jahr 1515 der indische Sultan als Reaktion auf die portugiesischen<br />

Bestechungsgeschenke König Manuel <strong>von</strong> Portugal<br />

ein Rhinozeros nach Lissabon liefern. Da der gepanzerte Dick -<br />

häuter <strong>nicht</strong> für geeignet befunden wurde, um in den königlichen<br />

Streichelzoo aufgenommen zu werden, verschiffte der Monarch<br />

ihn kurzerhand nach Rom – war doch Papst Leo X. bekannt für<br />

seine Vorliebe für exotische Tiere.<br />

Heutzutage geht der diplomatische Geschenkeaustausch geregelter<br />

zu. Und auch Gastgeschenke in einem anderen Land überlässt der<br />

Reisende oder Geschäftsmann selten dem Zufall. Zahlreiche Knigges<br />

erläutern, worauf der Gast im jeweiligen Land achten sollte. Für<br />

Fettnäpfchen gibt es demnach kaum Entschuldigungen mehr.<br />

Ein Geschenk, <strong>das</strong> in vielen Ländern beliebt <strong>ist</strong>, führt<br />

in China zu einer mehr als peinlichen Situation. „Verschenken Sie<br />

niemals in China eine Uhr – dies würde bedeuten, <strong>das</strong>s die Zeit<br />

des Beschenkten abgelaufen <strong>ist</strong> und sein Be gräbnis ansteht.<br />

Ebenso negativ wäre ein Regenschirm, der den Untergang der<br />

Familie symbolisiert“, erklärt Leo Poon, Brand Mana ger <strong>von</strong><br />

<strong>Glashütte</strong> <strong>Original</strong> in China. Ein Gastgeschenk, mit dem man<br />

<strong>nicht</strong>s falsch machen könne, sei zum Beispiel eine Flasche Wein.<br />

Womit man in China also vor Unannehmlichkeiten gefeit <strong>ist</strong>,<br />

würde in arabischen Ländern unter Umständen Anstoß erregen.<br />

Hier gilt: aus religiösen und kulturellen Gründen lieber keinen<br />

Alkohol, also auch keine Cognacbohnen etc. mitbringen.<br />

Schokolade, Süßig keiten, Blumen, Tischdekorationen sind beliebte<br />

und übliche Mit bringsel. Zu einer eher offiziellen Einladung sollte<br />

man ein <strong>nicht</strong> zu persönliches Geschenk mitbringen, <strong>das</strong> gilt als<br />

unhöflich. Die gerne aufwendig verpackten Geschenke öffnet der<br />

X<br />

Gastgeber erst, wenn der Gast gegangen <strong>ist</strong> – so muss bei<br />

Nichtgefallen <strong>nicht</strong> mühsam Bege<strong>ist</strong>erung vorgetäuscht werden.<br />

Was der Besucher außerdem beherzigen sollte: Keine<br />

Gegenstände des Gastgebers zu lautstark bewundern; es besteht<br />

die Gefahr, <strong>das</strong>s man unversehens <strong>das</strong> gute Stück in den Händen<br />

hält – und sich mit etwas Gleichwertigem revanchieren muss.<br />

Auch in Japan verlangt die Etikette, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Präsent ungeöffnet<br />

beiseite gelegt wird – zu groß könnte sonst der Verdacht der<br />

Habgier sein. Zum guten Ton gehört, <strong>das</strong>s der Gast – der <strong>das</strong><br />

Geschenk mit beiden Händen übergibt – den Wert seiner Gabe<br />

herunterspielt, nach der Art: „Bitte nehmen Sie es an, obgleich es<br />

wertlos <strong>ist</strong>.“ Üblicherweise werden die Geschenke am Ende des<br />

Besuchs übergeben beziehungsweise ausgetauscht.<br />

Mit leeren Händen steht der Gast nirgendwo auf der<br />

Welt gut da, folgt er einer Einladung in <strong>das</strong> Haus seines Gast -<br />

gebers. In Europa <strong>ist</strong> es fast ein Muss, zur Einladung in <strong>das</strong> Haus<br />

des Gastgebers Blumen (in ungerader Zahl!), Pralinen oder ausgesuchte<br />

Spirituosen mitzubringen. Was hingegen den ersten<br />

Geschäftskontakt angeht, steht man zum Beispiel in Lateinamerika<br />

der Schenk-Etikette gelassen gegenüber. Hier wäre es übertrieben,<br />

gleich beim ersten Mal ein Präsent mitzubringen – eine Geste, die<br />

den Gastgeber in Verlegenheit bringen würde. Setzt sich der<br />

Kontakt fort, sind zum Beispiel Geschenke mit Heimatbezug gern<br />

gesehen; Blumen sind eher unüblich. Kennt man sich <strong>nicht</strong> ge -<br />

nauestens in der „floralen“ Sprache aus, sollte man die Finger da <strong>von</strong><br />

lassen, da manche Arten Begräbnissen vorbehalten sind.<br />

Je privater eine Beziehung, desto individueller <strong>ist</strong> die Auswahl des<br />

Geschenks. Und desto mehr gibt der Schenkende <strong>von</strong> sich preis:<br />

wie er sich selbst darstellen möchte und auch, wie er den anderen<br />

einschätzt; welche Vorlieben er <strong>von</strong> ihm kennt oder ihm vielleicht<br />

nur unterstellt. Ist Letzteres der Fall, darf man sich über möglicherweise<br />

zurückhaltende Dankbarkeit <strong>nicht</strong> wundern. Ein ideales<br />

Geschenk spiegelt die schönen Seiten der Beziehung zwischen<br />

Gebendem und Nehmendem wider – fern <strong>von</strong> Anspruchshaltung<br />

oder Selbstdarstellung. Es lässt die Augen aufleuchten. ✺


Momentum 3· 2008<br />

43


Fotos: Getty, Stockfood, Marcolini, Bachhalm<br />

Stil der Zeit Schokolade<br />

44 Momentum 3· 2008<br />

Schwarze Magie<br />

Vorbei die Zeiten kitschig <strong>süß</strong>er Massenware – Schokolade <strong>ist</strong><br />

wieder zu ihrem Ursprung zurückgekehrt: Chocolatiers<br />

und Schokophile schätzen den dunklen Teint ursprünglicher<br />

Kakaosorten. Samt ihrer unendlich sinnlichen Aromenvielfalt<br />

Text Barbara Schulz<br />

Dunkles Geheimnis einer magischen Formel?<br />

„75% fruchtiger Trinitario, gesalzen, dünn ausgegossen<br />

und gekämmt.“ Für den, der <strong>nicht</strong> weiß,<br />

wo sich diese Beschreibung findet: ja! Für alle<br />

an deren: auch. Denn die Rezeptur für die be -<br />

rühm ten Salzstangen aus der Chocolaterie In’t Velt<br />

in Berlin muss magisch sein. Dunkel <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Geheimnis, <strong>das</strong> die<br />

Scho kolade so unendlich sinnlich schmelzen lässt, allemal.<br />

Immerhin wären mit der Wiederentdeckung der<br />

<strong>Bitter</strong>schokolade die wirklich dunklen Zeiten der Bohnen überwunden,<br />

während der <strong>süß</strong>e Massenware, die kaum mehr nach<br />

Kakao schmeckte, den Markt bestimmte.<br />

Denn Kakao <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> einfach Kakao. Da gelten wie beim Wein<br />

rigide Kriterien bezüglich Bohne, Sorte und Herkunft, was allerdings<br />

mit einem Tanz der Sinne belohnt wird: Asso ziationen <strong>von</strong><br />

Süßholz, ein Hauch <strong>von</strong> Aprikose, der Geschmack frischer grüner<br />

Bananen und zarter Havannablätter, feine Nuancen <strong>von</strong> Va nille<br />

und Karamell. Ent sprechend kennt auch die Welt des Kakaos den<br />

„Grand Cru“, wie zum Beispiel die „Chocolat Grand Cru Maracaibo<br />

clasificado 65 %“ des Schweizer Familienunternehmens Felchlin,<br />

die 2004 <strong>von</strong> der unabhängigen „Accademia Maestri Pasticceri<br />

Italia n“ zur besten Schokolade der Welt gekürt wurde.<br />

Angebaut wird vorwiegend im Amazonas-Gebiet, an<br />

der Elfenbeinküste, in Ghana, Indonesien, Brasilien. Kenner schwö-<br />

ren auf Schokolade aus Kakao nur eines Landes oder gar nur einer<br />

Plantage. So hat beispielsweise der spanische Cho co latier Enric<br />

Ro vira, bekannt als Dalí der Chocolatiers für seine sagenhaften<br />

Scho ko-Skulpturen und -Installationen, eine dunkle Jahr gangs -<br />

schoko lade mit 80 Prozent Kakaoanteil auf den Markt gebracht,<br />

deren Boh nen ausschließlich aus der weltberühm ten Plantage <strong>von</strong><br />

Claudio Corallo auf Sao Tomé stammen. Rovira conchiert die<br />

Schoko lade <strong>nicht</strong>, reichert sie aber an mit grob gemah lenen Kakaobohnen<br />

– eine Scho kolade für Pur<strong>ist</strong>en: Ohne Schmelz reibt sie wie<br />

Sand am Gaumen. Ihr Aroma allerdings verursacht eine mittelschwere<br />

Ex plo sion. Dass die Bohne, die darin steckt, <strong>von</strong> entspre -<br />

chender Qualität sein muss, versteht sich <strong>von</strong> selbst. Dabei <strong>ist</strong> es<br />

„nur“ eine Forastero, zwar res<strong>ist</strong>ent, aber längst <strong>nicht</strong> so aromatisch<br />

wie die Criollo, die die Augen schokophiler Gourmets zum Leuch ten<br />

bringt. Die Edle gilt jedoch als Mimose unter den Kakaobohnen<br />

und liefert gerade mal fünf Prozent der Welternte. Natürlich<br />

schwören die großen Cho co laterien auf sie. Seit ein paar Jahren<br />

auch Hol ger in’t Velt, der neben seinen beiden Läden in Berlin eine<br />

kleine Schokoladenfabrik eröffnet hat. „Echte Criollos sind meditative<br />

Schokoladen“, philosophiert er. „Man muss sie langsam auf<br />

der Zunge zergehen lassen. Alles andere <strong>ist</strong> Geldverschwendung.“<br />

Doch natürlich kann es <strong>nicht</strong> nur Criollos geben.<br />

Und natürlich hat man über Sorten nachgedacht, die widerstandsfähiger<br />

sind als die Criollo, dabei facettenreicher im Ge schmack<br />

als die Forastero – die Kreuzung der beiden: Trini tario, res<strong>ist</strong>ent und


„Kein zweites Mal hat die Natur eine solche Fülle<br />

der wertvollsten Nährstoffe auf einem so kleinen Raum<br />

zusammengedrängt wie gerade bei der Kakaobohne“<br />

Alexander <strong>von</strong> Humboldt (1769 – 1859)<br />

Momentum 3· 2008<br />

45


Stil der Zeit Schokolade<br />

<strong>Bitter</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>das</strong> <strong>Gegenteil</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>süß</strong>! <strong>Indes</strong>: Für so viele kulinarische<br />

Spielarten fehlen die Worte<br />

Die Kreationen des belgischen<br />

Chocolatiers Pierre Marcolini sind<br />

kleine Kunstwerke – die Schokolade<br />

stellt der Me<strong>ist</strong>er selbst her


aromatisch zugleich –, und immerhin <strong>ist</strong> hier <strong>von</strong> mehr als 400 Aro -<br />

men die Rede, die in den kleinen Granaten stecken. Und damit<br />

zu rück zur eingangs erwähnten magischen Formel: Trinitario <strong>ist</strong><br />

also Kakao. Was aber haben Salz und Kamm hier zu schaffen? Sie<br />

sind Indiz einer neuen Chocolatier-Generation, die mit viel sinnlicher,<br />

aber auch frecher und mitunter radikaler Kreativität Geschmacks -<br />

welten erschlossen hat, die bislang kaum vorstellbar waren. Und<br />

es sind <strong>nicht</strong> nur die berühmten belgischen Chocolatiers, sondern<br />

auch Deutsche, Franzosen, Italiener, Schweizer, Niederländer.<br />

Neben dem größten Schokoladenhaus Eu ro pas, der Firma Rausch,<br />

steht in Berlin auch die älteste Schokoladenmanufaktur der Welt<br />

<strong>von</strong> Erich Hamann, dem Erfinder der Borkenschokolade. Und<br />

relativ neu, jener In’t Veld, in dessen Regalen sich alle Großen<br />

tummeln, dazu seine selbst produzierten Radikalschokoladen.<br />

Scho ko la tier te Schweine speck krüstchen, Riegel aus 100 Prozent<br />

Kakao, <strong>von</strong> un vor stellbarer Wucht und In ten sität. Und – Salzstangen.<br />

75 % fruchtige, gesalzene Trinitario – eine vergleichsweise brave<br />

Schokovariante. Zum passenden Rotwein aber eine Offenbarung!<br />

Überhaupt <strong>ist</strong> Wein und Schokolade ein großes Thema. Das 100jährige<br />

Familienunternehmen Hirsinger im französischen Arbois<br />

hat sich dessen angenommen und bietet zu jedem Wein der Re gion<br />

die passende Schokolade bzw. Praline, zum Beispiel Anis scho kolade<br />

zum Chardonnay, Ganache vom grünen Pfeffer zum Vin Jaune aus<br />

dem Jura. Von solcherlei Kapriolen sind die neuerdings Schoko -<br />

lade-liebenden Chinesen übrigens weit entfernt: Bis vor einigen<br />

Jahren war Schokolade nahezu unbekannt und wenn, dann <strong>nicht</strong><br />

beliebt in China. Das hat sich geändert, aber: Chinesen bevorzugen<br />

Milchschokolade, allerdings <strong>nicht</strong> so <strong>süß</strong> wie die in Europa.<br />

Die Franzosen sind <strong>nicht</strong> nur bei der Kombination<br />

Schokolade und Wein kreativ: Michel Belin verarbeitet Zichorie und<br />

Havannazigarren, Jean-Paul Hévin in Paris stellt neben angeblich<br />

potenzsteigernden Bois bandés auch Praline n füllungen aus Käse her,<br />

die ganz Jungen schrecken selbst vor Propolis – Bienen kittharz –,<br />

Algen und Oliven <strong>nicht</strong> zurück. Manch einer mag leise seufzen<br />

und den Klassikern der großen Chocolaterie, beispielsweise einem<br />

Palet d’Or, goldverzierter Krö nung der Pralinenkunst, nachtrauern.<br />

Dabei sind Klassi ker die an genehme Pflicht vor der Kür. Pierre<br />

Marcolini in Brüssel <strong>ist</strong> dafür eines der besten Bei spiele: Ihm liegt<br />

Schokolade so sehr am Herzen, <strong>das</strong>s er auf der Suche nach dem<br />

perfekten Geschmack immer am Tüfteln neuer Kombina tionen <strong>ist</strong>.<br />

Dafür fährt er direkt zu den Bauern, um die besten Bohnen der<br />

Welt zu kaufen, lässt sie sich nach Brüssel liefern, wo er auf seiner<br />

sehr alten, sehr seltenen Maschine laufend neue Kreationen<br />

herstellt – immerhin als einer der drei letzten Chocolatiers in<br />

Europa, der seine Scho ko la de selbst herstellt. Natürlich könnte er<br />

sich auch auf hochwertigste Qualität <strong>von</strong> Valrhona, Felchlin oder<br />

In der österreichischen Konditorei Bachhalm wird Zartbitter-<br />

Schokolade mit kandierten Rosen- und Veilchenblättern verfeinert<br />

sonstigen Zulieferern verlassen – diese Fesseln aber wollte sich<br />

Marcolini <strong>nicht</strong> anlegen. Genauso wenig wie die, neuen Trends folgen<br />

zu müssen. Vergebens sucht man unter seinen Produkten<br />

nach aben teuerlichen Kombina tionen. Umso hingebungsvoller sucht<br />

er auf seinen Reisen nach den besten Bohnen und neuen Aro men,<br />

mit denen er Sensationen kreiert, die es kaum sonst irgendwo auf<br />

der Welt gibt. Und natürlich spielt er die ganze Klaviatur der mo -<br />

dernen Patisserie mit seiner Schokolade, die er in jeder Saison neu<br />

vorstellt. Die zudem auch echte Schönheiten sind, etwa die Bel-<br />

Orient-Kollektion vom Sommer 2008: Venezuela-Kakao mit Man -<br />

delmilch-Ganache in Pink und Gold – fast zu perfekt zum Essen.<br />

Beim Maître de Chocolatier Johannes Bachhalm aus<br />

dem österreichischen Kirchdorf an der Krems hat diese Ehrfurcht<br />

vor der Schokolade andere Gründe. Neben so spannenden Krea -<br />

tionen wie kandierten Rosenblättern, rosa oder lila Flieder, weißen<br />

Trüffel-Shiitake oder Walnuss-Tonkabohnen präsentiert er auch eine<br />

mit direktem Draht nach oben: Seine Weihrauchschokolade hat<br />

<strong>nicht</strong> nur dem Herrscher über <strong>das</strong> Weihrauchland Oman, Sultan<br />

Qaboos, die Sinne aufs Schönste vernebelt, selbst Papst Benedikt<br />

kann dem weltlichen Schokoladengenuss <strong>nicht</strong> widerstehen. Sündhafte<br />

Begierde? Mit<strong>nicht</strong>en! Mag der Weihrauch solcherart auch <strong>nicht</strong><br />

direkt himmelan strömen – der Genuss feinster Schokolade war<br />

schon immer göttlicher Natur und die Wollust <strong>nicht</strong> Tod sünde,<br />

sondern Verlangen: nach einem dunklen Stück vom Paradies. ✺<br />

Momentum 3· 2008<br />

47


Quellen: Der Spiegel, AFP, Journal of Neuroscience, PNAS, GEO<br />

Zeitfenster Zahlen & Fakten<br />

48 Momentum 3· 2008<br />

Wussten Sie, <strong>das</strong>s Kinder im Alter <strong>von</strong> vier Jahren durchschnittlich 437 Fragen pro Tag stellen?<br />

Forscher der Universitätsklinik Hamburg stellten fest, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> menschliche Gehirn auch im Alter <strong>von</strong> 60 Jahren<br />

auf <strong>das</strong> Erlernen neuer Fähigkeiten mit Wachstum reagiert. Das verblüffte die Wissenschaftler selbst.<br />

Liebe macht ein bisschen verrückt: Wissenschaftler bewiesen, <strong>das</strong>s Verliebte weniger Schlaf benötigen,<br />

dennoch höchst kreativ sind – allerdings auch risikobereiter im Straßenverkehr – und besonders<br />

morgens und abends übersprudelnde Gefühlswallungen haben. Mehr noch:<br />

Sie können sich tagsüber auch besser und länger konzentrieren.<br />

Erwachsene lachen bis zu 20 Mal täglich, Frauen häufiger als Männer.<br />

Kinder jedoch bis zu 200 Mal.<br />

Wenn man sich den Zeh stößt, reg<strong>ist</strong>riert <strong>das</strong> Gehirn den Schmerz erst<br />

nach einer Fünfzigstelsekunde.<br />

Schnecken können drei Jahre schlafen, ohne zu fressen.<br />

Ein normalerweise glatt rasierter Mann verbringt fünf Monate seines Lebens<br />

mit Rasieren. Dabei entfernt er insgesamt über 8,5 Meter Haar.<br />

Gefühlt sind es zwar oft mehr, doch tatsächlich sind es nur 3,5 Minuten Differenz:<br />

So benötigt ein Herr jeden Morgen im Bad durchschnittlich 24,6 Minuten, eine Dame hingegen 28,1 Minuten.<br />

Zum Stressabbau hat <strong>das</strong> kanadische Einwanderungsmin<strong>ist</strong>erium Sperrstunden für Blackberrys eingeführt:<br />

Die Angestellten sollen ihre Geräte täglich zwischen 19 und 7 Uhr, an den Wochenenden und im Urlaub ausschalten.<br />

Die Entwicklung des Menschen hat in den letzten 80.000 Jahren enorm an Tempo zugelegt. Beim Gen-Check<br />

verschiedener Nationen stellten Forscher aus Utah fest, <strong>das</strong>s sich der heutige Mensch stärker <strong>von</strong> seinem Ahnen aus der<br />

Pharaonenzeit unterscheidet als dieser <strong>von</strong> einem aus der Steinzeit. Zudem werden wir genetisch immer<br />

verschiedener, was sich positiv auf die Weiterentwicklung auswirkt.


Leuchtreifen Momentaufnahme<br />

Licht ins Dunkel<br />

... brachten die Anfang der 1960er-Jahre <strong>von</strong> der Firma Goodyear entwickelten<br />

Leuchtreifen fürs Auto – aus synthetischem Gummi und mit Glühbirnenfassungen in der Felge.<br />

Praktischer Nebeneffekt: leuchtender Be<strong>ist</strong>and, wenn der Strumpf gerichtet werden musste.<br />

Momentum 3· 2008<br />

Foto: Getty<br />

49


Zukunftsmomente Abonnement & Impressum<br />

✄<br />

Impressum<br />

50 26 Momentum 3· 3· 2008 2006<br />

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Redaktion: Antoinette Schmelter de Escobar,<br />

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