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36 Moderne Pioniere

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<strong>Moderne</strong> <strong>Pioniere</strong><br />

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FOTO | ANDREW PARSONS/EYEVINE/PICTURE PRESS<br />

Gehörlose Tänzerin Tai Lihua<br />

Sie besiegte<br />

die Stille<br />

Ob Mailänder Scala oder New Yorker<br />

Carnegie Hall – die Chinesin Tai Lihua wird auf<br />

allen Bühnen gefeiert. Wie keine andere tanzt<br />

sie zur Musik, obwohl sie diese gar nicht hört.<br />

Tai Lihua als „Buddha<br />

mit tausend Händen“: Sie<br />

ist die Erste Tänzerin des<br />

Ensembles „Chinas Künstlertruppe<br />

der Menschen mit<br />

Behinderung“ und entwirft<br />

die Choreografie.<br />

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<strong>Moderne</strong> <strong>Pioniere</strong><br />

In Gebärdensprache instruiert Tai Lihua die Mitglieder des Ensembles (links). Auf<br />

der Bühne setzen die Tänzerinnen ihre Anweisungen um (oben).<br />

Solange ein Mensch lebt, kann er für seine Träume<br />

kämpfen“, sagt Tai Lihua, ohne ein Wort zu sagen.<br />

Die 34-jährige Chinesin spricht Gebärdensprache,<br />

sie formt aus ihren Händen Zeichen. Und beweist,<br />

dass ihre Worte stimmen.<br />

Denn Tai Lihua ist eine echte Pionierin, sie hat Neuland betreten<br />

und als Frau mit Behinderungen Unglaubliches erreicht:<br />

in der Welt des Tanzes wie im gesellschaftlichen Leben.<br />

Tai Lihuas Geschichte beginnt mit Fieber. Als Zweijährige<br />

erkrankt sie schwer, muss ein Antibiotikum nehmen, woraufhin<br />

sie ihr Gehör verliert. Zunächst begreifen ihre Eltern<br />

nicht, was passiert ist, sie denken, ihre Tochter entwickle sich<br />

nur langsamer als andere Kinder. Die aber lachen Tai Lihua<br />

aus. Bei einem Spiel soll sie mit verbundenen Augen die<br />

anderen an der Stimme erkennen. Was sie nicht schafft, nicht<br />

schaffen kann.<br />

Als Tai Lihua mit sieben in eine Gehörlosenschule kommt,<br />

geschieht etwas, das ihr Leben verändert. Ein Lehrer schlägt<br />

die Trommel, um den Kindern Rhythmus nahezubringen.<br />

Durch den Boden spürt das Mädchen die Schwingungen.<br />

„Ich war überwältigt, berührte die Planken mit meinen<br />

Fingerspitzen, wollte sie noch intensiver erleben“, erzählt sie.<br />

„Der Rhythmus breitete sich durch meinen ganzen Körper<br />

aus, ich fühlte, wie mein Herz mit dem Boden schlug. Da<br />

wusste ich, ich will Tänzerin werden.“<br />

Tai Lihuas Eltern schenkten ihr Ballettschuhe. Sie übte, bis<br />

ihre Füße schmerzten. Als sie 15 war, wurde sie von „Chinas<br />

Künstlertruppe der Menschen mit Behinderung“ entdeckt,<br />

einem renommierten Ensemble aus Gehörlosen, Blinden und<br />

Künstlern mit anderen körperlichen Behinderungen. „Die<br />

waren alle so gut, ich fürchtete, nicht mithalten zu können“,<br />

erinnert sich Tai Lihua.<br />

Sie arbeitete an sich. Hartnäckig. Um fünf Uhr morgens<br />

stand Tai Lihua auf, um die Pekingoper zu proben. Nachdem<br />

das Mädchen im Fernsehen den vom chinesischen Star Yang<br />

Liping entwickelten Tanz „Die Seele des Pfaus“ gesehen<br />

hatte, besorgte es sich alle Videobänder und studierte ihn<br />

ein. Eine der ersten Zuschauerinnen: Yang Liping selbst. Nach<br />

der Privatvorführung hielt sich diese ein Tuch vors Gesicht,<br />

um ihre Tränen zu verbergen. Dann sagte sie zu Tai Lihua: „Du<br />

bist unglaublich!“<br />

Seit 2005 ist Tai Lihua nicht nur die Erste Tänzerin des<br />

chinesischen Ensembles von über 100 Künstlern mit Behinderung,<br />

sondern auch deren Leiterin. Sie gastierte mit ihrer<br />

Truppe in mehr als 50 Ländern, „jedes von ihnen auf seine<br />

Weise interessant“, erzählt sie, „wie ein Buch“. Als einzige<br />

Chinesin trat Tai Lihua sowohl in der Carnegie Hall in New<br />

York als auch in der Mailänder Scala auf. Sie rührte das Publikum<br />

zu Tränen in der Opéra national de Paris, bei einem Spendenmarathon<br />

in Las Vegas und in der Großen Halle des Volkes<br />

in Peking. Ihre Auftritte zierten die Abschlusszeremonie der<br />

Paralympics in Athen 2004 und die Eröffnung der Paralympischen<br />

Spiele in Peking 2008.<br />

An diesem Abend tanzt sie in Zagreb. 21 bildhübsche Tänzerinnen<br />

in goldgelben Kostümen verstecken sich hintereinander.<br />

Nur das Gesicht der vordersten Tänzerin ist zu sehen,<br />

das von Tai Lihua. Sie wirkt wie ein „Buddha mit tausend<br />

Händen“ – so heißt das Stück. Die Tänzerinnen öffnen ihre<br />

Arme, bewegen sie synchron durch die Luft und bilden einen<br />

Kreis – alles im Takt der fernöstlich-spirituellen Musik.<br />

Tai Lihua spürt den Rhythmus in ihrem Körper. Aber dieses<br />

Gefühl allein ersetzt nicht ihr Gehör. Deshalb beobachtet<br />

sie immer wieder ihre Lehrer und andere Tänzerinnen, deren<br />

Bewegungen und Rhythmen sich Tai Lihua eingeprägt hat.<br />

Tai Lihua glänzt nicht nur auf der Bühne. Als erste Gehörlose<br />

in China hat sie im Mai 2010 ihren Autoführerschein<br />

gemacht – bis dahin war dies Menschen mit solchen Behinderungen<br />

nicht möglich. Tai Lihua kämpft an vorderster Front<br />

für deren Rechte. Seit 2009 engagiert sie sich auch politisch<br />

erfolgreich für eine bessere Ausbildung von Kindern mit Behinderung<br />

sowie für rollstuhlgerechte Eingänge und blindenfreundliche<br />

Fußgängerüberwege.<br />

Aus der Pionierin in der Kunst ist auch eine Pionierin des<br />

modernen China geworden.<br />

ADRIAN GEIGES<br />

Lassen Sie sich von Tai Lihua verzaubern unter:<br />

www.audi.de/gb2010/rhythmus<br />

FOTOS | PETERLIN/ LAIF (2); LU JUNDE/ IMAGINECHINA/ LAIF<br />

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Sie strahlt<br />

Hoffnung aus<br />

Tai Lihua sagt: „Man sollte<br />

die unglückliche Seite des<br />

Lebens mit einem glücklichen<br />

Herzen betrachten.“<br />

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