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„Es ist alles so verknüpft.“ Uneigentlichkeit und ... - Niklaus Meienberg

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Hugo Loetschers literarische Schweiz. MA-Seminar. HS 07. Prof. H. Fricke<br />

<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel<br />

Eingereicht am 18. Januar 2008 von Pascale Schaller<br />

Fächer: German<strong>ist</strong>ik / Geschichte<br />

Adresse: Juch 51 / 1712 Tafers / pascale.schaller@unifr.ch<br />

in Texten <strong>Meienberg</strong>s


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Telefonnotizen <strong>Meienberg</strong>s, Februar 1991.<br />

Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 421.


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

0. Inhaltsverzeichnis<br />

1. Die Rückeroberung der Sprache – Einleitung.................................................................................- 1 -<br />

2. Theoretische Einführung .................................................................................................................- 3 -<br />

2.1 Die literaturwissenschaftliche Kategorie der <strong>Uneigentlichkeit</strong> .................................................- 3 -<br />

2.1.1 Lingu<strong>ist</strong>ische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Definition...........................................................................- 3 -<br />

2.1.2 Abgrenzung der Indirektheit ..............................................................................................- 6 -<br />

3. Literaturanalytischer Teil ................................................................................................................- 7 -<br />

3.1 <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in der Reportage über Ernst S. ............................................- 7 -<br />

3.1.1 Zwischen Erschiessung <strong>und</strong> Kinderreim – Die Eröffnung eines Spannungsfeldes ............- 8 -<br />

3.1.2 Von Ironie <strong>und</strong> Sarkasmus <strong>und</strong> dem Verweisen auf das, was fehlt ....................................- 9 -<br />

3.1.3 Das Beharren auf der Metapher ........................................................................................- 11 -<br />

3.1.4 Wenn Uneigentliches eigentlich wird – ein Treffen im literarisch geschaffenen Raum..- 13 -<br />

3.2 <strong>Meienberg</strong>, der Sprachkünstler – Ein Blick auf andere Werke................................................- 15 -<br />

3.2.1 Das Spiel mit der <strong>Uneigentlichkeit</strong> ...................................................................................- 15 -<br />

4. Die Funktion von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel .......................- 18 -<br />

4.1 Faktengenauigkeit <strong>und</strong> persönliches Engagement – Objektivitätsanspruch? ..........................- 18 -<br />

4.2 Fiktion im Dienst der Realität..................................................................................................- 22 -<br />

5. Fazit: Zusammenfassende Thesen.................................................................................................- 27 -<br />

6. Exkurs: Konsequenz im Scheitern? <strong>Meienberg</strong> bloss ein Markenartikel?....................................- 28 -<br />

7. Literaturverzeichnis.......................................................................................................................- 31 -<br />

7.1 Primärliteratur..........................................................................................................................- 31 -<br />

7.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur......................................................................................................................- 32 -


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

1. Die Rückeroberung der Sprache – Einleitung<br />

„Klassenkampf findet für mich in der Sprache statt, aber das Wort 'Klassenkampf' würde ich ungern<br />

brauchen. Versuchen die Sprache wieder zurückzuerobern, die verwaltet wird von Leuten, die nichts mit<br />

uns zu tun haben, die offensichtlich schädlich sind für uns. Diese Anstrengung findet bei jedem Adjektiv<br />

statt, beim Rhythmus eines Satzes, den du anders machst als die Reklamesprache oder die abgenutzte Zeitungssprache.<br />

Oder hochgestochen ausgedrückt, wie die Struktural<strong>ist</strong>en sagen: Im ‚Signifiant’, nicht nur<br />

im ‚Signifié’ findet Klassenkampf statt. Wenn man Klassenkampf machen will <strong>und</strong> hat zwar die richtigen<br />

Ansichten, aber in der Sprache findet nichts statt, dann votiere ich im Zweifelsfall für Proust gegen Wallraff.”<br />

1<br />

Journalismus als persönliche Stellungnahme, Sprache als Kampfmittel, Öffentlichkeit als<br />

Raum für Debatten – intellektuelles Engagement zur Förderung einer herausfordernden<br />

Streitkultur: Das sind Ansprüche, die dem Journal<strong>ist</strong>en, an dem sich seiner Zeit die Ge<strong>ist</strong>er<br />

schieden wie an keinem anderen, gerecht werden. Ansprüche auch, denen er, <strong>Niklaus</strong> Meien-<br />

berg, gerecht zu werden suchte. Und dabei ging er keine Kompromisse ein, in keiner Hinsicht,<br />

nicht persönlich, nicht inhaltlich – <strong>und</strong> schon gar nicht sprachlich. „Ich habe nicht im Sinn,<br />

mich auf die schweizerische Gutmütigkeit einzulassen<strong>“</strong> 2 , meinte er. Ganz im Gegenteil; wo er<br />

lebte <strong>und</strong> schrieb, war es aus mit gutmütigem (Ver)Schweigen, mit sprachlichen Streichelein-<br />

heiten <strong>und</strong> einem Journalismus, der das gängige Objektivitätspostulat jedem Inhalt voranstell-<br />

te. <strong>Meienberg</strong> provozierte wie kein anderer, forderte (<strong>und</strong> überforderte wohl teilweise) seine<br />

Leser – <strong>und</strong> trug denn auch immer die Konsequenzen, die unverblümtes Aufmerksammachen<br />

unausweichlich mit sich bringen.<br />

Seine Art des Schreibens war neu, kompromisslos <strong>und</strong> me<strong>ist</strong>ens treffsicher. Er provozierte,<br />

stellte bloss <strong>und</strong> schoss dabei hin <strong>und</strong> wieder über das Ziel hinaus – nicht ohne es vorher ge-<br />

troffen zu haben allerdings. Im dadurch geschaffenen Raum, in diesem Spannungsfeld zwi-<br />

schen intendiertem aufklärerischem oder zerstörerischem Element des Schreibens lebte <strong>und</strong><br />

wirkte er. Die Sprache, die er dabei benutzte, <strong>ist</strong> von eindrücklicher Vielfalt. Nicht nur, aber<br />

auch, was die stil<strong>ist</strong>ischen Mittel betrifft. <strong>Meienberg</strong> konnte direkt sein, davor scheute er sich<br />

nicht. Eben<strong>so</strong> treffsicher allerdings setzte er <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit ein – <strong>und</strong> ver-<br />

wies dabei um<strong>so</strong> wirkungsvoller auf eben nicht Gesagtes <strong>und</strong> doch Gemeintes. Dadurch blei-<br />

ben Stilmittel nicht Stilmittel um ihrer selbst willen, <strong>so</strong>ndern werden zu literarischen Kampf-<br />

mitteln.<br />

1 Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. Gespräch zwischen <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> Otto F. Walter. In: Realismusdebatte<br />

Winter 1983/84. Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. S. 60.<br />

2 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>, zit. nach Reto Caluori.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in verschiede-<br />

nen Texten <strong>Meienberg</strong>s; einerseits mit der Art <strong>und</strong> Funktion ihrer Verwendung <strong>und</strong> anderer-<br />

seits mit der dieser Verwendung zugr<strong>und</strong>e liegenden Einstellung <strong>Meienberg</strong>s zu den sprachli-<br />

chen <strong>und</strong> darstellerischen Möglichkeiten des (nicht nur) journal<strong>ist</strong>ischen Schreibens.<br />

Im ersten Teil der Arbeit werden die Begriffe der <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit definiert<br />

<strong>und</strong> voneinander abgegrenzt. Im zweiten, textanalytischen Teil <strong>so</strong>ll die Verwendung von<br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in Texten <strong>Meienberg</strong>s nachgewiesen <strong>und</strong> charakterisiert<br />

werden. Dabei steht die in Buchform erstmals 1975 veröffentlichte Reportage „Die Erschies-<br />

sung des Landesverräters Ernst S.<strong>“</strong> 3 im Zentrum. Sie wird aus folgendem Gr<strong>und</strong> ge<strong>so</strong>ndert<br />

behandelt: Aus der Reportage <strong>so</strong>llen nicht nur einzelne Beispiele von indirekten <strong>und</strong> uneigent-<br />

lichen Ausrücken herausgearbeitet, <strong>so</strong>ndern eben<strong>so</strong> deren Entwicklung <strong>und</strong> Veränderung im<br />

Textverlauf betrachtet werden, um die gezielte Verwendung, die Funktion <strong>und</strong> die Wirkung<br />

von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit innerhalb des Gesamttextes aufzeigen zu können. Die<br />

auf dieser Gr<strong>und</strong>lage erarbeitete Charakterisierung der uneigentlichen <strong>und</strong> indirekten<br />

Schreibweise <strong>Meienberg</strong>s wird im Folgenden durch Beispiele aus anderen Texten ergänzt.<br />

Schliesslich werden in einem letzten Teil die Folgen <strong>und</strong> die Funktion dieser Uneigentlich-<br />

keit <strong>und</strong> Indirektheit in einem breiteren Kontext betrachtet. Deren Verwendung in journal<strong>ist</strong>i-<br />

schen Texten <strong>und</strong> gerade in einer Reportage, die eigentlich der informierenden Text<strong>so</strong>rte an-<br />

gehört <strong>und</strong> vom interpretierenden <strong>und</strong> wertenden Schreiben abgegrenzt wird, verlangt nach<br />

einer genaueren Begründung. Und diese wiederum führt direkt zur Per<strong>so</strong>n <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong><br />

<strong>und</strong> dessen Einstellung zu Subjektivität <strong>und</strong> Fiktion <strong>und</strong> deren Verträglichkeit mit journal<strong>ist</strong>i-<br />

schen Texten <strong>und</strong> der Rolle des Journalismus im Allgemeinen. Erst dann wird nachvollzieh-<br />

bar, warum <strong>und</strong> wie <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit von <strong>Meienberg</strong> nicht nur verwendet,<br />

<strong>so</strong>ndern bewusst als literarische Kampfmittel eingesetzt werden.<br />

3 Gr<strong>und</strong>lage <strong>ist</strong> die für die Ausgabe von 1992 umgearbeitete <strong>und</strong> erweiterte Version.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

2. Theoretische Einführung<br />

2.1 Die literaturwissenschaftliche Kategorie der <strong>Uneigentlichkeit</strong><br />

Da die gesamte vorliegende Arbeit sich mit den Begriffen der <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indi-<br />

rektheit befasst, wird vorab nicht lediglich deren Definition geliefert, <strong>so</strong>ndern in einem kurzen<br />

lingu<strong>ist</strong>ischen Exkurs die Konstitution von Bedeutung, gegen die durch Stilmittel bewusst<br />

verstossen werden kann, thematisiert. Von dieser Bedeutungskonstitution hängt jedes sprach-<br />

lich-kommunikative <strong>und</strong> auch stil<strong>ist</strong>ische Mittel, sei es selbst im Verstoss gegen sie, in letzter<br />

Konsequenz ab.<br />

2.1.1 Lingu<strong>ist</strong>ische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Definition<br />

An der Konstitution von Bedeutung sind folgende lingu<strong>ist</strong>ischen Elemente beteiligt: das Le-<br />

xem (Sprachzeichen), dessen Bedeutungspotential (in erster Linie Denotation <strong>und</strong> Konnotati-<br />

on), das morphosemantische Feld der Sprache, das durch formale <strong>und</strong>/oder semantische Rela-<br />

tionen organisiert <strong>ist</strong>, die Selektions-Restriktionen der Lexeme, das gebrauchte Wort (das Re-<br />

dezeichen in der mündlichen Äusserung), der Kotext <strong>und</strong> der thematisch bzw. situativ gege-<br />

bene Kontext 4 <strong>und</strong> schliesslich die Richtung der semantischen Kohärenzbildung, die durch<br />

den Kotext <strong>so</strong>wie das Bedeutungspotential der gebrauchten Wörter bestimmt wird. Diese<br />

Elemente bilden das sprachliche F<strong>und</strong>ament der Konstitution von Bedeutung im Rahmen ei-<br />

ner Verständigung zwischen Sprecher <strong>und</strong> Hörer bzw. Schreiber <strong>und</strong> Leser. 5 Verstösse gegen<br />

diese Bedeutungskonstitution sind auf diachroner Ebene sprachgeschichtliche Veränderungen,<br />

die für unseren Zusammenhang nicht weiter von Belang sind. Auf synchroner Ebene aller-<br />

dings sind <strong>so</strong>lche Abweichungen Ausgangspunkt für die literarischen Stilmittel u. a. der U-<br />

neigentlichkeit <strong>und</strong> Indirektheit. Die Konstitution uneigentlicher Bedeutung wird erst ermög-<br />

licht durch eine Störung der semantischen Kohärenzbildung, indem deren Normalrichtung<br />

nicht eingehalten wird. 6 Handelt es sich in diesen Fällen nicht um blosse Fehler, <strong>ist</strong> dem Ab-<br />

weichen von der üblichen Richtung der Kohärenz eine Funktion beizumessen; es muss von<br />

einer zweckmässigen Verwendung von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit ausgegangen wer-<br />

den.<br />

4 Bei Weinrich wird unter „Kontext<strong>“</strong> jeweils die Textumgebung <strong>und</strong> die pragmatische Sprechsituation verstanden.<br />

(Vgl. Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. In: Regeln der Bedeutung. S.41)<br />

5 Vgl. Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. In: Regeln der Bedeutung. S. 139.<br />

6 Vgl. ebd. S. 140.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

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Die Diskussion um Konstitution <strong>und</strong> Funktion von <strong>Uneigentlichkeit</strong> hat vor allem in Bezug<br />

auf die Metapher eine lange Auseinandersetzung erfahren. Dabei <strong>ist</strong> die Theoriegeschichte in<br />

drei zentralen Theorien zusammenzufassen: in der Substitutionstheorie, der Vergleichstheorie<br />

<strong>und</strong> der Interaktionstheorie. Es geht, kurz gefasst, im ersten Fall um die Annahme, es handle<br />

sich bei der Metapher um einen verkürzten oder einen ihr zugr<strong>und</strong>e liegenden Vergleich; im<br />

Falle der Substitutionstheorie um eine Ersetzung eines eigentlichen Wortes durch ein unei-<br />

gentliches <strong>und</strong> in jenem der Interaktionstheorie schliesslich um die Annahme eines spezifi-<br />

schen Zusammenspiels von Metapher <strong>und</strong> Textumgebung. Durch die Textumgebung eines<br />

metaphorischen Ausdrucks werde eine bestimmte Determinationserwartung aufgebaut, gegen<br />

die der metaphorische Ausdruck dann verstosse. Dabei komme es zu einer Konterdetermina-<br />

tion. 7 Der Leser übernimmt die Funktion des Wahrnehmens von uneigentlicher Ausdrucks-<br />

weise als <strong>so</strong>lche; ohne sein Hinterfragen der wörtlichen Aussage kommen ihre Wirkung <strong>und</strong><br />

ihre Funktion nicht zum Tragen.<br />

Was in diesem Fall für die Metapher gilt, trifft für die <strong>Uneigentlichkeit</strong> im Allgemeinen zu.<br />

Eine Diskussion dieser verschiedenen Ansätze kann an dieser Stelle nicht vorgenommen wer-<br />

den, eine Entscheidung für die eine oder andere Theorie wäre nicht weiter von Belang. Die<br />

Annahme einer Interaktion mit Ko- <strong>und</strong> Kontext allerdings <strong>ist</strong> wichtig <strong>und</strong> sicher nicht von<br />

der Hand zu weisen. Die Elemente des Vergleichs <strong>und</strong> der Ersetzung von Wörtern oder Aus-<br />

drücken <strong>so</strong>llen dabei nicht als plausibel bestritten werden, es stellt sich allerdings die Frage,<br />

inwieweit sie in ihrer Konkretheit (eine Ersetzung setzt voraus, dass das eigentliche Wort<br />

fassbar oder definierbar <strong>ist</strong>, ein verkürzter Vergleich zielt auf das Bewusstsein um einen kon-<br />

kreten Vergleichspunkt hinaus) auf literarische Texte <strong>und</strong> in der Textanalyse eine brauchbare<br />

Anwendung finden können. Als grossen Vorzug der Interaktionstheorie betont Zymner die<br />

Abkehr vom ko- <strong>und</strong> kontextunabhängigen Lexem <strong>und</strong> damit die Hinwendung zum verwen-<br />

deten Ausdruck. 8<br />

Als Gr<strong>und</strong>lage der Untersuchung wird der Begriff der <strong>Uneigentlichkeit</strong> zusammenfassend<br />

nach der Definition Rüdiger Zymners verwendet, die besagt, dass Ausdrücke, Textpassagen<br />

oder vollständige Texte als uneigentlich bezeichnet werden können, wenn in Interaktion mit<br />

der Textumgebung <strong>und</strong>/oder der situativen Einbettung mindestens ein Initialsignal darauf<br />

hinwe<strong>ist</strong>, dass die Semantik nicht nach konventionellem Gebrauch, <strong>so</strong>ndern nach abweichen-<br />

7 Vgl. ebd. S. 141.<br />

8 Rüdiger Zymner: <strong>Uneigentlichkeit</strong>. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. S. 728.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

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den Bestimmungen zu verstehen <strong>ist</strong>. Das Initialsignal fordert als Transfersignal dazu auf, eine<br />

der expliziten Aussage entgegen gesetzte oder zumindest von dieser abweichende Bedeutung<br />

zu erschliessen. Daraus resultiert eine unscharfe Ausrichtung der neuen Bedeutung. 9 Ent-<br />

scheidend sind al<strong>so</strong> folgende Elemente: die (1) Interaktion mit der (2) Textumgebung<br />

<strong>und</strong>/oder situativen Einbettung, mindestens ein (3) Initialsignal als (4) Transfersignal <strong>und</strong><br />

schliesslich (5) eine neue, unscharfe Bedeutungsausrichtung.<br />

Die neue Bedeutungsausrichtung als Resultat <strong>und</strong> vor allem deren „Unschärfe<strong>“</strong> sind von gros-<br />

ser Wichtigkeit in Bezug auf Verwendungszweck <strong>und</strong> Funktion der <strong>Uneigentlichkeit</strong> als Aus-<br />

drucksmittel. Mittels <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit wird es möglich, die eigene Meinung<br />

mindestens als Abweichung <strong>und</strong> maximal als entgegen gesetzt zum explizit Gesagten auszu-<br />

drücken, ohne innerhalb dieser Spannbreite explizit Stellung beziehen zu müssen. Kann al<strong>so</strong><br />

davon ausgegangen werden, dass eine Aussage als ironisch oder sarkastisch aufgefasst wer-<br />

den muss, steht erst fest, dass der Verfasser das wörtlich Gesagte nicht meint, allerdings nicht<br />

zwingend, was stattdessen genau seiner Meinung entspräche. Das kann lediglich, wenn über-<br />

haupt <strong>und</strong> mit grösserer oder geringerer Sicherheit, aufgr<strong>und</strong> anderer Merkmale des Textes<br />

eingegrenzt werden. Auf diese semantische Offenheit verwe<strong>ist</strong> Zymner als eine Möglichkeit,<br />

die uneigentliche Rede bewusst zur Vermeidung einer präzisen Festlegung einzusetzen. Da-<br />

durch kann unter anderem auch eine Verständigung möglich werden, obwohl oder gerade<br />

weil alle etwas anderes – wenn nicht komplett Unterschiedliches vom anderen, dann doch<br />

voneinander Abweichendes – verstehen. Während für den Leser das wirklich Gemeinte nur<br />

begrenzt greifbar <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> der Verfasser eben<strong>so</strong> nicht zu einer expliziten Stellungnahme ge-<br />

zwungen.<br />

Aus der neuen, nicht genau festlegbaren Bedeutung uneigentlicher Äusserungen resultiert<br />

zudem, dass dem Verfasser eine Stellungnahme, die er lediglich implizit macht, schwieriger<br />

zum Vorwurf gemacht werden kann. In welchem Mass dieser Umstand Gültigkeit hat, <strong>ist</strong> von<br />

der Stärke <strong>und</strong> der Offensichtlichkeit der Ironie <strong>und</strong> der Eingrenzbarkeit des wirklich Ge-<br />

meinten abhängig. Es gibt verschiedene Abstufungen innerhalb uneigentlicher Ausdruckswei-<br />

sen, die wiederum mit Absicht <strong>und</strong> Ernst der Aussage einhergehen. So wird unterschieden<br />

zwischen den literaturwissenschaftlichen Begriffen der Ironie <strong>und</strong> des Sarkasmus. Der Unter-<br />

schied <strong>ist</strong> gradueller Natur. Während beide Begriffe durch auf ein polares Gegenteil der ober-<br />

flächlichen Ausdruckbedeutung hinweisende Kontextsignale zu definieren sind, wird je nach<br />

9 Vgl. ebd. S. 726.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

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Stärke der Ironiemerkmale von Ironie oder – bei zunehmender Stärke – von Sarkasmus ge-<br />

sprochen 10 . Die Stärke der Abweichung <strong>und</strong> damit der <strong>Uneigentlichkeit</strong> bzw. Indirektheit<br />

kann al<strong>so</strong> variieren. Das tut sie einerseits hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit, andererseits aber<br />

eben<strong>so</strong> hinsichtlich ihrer Appellstruktur. Damit <strong>ist</strong> ein weiteres zentrales Merkmal uneigentli-<br />

cher <strong>und</strong> indirekter Äusserungen genannt, das bereits auf deren Funktion abzielt: die ihnen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende Appellstruktur. Es wird vom Leser eine bestimmte Reaktion provoziert, es<br />

besteht al<strong>so</strong> das Bemühen um eine Einflussnahme auf seine Meinung. Dem Leser wird eine<br />

aktive Beteiligung an der Konstitution von Bedeutung zugesprochen oder abverlangt. Da das<br />

wörtlich Gesagte nicht dem eigentlich Gemeinten einspricht, dieses aber immer nur in eine<br />

ungefähre Deutungsrichtung verwe<strong>ist</strong>, wird der Leser geradezu zurückgeworfen auf seine<br />

eigene Per<strong>so</strong>n; die entschematisierte uneigentliche Bedeutung wird vom Leser produziert <strong>und</strong><br />

<strong>ist</strong> demnach ein durch dessen Grenzen des Sprach- <strong>und</strong> Weltwissens umrissenes Eigenpro-<br />

dukt. Dieses schöpft die Bedeutungsmöglichkeiten, die die lingu<strong>ist</strong>ische Basis bereithält, nie-<br />

mals aus, da die individuellen Möglichkeiten des Sprachbenutzers notwendigerweise hinter<br />

den Möglichkeiten der Sprache zurückbleiben. 11<br />

2.1.2 Abgrenzung der Indirektheit<br />

Weiter <strong>ist</strong> es notwendig, den Unterschied zwischen <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit festzu-<br />

halten. „Nicht jeder, der indirekt spricht, redet auch uneigentlich (<strong>und</strong> umgekehrt), <strong>und</strong> oft<br />

hängt die Unterscheidung von eigentlicher Rede <strong>und</strong> uneigentlicher Rede am seidenen Faden<br />

eines einzigen Wortes.<strong>“</strong> 12 Zymner sieht den Unterschied genauer in der „Bestimmbarkeit des<br />

propositionalen Gehaltes, die bei indirekten Sprechakten unzweideutig möglich <strong>ist</strong>, bei For-<br />

men der <strong>Uneigentlichkeit</strong> jedoch nicht.<strong>“</strong> 13 Das heisst demnach, dass eine indirekte Äusserung<br />

durch eine einzige, ihrer Aussagen entsprechende direkte ersetzt <strong>und</strong> <strong>so</strong> entschlüsselt werden<br />

könnte, wohingegen das tatsächlich Gemeinte bei uneigentlichen Äusserungen nicht durch<br />

eine einzige, ganz bestimmte Äusserung ausgedrückt werden kann. Fricke/Zymner führen<br />

diese Unterscheidung an folgendem Beispiel vor 14 : Die Äusserung „Eine Frau ohne Mann <strong>ist</strong><br />

10 Unter Ironie wird ein Wort oder Ausdruck verstanden, „dessen Kontextsignale seine Semantik auf eines seiner<br />

polaren Gegenteile ausrichten[.] (…) Je stärker die Ironiesignale, desto stärker die Form der Ironie (bis hin zum<br />

Sarkasmus).<strong>“</strong> (Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. S. 56)<br />

11 Vgl. Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. In: Regeln der Bedeutung. S. 157.<br />

12 Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. S. 52.<br />

13 Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. In: Regeln der Bedeutung. S. 152.<br />

14 Vgl. Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. S. 52.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

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<strong>so</strong> komplett wie ein Fisch ohne Fahrrad.<strong>“</strong> <strong>ist</strong> als „Vergleich<strong>“</strong> 15 zu analysieren <strong>und</strong> als indirekte<br />

Äusserung zu charakterisieren. Uneigentlich wird diese erst, wenn der konkrete Bezugspunkt<br />

– in diesem Fall das Prädikativ „komplett<strong>“</strong> – entfernt wird: „Eine Frau ohne Mann <strong>ist</strong> wie ein<br />

Fisch ohne Fahrrad.<strong>“</strong> Das eigentlich Gemeinte bezieht sich nun nicht mehr eindeutig auf den<br />

Umstand der Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit, <strong>so</strong>ndern kann diesen, aber auch ganz<br />

andere betreffen.<br />

Fricke/Zymner betrachten die Figuren der Indirektheit als eine Kategorie der uneigentlichen<br />

Redeformen. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, auf die Definition der einzelnen unten<br />

in einer Übersicht aufgeführten Stilfiguren detailliert einzugehen. 16 Sofern sie im textanalyti-<br />

schen Teil zur Verwendung kommen, werden sie dort definiert.<br />

Metaphern<br />

Verbalmetapher<br />

Metaphorische Ersetzung<br />

Metaphorische Prädikation<br />

Genitivmetapher<br />

Verblasste Metapher<br />

Kühne Metapher<br />

Pathetische Metapher<br />

Konkretisierung des Abstrakten<br />

Belebung des Unbelebten<br />

Anthropomorphisierung<br />

Synästhesie<br />

3. Literaturanalytischer Teil<br />

Uneigentliche Redeformen<br />

Im Umfeld der Metapher<br />

Metaphernkomplex<br />

Katachrese<br />

Per<strong>so</strong>nifikation<br />

Allegorie<br />

Symbol<br />

Chiffre<br />

Emblem<br />

3.1 <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in der Reportage über Ernst S.<br />

Die hier ins Zentrum gestellte Reportage <strong>Meienberg</strong>s „Die Erschiessung des Landesverräters<br />

Ernst S.<strong>“</strong> bietet ein ganzes Arsenal an verwendeten Stilfiguren. Sie <strong>alles</strong>amt aufzuführen, <strong>ist</strong><br />

nicht das Ziel der Betrachtung. Vielmehr <strong>so</strong>ll aufgezeigt werden, dass <strong>Meienberg</strong> die Stilfigu-<br />

ren nicht (nur) in der <strong>so</strong>nst üblichen Form verwendet, d. h. uneigentlich schreibt, <strong>so</strong>ndern mit<br />

der <strong>Uneigentlichkeit</strong> wiederum sprachlich spielt. Zudem bietet der Text die Möglichkeit, die<br />

ganze Spannbreite zwischen Eigentlichkeit <strong>und</strong> <strong>Uneigentlichkeit</strong> zu erfassen.<br />

15 Unter Vergleich wird die syntaktische Verbindung einer eigentlichen Prädikation mit einer zweiten verstanden.<br />

Vgl. Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. S. 52.<br />

16 Ausführliche Ausführungen <strong>und</strong> Definitionen einzelner Stilfiguren vgl. Harald Fricke u. Rüdiger Zymner:<br />

Einübung in die Literaturwissenschaft / Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />

- 7 -<br />

Figuren der Indirektheit<br />

Vergleich<br />

Periphrase<br />

Synekdoche<br />

Metonymie<br />

Antonomasie<br />

Ironie<br />

Ironie bzw. Sarkasmus


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

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3.1.1 Zwischen Erschiessung <strong>und</strong> Kinderreim – Die Eröffnung eines Spannungsfeldes<br />

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1942 wurde der Fahrer Ernst S. in seinem<br />

23. Lebensjahr unweit von Jonschwil (Kanton St. Gallen) in einem Wald erschossen,<br />

etwas unterhalb der Häusergruppe namens Bisacht. 17<br />

So beginnt die in Buchform erstmals 1975 in „Reportagen aus der Schweiz<strong>“</strong> veröffentlichte<br />

Reportage 18 über den Landesverräter Ernst S.; eine erste Information, auf der Ereignisebene<br />

die inhaltlich notwendigste überhaupt: der Umstand der Erschiessung, zudem eine zeitliche<br />

<strong>und</strong> örtliche Situierung. Die Äusserung <strong>ist</strong> im Stil einer informativen Darstellung gehalten,<br />

mit präzisen Angaben zum Ort, an dem die Erschiessung stattgef<strong>und</strong>en hat. Gebrochen wird<br />

die informative Darstellung allerdings bereits vorher: Einleitend, im Paratext, zwischen Titel<br />

<strong>und</strong> Textbeginn wird ein Schweizer Kinderreim aufgeführt:<br />

Abzele<br />

Böle schele<br />

D’Chatz got uf<br />

Walisele<br />

Chunt si wider hei<br />

Hät sie chrummi Bei<br />

Piff Paff Puff<br />

Und du bisch ehr- <strong>und</strong><br />

Redlich duss.<br />

Schweizer Kinderreim<br />

Ein erster Gegensatz wird deutlich; die „Erschiessung<strong>“</strong> scheint mit dem „Kinderreim<strong>“</strong> auf<br />

einer ersten inhaltlichen Ebene zu kollidieren <strong>und</strong> daraus resultiert für den Leser eine Span-<br />

nung, die vorerst nicht genau definierbar <strong>ist</strong>, aber Fragen aufwirft <strong>und</strong> gleichzeitig die ent-<br />

scheidenden Komponenten der nachfolgenden Reportage nennt: die Erschiessung, der Lan-<br />

desverrat – der Schweizer Kindervers? Angesichts des Titels wird der Kinderreim unmittelbar<br />

in einen neuen Kontext eingebettet – <strong>und</strong> verliert seine übliche, harmlose Bedeutung. Die Zu-<br />

fälligkeit des „Abzele[ns]<strong>“</strong>, das „ehr- <strong>und</strong> redlich[e]<strong>“</strong> Ausgrenzen wird vom unbeschwerten<br />

Spielplatz in einen neuen, komplett entgegen gesetzten Kontext integriert. Der implizite Ver-<br />

17 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 7.<br />

18 Reportage bezeichnet eine journal<strong>ist</strong>ische Technik bzw. ein journal<strong>ist</strong>isches Genre, das der wirklichkeitsbezogenen,<br />

informierenden Text<strong>so</strong>rte angehört <strong>und</strong> von interpretierenden <strong>und</strong> vor allem bewertenden Text<strong>so</strong>rten<br />

abgegrenzt wird. Vgl. Günter Bentele: Reportage. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. S. 266.<br />

Die Zuordnung der Texte <strong>Meienberg</strong>s zur Gattung der Reportage steht in der wissenschaftlichen Diskussion<br />

gerade wegen der Stellungnahmen <strong>und</strong> Beurteilungen des Dargestellten durch den Verfasser nicht ausser Zweifel.<br />

Eine Gattungsdefinition wird hier nicht vorgenommen, allerdings <strong>so</strong>ll im dritten Teil der Arbeit die Frage<br />

des Verhältnisses von Objektivität bzw. Subjektivität <strong>und</strong> journal<strong>ist</strong>ischen Text<strong>so</strong>rten (insbe<strong>so</strong>ndere der Reportage)<br />

eingegangen werden.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

gleich der Erschiessung mit dem willkürlichen Abzählen im Kinderreim steckt bereits eine<br />

Spannbreite an mit Tragik konnotierter Spannung ab, bevor diese Erschiessung überhaupt<br />

explizit zum Thema gemacht wird. Zudem wird dieser Rahmen durch das Attribut „Schwei-<br />

zer<strong>“</strong> Kindervers <strong>und</strong> den Schweizerdialekt weiter präzisiert <strong>und</strong> nicht nur in der Schweiz situ-<br />

iert, <strong>so</strong>ndern eben<strong>so</strong> in eine suggestive Nähe zum „einfachen<strong>“</strong> Bürger <strong>und</strong> seinem Alltag ge-<br />

bracht. Das wird durch sprachliche Finessen bereits im Titel angetönt; für eine lediglich be-<br />

schreibende, amtlichere Darstellung wäre „Hinrichtung<strong>“</strong> ein neutraleres Wort gewesen.<br />

Die nachfolgende Reportage wird sich in ihren Aussagen auf diesem abgesteckten Terrain,<br />

zwischen den einzelnen Polen <strong>und</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong> der implizit aufgeworfenen Leitfra-<br />

gen, bewegen. Von einer lediglich abbildenden, informativen Darstellung muss bereits abge-<br />

sehen werden, bevor der Haupttext beginnt.<br />

3.1.2 Von Ironie <strong>und</strong> Sarkasmus <strong>und</strong> dem Verweisen auf das, was fehlt<br />

Ironie wird in verschiedenen Formen im Text umgesetzt. Fassbar wird das eigentlich Gemein-<br />

te der uneigentlichen Äusserung, al<strong>so</strong> die neue unscharfe Bedeutungsrichtung, im Satz „Ernst<br />

S. kam ‚als einziger der siebzehn Erschossenen in den Genuss einer psychiatrischen Untersu-<br />

chung’<strong>“</strong>: Das Gegenteil 19 des explizit Gesagten wird mindestens <strong>so</strong>weit eingrenzbar, als die<br />

psychiatrische Untersuchung mit Sicherheit kein „Genuss<strong>“</strong> gewesen <strong>ist</strong>. 20<br />

Die Ironie <strong>ist</strong> nicht überall gleichermassen deutlich als Stilfigur nachweisbar. In der Darstel-<br />

lung der Augenzeugenberichte über die Erschiessung wird eine Aussage folgendermassen<br />

wiedergegeben:<br />

Dieser Oberleutnant, ein „phantastischer Schütze<strong>“</strong>, habe seine P<strong>ist</strong>ole gezückt <strong>und</strong>, mit<br />

Geschicklichkeit aus nächster Nähe zielend, einen Schuss abgegeben, welchen man<br />

wirklich „Tells Geschoss<strong>“</strong> nennen könne. Dieser sei stracks in den Tränenkanal eingedrungen,<br />

ohne Verwüstungen am Schädel des S. anzurichten, <strong>so</strong> dass den Zuschauern<br />

der Anblick von herumspritzenden Hirnteilen <strong>und</strong> dergleichen erspart worden sei.<br />

Unter Verwendung der eingangs aufgeführten Definition von Ironie bzw. Sarkasmus <strong>so</strong>llen an<br />

diesem Beispiel exemplarisch die von Zymner genannten Merkmale – (1) Interaktion mit der<br />

(2) Textumgebung <strong>und</strong> oder situative Einbettung, mindestens ein (3) Initialsignal als (4)<br />

Transfersignal <strong>und</strong> schliesslich (5) eine daraus resultierende neue unscharfe Bedeutungsaus-<br />

richtung – genannt werden:<br />

19 Ebd. S. 23.<br />

20 Hier wird von einem kontradiktorischen Gegensatz gesprochen. Ausführungen zum Gegensatz-Kriterium <strong>und</strong><br />

die unterschiedlichen Arten der Opposition vgl. Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft.<br />

S. 208-210.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Die oben aufgeführte Textpassage kann als Ironie bezeichnet werden, weil alle fünf Ironie-<br />

Merkmale offensichtlich erfüllt sind:<br />

(1) (2) Es besteht eine Interaktion mit der Textumgebung, die die Aussage zur Ironie<br />

macht; der Kontrast zum eigentlich geschilderten Ereignis, der Erschiessung, die – auch<br />

unabhängig von den genauen Umständen – als ernst <strong>und</strong> tragisch einzuschätzen wäre.<br />

(3) (4) Initialsignal <strong>und</strong> <strong>so</strong>mit Transfersignal bilden einerseits die peinlich genaue Be-<br />

schreibung des in Bezug zum eigentlichen Ereignis Unwesentlichen <strong>und</strong> andererseits die<br />

darin verwendeten Formulierungen wie beispielsweise der Ausdruck „Tells Geschoss<strong>“</strong> –<br />

der einen inhaltlich unmotivierten <strong>und</strong> unpassenden Vergleich mit dem Tell-Mythos an-<br />

knüpft herstellt –, das Verb „zückt<strong>“</strong> <strong>und</strong> das Adverb „stracks<strong>“</strong>. Die Schilderung erscheint<br />

dadurch absurd, verniedlichend <strong>und</strong> lächerlich.<br />

(5) Die neue unscharfe Bedeutungsausrichtung entsteht als Folge der Merkmale (1) bis (4):<br />

Die Art der Wiedergabe der Zeugenaussage verwe<strong>ist</strong> nicht auf den Hergang des Gesche-<br />

hens <strong>so</strong>ndern auf die Absurdität des Geschilderten <strong>und</strong> der Schilderung durch den Ober-<br />

leutnant; oder besser: der Verweis geht in diese Richtung. Der Bedeutungsraum wird nicht<br />

genauer eingegrenzt <strong>und</strong> bleibt damit unscharf.<br />

Dass es hier al<strong>so</strong> nicht darum geht, das Vermögen des Schützen <strong>und</strong> den Umstand, dass der<br />

Schädel unverwüstet blieb, lobend zu beschreiben, wird dem Leser deutlich. Zudem wird die<br />

Schilderung dadurch, dass sie <strong>so</strong> detailliert <strong>ist</strong> <strong>und</strong> <strong>so</strong> detailliert am eigentlich zu Beschrei-<br />

benden vorbeigeht, vollkommen lächerlich gemacht. Absurd <strong>ist</strong> sie aufgr<strong>und</strong> der Gewichtung<br />

des Dargestellten: Die Per<strong>so</strong>n des Hingerichteten wird mit keinem Wort erwähnt. Ernst S.<br />

kommt in dieser Beschreibung seiner eigenen Hinrichtung nicht vor. Sein Befinden, sein Ver-<br />

halten haben keinerlei Präsenz, ihnen wird nicht die geringste Wichtigkeit beigemessen.<br />

Stattdessen wird geschildert, dass die Kugel in den Tränenkanal eingedrungen sei, eine Beo-<br />

bachtung, die in der Realität ausgeschlossen <strong>und</strong> vor allem ganz nebensächlich <strong>ist</strong>. Noch ab-<br />

surder <strong>ist</strong> die Annahme, dass ein Beobachter dieses Detail bemerken <strong>und</strong> später Zeugnis dar-<br />

über ablegen könnte – <strong>und</strong> selbst wenn: Im realen Geschehen wäre es von ab<strong>so</strong>luter Belanglo-<br />

sigkeit. Eben<strong>so</strong> belanglos müsste in der Realität der Umstand gewertet werden, dass die Zu-<br />

schauer nicht zusätzlich durch den Anblick von Gehirnteilen belastet würden. In einer Reali-<br />

tät, in der Ernst S. gebührend ernst genommen werden würde nämlich, wäre das Wohlbefin-<br />

den der Umstehenden nicht prioritär. „Denn S. war ganz demokratisch zu Tode gebracht wor-<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

den, unter Einhaltung des Instanzweges.<strong>“</strong> 21 , wird denn auch an anderer Stelle verdeutlicht;<br />

dass, wie <strong>und</strong> warum die Erschiessung zustande kam, scheint nicht weiter von Belang zu sein,<br />

Hauptsache, der Dienstweg wurde eingehalten.<br />

Hier wird uneigentlich auf Umstände verwiesen, die gerade nicht erwähnt werden, auf das<br />

eigentlich Entscheidende, das eigentlich Wichtige. 22 Dementsprechend besteht eine neue un-<br />

scharfe Bedeutungsrichtung im Verweis auf die Absurdität des Vorhandenen <strong>und</strong> das Fehlen<br />

des Entscheidenden. Dasselbe gilt für den folgenden Ausschnitt:<br />

Dem Feldprediger obliegt es, die Exekutanden derart mit ihrem Schicksal zu versöhnen<br />

<strong>und</strong> aufs Jenseits zu vertrösten, dass sie ohne Aufhebens in den Tod gehen. Ein Exekutand,<br />

der sich sträubt <strong>und</strong> bis zum letzten Moment Widerstand le<strong>ist</strong>et, könnte das Exekutionspeloton<br />

in Verwirrung bringen <strong>und</strong> das Exekutionsprotokoll stören. 23<br />

Mit dem Hinweis auf die Aufgabe des Feldpredigers während der Exekution wird erneut auf-<br />

gezeigt, dass den Interessen von Ernst S. keinerlei Bedeutung beigemessen worden <strong>ist</strong>. Da-<br />

durch wird die Aussage immer greifbarer, dass Ernst S. instrumentalisiert <strong>und</strong> ein Opfer der<br />

Justiz gewesen sei; „[d]ie Richter hatten ihm beigebracht, dass er ein Sauh<strong>und</strong> sei, wenn auch<br />

nicht mit diesem Wort; jetzt glaubte er es.<strong>“</strong> 24 , wird später ausgeführt.<br />

Der Hinweis, dass Ernst S. hingerichtet worden <strong>ist</strong>, während viele andere, „die ausländischen<br />

Spione, die vielen Nazis<strong>“</strong> 25 davon gekommen seien, wird ergänzt durch die Bemerkung: „Üb-<br />

rigens praktisch: Man kann sie auch deshalb nicht zum Tod verurteilen <strong>und</strong> erschiessen, weil<br />

Deutschland <strong>so</strong>nst vielleicht brutal reagieren würde; hier fällt das moralische Bedürfnis sehr<br />

schön mit dem politischen Imperativ zusammen.<strong>“</strong> 26 Die zynische Haltung wird hier durch<br />

Wörter wie „übrigens<strong>“</strong>, „praktisch<strong>“</strong> <strong>und</strong> „sehr schön<strong>“</strong>, die im Widerspruch zur eigentlichen<br />

Wichtigkeit der beschriebenen Tatsache stehen, deutlich zum Ausdruck gebracht.<br />

Textbeispiele dieser Art liessen sich unzählige aufführen; der grösste Teil der Reportage ent-<br />

spricht hinsichtlich der <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit dem eben Beschriebenen.<br />

3.1.3 Das Beharren auf der Metapher<br />

Über die St. Galler Bourgeoisie wird in <strong>Meienberg</strong>s Reportage Folgendes ausgeführt:<br />

So glimpflich (<strong>und</strong> noch glimpflicher) kamen die Herrschenden <strong>und</strong> ihre Werkzeuge<br />

davon. Wenn man all diese Beziehungen zu Faden schlägt, erhält man eine echte St.<br />

21 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 25.<br />

22 Weitere Ausführungen zu detaillierten Beschreibungen dieser Art <strong>und</strong> deren Funktion folgen in Kapitel 4.2.<br />

23 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 9f.<br />

24 Ebd. S. 133.<br />

25 Ebd. S.138.<br />

26 Ebd. S. 139.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Galler Stickerei, ein charmantes Gewebe aus den dreissiger <strong>und</strong> vierziger Jahren, <strong>und</strong><br />

manchmal <strong>ist</strong> ein Hackenkreuzlein eingestickt. 27<br />

Mehrere Ausdrücke aus einem Bildbereich werden hier zu einem Metaphernkomplex 28 zu-<br />

sammengefügt. Aus dem „Zu-Faden-Schlagen<strong>“</strong> wird die „St. Galler Stickerei<strong>“</strong> <strong>und</strong> aus ihr<br />

wiederum ein „charmantes Gewebe<strong>“</strong>, in das sich „Hackenkreuzlein<strong>“</strong> (wohl bemerkt ein iro-<br />

nisch verharmlosender Diminutiv) einsticken lassen: Dem Leser wird die Stickerei geradezu<br />

vor Augen geführt. Dass dann zusätzlich die Bemerkung folgt: <strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> sehr <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong> 29 ,<br />

treibt den Metaphernkomplex geradezu auf die Spitze. Durch dieses Beharren auf dem Bild-<br />

bereich <strong>und</strong> die zusätzliche Verdichtung durch die Klimax Zu-Faden-<br />

Schlagen/Stickerei/Gewebe <strong>und</strong> die Anthropomorphisierung (das charmante Gewebe) wird<br />

für den Leser die Metapher als Metapher geradezu entlarvt, es kommt für ihn erkennbar das<br />

Spielen mit Worten <strong>und</strong> Formulierungen zum Ausdruck, das einen Gegensatz bildet zur ei-<br />

gentlichen Ernsthaftigkeit der Thematik. Es sei an den eingangs erwähnten Kindervers erin-<br />

nert, der in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zum Thema steht. Diese Spannung <strong>ist</strong> hier<br />

wiederum nachweisbar <strong>und</strong> sie <strong>ist</strong> exemplarisch für den gesamten Text.<br />

Wie <strong>Meienberg</strong> nicht nur uneigentliche Redeformen verwendet, <strong>so</strong>ndern mit deren Charakte-<br />

r<strong>ist</strong>iken spielt, wird auch an folgender Textpassage deutlich: Im Zusammenhang mit Ausfüh-<br />

rungen über die Firma Ganzoni & Cie AG wird auf deren „Erfindung des medizinischen<br />

Kompressionsstrumpfes ‚Sigvaris’<strong>“</strong> 30 hingewiesen. Drei Seiten später <strong>ist</strong> von Johann Arnold<br />

Mettler, dem Textilbaron, die Rede, der den Arbeitern Angst einjage; „im Militärdienst konn-<br />

te man Leute endgültig korsettieren, die in der Fabrik noch zu wenig Disziplin gelernt hatten.<br />

Die kamen dann in den militärischen Kompressionsstrumpf.<strong>“</strong> 31 Der „Kompressionsstrumpf<strong>“</strong><br />

wird – bevor er als Metapher uneigentlich wiederaufgenommen wird – eigentlich verwendet.<br />

Dass die Leute „korsettiert<strong>“</strong> werden, greift auf den gleichen Bedeutungsraum zurück. Häufig<br />

wird bei <strong>Meienberg</strong> die <strong>Uneigentlichkeit</strong> uneigentlicher Stilfiguren geradezu vorgeführt, in-<br />

dem wörtlicher <strong>und</strong> übertragener Gebrauch von Begriffen oder Ausdrücken kombiniert wer-<br />

27 Ebd. S. 67.<br />

28 Unter Metaphernkomplex wird die „Verbindung mehrerer, jedoch mindestens zweier metaphorischer Ausdrücke<br />

aus einem Bildbereich<strong>“</strong> verstanden. (Vgl. Harald Fricke u. Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft.<br />

S. 48)<br />

29 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 67.<br />

30 Ebd. S. 74f.<br />

31 Ebd. S. 77.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

den. 32 Über diesen Umgang mit der Sprache <strong>und</strong> die Konsequenz davon schrieb Marianne<br />

Fehr: „[D]iese radikale Lust am Formulieren provozierte eine Lust beim Lesen, selbst wenn<br />

das Thema traurig war.<strong>“</strong> 33<br />

Die Lust am Fabulieren wird hier eben<strong>so</strong> greifbar wie das Radikale an ihr. Und eben<strong>so</strong> erklär-<br />

bar wird denn auch die spürbare D<strong>ist</strong>anz zwischen Text <strong>und</strong> Autor: Das Spielen mit Worten<br />

<strong>und</strong> Ausdrücken, diese radikale Lust am Formulieren trotz oder gerade wegen der Ernsthaf-<br />

tigkeit des Themas setzt eine (zynische) D<strong>ist</strong>anzierung voraus. Das Mittel der Darstellung<br />

genau dieser spürbaren D<strong>ist</strong>anz <strong>und</strong> folglich entstehenden Spannung sind in dieser Reportage<br />

in erster Linie <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit des Geschriebenen. Der Verfasser verfügt im<br />

Text über eine stark wahrnehmbare Präsenz, er wird aber nicht konkret fassbar. Eine Stel-<br />

lungnahme seinerseits zur Erschiessung von Ernst S. <strong>ist</strong> stets merkbar <strong>und</strong> doch nicht explizit<br />

ausgeführt. Und das <strong>ist</strong> exakt das entscheidende Merkmal für Indirektheit <strong>und</strong> vor allem<br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong>.<br />

Um diesen Umstand zu verdeutlichen, <strong>so</strong>ll die Entwicklung uneigentlicher Redeformen im<br />

Textverlauf skizziert werden. Die D<strong>ist</strong>anz zum Geschriebenen <strong>und</strong> die Fassbarkeit des eigent-<br />

lich Gemeinten sind in ihrer Stärke nicht konstant. Sie variieren <strong>und</strong> bewegen sich zwischen<br />

den eingangs erwähnten Polen von Uneigentlich- bzw. Eigentlichkeit. An einer einzigen Stel-<br />

le nun wird aus <strong>Uneigentlichkeit</strong> auf einmal Eigentlichkeit – <strong>und</strong> auch das auf eindrückliche<br />

<strong>und</strong> exemplarische Weise.<br />

3.1.4 Wenn Uneigentliches eigentlich wird – ein Treffen im literarisch geschaffenen Raum<br />

Während das eigentlich Gemeinte, eine klare Meinungsäusserung, immer wahrnehmbar <strong>ist</strong>,<br />

aber nie explizit formuliert wird, beginnt ungefähr Ende des ersten Textdrittels ein neuer Ab-<br />

schnitt folgendermassen:<br />

Ernst S. <strong>ist</strong> kein Kuriosum. Er <strong>ist</strong> auch keine Antiquität. Er <strong>ist</strong> die Lackmusprobe: er<br />

zwingt die Gesellschaft, Farbe zu bekennen. Er macht Strukturen sichtbar. Da lehnt sich<br />

einer behutsam auf, verhält sich ein wenig anders als seine Klassengenossen, <strong>und</strong> schon<br />

schlägt die Gesellschaft mit voller Wucht zu. Sie schlägt nach unten, mit Vorliebe nach<br />

ganz unten, auf die Lumpenproletarier. S. war normal, unerlaubt normal, aber nicht genormt.<br />

(...) Parieren statt krepieren. Vom Exekutionspeloton erhält <strong>alles</strong> rückwirkend<br />

seine eigentliche Farbe: Fabrikpeloton, Schulpeloton, Vorm<strong>und</strong>peloton. 34<br />

32 Wie weit <strong>Meienberg</strong> dabei gehen kann, vermag das Beispiel des Kastratenchors in der Reportage über den<br />

Papstbesuch aufzuzeigen, wo exemplarisch mit der Lesererwartung <strong>und</strong> wörtlichem <strong>und</strong> übertragener Bedeutung<br />

gespielt wird. Vgl. <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit.<br />

33 Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 9.<br />

34 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 53.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Einerseits wird die Hauptaussage des Textes zusammengefasst, andererseits wird Stellung<br />

bezogen zu Ernst S. Darauf folgt eine Aufforderung: „Man sage nicht: S. <strong>ist</strong> eine Ausnah-<br />

me.<strong>“</strong> 35 Und nachdem die Stellungnahme weiter ausgeführt wurde, mischt sich plötzlich ein<br />

Hauch Wehmut in den Wortlaut (stil<strong>ist</strong>isch ausgedrückt durch die Aposiopese): „Diese Sensi-<br />

bilität wollte man ihm austreiben, <strong>und</strong> das gelang teilweise. Sie kam jedoch immer wieder<br />

zurück. Hätte er länger gelebt...<strong>“</strong> 36 Weiter nun wird die Frage aufgeworfen „Vielleicht wäre er<br />

ausgewandert oder politisch militant geworden oder ein grosser Tenor?<strong>“</strong> 37 Und dann, zum<br />

ersten Mal im Text überhaupt, spricht <strong>Meienberg</strong> 38 explizit aus seiner eigenen Perspektive (an<br />

keiner Stelle vorher oder im weiteren Textverlauf kommt das Per<strong>so</strong>nalpronomen „ich<strong>“</strong> in die-<br />

ser Verwendung vor):<br />

Ich hätte ihn gerne gekannt. Er hat in derselben Stadt gelebt wie ich, <strong>und</strong> doch in einer<br />

ganz verschiedenen Welt, auf denselben paar Quadratkilometern, <strong>und</strong> doch auf einem<br />

fernen Archipel. Er im untersten Stock, ich im mittleren, <strong>und</strong> eine Stiege gab es nicht.<br />

Das St. Gallen meiner Kindheit war ein friedliches, betuliches, wenn auch groteskskurril-burleskes<br />

Städtchen, die Klassengegensätze habe ich nur schwach gespürt <strong>und</strong><br />

konnte sie erst im nachhinein analysieren. Das mörderische St. Gallen habe ich erst entdeckt,<br />

als ich die Stationen des Lebensweges von Ernst S. besuchte. Zwei Hälften einer<br />

Stadt, die nicht zusammenpassen. 39<br />

Die D<strong>ist</strong>anz zwischen Verfasser <strong>und</strong> Geschriebenem <strong>ist</strong> aufgehoben, was hier geschildert<br />

wird, <strong>ist</strong> mit dem eigentlich Gemeinten deckungsgleich. Die auch hier metaphorische Sprache<br />

hat die ironisch sarkastische D<strong>ist</strong>anziertheit verloren; die Klassengegensätze auf engstem<br />

Raum werden aus der Perspektive persönlicher Erfahrungen geschildert: Ernst S. wohnte im<br />

untersten <strong>und</strong> er im mittleren Stock, zwischen denen es keine Stiege gegeben habe. Ernsthaf-<br />

tigkeit des Themas, Ernsthaftigkeit des Schreibens, Ernst S. <strong>und</strong> <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong> treffen in<br />

diesem literarisch geschaffenen Raum aufeinander, sehen sich an dieser einen Stelle gleich.<br />

Und <strong>Meienberg</strong> – als müsse dieses Aufeinander-Treffen in der Herstellung einer Verbindung<br />

der Per<strong>so</strong>nen noch konkretisiert werden – fährt fort: „Ich habe ähnliche Anlagen wie S., aber<br />

35 Ebd.<br />

36 Ebd.<br />

37 Ebd.<br />

38 Die in der Literaturwissenschaft übliche <strong>und</strong> notwendige klare Trennung zwischen Autor <strong>und</strong> Erzählinstanz<br />

wird hier nicht aufrechterhalten. Wenn auch mit Sicherheit nicht vollkommen gleichzusetzen, <strong>so</strong> <strong>ist</strong> zwischen<br />

dem Autor <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> der Per<strong>so</strong>n <strong>Meienberg</strong> schwer zu unterscheiden. Da er selber diese Unterscheidung<br />

als nicht notwendig oder <strong>so</strong>gar verfehlt erachtet <strong>und</strong> es sich um einen (wenn auch teilweise literarisch-) journal<strong>ist</strong>ischen<br />

Text handelt, erscheint eine Gleichsetzung der Erzählinstanz mit dem realen Verfasser gerechtfertigt.<br />

39 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 55.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

weil ich im Kleinbürgertum geboren bin, hat man mir nachgesehen, was man dem S. nicht<br />

verzieh.<strong>“</strong> 40 <strong>und</strong> schliesst mit dem Zuspruch an S.: „Salut et Fraternité, Ernst!<strong>“</strong> 41<br />

Danach beginnt ein neuer Abschnitt, der Text fährt sprachlich fort wie vor dieser Begegnung<br />

im literarisch geschaffenen Raum, das Treffen <strong>ist</strong> beendet.<br />

Über drei Seiten wird <strong>Uneigentlichkeit</strong> zu Eigentlichkeit <strong>und</strong> durch dieses Aufeinandertreffen<br />

werden sie beide in ihrer Form <strong>und</strong> auch in ihrer Funktion greifbar <strong>und</strong> entfalten ihre volle<br />

Wirkung. Hier werden sie fassbar, die „Feinheiten, Zärtlichkeiten <strong>und</strong> Differenzierungen in<br />

[<strong>Meienberg</strong>s] Texten<strong>“</strong> 42 , die es auch gibt neben dem „ganz <strong>und</strong> gar unschweizerische[n] Lau-<br />

te[n] <strong>und</strong> Bestimmte[n]<strong>“</strong> 43 .<br />

3.2 <strong>Meienberg</strong>, der Sprachkünstler – Ein Blick auf andere Werke<br />

Der Zürcher Literaturprofes<strong>so</strong>r Peter von Matt äusserte sich kurz nach dessen Tod im Sep-<br />

tember 1996 folgendermassen zu <strong>Meienberg</strong>:<br />

<strong>Meienberg</strong> war ein Künstler, was die Sprache betrifft. (...) An jeden Satz, den <strong>Meienberg</strong><br />

veröffentlichte, stellte er höchste künstlerische Ansprüche. (...) Diese Bandbreite<br />

der Formen, die Fülle der Bilder, die Fülle der literarischen Mittel, die er in einem<br />

scheinbar einfachen Text zusammenbringt, das macht ihn <strong>so</strong> einzigartig. 44<br />

Die Bandbreite an Formen <strong>und</strong> die Fülle an literarischen Mitteln werden anhand der Reporta-<br />

ge über Ernst S. deutlich. Sie werden um<strong>so</strong> deutlicher bei einem Blick auf die Vielzahl an<br />

anderen Texten <strong>Meienberg</strong>s. Eine Diskussion seines Gesamtwerkes würde den hier gegebe-<br />

nen Rahmen um ein Vielfaches sprengen, es <strong>so</strong>llen allerdings exemplarisch Ausschnitte auf-<br />

geführt werden, die zeigen, dass <strong>und</strong> wie sich <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit durch andere<br />

Texte <strong>Meienberg</strong>s ziehen <strong>und</strong> als für sein Schreiben charakter<strong>ist</strong>isch bezeichnet werden dür-<br />

fen.<br />

3.2.1 Das Spiel mit der <strong>Uneigentlichkeit</strong><br />

1984 re<strong>ist</strong>e der Papst in die Schweiz („Pfingstdienstag, 08.35 Uhr, Flughafen Kloten, Zu-<br />

schauerterrasse. Zwei Tage nach dem Heiligen Ge<strong>ist</strong> wird der Heilige Vater erwartet<strong>“</strong> 45 ) <strong>und</strong><br />

<strong>Meienberg</strong> veröffentlichte daraufhin eine Reportage, die nicht ohne Folgen blieb. Darin wird<br />

40<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. S. 55.<br />

41<br />

Ebd.<br />

42<br />

Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 9.<br />

43<br />

Ebd.<br />

44<br />

Interview mit Peter von Matt. Sonntags-Zeitung, 26.9.1993, zit. nach Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte<br />

des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 480.<br />

45<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit. S. 195.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

unter anderem der Papst in einer Antonomasie 46 als „Ben Hur, jetzt voll motorisiert <strong>und</strong> reli-<br />

giös, nur etwas langsam<strong>“</strong> 47 bezeichnet oder mit einer Statue verglichen, die „dem Volk vorge-<br />

führt werden kann<strong>“</strong> 48 . In einem weiteren Vergleich wird geschildert, dass der Papst morgens,<br />

„<strong>so</strong> darf man wohl sagen, immer wie ein polnischer Drescher<strong>“</strong> 49 isst. Vergleiche <strong>und</strong> Anto-<br />

nomasie beschreiben hier eine bestimmte Eigenschaft des Papstes oder ihn betreffenden Um-<br />

stand, verweisen al<strong>so</strong> durch ihre Indirektheit um<strong>so</strong> direkter darauf. Angeknüpft wird aus-<br />

schliesslich an (mindestens im Zusammenhang mit einem katholischen Kirchenoberhaupt)<br />

negative Konnotationen.<br />

<strong>Meienberg</strong> gibt in seinen Texten immer wieder Metaphern zum Besten, die zum Teil kühn<br />

ausfallen. So schreibt er etwa in einer Reportage über einen Aufenthalt in St. Gallen, der zu<br />

einer Begegnung mit seiner Kindheit wurde, von der „enthemmte[n] Sinnlichkeit dieser Ka-<br />

thedrale<strong>“</strong> 50 <strong>und</strong> von der „lüsternen Architektur<strong>“</strong> 51 . Darauf beharrt er dann weiter <strong>und</strong> führt<br />

aus: „Der Barock stachelte unsere Sinnlichkeit an, <strong>und</strong> weil die Sinnlichkeit nirgendwo anders<br />

herauskonnte, mussten wir sie voyeurhaft am Barock befriedigen.<strong>“</strong> 52 Die Metapher wird al<strong>so</strong><br />

weiter ausgebaut – <strong>und</strong> nachdem <strong>so</strong> metaphorisch die durch den Rektor unterdrückten sexuel-<br />

len Gefühle beschrieben sind, folgt der Satz: „Der Barock biß sich in den Schwanz, wie man<br />

vielleicht sagen könnte.<strong>“</strong> 53 – Eine Redewendung oder verblasste Metapher, die hier dem Le-<br />

ser, angesichts des vorher über viele Zeilen hinweg Beschriebenen, unverhofft wörtlich vor-<br />

geführt wird. Angesichts der Darstellung „Die Brunst konnte aber nicht nur zu den Augen<br />

hinaus, <strong>so</strong>ndern auch über die Stimmbänder entweichen, indem die Zöglinge dem Domchor<br />

beitraten.<strong>“</strong> 54 verwe<strong>ist</strong> die Feststellung „Der Domchor war weitherum berühmt für die Qualität<br />

seiner Aufführungen.<strong>“</strong> 55 über sich hinaus – auf das eigentlich Gemeinte.<br />

Wie bunt <strong>Meienberg</strong> es mit metaphorischem Sprachgebrauch zuweilen treibt, indem er die<br />

Metaphern geradezu unterwandert, führt folgende Textpassage, wiederum aus der Reportage<br />

über den Papstbesuch, exemplarisch vor:<br />

46<br />

Eine Antonomasie bezeichnet die wechselseitige Ersetzung von Namen <strong>und</strong> Begriffen. Vgl. Harald Fricke u.<br />

Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. S. 53.<br />

47<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit. S. 204.<br />

48<br />

Ebd. S. 201.<br />

49<br />

Ebd. S. 201.<br />

50<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Aufenthalt in St. Gallen (670 m ü. M.). Eine Reportage aus der Kindheit. S. 24.<br />

51 Ebd.<br />

52 Ebd. S. 24f.<br />

53 Ebd. S. 25.<br />

54 Ebd. S. 25.<br />

55 Ebd.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Dann ab in die Kathedrale St. Nicolas zur Begrüssung des Domkapitels (08.00) <strong>und</strong><br />

schon um 08.30 Uhr hinübergesaust in die benachbarte Kirche der Cordelier, wo ein<br />

Kastratenchor den Papst begrüßt. Kastraten sind eine alte römische-päpstliche Spezialität.<br />

Die Päpste hatten jahrh<strong>und</strong>ertelang etliche von den sangeswilligen, singbegabten<br />

Untertanen noch vor dem Stimmbruch kastrieren lassen, damit sie ihre schönen Sopranstimmen<br />

das ganze Leben lang behalten konnten; <strong>und</strong> in Fribourg, dem päpstlich gesinnten,<br />

hat sich dieser Brauch in<strong>so</strong>fern erhalten, als jedes Jahr, seit dem Attentat auf<br />

den Papst, eine Anzahl von be<strong>so</strong>nders ideal<strong>ist</strong>isch gesinnten Vätern ihre Söhne verschneiden<br />

lassen, um dem Papst ihre spezielle Wertschätzung auszudrücken. 56<br />

Das Verschneiden-Lassen, das hier als Metapher für das Zölibat eingesetzt wird, <strong>so</strong>rgte für<br />

aufgebrachte Wortmeldungen von aufgebrachten Freiburger Katholiken, die es allzu wörtlich<br />

verstanden hatten. 57 Obwohl anschliessend die Metapher aufgelöst wird („Diese ödipal<br />

konstellierte Opfergabe, welche in ihrer gemilderten Form auch als Zölibat, das heißt freiwil-<br />

lige Ehelosigkeit bei weiterbestehender Zeugungsfähigkeit, auftritt (...)<strong>“</strong> 58 ), <strong>ist</strong> nicht ganz un-<br />

verständlich, warum die Metapher als <strong>so</strong>lche nicht überall verstanden wurde <strong>und</strong> aufgebrachte<br />

Freiburger Katholiken sich zu Wort meldeten <strong>und</strong> gar Beweise für das Verschneiden-Lassen<br />

verlangten. Sie <strong>ist</strong> denn auch geschickt in einen Kontext eingebettet, der eigentlich auf die<br />

dem Wortlaut entsprechende Aussage verwe<strong>ist</strong>: die Schilderung der Kastraten. Da die Meta-<br />

pher über das Zölibat an die Ausführungen über die Kastraten direkt anschliesst, wird der Le-<br />

ser, wenn er auch nicht am Wortlaut hängen bleibt, doch mindestens einen Moment lang stut-<br />

zig, weil sich zwei Ausdrücke aus einem Bildbereich in seiner Vorstellung vermischen, von<br />

denen nur der erste wörtlich <strong>und</strong> der zweite metaphorisch gemeint <strong>ist</strong>. Das beruht natürlich<br />

nicht auf einem Zufall. Ganz im Gegenteil <strong>ist</strong> dieser Ausschnitt eines der markantesten Bei-<br />

spiele dafür, dass <strong>Meienberg</strong> die Eigenschaften der Metapher geschickt aufnimmt <strong>und</strong> wir-<br />

kungsvoll einsetzt. Die Metapher an sich wird ad absurdum geführt; <strong>Meienberg</strong> spielt mit<br />

Stilmitteln <strong>und</strong> Lesererwartung; Eigentliches <strong>und</strong> Uneigentliches werden selber wieder persif-<br />

liert.<br />

Die beschriebene Passage verwe<strong>ist</strong> auf eine weitere für das Schreiben <strong>Meienberg</strong>s entschei-<br />

dende Komponente; den Umgang mit der Fiktion in seinen journal<strong>ist</strong>ischen Texten. Wie geht<br />

er mit ihr um? „Halsbrecherisch auf jeden Fall.<strong>“</strong> 59 , erklärt der Redaktor Marco Meier in einem<br />

56 Ebd. S. 201.<br />

57 Marco Meier: La réalité surpasse la fiction. S. 150.<br />

58 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit. S. 201.<br />

59 Marco Meier: La réalité surpasse la fiction. S. 148.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Artikel mit dem für <strong>Meienberg</strong>s Schreiben aussagekräftigen Titel „La realité surpasse la ficti-<br />

on<strong>“</strong>.<br />

Die Frage nach dem Umgang mit der Fiktion nun <strong>ist</strong> nicht nur entscheidend für das journalis-<br />

tische Schreiben <strong>Meienberg</strong>s <strong>so</strong>ndern auch interessant im Hinblick auf eine Diskussion über<br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel: Weil journal<strong>ist</strong>ische Texte<br />

nicht vorbehaltlos auf diese literarischen Stilfiguren zurückgreifen können, muss ihre Ver-<br />

wendung gegenüber einem üblicherweise geltenden Objektivitätsanspruch gerechtfertigt wer-<br />

den. Die Frage nach <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in Texten <strong>Meienberg</strong>s führt unmittelbar<br />

zur Per<strong>so</strong>n <strong>Meienberg</strong>, zum Journal<strong>ist</strong>en <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> zu seiner Einstellung zur Subjektivi-<br />

tät, zur Fiktion <strong>und</strong> zur Absicht seines Schreibens gr<strong>und</strong>sätzlich.<br />

Die in diesem Zusammenhang notwendigen Fragen <strong>so</strong>llen im folgenden Kapitel, wenn auch<br />

nicht abschliessend behandelt, <strong>so</strong> doch ansatzweise diskutiert werden. Sie erlauben einen Ein-<br />

blick auf die Absicht, die <strong>Meienberg</strong> mit seinem Schreiben – gerade auch aufgr<strong>und</strong> seines<br />

Umgangs mit Subjektivität <strong>und</strong> Fiktion – verfolgte <strong>und</strong> welche Wirkung das in einer Zeit hat-<br />

ten, in der man Journalismus dieser Art (noch) nicht gewohnt war.<br />

4. Die Funktion von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische<br />

Kampfmittel<br />

Mit den Begriffen der Eigentlich- bzw. <strong>Uneigentlichkeit</strong> von Aussagen <strong>ist</strong> (gerade in journa-<br />

l<strong>ist</strong>ischen Texten) unweigerlich die Frage nach Objektivität bzw. Subjektivität verb<strong>und</strong>en.<br />

Etwas uneigentlich auszudrücken, setzt immer eine gewisse D<strong>ist</strong>anzierung voraus; der Dar-<br />

stellende bezieht damit unweigerlich eine bestimmte Position im Verhältnis zum Dargestell-<br />

ten.<br />

<strong>Meienberg</strong> schrieb subjektiv, konnte dabei direkt, <strong>so</strong>gar sehr direkt, aber auch uneigentlich,<br />

indirekt sein. Die dabei virtuos verwendeten Stilmittel dienen nicht dem Selbstzweck, <strong>so</strong>ndern<br />

sind bewusst angelegt. Die Gr<strong>und</strong>voraussetzung für diese Art des Schreibens liegt letztendlich<br />

in seinem Verhältnis zu Wirklichkeit <strong>und</strong> Fiktion.<br />

4.1 Faktengenauigkeit <strong>und</strong> persönliches Engagement – Objektivitätsanspruch?<br />

Sobald von journal<strong>ist</strong>ischen Texten die Rede <strong>ist</strong>, wird die Diskussion um objektive <strong>und</strong> sub-<br />

jektive Darstellung sehr zentral, da sie in erster Linie nicht einen literarischen Anspruch ha-<br />

ben, <strong>so</strong>ndern einer weitgehend objektiven Beschreibung per definitionem verpflichtet sind.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Lange Zeit galt als oberstes Gesetz des Journalismus ein Objektivitätspostulat, das persönli-<br />

che Stellungnahmen seitens des Verfassers als unseriös abtat. Vor allem durch die Kritik der<br />

Neuen Linken in den Sechzigerjahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde diese positiv<strong>ist</strong>ische Sicht-<br />

weise in Frage gestellt, wobei bereits Egon Erwin Kisch die subjektive Meinungsäusserung<br />

ausdrücklich als eines der Hauptmerkmale einer Reportage bezeichnet hatte. 60<br />

Für <strong>Meienberg</strong> waren die entscheidenden Qualitäten einer Reportage eine breite Faktenkennt-<br />

nis durch Recherche <strong>und</strong> persönlichen Kontakt mit den Betroffenen, wodurch eine Kenntnis<br />

der ganzen Wirklichkeit erreicht werde. 61 Die Realität sei immer <strong>so</strong> beschaffen, dass eine Be-<br />

schreibung gar nicht kritiklos sein könne. 62 Zu Beginn der Siebzigerjahre war es ungewöhn-<br />

lich, in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen Stellung zu beziehen, ohne vorher durch ent-<br />

sprechende wissenschaftliche, ökonomische oder kulturelle Tätigkeit eine gewisse Reputation<br />

erworben zu haben. 63 „Indem sich <strong>Meienberg</strong> primär über das Engagement definierte, führte<br />

er der Schweizer Öffentlichkeit eine spezifische Form des Intellektuellen vor, der in dieser<br />

Spielart nicht auf eine bereits bestehende Tradition bauen konnte.<strong>“</strong> 64 Und dabei „missachtete<strong>“</strong><br />

er alle bestehenden Grenzen <strong>und</strong> Kategorien, sei es die als beinahe unantastbar geltende Tren-<br />

nung zwischen literarischem <strong>und</strong> journal<strong>ist</strong>ischem Schreiben oder zwischen dem Objektivi-<br />

tätspostulat <strong>und</strong> dem persönlichen Engagement. Gr<strong>und</strong>legend dafür <strong>ist</strong> die Untrennbarkeit von<br />

<strong>Meienberg</strong> als Per<strong>so</strong>n <strong>und</strong> <strong>Meienberg</strong> als Schreibendem, auf die er selber vermehrt hingewie-<br />

sen hat. 65 Es entsprach nicht seinem Anliegen, als Journal<strong>ist</strong> eine möglichst objektive Rolle<br />

einzunehmen, <strong>so</strong>ndern er stellte bewusst einen Stellung beziehenden Journalismus in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Das will allerdings nicht heissen, dass er der subjektiven Einschätzung verfiele,<br />

dem würde sein Anspruch an Faktengenauigkeit widersprechen. An den eigenen Umgang mit<br />

h<strong>ist</strong>orischen Dokumenten <strong>und</strong> Zeugnissen erhob er den Anspruch eines H<strong>ist</strong>orikers an die<br />

Wissenschaftlichkeit seines Arbeitens 66 .<br />

Die Faktengenauigkeit ermöglicht mir, die <strong>so</strong>zialen Zusammenhänge herzustellen <strong>und</strong><br />

ganz klar abzugrenzen, wer hier wie spricht <strong>und</strong> mit welchem Zweck oder wer hier wie<br />

schreibt <strong>und</strong> über wen hier wie geschrieben wurde <strong>und</strong> was in den Dokumenten über<br />

diese oder jene Per<strong>so</strong>n, die immer zu einer bestimmten Schicht gehört, referiert wird. 67<br />

60 Vgl. Chr<strong>ist</strong>of Stillhard: <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> seine Richter. S. 4.<br />

61 Durch seine Art der Recherche im Gespräch mit Betroffenen, wurde er vermehrt als einer der ersten Vertreter<br />

der oral h<strong>ist</strong>ory bezeichnet.<br />

62 Vgl. Chr<strong>ist</strong>of Stillhard: <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> seine Richter. S. 26f.<br />

63 Vgl. Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 198.<br />

64 Ebd. S. 199.<br />

65 Vgl. Klemens Renolder: Hagenwil-les-deux-Eglises. Ein Gespräch mit <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 19.<br />

66 Vgl. Ebd. S. 16.<br />

67 Ebd. S. 17.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Genau<strong>so</strong> betont er, dass weder von der Sprache noch vom Individuum oder vom Kontext ei-<br />

nes Zeugnisses abstrahiert werden <strong>so</strong>lle. 68 Das Bestreben nach Realitätsnähe wird in der je-<br />

weils dem behandelten Thema angepassten Sprache <strong>Meienberg</strong>s sichtbar, wenn er z. B. durch<br />

die Verwendung dialektaler Ausdrücke <strong>und</strong> Wörter <strong>und</strong> dialektal geprägtem Satzbau der<br />

schweizerischen Diglossie Rechnung trägt.<br />

Der Positionsbezug als Journal<strong>ist</strong> war charakter<strong>ist</strong>isch für sein Schreiben <strong>und</strong> Leben <strong>und</strong><br />

eben<strong>so</strong> wegweisend für kommende Schriftstellergenerationen 69 . Marianne Fehr charakterisier-<br />

te ihn in einem Nachruf folgendermassen: „Er foutierte sich um die damals noch oft diskutier-<br />

te Objektivität, denn es gab ja nicht einen privaten <strong>und</strong> einen schreibenden <strong>Meienberg</strong>, er<br />

schrieb aus dem Leben heraus <strong>und</strong> nahm Partei.<strong>“</strong> 70 Weiter spricht sie von „seiner hartnäckigen<br />

Recherchearbeit, seinem Einsatz für die Freiheit des Schreibens, vom Mut, den er einem zu-<br />

sprach, doch der eigenen Ausdrucksweise zu vertrauen.<strong>“</strong> 71 Das zwar auf Quellen basierende,<br />

dokumentarische, recherchierte – <strong>und</strong> gleichzeitig engagierte Schreiben postulierte er ganz<br />

bewusst. „Der Journalismus, der ihm vorschwebte, <strong>so</strong>llte kein Papiertiger bleiben, <strong>so</strong>ndern im<br />

Versuch der Einflussnahme selbst zum Ereignis werden.<strong>“</strong> 72 <strong>Meienberg</strong> forderte von Journalis-<br />

ten, „dass sie ihre Augen öffnen, ihre Ohren, eventuell mal ihren Kopf zu einer persönlichen<br />

Reflexion benützen[.]<strong>“</strong> 73 Ein ‚grand reporter’ wolle die ganze Wirklichkeit mitbringen, „er<br />

akzeptiert die Aufsplitterung der Welt in einzelne Rubriken nicht[.]<strong>“</strong> 74 So lobte er den Journa-<br />

l<strong>ist</strong>en Peter Frey, dessen Meinungen „derart <strong>so</strong>lid verwurzelt [seien], dass die Motsch-Köpfe<br />

<strong>und</strong> Sirup-Fröschli, welche Journalismus <strong>und</strong> Beruhigungstherapie miteinander verwechseln<br />

oder Denken mit Design, ihm nicht am Zeug flicken konnten<strong>“</strong> 75 .<br />

<strong>Meienberg</strong> sah den gesellschaftspolitischen Auftrag der Medien in einer engagierten Partei-<br />

nahme <strong>und</strong> zwar in einer Parteinahme für die Beherrschten <strong>und</strong> nicht in einer nach Objektivi-<br />

tät strebenden Information. Dem Journal<strong>ist</strong>en <strong>ist</strong> seiner Meinung nach ein <strong>so</strong>zialer Auftrag<br />

zugedacht, nämlich den Sprach- <strong>und</strong> Wehrlosen eine Stimme zu verleihen. Dementsprechend<br />

forderte er eine Presse, die ihre Aufgabe nicht in der Informationsvermittlung sucht, die nicht<br />

bloss beschreibt, <strong>so</strong>ndern Stellung bezieht.<br />

68<br />

Vgl. Ebd. S. 16-18.<br />

69<br />

Vgl. Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 9.<br />

70<br />

Ebd. S. 8.<br />

71<br />

Ebd. S. 9.<br />

72<br />

Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 189.<br />

73<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Von unserem Pariser Korrespondenten (statt eines Vorworts). S. 13.<br />

74<br />

Ebd.<br />

75<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Leichenrede für den Journal<strong>ist</strong>en Peter Frey oder Plädoyer für ein verschollenes métier. S.<br />

17.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Erst der Anspruch Stellung zu beziehen, macht eine Verwendung von <strong>Uneigentlichkeit</strong> in<br />

journal<strong>ist</strong>ischen Texten sinnvoll <strong>und</strong> möglich. Das Beharren auf dem „Recht, Meinung<br />

verbreiten zu dürfen<strong>“</strong> 76 , wie Peter Bichsel es in einer Kolumne zu <strong>Meienberg</strong> beschrieb, diese<br />

spezifische Auffassung von Objektivität <strong>und</strong> Subjektivität sind die Gr<strong>und</strong>voraussetzung für<br />

sein Schreiben. <strong>Meienberg</strong>s intellektuelles Engagement bestand al<strong>so</strong> einerseits darin, das Pub-<br />

likum über die wahren Verhältnisse zu informieren, <strong>und</strong> andererseits in einer argumentativen<br />

Auseinandersetzung mit den Mächtigen. 77 Sein Mittel dazu war die Sprache: „Al<strong>so</strong>, <strong>so</strong>lange<br />

einer mit Sprache zu tun hat, wollen wir seine Erzeugnisse auch noch ein bisschen nach<br />

sprachlichen Kriterien beurteilen dürfen <strong>und</strong> uns u. a. die Frage stellen können: Welcher Auf-<br />

stand, welche Veränderung ereignet sich im Stil?<strong>“</strong> 78 Er übte denn auch starke Kritik an<br />

Schriftstellern, bei denen Politik nur im Thema stattfindet, „nicht in der Sprache; sie wird<br />

lauthals plakatiert, aber nicht im Stil inkarniert<strong>“</strong> 79 .<br />

Eine klare Stellungnahme, geräuschvolle Kommentare, die Ungerechtigkeit öffentlich<br />

machen <strong>und</strong> beim Namen nennen – das waren für <strong>Meienberg</strong> die vordringlichen Aufgaben<br />

einer Zeitung[.] (...) Die professionelle Tätigkeit <strong>und</strong> das politische Engagement<br />

vollzogen sich zeitlich wie materiell identisch <strong>und</strong> nicht in einem Nebeneinander von<br />

verschiedenen Texten mit unterschiedlichen Wirkungsabsichten. Für seine Arbeitsverhältnisse,<br />

aber auch für die Form seiner Texte <strong>so</strong>llte dies nicht ohne Folgen bleiben. 80<br />

Mit der „Erschiessung des Landesverräters Ernst S.<strong>“</strong> schrieb <strong>Meienberg</strong> eine „h<strong>ist</strong>orische Re-<br />

portage, die im Genre neuartig, im Stil literarisch, im Thema brisant <strong>und</strong> in ihrer Methode des<br />

Quellen- <strong>und</strong> Erkenntnisgewinns höchst ungewöhnlich war.<strong>“</strong> 81 Journal<strong>ist</strong>ische Verfahrenswei-<br />

sen <strong>und</strong> wissenschaftliche Arbeitsmethoden, politische Ansichten <strong>und</strong> literarische Kunstgriffe<br />

wurden zu einer intellektuellen Praxis verb<strong>und</strong>en, „in der die Begrenzung der einzelnen Be-<br />

reiche aufgehoben war.<strong>“</strong> 82 Dementsprechend gab es für ihn nicht ein journal<strong>ist</strong>isches neben<br />

einem literarischen Schreiben, eine objektive Darstellung oder ein persönliches Engagement,<br />

seine Per<strong>so</strong>n <strong>und</strong> ihn als Journal<strong>ist</strong>en; diese Gegensätze waren bei ihm mindestens auf der<br />

Ebene des Textes – als Per<strong>so</strong>n haben sie ihn zerrissen – aufgehoben. Wenn in der Reportage<br />

sämtliche Quellen unter anderem in umfangreichen Fussnoten offen gelegt werden, <strong>so</strong> ge-<br />

schieht das eben<strong>so</strong>, wie oben ausgeführt, mit dem eigenen Standpunkt. Während üblicherwei-<br />

76<br />

Peter Bichsel: Von der Streitkultur. In: Peter Bichsel: Kolumnen, Kolumnen. S. 489.<br />

77<br />

Vgl. Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. 193.<br />

78<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Lust (oder auch nicht) am Text. S. 135.<br />

79<br />

Ebd.<br />

80<br />

Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 191-193.<br />

81<br />

Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 204.<br />

82 Ebd.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

se Quellen <strong>und</strong> Subjektivität, Literatur <strong>und</strong> Journalismus einander geradezu antithetisch ge-<br />

genübergestellt wurden, geschah bei <strong>Meienberg</strong> das Gegenteil. Gerade ausführliche Quellen<br />

<strong>und</strong> präzise Nachforschungen legitimieren für ihn die subjektive Stellungnahme, mehr noch:<br />

Sie verpflichten geradezu zu einer Stellungnahme. Für ihn <strong>ist</strong> das Abzielen auf Objektivität<br />

nichts anderes als ein mangelndes Bewusstsein für die eigene Per<strong>so</strong>n. 83 Realität abzubilden,<br />

objektiv zu vermitteln – das wird in der Reportage über Ernst S. exemplarisch vorgeführt,<br />

wenn eingangs die Erschiessung aus Sicht verschiedener Per<strong>so</strong>nen <strong>so</strong> ganz unterschiedlich<br />

geschildert wird – <strong>ist</strong> mit dem jeweils persönlichen <strong>und</strong> persönlich motivierten Wahrnehmen<br />

der Realität nicht vereinbar, eine objektive Darstellung <strong>ist</strong> unmöglich <strong>und</strong> eben<strong>so</strong> unwünsch-<br />

bar. Gerade durch Subjektivität <strong>und</strong> auch Fiktion wird die Realität konkreter eingrenzbar <strong>und</strong><br />

fassbar. Während das aufgezeigte Aufeinandertreffen von Indirektheit <strong>und</strong> <strong>Uneigentlichkeit</strong><br />

mit Direktheit <strong>und</strong> Eigentlichkeit zu einer präziseren Wahrnehmung der gegenseitigen Pole<br />

führt, wird die Realität zwischen eben diesen Polen klarer sichtbar. Die Absicht, beim Leser<br />

eine Reaktion zu erzielen, wird in<strong>so</strong>fern erreicht, als dieser innerhalb dieser Spannbreite Posi-<br />

tion beziehen muss, sei es auch durch vehementes Sich-Absetzen von der ihm unterbreiteten<br />

Meinung.<br />

Inwiefern gerade das Spielen mit Mitteln des Darstellens die Realität um<strong>so</strong> genauer zu be-<br />

schreiben vermag, wie <strong>Meienberg</strong> es behauptete, <strong>so</strong>ll im Folgenden anhand seiner Einstellung<br />

zur Fiktion in journal<strong>ist</strong>ischen Texten aufgezeigt werden.<br />

4.2 Fiktion im Dienst der Realität<br />

Vorab <strong>so</strong>ll darauf hingewiesen werden, dass <strong>Uneigentlichkeit</strong> mit Fiktion nicht zu verwech-<br />

seln <strong>ist</strong>; während es sich <strong>so</strong>wohl bei <strong>Uneigentlichkeit</strong> als auch bei Fiktion um nicht-<br />

behauptende Rede handelt, besteht der entscheidende Unterschied darin, dass sich uneigentli-<br />

che Bedeutung als semantische Designationskonstellation konstituiert, während Fiktionalität<br />

mit Referenzialisierbarkeit, al<strong>so</strong> dem Verhältnis zwischen Signifikat <strong>und</strong> Signifikanten auf<br />

der einen <strong>und</strong> dem Referenzobjekt auf der anderen Seite, zu tun hat. Fiktiv <strong>ist</strong> ein Ereignis<br />

al<strong>so</strong> schlicht dann, wenn es sich <strong>so</strong> nicht zugetragen hat. Der Hörer bzw. Leser lässt sich im<br />

Wissen darum auf ein Spiel ein, das <strong>so</strong> tut, als ob. Der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit<br />

bzw. Erfülltheit der nicht-behauptenden Rede fällt auch bei uneigentlichen Ausdrücken weg,<br />

<strong>so</strong>bald sie sich im Zusammenhang mit Fiktionen auf Fiktives beziehen. 84 Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

83 Vgl. ebd.<br />

84 Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. S. 150f.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

wird uneigentliche Rede zuweilen in grenzverwischender Erweiterung des engeren Begriffs<br />

als Variante fiktionaler Rede aufgefasst. 85 Inwiefern das literaturanalytisch sinnvoll <strong>ist</strong>, <strong>so</strong>ll<br />

hier nicht diskutiert werden. Der Hinweis <strong>ist</strong> aber in<strong>so</strong>fern interessant, als gerade bei Meien-<br />

berg eine Annäherung von Fiktion <strong>und</strong> <strong>Uneigentlichkeit</strong> mindestens hinsichtlich ihrer Funkti-<br />

on feststellbar <strong>ist</strong>.<br />

In der Reportage über den Papstbesuch in Freiburg (be)schreibt <strong>Meienberg</strong> Folgendes:<br />

Über der Lombardei hatte der Papst einen Lachanfall. Eine Ansprache, die er vor kurzem<br />

den Papuas in Neu-Guinea gehalten hat, war durch ein Versehen seines Sekretärs<br />

in das schweizerische Reden-Konvolut geraten, <strong>und</strong> zwar an jene Stelle, wo der B<strong>und</strong>esrat<br />

im Landgut Lohn begrüßt werden <strong>so</strong>llte. – ‚Und <strong>so</strong> entbiete ich denn Eurer alten<br />

Stammeskultur, Euren Speeren <strong>und</strong> Schildern, Euren prächtigen Bemalungen <strong>und</strong> Eurer<br />

unangekränkelten Urwüchsigkeit meinen brüderlichen Gruß.’<strong>“</strong> 86<br />

An späterer Stelle dann wird das Treffen des Papstes mit der welschen Jugend geschildert:<br />

„ER antwortet wieder nicht auf die Fragen, gibt nur den Ratschlag, die Fragen zu ‚vertiefen’.<br />

Die Antwortrede auf die Frage hat er schon in Rom gemacht, die kann man nicht mehr appro-<br />

fondieren.<strong>“</strong> 87<br />

Natürlich hatte der Papst keinen Lachanfall über der Lombardei, oder zumindest war das<br />

<strong>Meienberg</strong> nicht bekannt, eben<strong>so</strong> wenig konnte er wissen, dass die Antwortrede auf die Fra-<br />

gen der Jugend in Rom bereits vorgefertigt worden war. Was al<strong>so</strong> haben <strong>so</strong>lche fiktiven Be-<br />

schreibungen in einer Reportage für eine Berechtigung <strong>und</strong> vor allem: für eine Funktion?<br />

Es wird für den unbefangenen Leser fiktiv, wenn man das Realitätsprinzip auf die Spitze<br />

treibt, etwas minutiös, quasi im Zeitlupentempo <strong>und</strong> – filmisch gesprochen – mit<br />

‚close up’ reg<strong>ist</strong>riert, al<strong>so</strong> mit der ‚Kamera’ ganz nah rangeht <strong>und</strong> lange drauf bleibt.<br />

Für Momente holt man den zu beschreibenden Gegenstand al<strong>so</strong> wie mit Zoom aus seinem<br />

Umfeld heraus, um ihn fassbar zu machen. Dadurch entdeckt der Leser oder der<br />

Filmbetrachter plötzlich eine neue Wirklichkeit, die ihm vielleicht tatsächlich fiktiv<br />

vorkommt, weil sie fast schon über-, d. h. hyperreal<strong>ist</strong>isch präsentiert wird. Durch Hyperrealismus<br />

wird die Illusion der Fiktion erzeugt. 88<br />

Diese Erklärung <strong>Meienberg</strong>s zeigt auf, dass seine Art der hier verwendeten Fiktion nicht reali-<br />

tätsfern, <strong>so</strong>ndern im Gegenteil, in seinem Wortlaut, hyperreal <strong>ist</strong>. Dem Leser wird zwei-<br />

fel<strong>so</strong>hne klar, dass das hier Beschriebene frei erf<strong>und</strong>en <strong>ist</strong>, dennoch entbehrt es nicht eines<br />

Realitätsbezugs, eines sehr deutlichen <strong>so</strong>gar. Die von <strong>Meienberg</strong> beschriebene „neue Wirk-<br />

lichkeit<strong>“</strong>, dass der Papst lachen muss in Gedanken an das Durcheinander seiner unzähligen<br />

85<br />

Rüdiger Zymner: <strong>Uneigentlichkeit</strong>. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. S. 727.<br />

86<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit. S. 196.<br />

87<br />

Ebd. S. 206.<br />

88<br />

Marco Meier: La réalité surpasse la fiction. S. 148.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

von anderen <strong>so</strong>rtierten Reden, <strong>und</strong> dass die Antworten auf noch nicht gestellte Fragen bereits<br />

in Rom formuliert worden seien, macht schonungslos darauf aufmerksam, dass die Papstreden<br />

selbstverständlich in x-facher Fassung (<strong>und</strong> nicht von ihm allein) vorgefertigt vorliegen müs-<br />

sen <strong>und</strong> er tatsächlich konkrete Antworten schuldig blieb. Die behauptende Rede (die vom<br />

aufmerksamen Leser als fiktiv zu erkennen <strong>ist</strong>) über den Lachanfall <strong>und</strong> die der welschen Ju-<br />

gend vorgetragenen vorgefertigten Antworten wird belanglos, weil sie auf einen als sehr<br />

wahrscheinlich anzunehmenden Sachverhalt hingewiesen hat, der durch sie verdeutlicht wur-<br />

de. Die Fiktion als Hinweis auf eine Realität <strong>ist</strong> demnach ein Mittel zum Zweck <strong>und</strong> wird<br />

nicht um ihrer selbst willen eingesetzt.<br />

Das Begrüssungszeremoniell des Papstes wurde in keiner damals veröffentlichten Reportage<br />

dermassen akribisch geschildert wie von <strong>Meienberg</strong>, wurde aber gerade dadurch zur „perfek-<br />

ten Metapher für die total absurde <strong>und</strong> anachron<strong>ist</strong>ische Beziehung des Pontifex zum gemei-<br />

nen Volk<strong>“</strong> 89 , wie Meier treffend zusammenfasst. Die Fiktion, im <strong>Meienberg</strong>’schen Sinne der<br />

Hyperrealismus, <strong>ist</strong> al<strong>so</strong> ein treffsicheres Mittel zur Darstellung von Realität. Das Fiktive be-<br />

steht nur in der Aktualisierung durch <strong>Meienberg</strong>. Dadurch wird der Leser – <strong>und</strong> das Ziel wäre<br />

<strong>so</strong>mit erreicht – in eine kritische D<strong>ist</strong>anz zum beschriebenen realen Faktum versetzt. 90 In<strong>so</strong>-<br />

fern dient das Fiktive bei <strong>Meienberg</strong> einem ähnlichen Zweck wie die <strong>Uneigentlichkeit</strong>: Beide<br />

verweisen sie auf einen anderen, eigentlich gemeinten realen Sachverhalt.<br />

Es stellt sich die Folgefrage, wo die Grenzen zu ziehen sind, in welchem Mass Fiktion oder<br />

eben Hyperrealismus legitim <strong>und</strong> vertretbar sind. Entscheidend <strong>ist</strong> hier <strong>Meienberg</strong>s Bedin-<br />

gung, dass Fiktion nur dann Sinn macht, wenn sie nicht phantastisch von der Wirklichkeit<br />

ablenkt, <strong>so</strong>ndern im Gegenteil um<strong>so</strong> schonungsloser auf sie verwe<strong>ist</strong>. 91 Die Fiktion muss al<strong>so</strong><br />

durch die Realität f<strong>und</strong>iert sein <strong>und</strong> erfährt nur <strong>so</strong> ihre Berechtigung. Diese Begründung lässt<br />

sich genau<strong>so</strong> auf die Verwendung von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit in seinen Reportagen<br />

übertragen <strong>und</strong> macht damit die an<strong>so</strong>nsten proklamierte Unvereinbarkeit von Quellendarstel-<br />

lung <strong>und</strong> subjektiver Stellungnahme hinfällig: Wenn, <strong>und</strong> nur wenn, die Stellungnahme auf<br />

zuvor präzise recherchierten Fakten beruht, <strong>ist</strong> sie legitim <strong>und</strong> trägt der Wirklichkeit entspre-<br />

chend Rechnung.<br />

89 Ebd. S. 149.<br />

90 Ebd. S. 150.<br />

91 Ebd. S. 148.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Wird diese Einstellung konsequent weiter gedacht, wird Fiktion selbst in Zusammenhang mit<br />

Geschichtsschreibung möglich; <strong>Meienberg</strong>s Reportage „Die Welt als Wille & Wahn<strong>“</strong> über die<br />

Familie Wille beginnt denn auch folgendermassen:<br />

Stellen wir uns vor –<br />

Clara Wille, geborene Gräfin von Bismarck, sitzt eines Morgens Anfang März an ihrem<br />

Schreibtisch oder steht an ihrem Schreibtisch auf Mariafeld[.] 92<br />

Wie konsequent <strong>Meienberg</strong> diesen Anspruch an sich <strong>und</strong> andere stellte, zeigte die Realismus-<br />

debatte, die namentlich durch ihn ausgelöst worden war: Nachdem im Herbst 1983 zwei Re-<br />

zensionen von Otto F. Walters neuen Roman „Das Staunen der Schlafwandler am Ende der<br />

Nacht<strong>“</strong> <strong>und</strong> von Thomas Koerfers Film „Glut<strong>“</strong> in der WoZ erschienen waren, die sich beide<br />

mit dem Verhältnis von Fiktion <strong>und</strong> Wirklichkeit <strong>und</strong> der Darstellung h<strong>ist</strong>orischer bzw. zeit-<br />

geschichtlicher Inhalte im Rahmen ästhetischer Produktionen auseinander setzten, erschien<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong> auf der Redaktion <strong>und</strong> meinte, wie man neuerdings mit der Realität um-<br />

gehe, habe für ihn eine bedenkliche Dimension. 93 Er reagierte öffentlich mit dem Artikel „Ein<br />

Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subreal<strong>ist</strong>en<strong>“</strong>. Darin äusserte er sich ausführlich zur Frage,<br />

wie ein Journal<strong>ist</strong> mit Wirklichkeit <strong>und</strong> Subjektivität umzugehen habe. Einerseits hält er fest,<br />

dass es einen reinen Abklatsch der Wirklichkeit nicht gebe, auch nicht im Dokumentarischen,<br />

denn „<strong>so</strong>gar die ‚härteste’ Reportage, <strong>und</strong> die vielleicht ganz be<strong>so</strong>nders, [brauche] Phantasie,<br />

Notieren <strong>und</strong> Montieren [gehe] nicht ohne Einbildungskraft<strong>“</strong> 94 . Andererseits verwe<strong>ist</strong> er dar-<br />

auf, dass diese Phantasie durch die darzustellende Realität legitimiert werden müsse: „Bei<br />

Walter&Koerfer habe ich dieses Gefühl (Gewissheit!), dass die Fiktion eine neue Wirklich-<br />

keit <strong>ist</strong>, nie, weil ihre Fiktionen der Wirklichkeit nicht zuerst aufs Maul geschaut <strong>und</strong> sie erst<br />

dann überhöht haben, <strong>so</strong>ndern willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert sind.<strong>“</strong> 95 Genau darum<br />

würden Walter <strong>und</strong> Koerfer ihre Verantwortung als Intellektuelle nicht wahrnehmen; „[e]ine<br />

politische Diskussion wird es um Koerfers Film nicht geben. Man kann über diese Unwirk-<br />

lichkeit nicht diskutieren.<strong>“</strong> 96 Hyperrealismus al<strong>so</strong> <strong>und</strong> nicht Subrealismus, Fiktion zwar, aber<br />

nur im Dienste der Wirklichkeit, war <strong>Meienberg</strong>s Anspruch an das journal<strong>ist</strong>ische Schreiben.<br />

Der Fiktionalisierung einzelner Elemente muss eine gründliche Recherche vorausgegangen<br />

92 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans. S. 7.<br />

93 Realismusdebatte Winter 1983/84. Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. S. 5.<br />

94 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subreal<strong>ist</strong>en. S. 75.<br />

95 Ebd. S. 76.<br />

96 Ebd.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

sein, Fiktionales <strong>ist</strong> nur erlaubt als logische Konsequenz auf der Gr<strong>und</strong>lage des Real<strong>ist</strong>isch-<br />

Dokumentarischen. 97<br />

Die politische Relevanz der darzustellenden Themen nun mass <strong>Meienberg</strong> daran, ob sie eine<br />

Diskussion auszulösen vermochten. In der Polemik fand er die angemessene Form, die durch<br />

ihre Verbindung von literarischer Arbeit <strong>und</strong> intellektuellem Engagement dazu in der Lage<br />

war, Debatten zu provozieren. 98 Er nahm den Journal<strong>ist</strong>en dort in die Pflicht, wo es darum<br />

geht, diese Themen, präzise recherchiert <strong>und</strong> mit persönlichem Engagement, der Öffentlich-<br />

keit zur Diskussion vorzulegen. Hugo Loetscher nannte es einen normativen Journalismus,<br />

der „nicht mehr dem Prinzip der anglosächsischen Objektivität folgt.<strong>“</strong> 99 Dadurch werde der<br />

Journal<strong>ist</strong> zum wertenden Subjekt, schreibe <strong>und</strong> deklariere als <strong>so</strong>lches – <strong>und</strong> müsse darum für<br />

die Wertungen eben<strong>so</strong> behaftbar sein. 100<br />

Das Risiko behaftbar zu sein <strong>und</strong> zu bleiben ging mit <strong>Meienberg</strong>s Schreiben einher. Er hatte<br />

denn auch die Konsequenzen davon zu tragen. Seine Art des Schreibens, seine Art der Provo-<br />

kation geriet immer unmittelbar in die Anhängigkeit einer dadurch provozierten Reaktion.<br />

Was, wenn sie irgendwann ausbliebe? Wäre dann ein Scheitern auf der ganzen Linie unum-<br />

gehbar?<br />

Bevor mit einem Seitenblick auf <strong>Meienberg</strong>s Biographie diesen Fragen ansatzweise nachge-<br />

gangen <strong>und</strong> <strong>so</strong> die in dieser Arbeit behandelten Themen mit ihrem Gesamtkontext <strong>verknüpft</strong><br />

werden <strong>so</strong>llen, seien die entscheidenden Ergebnisse zusammenfassend in fünf Aussagen auf-<br />

geführt.<br />

97<br />

Vgl. Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. 213.<br />

98<br />

Vgl. Ebd. S. 214.<br />

99<br />

Zit. nach Marco Meier: La réalité surpasse la fiction. S. 154.<br />

100<br />

Vgl. Marco Meier: La réalité surpasse la fiction. S. 154.<br />

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<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

5. Fazit: Zusammenfassende Thesen<br />

Die herausgearbeiteten Charakter<strong>ist</strong>iken von <strong>Meienberg</strong>s Schreiben in Hinsicht auf seine<br />

Verwendung von <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel können in<br />

folgenden Aussagen zusammengefasst werden:<br />

1. <strong>Meienberg</strong> setzt Stilmittel der <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit gezielt ein <strong>und</strong><br />

2. persifliert diese wiederum, indem er mit deren Merkmalen spielt; al<strong>so</strong> der Uneigent-<br />

lichkeit Eigentlichkeit <strong>und</strong> der Indirektheit Direktheit vorführt. Häufig geschieht das<br />

durch ein Zusammenführen von wörtlichem <strong>und</strong> übertragenem Gebrauch von Ausdrü-<br />

cken oder durch „Überstrapazierung<strong>“</strong> von Ausdrücken, etwa in Metaphernkomplexen.<br />

3. <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit übernehmen die Funktion eines literarischen<br />

Kampfmittels, weil sie nicht von der Realität ablenken, <strong>so</strong>ndern um<strong>so</strong> direkter auf sie<br />

verweisen. Sie werden – mit <strong>Meienberg</strong> gesprochen – im Sinne eines Hyperrealismus<br />

verwendet. Dabei wirken sie ähnlich wie die ebenfalls hyperreal<strong>ist</strong>isch verwendete<br />

Fiktion in <strong>Meienberg</strong>s Texten.<br />

4. Mittels <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit fordert <strong>Meienberg</strong> vom Leser eine Partizipa-<br />

tion, die dergestalt <strong>ist</strong>, dass sich dieser einem Positionsbezug nicht entziehen kann.<br />

5. Durch diese Verwendung <strong>und</strong> den Anspruch, dass <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit<br />

eben<strong>so</strong> wie Fiktion auf präziser Quellenrecherche beruhen <strong>und</strong> im Dienst des Verwei-<br />

sens auf die Wirklichkeit stehen müssen, werden <strong>so</strong>nst gängige Gegensätze aufgeho-<br />

ben; jene zwischen <strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Eigentlichkeit, zwischen Indirektheit <strong>und</strong> Di-<br />

rektheit, zwischen Quellenarbeit, Faktengenauigkeit <strong>und</strong> persönlicher Stellungnahme<br />

– <strong>und</strong> schliesslich zwischen journal<strong>ist</strong>ischem <strong>und</strong> literarischem Schreiben.<br />

- 27 -


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

6. Exkurs: Konsequenz im Scheitern? <strong>Meienberg</strong> bloss ein Markenartikel?<br />

Alles nicht als schlimm erscheinen lassen, die Tendenz zum Harmlosen. <strong>Meienberg</strong> übertreibt, wird man<br />

sagen, weil er entharmlost <strong>und</strong> zurückführt in den Ernst. Was wäre, fragt er, wenn das, was hier geschieht,<br />

in einer Schweiz geschehen würde, die etwas mehr wäre als ihre harmlose Selbstdarstellung?<br />

Wenn man bereit wäre, einen Fall nicht als Zufall zu nehmen, <strong>und</strong> wenn schon Zufall, wenn man sich<br />

entscheiden würde, wo er liegt? Ist nun Ernst S. der Zufall oder <strong>ist</strong> es das vollstreckte Todesurteil?<br />

<strong>Meienberg</strong> plädiert gegen den Zufall. Ohne Zufall gibt es Schuldige, <strong>und</strong> das im Land der Unschuldigen.<br />

(…) Wer erwischt wird, darüber entscheiden andere. So <strong>ist</strong> – <strong>und</strong> das muß <strong>so</strong> sein in einem Rechtsstaat –<br />

mit der Kompetenz auch die Unschuld verteilt. (…) Der größte Feind der Unschuld jedenfalls <strong>ist</strong> die<br />

Wahrheit, <strong>und</strong> dieses Land, lieber <strong>Niklaus</strong>, <strong>ist</strong> das Land der Unschuldigen… 101<br />

Behaftbar, wie Loetscher es forderte, war <strong>und</strong> blieb <strong>Meienberg</strong>. Auch darin war er kompro-<br />

misslos <strong>und</strong> scheinbar immer ein Alleinkämpfer, „der sich von keiner Seite instrumentalisie-<br />

ren liess, aber auch nicht die Annehmlichkeiten genoss, irgendwo dazuzugehören <strong>und</strong> nicht<br />

<strong>alles</strong> selber machen zu müssen[.]<strong>“</strong> 102 Er war bestrebt, Verantwortung zu übernehmen <strong>und</strong> zu<br />

verteidigen, hat die Öffentlichkeit herausgefordert, Kritik provoziert.<br />

Er hatte uns alle dauernd in Verdacht. Er verdächtigte uns des Verrats, der falschen politischen<br />

Haltung, der falschen literarischen Auffassung. Und wir haben es alle ertragen<br />

– ein Mal, zwei Mal, drei Mal -, <strong>und</strong> dann kamen die Verdächtigungen.<br />

Er war ungerecht, <strong>und</strong> das war er immer dann, wenn er vehement um das Recht kämpfte,<br />

um das Recht der Darstellung der Wahrheit, um seine persönlichen Rechte, um das<br />

Recht, Meinung verbreiten zu dürfen. Er war ungerecht, das war seine Stärke, seine politische<br />

<strong>und</strong> seine literarische Stärke. Er reagierte heftig <strong>und</strong> schnell auf <strong>alles</strong>. Und wer<br />

<strong>so</strong> heftig reagiert, der muß auch ungenau sein. Da war immer ein Komma, ein Satz, eine<br />

Behauptung, an der ihn ein politischer Gegner aufhängen konnte. Denn seine Gegner<br />

glaubten an ab<strong>so</strong>lute Wahrheiten. Eine Welt der ab<strong>so</strong>luten Wahrheiten aber macht Journalismus<br />

unmöglich. Das wissen jene, die von Journal<strong>ist</strong>en Objektivität <strong>und</strong> nur Objektivität<br />

verlangen. 103<br />

Das Risiko, angreifbar zu sein, eingehen zugunsten einer öffentlichen, produktiven Streitkul-<br />

tur, die nicht immer oder vielleicht allzu selten diesem Anspruch gewachsen war;<br />

Wir sprechen zwar viel von demokratischer Kultur <strong>und</strong> meinen damit dann wohl doch<br />

nur ein bißchen Wohlverhalten <strong>und</strong> ein bißchen Nettigkeit. Mir scheint, daß wir das<br />

Streiten verlernt haben. Wir können nur noch hassen oder lieben – streiten können wir<br />

nicht mehr. 104<br />

dieses Risiko <strong>ist</strong> er eingegangen, nicht ohne öffentlich, beruflich <strong>und</strong> ganz persönlich die<br />

Konsequenzen zu tragen. Bereits 1972 schrieb <strong>Meienberg</strong> in einem Text mit dem Titel „Wer<br />

101<br />

Peter Bichsel, Vorwort zu: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Reportagen aus der Schweiz. S. 10ff.<br />

102<br />

Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 9.<br />

103<br />

Ebd. S. 489f.<br />

104<br />

Peter Bichsel. Von der Streitkultur. S. 490.<br />

- 28 -


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

will unter die Journal<strong>ist</strong>en? Eine Berufsberatung 1972<strong>“</strong> über einen jungen Journal<strong>ist</strong>en (wel-<br />

chen wohl):<br />

Einige Zeit noch beobachtet er bitter den Zerfall seiner Berufskultur, später nennt er<br />

diesen Zerfall: Realismus. Er gilt jetzt nicht mehr als Querulant <strong>und</strong> Psychopath, er wird<br />

normal im Sinn der journal<strong>ist</strong>ischen Norm. (...) Und überhaupt, was <strong>so</strong>ll der Einzelkampf,<br />

er kann sich mit keiner Gruppe <strong>so</strong>lidarisieren. Kein Journal<strong>ist</strong>enverein, auch<br />

keine Fraktion, kämpft für diesen Journalismus, der ihm vorschwebte. 105<br />

Was <strong>Meienberg</strong> zu einem <strong>so</strong> ausserordentlichen Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Literaten gemacht hatte –<br />

die Kompromisslosigkeit, das Sprachvermögen, das Rebellische, die Untrennbarkeit von Per-<br />

<strong>so</strong>n <strong>und</strong> Schreibendem – liess ihn eben<strong>so</strong> schwer tragen. Die Rolle des Streiters, zur „Institu-<br />

tion<strong>“</strong> 106 <strong>und</strong> zum „Markenartikel<strong>“</strong> 107 geworden, liess den anderen <strong>Meienberg</strong>, der es sich ge-<br />

wünscht hätte, „aus dem Gestrüpp politisch ideologischer <strong>und</strong> moralischer Für <strong>und</strong> Wider<br />

heraus[gelöst] <strong>und</strong> (...) als ernstzunehmende[n] Schriftsteller<strong>“</strong> 108 gelesen zu werden, in der<br />

Wahrnehmung der Öffentlichkeit auf der Strecke.<br />

So konsequent wie er geschrieben, bestehende Grenzen missachtet, Neues provoziert, die Öf-<br />

fentlichkeit herausgefordert hat, <strong>so</strong> konsequent <strong>ist</strong> er womöglich daran zerbrochen, er konnte<br />

den „Heiligen (den Credos von einst)<strong>“</strong> 109 , wie Loetscher schrieb, nicht, „als Gelebtes, zu ei-<br />

nem neuen Stellenwert verhelfen, eine Art negative Treue beweisen: (...) Die Heiligen, die<br />

man vertreibt, kehren eines Tages zurück.<strong>“</strong> 110 Das seien sie in <strong>Meienberg</strong>s Leben <strong>und</strong> hätten<br />

ihn „in den letzten Monaten vor seinem Tod beim Choralsingen begleitet.<strong>“</strong> 111 Und es mag<br />

eben<strong>so</strong> zutreffen, was er weiter schreibt; dass zielgerichteter Protest – <strong>und</strong> das war jener Mei-<br />

enbergs fast immer – in die Abhängigkeit des Augenblicks gerät <strong>und</strong> dass vieles, was an Ort<br />

<strong>und</strong> Stelle getroffen hat, ausserhalb des Streitfeldes seine Wirkung verliert. 112<br />

<strong>Meienberg</strong>s letzte Zeit im Leben stand unter dem Schatten der Erkenntnis, nach allem am<br />

Ende doch nichts verändert zu haben:<br />

Das Schreiben <strong>ist</strong> eine hoffnungslose Sache. (…) Man <strong>ist</strong> als Schreibender nichts wert,<br />

höchstens ein Unterhaltungswert, Diskussionen wird aus dem Weg gegangen, Debatten<br />

auch. Wenn man schlecht schreibt, wird man nicht gelesen, wenn man gut schreibt, gilt<br />

man als unseriös. Jeder Metzgerme<strong>ist</strong>er hat mehr Einfluss <strong>und</strong> Sozialprestige; keine Rede<br />

davon, dass die Zeitungen den Journal<strong>ist</strong>en/Journal<strong>ist</strong>innen gehören könnten, keine<br />

105 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Wer will unter die Journal<strong>ist</strong>en? S. 249.<br />

106 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>, zit. nach: Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 211.<br />

107 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: St. Galler-Diskurs bei der Preisübergabe. S. 210.<br />

108 <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>, zit. nach Reto Caluori: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 211.<br />

109 Hugo Loetscher: Im Helvetischen Chatroom. In: Hugo Loetscher: Lesen statt Klettern. S. 395.<br />

110 Ebd.<br />

111 Ebd.<br />

112 Ebd. S. 392f.<br />

- 29 -


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

Rede von einem kontinuierlichen Einfluss. (…) Die Ghettoisierung der Gesellschaft hat<br />

Formen angenommen, die es einem Intellektuellen nicht mehr ermöglichen, Debatten in<br />

Gang zu setzen, er wird abgewürgt, darf nicht antworten, wird in seinem Ghetto eingesperrt.<br />

113<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong> starb im September 1993, als Todesursache lag gemäss Obduktionsbericht<br />

„Ersticken infolge Überstülpen eines Plastiksackes über den Kopf nach vorgängiger Einnah-<br />

me eines Schlafmittels zusammen mit Alkohol<strong>“</strong> 114 vor. Er habe, schreibt Marianne Fehr, die<br />

Todesart gewählt, „die stets seine Formel für den Zustand des Nicht-Schreiben-Könnens<br />

war<strong>“</strong> 115 .<br />

Es fehlte ihm die Streitkultur, meinte Bichsel; „Nun haben wir einen Streiter mehr verloren,<br />

<strong>und</strong> das vielleicht auch deshalb, weil uns immer wieder die Lust fehlte, mit ihm zu streiten,<br />

<strong>und</strong> ihm letztlich nur noch der Streit mit sich selbst blieb.<strong>“</strong> 116 Nichts traf den Streiter schwe-<br />

rer, als wenn sein Schreiben (scheinbar) nichts provozierte. „Ich zähle natürlich auf Lang-<br />

zeitwirkungen <strong>und</strong> auf eine permanente Aufklärung. Und da seh ich al<strong>so</strong> schon… da seh ich<br />

nicht sehr viel, was sich bewegt, gegenwärtig.<strong>“</strong> 117<br />

Hat er Recht behalten? Oder wurden möglicherweise die Langzeitwirkungen erst später sicht-<br />

bar, zu spät für ihn al<strong>so</strong>?<br />

- 30 -<br />

Pascale Schaller<br />

Freiburg, 15. Februar 2008<br />

113<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>, zit. nach Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong><br />

Schriftstellers. S. 491.<br />

114<br />

Marianne Fehr: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers. S. 508.<br />

115<br />

Ebd.<br />

116<br />

Peter Bichsel. Von der Streitkultur. S. 490.<br />

117<br />

Klemens Renolder: Hagenwil-les-deux-Eglises. Ein Gespräch mit <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. S. 58.


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

7. Literaturverzeichnis<br />

7.1 Primärliteratur<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Aufenthalt in St. Gallen (670 m ü. M.). Eine Reportage aus der<br />

Kindheit. In: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Reportagen aus der Schweiz. Zürich 1994. S.13-28.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. Zürich 1992.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Die Lust (oder auch nicht) am Text. In: Vorspiegelung wahrer Tatsachen.<br />

Zürich 4 1983. S. 132-136.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines<br />

Clans. Zürich 1987.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subreal<strong>ist</strong>en. In: Der wissenschaftliche<br />

Spazierstock. Zürich 1985. S. 73-81.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Leichenrede für den Journal<strong>ist</strong>en Peter Frey oder Plädoyer für ein<br />

verschollenes métier. In: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Reportagen. Zürich 2000. S. 15-21.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: O wê, der babest <strong>ist</strong> ze junc / Hilf, herre, diner Kr<strong>ist</strong>enheit. Eine<br />

übernatürliche Reportage oder noch ein Beitrag zur Realismusdebatte. In: <strong>Meienberg</strong>,<br />

<strong>Niklaus</strong>: Heimsuchungen. Ein ausschweifendes Lesebuch. Zürich 1986. S. 195-211.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: St. Galler-Diskurs bei der Preisübergabe. In: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>:<br />

Weh unser guter Kaspar <strong>ist</strong> tot. Plädoyers u. dgl. Zürich 1991. S. 207-217.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Von unserem Pariser Korrespondenten (statt eines Vorworts). In:<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Das Schmettern des gallischen Hahns. Reportagen aus Frankreich.<br />

Zürich 1987. S. 9-15.<br />

� <strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Wer will unter die Journal<strong>ist</strong>en? Eine Berufsberatung 1972. In:<br />

<strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: Heimsuchungen. Ein ausschweifendes Lesebuch. Zürich 1986. S.<br />

243-252.<br />

� Realismusdebatte Winter 1983/84. Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. Mit Beiträgen von<br />

Marianne Fehr, Thomas Hoerfer, <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>, Stephan Portmann, I<strong>so</strong>lde Schaad,<br />

Corinne Schelbert, Andreas Simmen, Otto F. Walter u. a. WoZ-Dokumentation. Zürich<br />

1984.<br />

� Renolder, Klemens: Hagenwil-les-deux-Eglises. Ein Gespräch mit <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>.<br />

Zürich 2003.<br />

- 31 -


<strong>„Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>alles</strong> <strong>so</strong> <strong>verknüpft</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Uneigentlichkeit</strong> <strong>und</strong> Indirektheit als literarische Kampfmittel in Texten <strong>Meienberg</strong>s<br />

Seminar: Hugo Loetschers literarische Schweiz, HS 2007, Prof. H. Fricke / Arbeit: Pascale Schaller<br />

7.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />

� Bichsel, Peter: Von der Streitkultur. In: Peter Bichsel: Kolumnen, Kolumnen. Frankfurt<br />

am Main 2005.<br />

� Bichsel, Peter: Vorwort zu: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Reportagen aus der Schweiz. Zürich<br />

1994.<br />

� Caluori, Reto: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. „Ich habe nicht im Sinn, mich auf die schweizerische<br />

Gutmütigkeit einzulassen<strong>“</strong>. In: Sibylle Birrer, Reto Caluori, Kathrin Lüssi, Roger Sidler:<br />

Nachfragen <strong>und</strong> Vordenken. Intellektuelles Engagement bei Jean Rudolf von Salis, Golo<br />

Mann, Arnold Künzli <strong>und</strong> <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>. Zürich 2000.<br />

� Fehr, Marianne: <strong>Meienberg</strong>. Lebensgeschichte des Schweizer Journal<strong>ist</strong>en <strong>und</strong> Schriftstellers.<br />

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� Loetscher, Hugo: Im Helvetischen Chatroom. In: Hugo Loetscher: Lesen statt Klettern.<br />

Aufsätze zur literarischen Schweiz. Zürich 2003.<br />

� Meier, Marco: La réalité surpasse la fiction. Jürg Federspiel, Hugo Loetscher <strong>und</strong> <strong>Niklaus</strong><br />

<strong>Meienberg</strong> als Schweizer Vertreter des „New Journalism<strong>“</strong>. In: Biederland <strong>und</strong> die<br />

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Zürich 1988.<br />

� Stillhard, Chr<strong>ist</strong>of: <strong>Meienberg</strong> <strong>und</strong> seine Richter. Vom Umgang der Deutschschweizer<br />

Presse mit ihrem Starschreiber. Zürich 1992.<br />

� Zymner, Rüdiger: Uneigentliche Bedeutung. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der<br />

Bedeutung literarischer Texte. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez,<br />

Simone Winko. Berlin, New York 2003.<br />

� Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke, Georg Braungart,<br />

Klaus Grubmuller, Jan-Dirk Muller. Berlin 2 2007.<br />

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