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und vor allem Arbeiterinnen in die sozialdemokratische<br />

Gewerkschaft eingetreten.<br />

Die in großem Umfang mit Polinnen<br />

arbeitenden Bremer Textilfirmen<br />

galten bis dahin stets als das „Schmerzenskind“<br />

der Gewerkschaften. Die SPD-<br />

Zeitung urteilte: „Die Herren der Wollkämmerei<br />

halten es lieber mit der sozialen<br />

Rückständigkeit des Krautjunkers,<br />

der im Reichstag rief: ‚Die dümmsten Arbeiter<br />

sind uns am liebsten!‘ Darum ziehen<br />

sie ihre Arbeitssklaven aus dem wilden<br />

Osten heran, aus dem Schlaraffenland<br />

der Ausbeuterei, aus den schwärzesten<br />

Winkeln des Aberglaubens.“<br />

Saal-Freiheit für Polen<br />

Trotz solcher Attacken traten die BWK-<br />

Arbeiterinnen jetzt in die Gewerkschaft<br />

ein – damit begann auch die Suche nach<br />

Versammlungsräumen. Auf Betreiben<br />

des Landrats weigerten sich die beiden<br />

Blumenthaler Wirte aber, ihre Säle für<br />

solche Veranstaltungen zu öffnen. Sie<br />

bauten auf die Zusage des Landrats, die<br />

BWK werde den Verdienstausfall ausgleichen.<br />

Als die Arbeiter die Gaststätten<br />

aber über mehr als drei Monate boykottiert<br />

hatten, knickte der Kommerzienrat<br />

von der BWK ein. Besorgt über die<br />

Erbitterung, mit der seine Belegschaft<br />

den Boykott durchführte und interessiert<br />

an der Wiederherstellung des Betriebsfriedens<br />

widerrief er seine Zusage<br />

und ließ damit den Landrat im Regen<br />

stehen. Landrat Berthold musste die<br />

„Saal-Freiheit“ für die Polen anerkennen,<br />

in seinem Bericht kann er nur diagnostizieren,<br />

Ullrich sei „nervös überreizt“.<br />

Alle Jahre wieder bis zum Ersten Weltkrieg,<br />

und nicht nur auf die BWK bezogen,<br />

kritisiert er das Verhalten der<br />

Unternehmer seines Kreises. Angeblich<br />

würden sie ihren Belegschaften zu<br />

nachgiebig gegenüber treten. Bei jeder<br />

Konjunkturflaute moniert er, jetzt<br />

sei die Gelegenheit gekommen, die „Rädelsführer“<br />

aus den Betrieben zu entfernen.<br />

Letztendlich geht es ihm darum,<br />

jegliche organisatorische und politische<br />

Eigenständigkeit mit polnischem<br />

Einschlag zu verhindern. Auch Konflikte<br />

zwischen den katholischen Polen und<br />

ihren deutschen Geistlichen um die Rituale<br />

im Gottesdienst tauchen in seinen<br />

Berichten auf. Die national orientierten<br />

polnischen Sokόł-Turnvereine werden<br />

Objekt seiner Kontrolle und eine Polenfreundliche<br />

Wahlrede eines Sozialdemokraten<br />

empfindet er als Landesverrat.<br />

Einen Auftritt des späteren Reichpräsidenten<br />

Ebert kommentiert er mit<br />

den Worten, dieser habe „in geradezu<br />

ehrloser Weise um die polnischen Stimmen<br />

gebuhlt.“<br />

Polnischer Nationalismus gegen<br />

Germanisierungspolitik<br />

Diese Wahrnehmung ist jedoch keine<br />

Marotte eines beliebigen preußischen<br />

Landrats. Als die Polen 1906 eine eigene<br />

Bremer Zeitung gründen, berichtet das<br />

Osterholzer Kreisblatt: Ihr Ziel bestünde<br />

darin, „die in der Bremer Gegend lebenden<br />

Polen vor der Germanisierung zu<br />

schützen und sie im katholischen Glauben<br />

zu erhalten.“ Tatsächlich dachten<br />

auch polnische Vereinsgründer nicht nur<br />

an die Pflege von heimischen Liedgut<br />

und Volkstänzen. Inzwischen regierte<br />

das Zeitalter von Kolonialismus und Nationalismus.<br />

Damit entbrannte ein Nationalitätenkonflikt<br />

mit den über 2,5 Millionen<br />

Polen im preußischen Osten.<br />

Preußen steuerte tatsächlich einen Kurs<br />

der „Germanisierung“, es verbannte<br />

die polnische Sprache aus den Schulen,<br />

Briefe mit polnischer Adresse mußten<br />

nicht zugestellt werden und mit<br />

immensen Summen versuchte es, polnischen<br />

Grund und Boden in deutsche<br />

Hand zu bringen. Der polnische „Schulkinderstreik“<br />

für den Unterricht in der<br />

polnischen Muttersprache erhitzte das<br />

politische Klima und zahlreiche Vereine<br />

auch im Westen Deutschlands hielten<br />

den Wunsch nach einem eigenen Staat<br />

lebendig. Die preußischen Polizeipräsidenten<br />

unterhielten ein Übersetzungsbüro,<br />

um den Inhalt polnischer Zeitungen<br />

zu überwachen. Wenn der Bochumer<br />

Verein „Wiarus Polski“ seine<br />

„Zehn Gebote für Polen“ veröffentlichte,<br />

bekamen die Landräte die Übersetzung<br />

zugeschickt. Dort las dann Landrat Berthold<br />

neben der Aufforderung, nur polnische<br />

Produkte zu kaufen, auch das religiös<br />

eingefärbte Erste Gebot „Du sollst<br />

kein anderes Vaterland haben neben<br />

mir. Du sollst kein fremdes Land mehr<br />

lieben als mich.“<br />

Aus preußischer und Reichsperspektive<br />

bekamen die polnischen Bestrebungen<br />

damit den Charakter einer Sezessionsbewegung.<br />

Geschürte Ängste<br />

Germanisierungspolitik und polnischer<br />

Nationalismus schaukelten sich gegenseitig<br />

hoch. So kommentierte das Osterholzer<br />

Kreisblatt die polnische Zeitungsgründung<br />

in Bremen auch prompt: „Für<br />

die Unverfrorenheit der polnischen<br />

Propaganda ist diese Zeitungsgründung<br />

sehr bezeichnend.“ Und der Blumenthaler<br />

Landrat sah in der polnischen<br />

Nationalbewegung, die zudem noch<br />

mit der Sozialdemokratie liebäugelte,<br />

die „größte Gefahr“ für seinen industriell<br />

geprägten Landkreis: „Wird dieser<br />

Fremdkörper, der mehr als 10 % der Bewohner<br />

des Kreises umfasst, mehr und<br />

mehr auf gefährliche Bahnen geleitet<br />

[...], so kann im gegebenen Moment eine<br />

ganz verhängnisvolle Explosion herbeigeführt<br />

werden.“<br />

Der tatsächliche Verlauf der Geschichte<br />

zeigt, die preußischen Ängste beruhten<br />

auf Einbildung. Mit dem Ende des<br />

Ersten Weltkrieges entstand wieder<br />

ein polnischer Staat, die Polen im Bremer<br />

Norden aber blieben. Sie hatten ein<br />

besseres Leben fern ihrer armen Dörfer<br />

gesucht und gefunden. Zwei, drei Generationen<br />

nach der Ankunft bei ihrer<br />

BWK gehörten sie genauso zu den Blumenthalern<br />

wie die Arbeitskräfte, die<br />

einst aus Ostfriesland oder anderen Regionen<br />

zu den neuen Arbeitsplätzen gewandert<br />

waren.<br />

Achim Saur<br />

Die „Polenberichte“ des Landrats und zahlreiche<br />

andere Unterlagen zur Geschichte der Industrialisierung<br />

in Bremen Nord findet man im Dokumentationszentrum<br />

Blumenthal, Heidbleek 10.<br />

Anfragen unter 603 90 79.<br />

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