22.11.2014 Aufrufe

Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.

Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.

Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Aus den „Polenberichten“ des Blumenthaler Landrats Berthold<br />

„Mit einem Schlage waren<br />

unleidliche Verhältnisse eingetreten“<br />

Polnisch, katholisch und schlecht bezahlt –<br />

mit der Ankunft polnischer Arbeitskräfte auf<br />

der Blumenthaler Wollkämmerei begann ein<br />

schwieriges Kapitel Migrationsgeschichte<br />

[Foto: Doku Blumenthal]<br />

„Das Boot ist voll“, mit dieser Begründung<br />

rechtfertigte die Schweiz in den<br />

1940er Jahren einst die Übergabe jüdischer<br />

Flüchtlinge an deutsche Grenzer.<br />

Heute findet die Parole eine neue<br />

Verwendung bei der Abwehr europäischer<br />

Migration. In der Bremer Industrialisierung<br />

um 1900 gab aber es eine<br />

Wanderung von Arbeitskräften, die zudem<br />

noch mit einem komplizierten Nationalitätenkonflikt<br />

verquickt war.<br />

Als die Bremer Textilindustrie vor 1900<br />

ihre Arbeitskräfte rund um Posen zu rekrutieren<br />

begann, kamen damals keine<br />

„Ausländer“. Seit der polnischen Aufteilung<br />

an die derzeitigen Großmächte<br />

gab es schon über 100 Jahre keinen<br />

polnischen Staat mehr, die Zuwanderer<br />

waren inzwischen waschechte preußische<br />

Staatsbürger. Und die Industrie<br />

in Bremen-Nord, mit Ausnahme Vegesacks<br />

damals zum preußischen Landkreis<br />

Bumenthal gehörig, bediente sich<br />

mit <strong>Vor</strong>liebe der billigen Arbeitskraft<br />

aus den polnischen Dörfern. Rund um<br />

den Grohner Industriebezirk und die<br />

Blumenthaler Wollkämmerei stammte<br />

plötzlich jeder vierte Einwohner aus den<br />

polnischen Gebieten.<br />

Für den beschaulichen Kahnschiffer-<strong>Ort</strong><br />

war das eine Verkehrung der bisher geordneten<br />

Verhältnisse. Landrat Paul Berthold<br />

berichtete an seine Stader Bezirksregierung<br />

vom „Entsetzen“ der Alteingesessenen:<br />

„Viele Ankömmlinge galten<br />

als eine Art von Halbwilden, weil<br />

sie weder <strong>Vor</strong>hänge an die Fenster, noch<br />

Blumenstöcke auf die Fensterbretter taten,<br />

die hier sonst selbst im Armenhause<br />

nicht fehlten.“ Die Arbeiterhäuser der<br />

Fabrik erschienen den Blumenthalern<br />

derartig exotisch, daß ihre Siedlung vom<br />

Volksmund „Klein-Kamerun“ getauft<br />

wurde. Das größte Ärgernis bildeten<br />

Liebschaften, die als „Einbürgerung der<br />

wilden Ehe“ verpönt waren. Andererseits<br />

verstanden sich die Blumenthaler<br />

aber auch zu arrangieren, der Mangel<br />

an geeigneten Wohnungen führte<br />

zu einem rasanten Anstieg der Mieten.<br />

„Was hier an Raum in den vorhandenen<br />

Gebäuden überhaupt verfügbar war, die<br />

elendesten und ungesundesten Gelasse,<br />

nackte Bodenräume, alle nur irgendwie<br />

entbehrlichen Ställe oder Scheunen,<br />

notdürftig zu Wohnzwecken hergerichtet,<br />

wurde bis auf den letzten Winkel<br />

[...] ausgenutzt“, klagte der Landrat. Mit<br />

einem Wort: „Unleidliche Verhältnisse.“<br />

Als 1905 die überwiegend polnische Belegschaft<br />

der Wollkämmerei eine Lohnerhöhung<br />

forderte und in den Streik<br />

trat, war das für den Landrat Auftakt zu<br />

einer Serie von alljährlichen „Polenberichten“,<br />

die ein Schlaglicht auf die sozialen<br />

Spannungen zwischen Arbeiterbewegung,<br />

Nationalitäten, Kirchen und<br />

der Staatsmacht werfen. Als Vertreter<br />

von Ruhe und Ordnung kritisiert er vor<br />

allem das „völlig unbegreifliche“ Verhalten<br />

des BWK-Chefs, Kommerzienrat Ullrich.<br />

Der hatte seiner Meinung nach eine<br />

„gerechtfertigte Arbeitszeitverkürzung<br />

und Lohnerhöhung“ verweigert.<br />

So waren plötzlich über 1000 Arbeiter<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!