Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.
Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.
Download | PDF - Kultur Vor Ort e.V.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Piotr Sudol Der EU-Beitritt war sehr<br />
wichtig. Es gibt allerdings in Polen<br />
noch stärkere nationale Strömungen<br />
als hier. Ich hatte hier nie Probleme<br />
mit Rechtsextremisten, mit nationalistischer<br />
Gewalt. Aber in Polen spürt man<br />
das schon in manchen Gegenden, besonders<br />
in ländlichen Gebieten, wenn<br />
Leute mitkriegen, man ist Deutscher,<br />
kann es schon problematisch werden.<br />
Allerdings habe ich persönlich keine<br />
Gewalttätigkeiten erlebt.<br />
In Polen gab es lange Zeit eine Geschichtssicht,<br />
die die Polen ausschließlich als Opfer,<br />
die Deutschen als die Bösen sah. Gibt<br />
es da neue Entwicklungen?<br />
Piotr Sudol Ich kann natürlich nur<br />
aus meinem Bekanntenkreis sprechen.<br />
Da sind alle schon so weit offen für die<br />
Einsicht, dass auch von Polen schlimme<br />
Sachen verübt wurden. Sie waren nicht<br />
nur Opfer sondern auch Täter gegenüber<br />
den Juden. Das ist natürlich meine<br />
Altersklasse. Wenn ich das meiner<br />
Oma erzählen würde, die geriete völlig<br />
aus dem Häuschen. Da gibt es jetzt<br />
richtige Spannungen in Polen. Es gibt<br />
immer mehr Bücher über Gewalttaten<br />
von Polen an Juden, was bisher ein<br />
Tabuthema war. Einer der bekannten<br />
Autoren hat zahlreiche Morddrohungen<br />
erhalten. Dieser Nationalismus und der<br />
Opfermythos spielt immer noch eine<br />
große Rolle. Es gibt immer Menschen,<br />
die große Angst haben davor, dass die<br />
Deutschen wiederkommen und uns<br />
unser Land wegnehmen. Das ist natürlich<br />
auch eine Masche, um bei der EU<br />
Geld einzufordern. Aber ich meine, dass<br />
die Menschen, die heute hier arbeiten,<br />
nicht mehr die Untaten der Nazis auftischen<br />
sollen. Ich bin kein Verfechter<br />
davon, dass die Vergangenheit unter<br />
den Tisch gekehrt wird. Denkmäler und<br />
die Behandlung der Nazizeit im Geschichtsunterricht<br />
muss es geben. Aber<br />
mit finanziellen Zahlungen dafür muss<br />
mal Schluss sein. Man muss selbst die<br />
Fähigkeit und den Stolz haben, etwas<br />
aufzubauen.<br />
Das Schweigen<br />
Es muss die Hölle für das kleine Mädchen gewesen<br />
sein, in der Schule und von den Kindern im<br />
Viertel als „Polackin“ verhöhnt und ausgegrenzt<br />
zu werden. Wenn Marianne Schneider aus der<br />
Bromberger Straße in Gröpelingen von ihrer polnischen<br />
Mutter erzählt, begreift man, warum die<br />
Geschichte der frühen Einwanderer aus Polen nahezu<br />
vergessen ist.<br />
Ihr Großvater, Stanislaus Kuzmin, wurde am 15.<br />
Februar 1889 in Hutka/Tschenstochau geboren.<br />
Stanislaus Kuzmin war arm. Auf der Suche nach<br />
Arbeit kam er 1914 nach Bremen. Er arbeitete auf<br />
der Norddeutschen Hütte wie viele seiner Landsleute.<br />
1914 bestand die Hälfte der Belegschaft aus<br />
polnisch sprechenden Arbeitern.<br />
Seine Tochter, Kasimira wurde 1920 geboren. Sie hat sich immer als Außenseiterin<br />
gefühlt, berichtet Marianne Schneider. Sie schämte sich, Polin zu sein und versuchte<br />
ihre Herkunft mit allen Mitteln zu verbergen. Kasimira ließ sich „Else“ nennen.<br />
Eine Heirat mit ihrer großen Jugendliebe verschmähte sie. Denn ihr Liebster<br />
hieß Wenzel Krupczak und war ebenfalls Pole. Stattdessen ehelichte sie einen<br />
Deutschen. Die Ehe wurde später geschieden. Erst als sie 60 Jahre alt wurde, und<br />
ihre alte Liebe mit einem großen Rosenstrauß wieder auftauchte, haben beide zusammengefunden.<br />
Mutter, Tochter und Großvater<br />
wohnten gemeinsam in<br />
der Bromberger Straße. Aber<br />
über die polnische Herkunft<br />
wurde in der Familie wie im<br />
Verwandten- oder Bekanntenkreis<br />
nicht gesprochen.<br />
„Ich habe mich auch nicht dafür<br />
interessiert, weil das alles<br />
so negativ besetzt war,“ sagt<br />
Marianne Schneider. Es fanden<br />
sich auch nur ganz wenige<br />
Dokumente aus dem Leben ihres Großvaters. Ein Entlassungsschein der Norddeutschen<br />
Hütte vom 31. Dezember 1954. Laut diesem Dokument war Stanislaus Kozmin<br />
41 Jahre als Kokereiarbeiter mit der gefährlichen und schmutzigen Arbeit an<br />
den Koksöfen beschäftigt.<br />
Ein 1970 ausgestellter Fremdenpass ist noch vorhanden. Stanislaus Kozmin ist nie<br />
deutscher Staatsangehöriger geworden. Sonst existiert kein Foto, kein schriftliches<br />
Zeugnis. Stanislaus Kozmin konnte weder lesen noch schreiben. So ist dieser Teil<br />
der Familienbiographie untergegangen. Ebenso wie viele deutsch-polnische Familiengeschichten,<br />
die nie erzählt wurden, weil unter dem Diskriminierungsdruck der<br />
Mehrheitsgesellschaft die ehemaligen polnischen Einwanderer sich ihrer Herkunft<br />
schämten.<br />
Eike Hemmer<br />
Die Fragen stellten<br />
Iwona Bigos und Eike Hemmer<br />
Abbildungen: Spärliche Erinnerungsstücke an Stanislaus Kozmin: der Fremdenpass, in dem<br />
alle zwei Jahre die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bescheinigt wurde, der Entlassungsschein<br />
der Norddeutschen Hütte nach 41 Jahren Arbeit als Kokereiarbeiter und die<br />
Todesanzeige des Werkes mit dem Dank für „treue Dienste“.<br />
15