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Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I

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510 <strong>Stefan</strong> <strong>Grohe</strong><br />

9). In beiden Fällen ist zwar ein narrativer Kontext hergestellt, der uns wieder an<br />

die strenge Definition des Aktes erinnert, unter die diese Darstellungen deshalb,<br />

eigentlich nicht fallen dürften; aus den angewendeten Bildstrategien wird jedoch<br />

deutlich, dass es den Malern tatsächlich um die Darbietung des weiblichen Aktet<br />

für die Augen des Betrachters geht. Die gewählten erzählerischen Momente die«<br />

nen lediglich dazu, diesem seine eigene Augenlust bewusst werden zu lassen. Gerade<br />

bei Rubens geht der Akt als Objekt eine einzigartige Verbindung mit dem<br />

Akt als Körper ein, wie seine zahlreichen Variationen über das Thema des Paria»<br />

Urteils belegen können, in dem die Frage nach dem idealen Körper auf exempla*<br />

rische Weise mit dem Motiv der Wahl, der Objektwahl also, verknüpft ist (vg<br />

Damisch 1992). Die Autonomie eines ganz besonderen Körperideals verhind;<br />

nicht, dass selbst in Themen wie dem Hl. Sebastian - einer der beliebtesten '.<br />

vorwürfe für männliche Akte - der Körper auch als Objekt der Begierde wahrg<br />

nommen werden kann.<br />

Ihren Höhepunkt erreicht die Beliebtheit des Aktes als Objekt sicherlich<br />

französischen Rokoko, in dem der weibliche Akt in kaum noch verhüllter Fo<br />

erotisiert vorgeführt wird. Bouchers Blonde Odaliske von 1752 ist ganz<br />

galanten Geschmack der Zeit Ludwigs XV. eingestellt: wir blicken auf das <<br />

kleidete jugendliche Modell herab, das uns keine Aufmerksamkeit schenkt<br />

dessen Anblick durch keinerlei Ablenkungen attributiver oder narrativer Art<br />

einträchtigt ist (Abb. 10). Es hat auch hier Versuche gegeben, der Abgebild<br />

eine historische Identität zu verleihen: bevorzugt wird eine Mätresse Lud<br />

XV. namens Louise O'Murphy, von der Giacomo Casanova in einer seiner <<br />

sehen Erzählungen berichtet. Den Akt nachträglich zum Porträt zu erklären<br />

aber ebenso an seiner Funktion vorbei, wie die Versuche, die offene Erotik,<br />

dem Akt als Objekt meistens eignet, durch das nachträgliche Weben eines my<br />

logischen Schleiers wegzudiskutieren. Französische Adlige konnten bei Bou:<br />

ganz offen Aktbilder ohne weitere thematische Einschränkung für ihre ,cha<br />

privees' bestellen und setzten damit eine Tradition fort, die im 16. Jahrhun<br />

begründet wurde.<br />

Ingres' Große Odaliske (Abb. 11) von 1814 greift das mittlerweile zur C<br />

gewordene Thema des liegenden Aktes auf, zitiert die Gattung aber in einer<br />

zuvor dagewesenen Abstraktionsform (vgl. Ockman 1995). Der mit größter<br />

kuratesse wiedergegebene Rückenakt mit direkter Betrachteransprache ist -'<br />

erhaltener Vorzeichnungen nach dem Modell - nur noch lose mit der Natur<br />

weiblichen Körpers verbunden, der hier aufs Äußerste stilisiert erscheint,<br />

den Zeitgenossen fiel die anatomische Unmöglichkeit, ja Deformation auf, d<br />

Nackten mindestens drei Rückenwirbel zu viel beschert zu haben schien;'<br />

fertige Akt im Bild folgt hier - um mit Busch zu sprechen - nicht mehr Kö<br />

regeln, sondern Kunstregeln (Busch 1993, 136f).<br />

Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 511<br />

Ist damit schon eine erhebliche Distanzierung von der vorklassischen Wirkungsästhetik<br />

erreicht, so wird diese Formulierung in einem nächsten, diesmal<br />

selbstreflexiven Akt noch überboten. Das Metropolitan Museum in New York<br />

besitzt eine als Kopie bezeichnete Variante der Großen Odaliske in Grisaille<br />

(Abb. 12), die früher Ingres selber gegeben wurde und jetzt aufgrund einiger unsicher<br />

wirkender Passagen an Händen und Füßen dem Atelier zugeschrieben ist.7<br />

Allerdings handelt es sich keineswegs um eine unfertige Kopie ihres berühmten<br />

Pendants, wie die Beschriftung im Metropolitan Museum behauptet. Nahezu alle<br />

Unterschiede im Bestand des Abgebildeten sind mit einem anderen Darstellungsinteresse<br />

zu erklären: es fehlen die Pfeife im rechten Vordergrund und der Fächer<br />

in der rechten Hand der Frau ebenso wie die Schmuckstücke, die sie in der kolorierten<br />

Fassung zieren. Selbst die Musterung des Vorhangs fällt einer monochromen<br />

Wiedergabe zum Opfer. Diese Veränderungen gegenüber dem Original sind<br />

möglicherweise noch der speziellen Technik der Grisaille zuzuschreiben, deren<br />

Aufgabe es ja ist, ihre Gegenstände in verschiedenen Grautönungen abzubilden.<br />

Doch einige andere signifikante Abweichungen weisen darüber hinaus in eine<br />

kunsttheoretisch reflektierte Richtung, für die Grisaillen schon seit dem 15.<br />

Jahrhundert immer wieder eingesetzt worden sind. Im Unterschied zum Gemälde<br />

im Louvre ist der Bildausschnitt, in dem die Odaliske präsentiert wird, großzügiger<br />

gewählt und ist der Augenpunkt des Betrachters leicht angehoben. Beide<br />

kompositorischen Mittel dienen dazu, die Distanz zum Gegenstand zu erhöhen<br />

und auf diese Weise seinen Objektcharakter noch zu verstärken. Anders aber als<br />

im Typus des Aktes als Objekt, der auf vergleichbaren Kompositionschemata beruhen<br />

kann, begrenzt die monochrome Darstellung des Frauenleibes ihre sinnliche<br />

Anziehungskraft. Die Abstraktion der ursprünglichen Körperdarstellung wird so<br />

noch weiter getrieben, Gegenstand der Darstellung ist nun definitiv nicht mehr<br />

ein Frauenkörper, sondern ein Frauenakt - ein Kunstwerk! Und in unserem Zusammenhang<br />

ein neuer Typus.<br />

d) Selbstverständlich erfüllt der Akt als Objekt, der seit dem 16. Jahrhundert<br />

vorherrschend war, auch weiterhin seine Funktion. Als Frauenakt immer häufiger<br />

offen erotisch, dürfte es sich seit dem 19. Jahrhundert sogar um den mit Abstand<br />

populärsten Typus handeln, dem letztlich auch die Pin-Up-Kultur der Massenmedien<br />

der Nachkriegszeit verpflichtet ist.<br />

7 Die auf stilanalytischer Grundlage erhobenen Zweifel an der Eigenhändigkeit der New Yorker<br />

Grisaille beeinflussen nicht die hier vorgetragene Argumentation. Immerhin erwähnt Ingres<br />

eine "petite Odalisque en grisaille" in der Liste der von ihm zwischen 1824 und 1834 angefertigten<br />

Werke und befand sich das Gemälde nach seinem Tod im Besitz seiner Witwe. Vgl.<br />

In Pursuit of Perfection 1983, Nr. 51

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