Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I
Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I
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506 <strong>Stefan</strong> Grone<br />
denfalls aus dem 10. Jahrhundert (Abb. 2) (vgl. Camille 1989, 89; Buet<br />
1993): Die körperliche Gestalt von Adam und Eva ist auch hier undiffere<br />
dargestellt, Hinweise auf die Unterschiede im Körperbau von Mann und F<br />
fehlen im Paradies, Evas Brüste sind graphisches Ornament. Für die Darstell<br />
der Vertreibung nach dem Sündenfal wählte der Illustrator aber ein Schema,<br />
die geschlechtlichen Merkmale kompositorisch und gestisch verbirgt. Bei der<br />
nähme des Apfels standen die Ureltern noch aufgerichtet parallel nebenein<br />
nachdem ihnen ihre eigene Nacktheit zu Bewusstsein gekommen ist, verdeckt<br />
Körper Adams grundsätzlich denjenigen Evas: in der Szene, in der sich die b<br />
vor Gott verstecken wie auch in der eigentlichen Vertreibungsszene, in der<br />
Armen Adams sowohl die gestische Aufgabe zugewiesen ist, die Richtung<br />
Weges in die Welt anzuzeigen, wie auch Evas Körper derart zu verdecken,<br />
ihre Brüste unseren Blicken entzogen sind.<br />
Die Überwindung der mittelalterlichen Kunstschemata nördlich der<br />
wird im allgemeinen mit dem Werk Jan van Eycks in Verbindung gebracht<br />
seinem Hauptwerk, dem Retabel des Joos Vijd für die Kathedrale St. Br<br />
Gent - allgemein als Genter Altar bekannt -, flankieren im aufgeklappte<br />
stand Adam und Eva die Deesis des obersten Registers (Abb. 3). Der stup<br />
Realismus, mit dem Van Eyck die Gestalt Adams wiederzugeben weiß,<br />
bereits eine neuartige Auffassung von der Natur des Menschen an. Bis<br />
stärkeren Tönung der dem Sonnenlicht ausgesetzten Hautpartien, der Kör]<br />
haarung und der durchscheinenden Blutgefäße reicht die detailgetreue<br />
Stellung, die die Grenzen des rein Symbolischen zu sprengen beginnt (vgl.<br />
mer-Tugendhat 1989). Die Prominenz des Retabels - insbesondere aber der<br />
Stellung des Adam - führte schon im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu einem;<br />
haften Tourismus in der Kathedrale des Hl. Bavo in Gent und reduzierte ein<br />
andere Mal das Hauptwerk Jan van Eycks zu einem Altaraufsatz mit einer!<br />
ders bemerkenswerten Darstellung des ersten Menschen. Dass sich das Int<br />
des Publikums derart auf den Adam konzentrierte unterstreicht noch ein<br />
Neuartigkeit der Bildkonzeption Van Eycks. Während die Darstellung der<br />
Großen und Ganzen den mittelalterlichen Konventionen in der Wiederga<br />
nackten weiblichen Körpers verpflichtet bleibt, vollzieht die Nacktfigur<br />
einen gewaltigen Schritt in die Neuzeit - größer als es das Bravourstück<br />
leichter Untersicht die Nische zu verlassen scheinenden Fußes anzudeutT<br />
mag.<br />
if<br />
b) Im 15. Jahrhundert entsteht in Italien und an der Wende zum 16*<br />
hundert auch nördlich der Alpen ein neuer Typus, den ich den Akt als Kör<br />
zeichnen möchte. Der nackte Körper in der Kunst als Bedeutung tragend<br />
chen wird ergänzt durch eine Form der Darstellung, die den Körper als ihn<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 507<br />
bedeutend macht. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird üblicherweise<br />
mit zwei Alternativen beantwortet: Akt-, d.h. Naturstudium und Antikenstudium.<br />
Aktstudium soll heißen: Studium nach dem nackten lebenden Modell. Es ist<br />
der Kunstgeschichte allerdings bis heute nicht gelungen, einen sicheren Nachweis<br />
dafür zu erbringen, dass ein systematisches Aktstudium vor weiblichen Modellen<br />
im 15. oder 16. Jahrhundert stattfand. Bei den Dokumenten, meist Zeichnungen,<br />
die dafür herangezogen wurden, wird auf der Basis des gesunden Menschenverstandes<br />
angenommen, dass sie nach dem lebenden Modell angefertigt worden<br />
sind - um sie dann in einem klassischen hermeneutischen Zirkelschluss als Belege<br />
für systematisches Aktstudium zu werten (vgl. Bernstein 1992).<br />
Eine Dürerzeichnung von 1495 kann hier als Beispiel dienen (Abb. 4): Der<br />
Akt mit Stab erinnert natürlich in der Posierung sehr an eine Atelierstudie. Diese<br />
ist dann allerdings mit rhetorischen Zutaten aufgeladen worden, die das Aktstudium<br />
durchaus in Zweifel ziehen können: Schattenwurf und Drapierung der Stoffbahn<br />
widersprechen einer natürlichen Situation, außerdem scheint der Kopf erst<br />
nachträglich aufgesetzt worden zu sein. Es soll gar nicht bezweifelt werden, dass<br />
derartige Studien in Einzelfällen angefertigt wurden, doch handelt es sich dabei<br />
mit Sicherheit um Ausnahmen, denn die Zahl der Künstler, die systematisch<br />
Anatomie- oder Proportionsstudien betrieben haben - wie Leonardo, Michelangelo<br />
oder auch Parmigianino -, darf als verschwindend gering angenommen werden.<br />
Die Berufung auf die publizierten Studien Leonardos oder Dürers, deren<br />
Wichtigkeit nicht bestritten werden soll, ist geeignet, ein verzerrtes Bild der<br />
tatsächlichen Praxis zu vermitteln, die viel stärker auf Regelbüchern, wie denen<br />
von Luca Pacioli, Pomponius Gauricus u.a., und ihrer praktischen, d.h. freien<br />
Umsetzung basierte. Selbst in den wenigen Quellen, die Modellstudium erwähnen,<br />
ist so gut wie nie von weiblichen Modellen die Rede. Cennino Cennini stellt<br />
im Zusammenhang mit den Proportionen des menschlichen Körpers sogar kategorisch<br />
fest, dass der weibliche keine habe, und die Regularien der römischen<br />
Accademia di San Luca verboten noch 1609 ausdrücklich die Verwendung weiblicher<br />
Modelle (vgl. Goldstein 1996). Es geht der Kunst der Renaissance also gar<br />
nicht um den Anachronismus einer anatomisch korrekten Wiedergabe des Körpers,<br />
ihre Aufgabe ist es, ein Bild vom Körper zu schaffen. In Dürers Aktzeichnung<br />
geht es also nicht um die vorgebliche Natürlichkeit eines weiblichen Rückenaktes,<br />
sondern um den Kontrast zwischen der kontrapostischen Haltung,<br />
dem fast senkrechten Kontur zur Linken und dem S-Schwung des rechten Kontur.4<br />
Das monumentale Denkmal seiner Konstruktion der idealen, nicht natürli-<br />
4 Dürer selbst warnt den angehenden Künstler sogar, dass er „behutt wird vor fraulichem Geschlecht"<br />
und dass „er Keine bloss sech oder angreif' (in einem Entwurf zur Vorrede des Maler-Lehrbuchs:<br />
Dürer 1893, 284). Eine derartige Aussage schließt - sollte man meinen - das<br />
Aktstudium am lebenden weiblichen Modell aus.