Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I
Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I
Aufsatz Stefan Grohe, TEIL I
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Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 55 (2002) 501-528<br />
<strong>Stefan</strong> Grone (Augsburg)<br />
NACKTHEIT UND AKTBILD SEIT DER RENAISSANCE<br />
I.<br />
Unter den Darstellungsgegenständen von Malerei und Skulptur nimmt die Wiedergabe<br />
des nackten menschlichen Körpers eine zentrale Rolle ein. Von der Renaissance<br />
bis zur zeitgenössischen Kunst, von Sandro Botticelli bis hin zu Robert<br />
Mapplethorpe gehört das Nackte in der Kunst zu den prominentesten Bildaufgaben.<br />
1 Mit einem selten in seiner präzisen Bedeutung benutzten Begriff, auf dessen<br />
Unscharfen ich zurückkommen werde, wird diese wichtige und weit verbreitete<br />
Gattung im Deutschen als Akt bezeichnet, in anderen Sprachen der Kunstgeschichte<br />
als the nude (engl.), le nu (frz.) oder het naakt (ndl.) (einige begriffsgeschichtliche<br />
Hinweise in Eberlein 1937, 282-287). Die Beliebtheit der Gattung,<br />
die sie in der populären Wahrnehmung geradezu zu einem Synonym für Schönheit<br />
hat werden lassen, hat zu einer ganzen Reihe wohlfeiler Bildbände geführt,<br />
die einen Überblick über die Geschichte der Darstellung des nackten menschlichen<br />
Körpers in seiner scheinbar natürlichsten Erscheinung zu präsentieren versuchen.<br />
Unter den Publikationen, die eher wissenschaftlichen Kriterien entsprechen,<br />
ragt Kenneth Clarks 1956 erstmals erschienene Studie The nude2 heraus, die bis<br />
heute in den englischsprachigen Ländern zahlreiche Neuauflagen erlebt hat und<br />
nach wie vor als ein Standardwerk zum Thema gilt. Berühmt geworden und nach<br />
wie vor eine nützliche analytische Grundlage ist Clarks Unterscheidung zwischen<br />
naked und nude, d.h. zwischen nackt und Akt (Clark 1985, 1-25). Mit nakednackt<br />
wird seitdem die schutzlose Ausgesetztheit des seiner Kleidung beraubten<br />
Körpers bezeichnet, mit nude-Akt eine Kunstform, die im Gegensatz zur Nacktheit<br />
eher positiv konnotiert ist und die - nach Clark - im 5. vorchristlichen Jahr-<br />
Bei den hier vorgestellten Gedanken handelt es sich um die Skizze eines Forschungsprojektes<br />
über die Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung der Aktdarstellung. Die Vortragsform wurde<br />
für die Veröffenüichung weitgehend beibehalten.<br />
1 Kenneth Clark, The Nude. A Study of Ideal Art, London 1956 (hier zit. n. der Ausgabe London<br />
1985). Deutsch als: K.C., Das Nackte in der Kunst, Köln 1958.
502 <strong>Stefan</strong> Grone<br />
hundert in Griechenland erfunden wurde. Doch schon mit dieser Aussage st<br />
Clarks Definition an ihre Grenzen und verweist auf ein zentrales Problem au<br />
dieses Vortrags: Den Akt als eine Kunstform zu definieren, die die Geschic<br />
der Kunst seit ihren Anfängen in der Hochzeit der Klassik begleitet, setzt<br />
Geschichtsbild voraus, welches die Perspektive des ausgehenden 19. Jahrh<br />
derts verabsolutiert. Die Einteilung des Stoffes, die Clark vorgenommen<br />
spricht in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache: er unterlässt jegliche Form<br />
Periodisierung, da ihm die Geschichte der Aktdarstellung die Geschichte<br />
Versuches ist, die schon in ihrem Beginn ideale Form des nackten Körpers in<br />
klassischen Antike wiederzugewinnen. Apollo und Venus, energeia, pathos u<br />
ekstasis sind die Kategorien, nach denen der Akt auch in den folgenden<br />
Jahrhunderten zu klassifizieren ist, und was nicht in dieses rigide Klassifikatio<br />
Schema passt, wird kurzerhand zur 'alternative Convention' erklärt, darunter<br />
gesamte Mittelalter, die nordeuropäische Renaissance mit Dürer und Cra<br />
und die Moderne mit Rodin.<br />
Ab der Mitte der siebziger Jahre rückte die Aktdarstellung verstärkt in<br />
Fokus einer neuen, von einer Neubewertung der Geschlechterrollen angeregt<br />
kunsthistorischen Sichtweise, die in ihrer Konzentration auf die geschlechts<br />
zifisch konditionierte Verfassung des Blicks Erkenntnisse und Interpretatio<br />
hervorbrachte, die die Wahrnehmung des Aktes in ein ganz neues Licht gerür<br />
haben (vgl. Der nackte Mensch 1989).<br />
Clarks Position und diejenige der feministischen Autoren wie Nead (198<br />
Pointon (1990) und Nochlin (1988), so unterschiedlich sie in ihrem methodisch<br />
Zuschnitt auch sein mögen, sind jedoch in einem entscheidenden Punkt mit"-<br />
der verwandt: Clark erkennt nur die antike Skulptur als ästhetische Konstant<br />
und misst alle folgenden Phänomene an diesem Maßstab. Demgegenüber<br />
Geschlechtergeschichte den Akt nicht anders als aus der Perspektive einer<br />
thropologischen Konstante des männlichen Blickes selber in den Blick ne'<br />
Beide Ansätze zeichnen sich also trotz aller Gegensätzlichkeit durch ein<br />
gehen aus, das die historischen Wandlungen, denen die Aktdarstellung seit<br />
Renaissance offensichtlich unterworfen ist, nicht hinreichend wahrnehmen k<br />
Ich möchte als Alternative vorschlagen, die Geschichte der Gattung mit<br />
einer historischen Typologie zu schreiben und zu beschreiben. Eine solche<br />
logie müsste m.E. die historisch je verschiedenen Aufgaben, die die Kunst bei'<br />
Darstellung des nackten menschlichen Körpers zu bewältigen hatte, berück<br />
tigen; die historische Typologie wäre also zugleich eine funktionale Typolo<br />
Es ergibt sich daraus ein Modell, welches die Entstehung bestimmter Typen<br />
Aktdarstellung erfässt und ebenso ihre Beständigkeit wie ihr Verhältnis zu hl<br />
risch jüngeren Typen beschreibt.<br />
Dass der deutsche Begriff Akt sich vom lateinischen actus herleitet und B<br />
gung, Handlung meint, mutet angesichts der häufig bewegungslos stehenden'<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 503<br />
liegenden Akte unangemessen an. Die anderen europäischen Sprachen kennen -<br />
wie bereits gesagt - diese Festlegung der Bildform nicht und benutzen nur die<br />
Form nackt Allerdings ist im deutschen Begriff des Aktes noch seine Bedeutung<br />
an den Akademien bewahrt, als er vor allem dem Studium von Gebärden und<br />
Posen diente; denn schließlich findet der Begriff in dieser ursprünglichen Wortbedeutung<br />
erst im 19. Jahrhundert Eingang in den Sprachgebrauch (im<br />
Grimmschen Wörterbuch ist er nicht verzeichnet) und werden seine Konnotationen<br />
erst danach unter tätiger Mithilfe der Kunstgeschichte auf nahezu jede<br />
Darstellung des nackten Körpers erweitert. In einem strengen Sinne dürfte demnach<br />
nur die Zeichnung nach dem posierenden nackten Modell Akt genannt werden;<br />
da es diese Einschränkung aber nur im Deutschen gibt und um einen tauglicheren<br />
analytischen Begriff zu gewinnen, möchte ich als Akt oder Aktdarstellung<br />
alle diejenigen Darstellungen bezeichnen, in denen der nackte menschliche Körper<br />
vorrangiges Darstellungsinteresse ist.<br />
II.<br />
Der Akt ist eine Kunst- und damit eine Aussageform, die in der Regel mit der<br />
Wirklichkeit nichts zu tun hat. So kann man davon ausgehen, dass Frauen im<br />
Mittelalter nicht durchgängig gerundete Bäuche hatten, die Menschen in Dürers<br />
Umgebung nicht so proportioniert waren wie sein Adam und seine Eva, und<br />
Ingres für die Grande Odalisque kein Modell mit einer anatomischen Deformation<br />
saß, die ihr drei Rückenwirbel zu viel bescherte (s.u.). Es ist wichtig, auf diese<br />
so selbstverständlich wirkenden Tatsachen hinzuweisen, denn wie mit einem<br />
großen Teil der Kunstgeschichte überhaupt, so wird vor allen Dingen für den Akt<br />
sehr häufig angenommen, er gebe die Realität wieder. Mit den von mir vorgeschlagenen<br />
Typen sollte diese simplifizierende Verbindung zwischen Kunstwerk<br />
und Realität ein Korrektiv erhalten, das Repräsentation als Konstruktion<br />
von Wirklichkeit begreifbar macht.<br />
Es hat Versuche gegeben, Aktdarstellungen nach ikonographischen Gesichtspunkten<br />
zu klassifizieren, so z.B. in der bedeutsamen, aber eher seltenen Gattung<br />
des Aktporträts (vgl. Chapeaurouge 1969), zu dem die Darstellung des Genueser<br />
Admirals Andrea Doria als Neptun durch Agnolo Bronzino ebenso zu zählen ist<br />
wie Antonio Canovas Studie des nackten George Washington. Eine weitere, gerne<br />
benutzte Kategorie ist der sogenannte heroische Akt, der insbesondere in der<br />
Skulptur vom frühen 16. Jahrhundert an große Beliebtheit genoss und im 20.<br />
Jahrhundert vor allem in der Staatskunst weite Verbreitung fand (vgl. Wolbert<br />
1982). Die Kategorie des heroischen Aktes stellt also schon den Versuch einer<br />
typologischen Einordnung von Aktdarstellungen dar, der aber bisher weitgehend<br />
isoliert geblieben und historisch nicht fruchtbar gemacht worden ist.
504 <strong>Stefan</strong> Grone<br />
Meines Erachtens sollte eine historische Typologie der Aktdarstellung<br />
gende vier Typen umfassen, deren Charakteristika ich im Folgenden anhand<br />
ger Beispiele vorstellen möchte:<br />
a) Akt als Symbol<br />
Eine strenge Definition verbietet hier eigentlich, vom Akt zu sprechen,<br />
handelt sich um die Darstellung nackter Körper, deren Nacktheit aber weder<br />
schließlicher Darstellungsgegenstand noch Selbstzweck ist. Nacktheit wird<br />
mehr als ein Attribut eingesetzt, das auf einen symbolischen Zusammenhang<br />
weist, sie fungiert als Zeichen, manchmal sogar als Attribut, das seine B«<br />
aus einem narrativen oder allegorischen Kontext bezieht.<br />
b) Akt als Körper<br />
In diesem Typus wird der nackte Körper zwar zum ausschließlichen Di<br />
lungsinteresse, allerdings als Körper und nicht als Nacktheit. Obwohl i<br />
weiterhin zeichenhaft eingesetzt werden kann, stehen im Vordergrund bil<br />
Konstruktionen idealer wie auch 'natürlicher' Körper. Der angesprochene<br />
sehe Akt wäre diesem Typus zuzurechnen.<br />
c) Akt als Objekt<br />
Nacktheit operiert in diesem Typus in der Funktion sinnlicher VerfÜ<br />
kraft. Der (jetzt zumeist weibliche) Körper wird zum Lustobjekt, in dem die,<br />
nerischen Mittel in Übereinstimmung mit den Zielen einer Wirkungsästhe<br />
wählt werden. Mit der Aufwertung der Rolle des Blickes wird zugleich di"<br />
fugbarkeit der präsentierten nackten Körper als Objekte des Begehrens<br />
riert.<br />
d) Akt als Kunstwerk<br />
Ausgehend vom Objektcharakter und der Reflexion über die Bedeu<br />
Anschauung wird der Akt schließlich als Kunstsymbol schlechthin begriff«<br />
Aufgabe der Darstellung des nackten menschlichen Körpers dient nun ab«,<br />
mehr einer Wirkungsästhetik, sondern wird zu einem innerkünstlerischen<br />
xionsfeld. Mit der Moderne erweitert sich dieser Typus um eine Variante,<br />
historische Bedingtheit des Aktes in Bedeutungseinheit mit seiner meton<br />
Verwendung für Kunst schlechthin thematisiert.<br />
a) Der Akt als Symbol ist der vorherrschende Typus des Mittelalters: Zv<br />
man in der nachantiken Kunst bis zum Beginn der Renaissance nicht im 0L<br />
wähnten strengen Sinne von Aktdarstellung sprechen. Da der Typus der<br />
lung des nackten Menschen in der Kunst, der sich im Mittelalter ausbild<br />
in.<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 505<br />
auch in der Folgezeit in Gebrauch sein sollte, möchte ich meine Typologie mit<br />
Beispielen mittelalterlicher Kunst beginnen.<br />
Trotz der bekannt reservierten Haltung der christlichen Theologie gegenüber<br />
der Nacktheit hatte die christliche Kunst des Mittelalters zu zahlreichen Gelegenheiten<br />
die Aufgabe, den nackten menschlichen Körper darzustellen.3 So darf<br />
man nicht vergessen, dass der in der Geschichte der Kunst mit Abstand am häufigsten<br />
dargestellte nackte Körper derjenige des leidenden Christus ist. Vor allem<br />
aber das Thema des Urelternpaares beim Sündenfal forderte eine Auseinandersetzung<br />
mit der Nacktdarstellung heraus, denn schließlich ist der Umstand, dass<br />
der Mensch seinen Zustand als nackt empfindet, eine unmittelbare Folge der verbotenen<br />
Kost vom Baum der Erkenntnis.<br />
In einem Relief des 12. Jahrhunderts für die Kirche St. Lazare in Autun hat ein<br />
Meister, dessen Name uns mit Gislebertus überliefert ist, eine Darstellung der<br />
Eva des Sündenfals geschaffen (Abb. 1). Diese nackte Eva zeigt eine ornamentale<br />
Geschlossenheit, die das moderne Auge nicht anders als eine kompositionelle<br />
Formulierung für ihre Verführungskünste lesen kann. Das Lineament ihres Konturs<br />
scheint auf einen Abstraktionsprozess vorauszuweisen, der erst zu Beginn<br />
des 19. Jahrhunderts wieder eine vergleichbare Ausdrucksstärke zu erreichen<br />
scheint. Doch sollte uns diese außergewöhnliche Gestaltung nicht davon ablenken,<br />
dass das Relief in einem klar definierten Funktionszusammenhang steht, in<br />
dem die Nacktheit der Dargestellten keinesfalls primäres Darstellungsinteresse<br />
ist. Nacktheit unterlag durch ihre Verbindung mit ihrer Entdeckung durch den<br />
Sündenfal einem moralischen Verdikt, was aber keinesfalls bedeutete, dass sie<br />
gänzlich aus der Kunst verschwunden wäre. Hinz hat nachgewiesen, dass das<br />
ganze Mittelalter hindurch eine Faszination für die Nacktheit insbesondere der<br />
antiken Statuen auszumachen ist, die seltsam zwischen Abscheu und Anziehung<br />
oszilliert (Hinz 1998). Die Antwort auf diese Herausforderung ebenso wie die<br />
Propagierung des eigenen Körperkodexes verlangte geradezu nach der Darstellung<br />
des Nackten, eingebunden jedoch in die eigene Bildpolitik.<br />
Wie wenig Nacktheit in weiten Teilen der mittelalterlichen Kunst dabei mit<br />
körperlicher Realität zu tun hat, erweist sich auch am Urelternpaar der Adamspforte<br />
des Bamberger Doms. Die weitgehende Identität im Körperbau von Adam<br />
und Eva ist wahrscheinlich nicht allein auf das fehlende Interesse des Bildhauers<br />
an anatomischen Studien zurückzufuhren - es sind eben keine Akte, sondern<br />
Nackte. Auch der theologische Gedanke eines einheitlichen Menschengeschlechts<br />
vor dem Sündenfal kann als Erklärung für die maskuline Gestalt beider Ureltern<br />
dienen. Eine ähnliche Situation erkennen wir in einer Psalterillustration des Sün-<br />
3 Eine inzwischen selber historisch gewordene Debatte über die Einschätzung von Nacktheit im<br />
Mittelalter entzündete sich an Hans Peter Duerrs Auseinandersetzung mit Norbert Elias' Thesen<br />
zum Zivilisationsprozeß: Duerr 1988.
506 <strong>Stefan</strong> Grone<br />
denfalls aus dem 10. Jahrhundert (Abb. 2) (vgl. Camille 1989, 89; Buet<br />
1993): Die körperliche Gestalt von Adam und Eva ist auch hier undiffere<br />
dargestellt, Hinweise auf die Unterschiede im Körperbau von Mann und F<br />
fehlen im Paradies, Evas Brüste sind graphisches Ornament. Für die Darstell<br />
der Vertreibung nach dem Sündenfal wählte der Illustrator aber ein Schema,<br />
die geschlechtlichen Merkmale kompositorisch und gestisch verbirgt. Bei der<br />
nähme des Apfels standen die Ureltern noch aufgerichtet parallel nebenein<br />
nachdem ihnen ihre eigene Nacktheit zu Bewusstsein gekommen ist, verdeckt<br />
Körper Adams grundsätzlich denjenigen Evas: in der Szene, in der sich die b<br />
vor Gott verstecken wie auch in der eigentlichen Vertreibungsszene, in der<br />
Armen Adams sowohl die gestische Aufgabe zugewiesen ist, die Richtung<br />
Weges in die Welt anzuzeigen, wie auch Evas Körper derart zu verdecken,<br />
ihre Brüste unseren Blicken entzogen sind.<br />
Die Überwindung der mittelalterlichen Kunstschemata nördlich der<br />
wird im allgemeinen mit dem Werk Jan van Eycks in Verbindung gebracht<br />
seinem Hauptwerk, dem Retabel des Joos Vijd für die Kathedrale St. Br<br />
Gent - allgemein als Genter Altar bekannt -, flankieren im aufgeklappte<br />
stand Adam und Eva die Deesis des obersten Registers (Abb. 3). Der stup<br />
Realismus, mit dem Van Eyck die Gestalt Adams wiederzugeben weiß,<br />
bereits eine neuartige Auffassung von der Natur des Menschen an. Bis<br />
stärkeren Tönung der dem Sonnenlicht ausgesetzten Hautpartien, der Kör]<br />
haarung und der durchscheinenden Blutgefäße reicht die detailgetreue<br />
Stellung, die die Grenzen des rein Symbolischen zu sprengen beginnt (vgl.<br />
mer-Tugendhat 1989). Die Prominenz des Retabels - insbesondere aber der<br />
Stellung des Adam - führte schon im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu einem;<br />
haften Tourismus in der Kathedrale des Hl. Bavo in Gent und reduzierte ein<br />
andere Mal das Hauptwerk Jan van Eycks zu einem Altaraufsatz mit einer!<br />
ders bemerkenswerten Darstellung des ersten Menschen. Dass sich das Int<br />
des Publikums derart auf den Adam konzentrierte unterstreicht noch ein<br />
Neuartigkeit der Bildkonzeption Van Eycks. Während die Darstellung der<br />
Großen und Ganzen den mittelalterlichen Konventionen in der Wiederga<br />
nackten weiblichen Körpers verpflichtet bleibt, vollzieht die Nacktfigur<br />
einen gewaltigen Schritt in die Neuzeit - größer als es das Bravourstück<br />
leichter Untersicht die Nische zu verlassen scheinenden Fußes anzudeutT<br />
mag.<br />
if<br />
b) Im 15. Jahrhundert entsteht in Italien und an der Wende zum 16*<br />
hundert auch nördlich der Alpen ein neuer Typus, den ich den Akt als Kör<br />
zeichnen möchte. Der nackte Körper in der Kunst als Bedeutung tragend<br />
chen wird ergänzt durch eine Form der Darstellung, die den Körper als ihn<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 507<br />
bedeutend macht. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird üblicherweise<br />
mit zwei Alternativen beantwortet: Akt-, d.h. Naturstudium und Antikenstudium.<br />
Aktstudium soll heißen: Studium nach dem nackten lebenden Modell. Es ist<br />
der Kunstgeschichte allerdings bis heute nicht gelungen, einen sicheren Nachweis<br />
dafür zu erbringen, dass ein systematisches Aktstudium vor weiblichen Modellen<br />
im 15. oder 16. Jahrhundert stattfand. Bei den Dokumenten, meist Zeichnungen,<br />
die dafür herangezogen wurden, wird auf der Basis des gesunden Menschenverstandes<br />
angenommen, dass sie nach dem lebenden Modell angefertigt worden<br />
sind - um sie dann in einem klassischen hermeneutischen Zirkelschluss als Belege<br />
für systematisches Aktstudium zu werten (vgl. Bernstein 1992).<br />
Eine Dürerzeichnung von 1495 kann hier als Beispiel dienen (Abb. 4): Der<br />
Akt mit Stab erinnert natürlich in der Posierung sehr an eine Atelierstudie. Diese<br />
ist dann allerdings mit rhetorischen Zutaten aufgeladen worden, die das Aktstudium<br />
durchaus in Zweifel ziehen können: Schattenwurf und Drapierung der Stoffbahn<br />
widersprechen einer natürlichen Situation, außerdem scheint der Kopf erst<br />
nachträglich aufgesetzt worden zu sein. Es soll gar nicht bezweifelt werden, dass<br />
derartige Studien in Einzelfällen angefertigt wurden, doch handelt es sich dabei<br />
mit Sicherheit um Ausnahmen, denn die Zahl der Künstler, die systematisch<br />
Anatomie- oder Proportionsstudien betrieben haben - wie Leonardo, Michelangelo<br />
oder auch Parmigianino -, darf als verschwindend gering angenommen werden.<br />
Die Berufung auf die publizierten Studien Leonardos oder Dürers, deren<br />
Wichtigkeit nicht bestritten werden soll, ist geeignet, ein verzerrtes Bild der<br />
tatsächlichen Praxis zu vermitteln, die viel stärker auf Regelbüchern, wie denen<br />
von Luca Pacioli, Pomponius Gauricus u.a., und ihrer praktischen, d.h. freien<br />
Umsetzung basierte. Selbst in den wenigen Quellen, die Modellstudium erwähnen,<br />
ist so gut wie nie von weiblichen Modellen die Rede. Cennino Cennini stellt<br />
im Zusammenhang mit den Proportionen des menschlichen Körpers sogar kategorisch<br />
fest, dass der weibliche keine habe, und die Regularien der römischen<br />
Accademia di San Luca verboten noch 1609 ausdrücklich die Verwendung weiblicher<br />
Modelle (vgl. Goldstein 1996). Es geht der Kunst der Renaissance also gar<br />
nicht um den Anachronismus einer anatomisch korrekten Wiedergabe des Körpers,<br />
ihre Aufgabe ist es, ein Bild vom Körper zu schaffen. In Dürers Aktzeichnung<br />
geht es also nicht um die vorgebliche Natürlichkeit eines weiblichen Rückenaktes,<br />
sondern um den Kontrast zwischen der kontrapostischen Haltung,<br />
dem fast senkrechten Kontur zur Linken und dem S-Schwung des rechten Kontur.4<br />
Das monumentale Denkmal seiner Konstruktion der idealen, nicht natürli-<br />
4 Dürer selbst warnt den angehenden Künstler sogar, dass er „behutt wird vor fraulichem Geschlecht"<br />
und dass „er Keine bloss sech oder angreif' (in einem Entwurf zur Vorrede des Maler-Lehrbuchs:<br />
Dürer 1893, 284). Eine derartige Aussage schließt - sollte man meinen - das<br />
Aktstudium am lebenden weiblichen Modell aus.
508 <strong>Stefan</strong> Grone<br />
chen, menschlichen Körper setzt Dürer mit seinen lebensgroßen Gestalten von'<br />
Adam und Eva aus dem Jahr 1507, heute im Prado. Sie bilden die Summe seintf<br />
Körpervorstellungen, die sich aus der Auseinandersetzung mit antiken Prägungen<br />
der Gestalt von Apollo und Venus ebenso speisen wie aus der Temperament<br />
lehre und seinen eigenen Forschungen zur menschlichen Proportion (Grewenlfü<br />
1987).5<br />
Anders als Dürer, der nur mittelbar in Kontakt mit archäologischen Relil<br />
kam, standen den italienischen Künstlern antike Modelle zur Verfügung. Da<br />
sich dabei um Skulpturen handelte, überrascht es nicht, ausnahmsweise<br />
Skulptur eine Vorreiterrolle spielen zu sehen, als es darum ging, autonome Ki<br />
perbilder zu entwerfen. In Kleinbronzen manifestiert sich ein direkter Weg<br />
autonomen Akt, den die Skulptur deshalb leichter beschreiten konnte, weil siel<br />
der Frage der Aktdarstellung aus einem Nachteil im paragone-Streit über dl<br />
größere Leistungsfähigkeit der Gattungen Skulptur oder Malerei einen Vortll<br />
machen konnte. Das Fehlen ausreichender erzählerischer Mittel und die medkl<br />
vorbestimmte Konzentration auf die Einzelfigur in der Nachfolge der zum Vol<br />
bild erkorenen antiken Skulptur bahnen hier den Weg zum autonomen Akt. -iti<br />
Die Malerei musste dafür einen Umweg in Kauf nehmen. Raffaels Frühwoli<br />
der Drei Grazien kann man als Transkription einer griechisch-römischen<br />
morgruppe verstehen, er greift damit auf ein Thema zurück, das ihm nicht nur<br />
Behandlung des nackten Körpers erlaubte, sondern darüber hinaus auch, über<br />
ne ideale Gestalt zu reflektieren. Die Hauptfigur in Sandro Botticellis Geburt<br />
Venus ist ebenso deutlich von einer Auseinandersetzung mit antiker Skulptur<br />
prägt, unterliegt aber innerhalb der Komposition noch dem symbolischen Kon<br />
(Abb. 5). Erst ihre Isolation, noch dazu vor neutralem schwarzem Hinterg<br />
befreit sie aus diesem auch in gattungstheoretischer Hinsicht. Dieser Prozess,<br />
bis hin zu Lucas Cranachs Werkstattproduktionen nackter Venera ausstrahlt,<br />
kumentiert das Interesse der Zeit an autonomen Körperkonstruktionen im<br />
des Aktes (vgl. Venus 2001, Nr. 1).<br />
Der entscheidende Schritt hin zum neuzeitlichen Akt vollzieht sich also<br />
im angeblichen Aktstudium, das sich außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der<br />
tung abspielt und für diese nur mäßige Relevanz hat. Der neuzeitliche Akt<br />
schreitet den Weg zur Autonomie, indem er sich aus seiner Funktionsbindu<br />
das Symbolische befreit und zum Bild seiner selbst wird. Es kann kein Z<br />
bestehen, dass es sich bei den Gemälden aus Botticellis Umkreis um Venusstellungen<br />
handelt, die nach den Interpretationsmustern des Humanismus in<br />
fältigen Bedeutungskontexten operieren konnten - ihre Abhängigkeit vom Pr<br />
Grewenigs Text ist in seiner empathischen Phänomenologie gerade für den hier vorges<br />
Zusammenhang äußerst problematisch. Zu Dürers Proportionsstudien in theoretischem Z"<br />
menhang s. zuletzt Verspohl 1998,139-157.<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 509<br />
typ wie die antike pudica-Geste ist zu offensichtlich. Ebensowenig kann aber bezweifelt<br />
werden, dass mit dieser Herauslösung aus dem ursprünglichen narrativen<br />
Kontext eine neue Bildform geschaffen wurde, die ganz auf die konstruierte Körperlichkeit<br />
des Aktes setzt und diesem die Möglichkeit verschafft, Bedeutung aus<br />
sich selbst heraus zu generieren.<br />
c) Die Voraussetzungen für die Ausbildung eines weiteren Typus werden<br />
durch die stilistischen Besonderheiten der venezianischen Malerei geschaffen. Deren<br />
Kolorismus legt die Grundlage für eine weniger gestisch als unmittelbar sinnlich<br />
zu verstehende Wirkungsästhetik, die die Beziehung zwischen Betrachter<br />
und Akt neu definiert.<br />
Ein Vergleich zweier kanonischer Aktdarstellungen des beginnenden 16. Jahrhunderts<br />
kann die Wandlungen von idealer Nacktheit zu sinnlicher Nacktheit illustrieren<br />
(Abb. 6 und 7): Giorgiones schlummernde Venus in der Landschaft hält<br />
die Verbindung zwischen Körper und Natur noch aufrecht, Tizians Venus im Innenraum,<br />
als Venus von Urbino bekannt, interpretiert den nackten Körper dagegen<br />
viel stärker als Sexualobjekt, wozu die haptischen Qualitäten der malerischen<br />
Faktur nicht unwesentlich beitragen (vgl. Goffen 1997, 146-157). Der Umzug<br />
der Nackten in einen Innenraum beraubt sie darüber hinaus ihrer klassischen Herkunft<br />
aus der Literatur der Epithalamia, die Venus eigentlich in der Landschaft<br />
verorten. Schon Mark Twain hat 1880 - mit einem Aufschrei moralischer Entrüstung,<br />
der beklagte, dass derartige Freizügigkeit nur in der bildenden Kunst, nicht<br />
aber in der Literatur toleriert werde - die eigentliche Bestimmung dieses liegenden<br />
Aktes erkannt. In seinem Bericht von einem Besuch in der Tribuna der Uffizien<br />
vermutet er zu Recht, dass die von Tizian gemalte Schönheit für ein bagnio<br />
bestimmt war - und zu Unrecht, dass es wegen allzu direkter Erotik abgelehnt<br />
worden sei. Zahlreiche Quellen belegen die Anbringung vergleichbarer Aktdarstellungen<br />
in den Privatgemächern von Fürsten und Kardinälen und verweisen so<br />
auf das eigentliche Darstellungsinteresse.6<br />
Indem Tizian in der Venus von Urbino den Akt als Objekt des Begehrens vorführt,<br />
begründet er einen Typus, der überaus erfolgreich sein sollte. Seine Verbindung<br />
der Verführungskraft der Malerei mit einem verführerischen Objekt fand<br />
viele Nachahmer, die dafür sorgten, dass der narrative oder allegorische Schleier,<br />
den das decorum, d.h. die Berücksichtigung angemessener Umstände, im 16. und<br />
17. Jahrhundert noch forderte, immer dünner wurde. Hand in Hand damit geht<br />
ein erhöhtes Bewusstsein von den wirkungsästhetischen Mechanismen des Blickes,<br />
die nun immer wieder thematisiert werden. Tintorettos Susanna im Bade<br />
kommentiert dieses Thema ebenso wie Rubens' Eremit mit Nymphe (Abb. 8 und<br />
6 Das berühmteste Beispiel ist Tizians Danas für Kardinal Alessandro Farnese. Vgl. Zapperi<br />
1991.
510 <strong>Stefan</strong> <strong>Grohe</strong><br />
9). In beiden Fällen ist zwar ein narrativer Kontext hergestellt, der uns wieder an<br />
die strenge Definition des Aktes erinnert, unter die diese Darstellungen deshalb,<br />
eigentlich nicht fallen dürften; aus den angewendeten Bildstrategien wird jedoch<br />
deutlich, dass es den Malern tatsächlich um die Darbietung des weiblichen Aktet<br />
für die Augen des Betrachters geht. Die gewählten erzählerischen Momente die«<br />
nen lediglich dazu, diesem seine eigene Augenlust bewusst werden zu lassen. Gerade<br />
bei Rubens geht der Akt als Objekt eine einzigartige Verbindung mit dem<br />
Akt als Körper ein, wie seine zahlreichen Variationen über das Thema des Paria»<br />
Urteils belegen können, in dem die Frage nach dem idealen Körper auf exempla*<br />
rische Weise mit dem Motiv der Wahl, der Objektwahl also, verknüpft ist (vg<br />
Damisch 1992). Die Autonomie eines ganz besonderen Körperideals verhind;<br />
nicht, dass selbst in Themen wie dem Hl. Sebastian - einer der beliebtesten '.<br />
vorwürfe für männliche Akte - der Körper auch als Objekt der Begierde wahrg<br />
nommen werden kann.<br />
Ihren Höhepunkt erreicht die Beliebtheit des Aktes als Objekt sicherlich<br />
französischen Rokoko, in dem der weibliche Akt in kaum noch verhüllter Fo<br />
erotisiert vorgeführt wird. Bouchers Blonde Odaliske von 1752 ist ganz<br />
galanten Geschmack der Zeit Ludwigs XV. eingestellt: wir blicken auf das <<br />
kleidete jugendliche Modell herab, das uns keine Aufmerksamkeit schenkt<br />
dessen Anblick durch keinerlei Ablenkungen attributiver oder narrativer Art<br />
einträchtigt ist (Abb. 10). Es hat auch hier Versuche gegeben, der Abgebild<br />
eine historische Identität zu verleihen: bevorzugt wird eine Mätresse Lud<br />
XV. namens Louise O'Murphy, von der Giacomo Casanova in einer seiner <<br />
sehen Erzählungen berichtet. Den Akt nachträglich zum Porträt zu erklären<br />
aber ebenso an seiner Funktion vorbei, wie die Versuche, die offene Erotik,<br />
dem Akt als Objekt meistens eignet, durch das nachträgliche Weben eines my<br />
logischen Schleiers wegzudiskutieren. Französische Adlige konnten bei Bou:<br />
ganz offen Aktbilder ohne weitere thematische Einschränkung für ihre ,cha<br />
privees' bestellen und setzten damit eine Tradition fort, die im 16. Jahrhun<br />
begründet wurde.<br />
Ingres' Große Odaliske (Abb. 11) von 1814 greift das mittlerweile zur C<br />
gewordene Thema des liegenden Aktes auf, zitiert die Gattung aber in einer<br />
zuvor dagewesenen Abstraktionsform (vgl. Ockman 1995). Der mit größter<br />
kuratesse wiedergegebene Rückenakt mit direkter Betrachteransprache ist -'<br />
erhaltener Vorzeichnungen nach dem Modell - nur noch lose mit der Natur<br />
weiblichen Körpers verbunden, der hier aufs Äußerste stilisiert erscheint,<br />
den Zeitgenossen fiel die anatomische Unmöglichkeit, ja Deformation auf, d<br />
Nackten mindestens drei Rückenwirbel zu viel beschert zu haben schien;'<br />
fertige Akt im Bild folgt hier - um mit Busch zu sprechen - nicht mehr Kö<br />
regeln, sondern Kunstregeln (Busch 1993, 136f).<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 511<br />
Ist damit schon eine erhebliche Distanzierung von der vorklassischen Wirkungsästhetik<br />
erreicht, so wird diese Formulierung in einem nächsten, diesmal<br />
selbstreflexiven Akt noch überboten. Das Metropolitan Museum in New York<br />
besitzt eine als Kopie bezeichnete Variante der Großen Odaliske in Grisaille<br />
(Abb. 12), die früher Ingres selber gegeben wurde und jetzt aufgrund einiger unsicher<br />
wirkender Passagen an Händen und Füßen dem Atelier zugeschrieben ist.7<br />
Allerdings handelt es sich keineswegs um eine unfertige Kopie ihres berühmten<br />
Pendants, wie die Beschriftung im Metropolitan Museum behauptet. Nahezu alle<br />
Unterschiede im Bestand des Abgebildeten sind mit einem anderen Darstellungsinteresse<br />
zu erklären: es fehlen die Pfeife im rechten Vordergrund und der Fächer<br />
in der rechten Hand der Frau ebenso wie die Schmuckstücke, die sie in der kolorierten<br />
Fassung zieren. Selbst die Musterung des Vorhangs fällt einer monochromen<br />
Wiedergabe zum Opfer. Diese Veränderungen gegenüber dem Original sind<br />
möglicherweise noch der speziellen Technik der Grisaille zuzuschreiben, deren<br />
Aufgabe es ja ist, ihre Gegenstände in verschiedenen Grautönungen abzubilden.<br />
Doch einige andere signifikante Abweichungen weisen darüber hinaus in eine<br />
kunsttheoretisch reflektierte Richtung, für die Grisaillen schon seit dem 15.<br />
Jahrhundert immer wieder eingesetzt worden sind. Im Unterschied zum Gemälde<br />
im Louvre ist der Bildausschnitt, in dem die Odaliske präsentiert wird, großzügiger<br />
gewählt und ist der Augenpunkt des Betrachters leicht angehoben. Beide<br />
kompositorischen Mittel dienen dazu, die Distanz zum Gegenstand zu erhöhen<br />
und auf diese Weise seinen Objektcharakter noch zu verstärken. Anders aber als<br />
im Typus des Aktes als Objekt, der auf vergleichbaren Kompositionschemata beruhen<br />
kann, begrenzt die monochrome Darstellung des Frauenleibes ihre sinnliche<br />
Anziehungskraft. Die Abstraktion der ursprünglichen Körperdarstellung wird so<br />
noch weiter getrieben, Gegenstand der Darstellung ist nun definitiv nicht mehr<br />
ein Frauenkörper, sondern ein Frauenakt - ein Kunstwerk! Und in unserem Zusammenhang<br />
ein neuer Typus.<br />
d) Selbstverständlich erfüllt der Akt als Objekt, der seit dem 16. Jahrhundert<br />
vorherrschend war, auch weiterhin seine Funktion. Als Frauenakt immer häufiger<br />
offen erotisch, dürfte es sich seit dem 19. Jahrhundert sogar um den mit Abstand<br />
populärsten Typus handeln, dem letztlich auch die Pin-Up-Kultur der Massenmedien<br />
der Nachkriegszeit verpflichtet ist.<br />
7 Die auf stilanalytischer Grundlage erhobenen Zweifel an der Eigenhändigkeit der New Yorker<br />
Grisaille beeinflussen nicht die hier vorgetragene Argumentation. Immerhin erwähnt Ingres<br />
eine "petite Odalisque en grisaille" in der Liste der von ihm zwischen 1824 und 1834 angefertigten<br />
Werke und befand sich das Gemälde nach seinem Tod im Besitz seiner Witwe. Vgl.<br />
In Pursuit of Perfection 1983, Nr. 51
512 <strong>Stefan</strong> <strong>Grohe</strong><br />
Ein Gemälde wie Alexandre Cabanels Venus (Abb. 13) legt dafür beredtei<br />
Zeugnis ab (vgl. Mai 2001). Eine in vielfacher Wortbedeutung hingegossen«<br />
Anadyomene bereitet der Augenlust einen überwältigenden Triumph, der sich in<br />
den euphorischen Reaktionen auf die Ausstellung des Gemäldes im Salon von;<br />
1863 widerspiegelt. Da Edouard Manet im Salon des Remses des selben Jähret<br />
sein skandalträchtiges Frühstück im Freien gezeigt hatte, kann angenommen<br />
werden, dass ihn Cabanels Gemälde zu einer kritischen Auseinandersetzung mÜ<br />
der Gattung des Aktes angeregt hat: der Olympia (Abb. 14) (vgl. Farwell 1981,1<br />
Körner 1997). Als Vorbild wählte er aber nicht den Rivalen Cabanel, sondert<br />
griff auf den Prototyp zurück: Tizians Venus von Urbino (Abb. 7). Die Verwandtschaft<br />
ist offensichtlich, doch die Unterschiede sind signifikant. In Tizr<br />
Gemälde ist die Scham der Liegenden exakt auf der Mittelachse plaziert,<br />
Manets eben nicht. Die Hand der Venus liegt locker auf und ihre Finger v;<br />
schwinden in einer autoerotischen Geste im Schatten des nach ihr bena<br />
Hügels. Olympias Hand dagegen wirkt angespannt und aktiv und ihre Finger<br />
sen aus dem Bild - auf den Betrachter.<br />
Olympia steht für eine andere Auffassung vom Akt als Kunstwerk als diej<br />
ge, die wir bei Ingres kennengelernt haben: nicht die ästhetische Stilisierung<br />
autonomen Objekt ist Manets Thema, sondern der Akt als historische Kunstfo<br />
Mit dem Gegenbild zum lüsternen Akt in der Art Cabanels kommentiert er<br />
sen historische Bedingtheit, und mit dem Eindringen einer bewussten Ga<br />
geschiente in das Terrain des Aktes selbst bereitet er den Boden für die<br />
chende Avantgarde, die die Aktdarstellung schon als Metonymie für K«<br />
schechthin begreift.<br />
Die allseits anerkannte Vaterfigur der inzwischen klassisch genannten ,<br />
garde war der französische Post-Impressionist Paul Cezanne. Seine lebensl<br />
Beschäftigung mit dem Thema der Badenden entkoppelte - zumindest in<br />
zeitgenössischen Wahrnehmung - den Akt endgültig von seinen Repräsentat'<br />
funktionen und setzte an deren Stelle das revolutionierende Konzept der ri<br />
tion (Abb. 15) Der Bildgegenstand sollte nicht länger in seiner Referentialitai<br />
die außerbildliche Wirklichkeit gesehen werden, er realisierte sich erst durch<br />
Akt des Malens auf der Bildfläche. Es ist bezeichnend, dass sich Cezanne 1<br />
Erprobung dieses Konzeptes, das die abstrakte Kunst mit vorbereiten<br />
häufig des Themas der Badenden bediente (vgl. Paul Cezanne 1989). Der B<br />
genstand des Aktes ist nämlich insofern nicht wirklich bedeutungslos, als<br />
Gattung die historisch verbürgte ausreichende Nobilität besitzt, um den N<br />
gen die nötige Durchschlagskraft zu verschaffen. Schon bald nach Cezannei<br />
im Jahr 1906, im unmittelbaren Anschluss an eine zu seinen Ehren verans<br />
Retrospektive im Jahr 1907, zeigte sich die enorme Wirkung sowohl des ^<br />
begründeten malerischen Konzeptes wie auch der Wahl des Aktthemas zur *<br />
führung desselben.<br />
Nacktheit und Aktbild seit der Renaissance 513<br />
Das Jahr 1907 darf mit Fug und Recht als das Geburtsjahr der künstlerischen<br />
Avantgarde bezeichnet werden und der Akt sollte dabei eine entscheidende Rolle<br />
spielen: Andre Derain und Henri Matisse (dieser schon 1906) schufen jeweils<br />
monumentale Aktgruppen, die in ihrer innovativen Farbwahl und -behandlung die<br />
Farbe kompromisslos als Ausdrucksträger einsetzt, als Manifeste des Fauvismus<br />
gelesen werden dürfen (Abb. 16). Und ebenfalls 1907 fanden Georges Braque<br />
und Pablo Picasso eine Lösung für ihre Formprobleme, indem sie die einheitliche<br />
Perspektive des Gegenstandes im Bildraum durch ein Konzept von kristalliner<br />
Zersplitterung und Multiperspektivität ersetzten (Abb. 17). Es ist kein Zufall,<br />
dass alle genannten Künstler ihre neuen künstlerischen Sprachen, die radikal antitraditionalistisch<br />
gemeint waren, - nicht ausschließlich, aber doch auffallend<br />
häufig - am Thema des Aktes exerzierten. Der Akt als Kunstwerk ist zugleich<br />
autonomes ästhetisches Objekt wie von der Kunstgeschichte etablierte Gattung.<br />
Das Paradox der Moderne, sich gegen die und außerhalb der Geschichte zu<br />
positionieren und dafür auf sie angewiesen zu sein, manifestiert sich nicht zuletzt<br />
in der Persistenz der Gattung Akt im 20. Jahrhundert (vgl. Hobhouse 1988).<br />
Auch in der Nachkriegskunst bleibt diese dialektische Spannung des Aktes<br />
erhalten: Tom Wesselmann, einer der Begründer der Pop Art, malt 1961 seinen<br />
ersten Great American Nude (Abb. 18) in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang<br />
mit der Etablierung der Männerzeitschrift Playboy und der Publikation des<br />
ersten Kinsey-Reportes über das Sexualverhalten der US-amerikanischen Bevölkerung<br />
(McCarthy 1990, zum musealen Status des weiblichen Aktbildes der Moderne<br />
vgl. Duncan 1992). Man kann die darauf folgende Serie, die noch in den<br />
sechziger Jahren die hundert überschreitet, also durchaus als eine künstlerische<br />
Reaktion auf die massenmediale Popularisierung des weiblichen Aktes als Objekt<br />
verstehen. Zugleich erkennen wir aber auch in Wesselmanns Akten den Typus<br />
des Aktes als Kunstwerk: seine Farbwahl ist zwar durch die Farben der amerikanischen<br />
Flagge bestimmt, die dekorativ flächige Behandlung lehnt sich aber deutlich<br />
am dekorativen Schema von Matisses späten Akten an. Mit diesem Gegenbild<br />
zum Pin-Up unter Berufung auf historische künstlerische Vorbilder ist es<br />
aber nicht getan. Die Great American Nudes sind auch eine Stellungnahme zu<br />
aktuellsten kunsttheoretischen Debatten. Die Begebenheiten im Nachkriegsamerika<br />
erinnern dabei an die klassische natura-ars-Dichotomie der älteren Kunstgeschichte.<br />
Willem de Koonings Woman-Sene (Abb. 19) vom Anfang der fünfziger<br />
Jahre führte in der New York School zu heftigen Gegenreaktionen: gerade schien<br />
die Malerei durch den Abstrakten Expressionismus Jackson Pollocks und seiner<br />
Nachfolger, der von der Kunstkritik favorisiert wurde, von jeglicher Gegenständlichkeit<br />
befreit, da griff einer ihrer Ahnherren auf ein Thema zurück, das wie kein<br />
zweites die bürgerlich sanktionierten Normen der Kunst zu symbolisieren schien:<br />
In einem Essay für die Kunstzeitschrift Art News im Jahre 1957 publizierte Ad<br />
Reinhardt, kommender Vorreiter des konkreten color-field-painting, Twelve
514 <strong>Stefan</strong> <strong>Grohe</strong><br />
Rules for a New Academy, die in der These gipfelten: "Art begins with getting rld<br />
of nature." (Reinhardt 1957, 37ff). Erneut steht also der Akt im Zentrum eilMf<br />
Debatte über das Verhältnis von Kunst und Natur, und Ad Reinhardt nimmt<br />
vehement einen - natürlich modifizierten - akademischen Standpunkt ein, wenn<br />
er den Akt zu einem ungeeigneten Motiv erklärt, da dieser die transzendenttl#<br />
Wahrheit der Malerei nicht zu vermitteln vermag.<br />
t<br />
Dass Reinhardts Position sich nicht durchgesetzt hat, liegt an der exempllrt»<br />
sehen Funktion, die die Aktdarstellung in der gesamten Geschichte der Kunst fhtl<br />
genommen hat. Ihre sich wandelnden Anforderungen und ihre Wandelbar<br />
spiegeln sich in den hier vorgestellten Typen. Diese sollten so verstanden we~<br />
dass sie historisch zwar in der hier vorgeschlagenen Reihenfolge auftreten,<br />
sie aber - einmal eingeführt - ihre jeweilige Aufgabe auch in der Folgezeit»<br />
füllen können; dass wir es im Prinzip also mit einer stetigen Zunahme an<br />
fügbaren Typen in der Kunst der Aktdarstellung zu tun haben. Die Geschl<br />
des Aktes dabei nicht nur als Formproblem vorzustellen und die Geschi<br />
seiner Wahrnehmung unter Berücksichtigung seiner primären Funktionen hi<br />
risch verifizierbar zu machen, das sollte eine historische Typologie der<br />
Stellung leisten können.<br />
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