von William Shakespeare - Schauspiel Stuttgart
von William Shakespeare - Schauspiel Stuttgart
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MASS<br />
FÜR<br />
MASS<br />
<strong>von</strong> <strong>William</strong> <strong>Shakespeare</strong>
xxx Copyright Freiheitxxxx xxxxx spielzeit 2011 / 2012<br />
Mass<br />
Von<br />
<strong>William</strong> <strong>Shakespeare</strong><br />
mass<br />
in einer Neuübertragung <strong>von</strong> Paul Brodowsky<br />
für<br />
Fassung <strong>von</strong> Paul Brodowsky, Christian Holtzhauer, Christian Weise und dem Ensemble<br />
Uraufführung der Neuübertragung am 26. November 2011 in der Arena<br />
Weitere Vorstellungen: 28. und 29. November,<br />
01.–03., 05., 06., 08.–11., 13., 14., 16.-19., 21.–23., 26.-28., 30. und 31. Dezember 2011<br />
Aufführungsrechte bei schaefersphilippen Theater und Medien GbR, Köln<br />
schauspielstuttgartstuttgart<br />
mass für mass<br />
… und mit welcherlei<br />
Maß ihr messet, wird<br />
euch gemessen werden.<br />
maß für maß, 1604 erstmals aufgeführt, ist wahrscheinlich <strong>Shakespeare</strong>s<br />
letzte Komödie, bevor er sich mit dem im selben Jahr entstandenen othello wieder<br />
der Gattung der Tragödie zuwandte. Nicht selten wird das Stück daher auch<br />
als eine Art Abgesang des Autors auf die komische Form interpretiert.<br />
Tatsächlich ist maß für maß ein rätselhaftes Werk. Es beginnt wie eine<br />
Tragödie, endet aber mit einer großen Versöhnungsszene, wie sie für die Komödie<br />
typisch ist. Philosophische Debatten um Gerechtigkeit, Gnade und Vergebung stehen<br />
unvermittelt neben selbst für <strong>Shakespeare</strong>s Verhältnisse derben ,Volksszenen‘,<br />
die im Rotlichtmilieu angesiedelt sind. Mit seiner Verquickung <strong>von</strong> Politik und Sex<br />
scheint es wie kein anderes Stück in unsere Zeit zu passen, und dennoch wirken<br />
die Figuren fremd und mitunter ins Groteske übertrieben.<br />
Als ,dunkle Komödie‘ oder ,Problemstück‘ bezeichnet daher die <strong>Shakespeare</strong>-Forschung<br />
das Stück. Der Begriff ,Problem‘ verweist dabei nicht nur auf die<br />
Schwierigkeit, maß für maß eindeutig einer literarischen Gattung zuzuordnen, oder auf die<br />
moralischen, juristischen und religiösen Problemstellungen, die im Verlauf der Handlung diskutiert<br />
werden. Probleme bereitet bereits die Beantwortung der Frage, um wen es in diesem Stück<br />
eigentlich geht: Um Herzog Vincentio <strong>von</strong> Wien, der, seines Amtes überdrüssig, die Amtsgeschäfte<br />
einem Stellvertreter übergibt und anschließend erst einmal verschwindet? Oder um<br />
eben jenen Stellvertreter Angelo, einen politischen Saubermann, der, kaum im Amt, ein Gesetz<br />
wiederbelebt, das unehelichen Sex unter Strafe stellt, und das ihm schließlich selbst zum Verhängnis<br />
wird? Steht vielleicht Claudio im Mittelpunkt, der dem absurden Gesetz als erster zum<br />
Opfer fällt? Ist seine Schwester, die junge Nonne Isabella, die beim strengen Statthalter um das<br />
Leben ihres Bruders bitten soll und die in ihrem religiösen Wahn mindestens ebenso fanatisch<br />
ist wie Angelo in seinem Beharren auf dem Gesetz, die Hauptfigur? Oder geht es nicht vor allem<br />
um die ,einfachen‘ Leute, in diesem Fall also das Wiener Rotlichtmilieu, verkörpert durch die<br />
Puffmutter Madame Oberweite und den Zuhälter Pompejus, denen über Nacht die Existenzgrundlage<br />
entzogen wird?<br />
Wie in vielen anderen Stücken auch, entwirft <strong>Shakespeare</strong> in maß für maß eine eigene<br />
kleine Welt, in der die ,da unten‘ denen ,da oben‘, die Gesetze erlassen, an die sie sich selbst<br />
nicht zu halten vermögen, immer einen Schritt voraus sind. Doch anders als die anderen Komödien<br />
hat dieses Stück einen bitteren Beigeschmack, der die Bezeichnung ,dunkel‘ mehr als<br />
rechtfertigt – lässt es sich doch als ein zwar hochgradig komisches und raffiniertes, zugleich<br />
aber auch schonungsloses Beispiel dafür lesen, wie Politik funktioniert. Politisches Handeln, so<br />
scheint <strong>Shakespeare</strong> zeigen zu wollen, ist instrumentelles Handeln: Ein guter Politiker ist also<br />
jemand, der andere Menschen geschickt für seine Zwecke zu benutzen vermag. Moral dient<br />
hierbei nur als Mittel zum Zweck.<br />
Erscheint der Herzog zu Beginn des Stücks als amtsmüder alter Mann, der nicht mehr<br />
in der Lage ist, bereits existierende Gesetze auch anzuwenden, erweist sich seine Entscheidung,<br />
die Amtsgeschäfte abzugeben, bald als überaus schlau: Er muss sich selbst die Hände<br />
nicht schmutzig machen. Dass Angelo hart durchgreift, stört den Herzog nicht im Geringsten.<br />
Vielmehr wartet er darauf, dass sein Stellvertreter einen Fehler macht – für den Fall, dass<br />
dieser den ihm nur vorübergehend anvertrauten Posten am Ende nicht freiwillig räumt. Die<br />
junge Novizin Isabella kommt dem Herzog daher wie gerufen. Sie wird zu einer Spielfigur in<br />
seinem Ränkespiel und zum Prüfstein für den Stellvertreter. Wie viele Männer, die unverhofft<br />
in Machtpositionen gelangen, erliegt auch Angelo einem Gefühl der Allmacht – und Isabellas<br />
Reizen – und tappt in die Falle, die der Herzog ihm gestellt hat. Der strenge Richter Angelo,<br />
der sich selbst für tugendhafter hielt als seine Mitmenschen, wird zum Opfer seiner eigenen<br />
Unbarmherzigkeit. Das Spiel des Herzogs geht auf: Die Gesetze sind wieder in Kraft, der<br />
Stellvertreter ist demontiert, während der Herzog in um so strahlenderem Licht erscheint.<br />
Und die schöne junge Frau bekommt er am Ende auch. Wie in der Politik eben: Es kommt<br />
nicht darauf an, gut, aufrichtig oder gerecht zu sein. Man muss nur so erscheinen. Was zählt<br />
ist Raffinesse.<br />
Christian Holtzhauer<br />
Arena<br />
(Niederlassung<br />
Türlenstraße)<br />
*82 *109<br />
*85 *103 *92<br />
*84 *104 *110 *100 *101 *105 *106 *108 *96 *112 *118<br />
*87 *86 *88 *89 *90 *91 *102 *97 *107 *93 *94 *95 *98 *99<br />
Koproduktion mit der staatlichen Hochschule<br />
für musik und darstellende künste stuttgart<br />
Besetzung<br />
Vincentio, Herzog <strong>von</strong> Wien:<br />
Angelo, sein Stellvertreter:<br />
escalus, ein Minister:<br />
Claudio, ein junger Mann aus gutem Hause:<br />
Isabella, seine Schwester:<br />
Lucio, ein junger Lebemann:<br />
madame Oberweite, Puffmutter:<br />
pompejus, Zuhälter:<br />
ellenbogen, Polizeibeamter:<br />
schließer, Vollzugsbeamtin:<br />
musiker:<br />
mitarbeiterin vom Mme Oberweite:<br />
Opfer:<br />
uraufführung<br />
premiere<br />
Wiederaufnahme<br />
Elmar Roloff<br />
Holger Stockhaus<br />
Michael Stiller<br />
Toni Jessen<br />
Lotte Ohm<br />
Lukas Rüppel<br />
Martin Leutgeb<br />
Sebastián Arranz<br />
Johannes Benecke<br />
Catherine Stoyan<br />
Jens Dohle, Falk Effenberger, Steffen Illner<br />
Anna Maria Castiello / Ruhsar Aydogan<br />
Ilya Arkhiptsev / Rodrigo Pozo<br />
I<br />
<strong>William</strong> <strong>Shakespeare</strong> (1564 – 1616): »Ein junger Mann aus<br />
einer kleinen Provinzstadt – ein Mann ohne ererbten Reichtum, der<br />
weder über einflussreiche familiäre Beziehungen verfügt noch ein<br />
Universitätsstudium absolviert hat – siedelt Ende der 1580er Jahre<br />
nach London über und wird in bemerkenswert kurzer Zeit zum<br />
größten Dramatiker nicht nur seiner Zeit, sondern aller Zeiten. Seine<br />
Werke sprechen Gebildete wie Ungebildete an, kultivierte Städter<br />
ebenso wie Provinzler, die zum ersten Mal ins Theater gehen. Er<br />
bringt sein Publikum zum Lachen und zum Weinen; er verwandelt<br />
Politik in Poesie; unbekümmert vermengt er vulgäre Clownerie mit<br />
philosophischem Scharfsinn. Mit gleicher Eindringlichkeit erfasst er<br />
das Privatleben <strong>von</strong> Königen wie das <strong>von</strong> Bettlern; bald scheint er<br />
Jura studiert zu haben, bald Theologie oder Alte Geschichte, und<br />
zugleich ahmt er mühelos die Sprache <strong>von</strong> Bauerntölpeln nach und<br />
erfreut sich an Altweibergeschichten.« (Stephen Greenblatt)<br />
Paul Brodowsky, geboren 1980 in Kiel, veröffentlicht erzählende<br />
Prosa (zuletzt den Erzählband die blinde fotografin), Essays<br />
und Theaterstücke. In jüngster Zeit wurden sein Stück regen in<br />
neukölln an der Berliner Schaubühne und das gemeinsam mit<br />
Christine Umpfenbach verfasste Dokumentartheaterstück gleis 11<br />
an den Münchner Kammerspielen aufgeführt. Für Luk Perceval<br />
übersetzte er 2008 <strong>Shakespeare</strong>s troilus und cressida. 2007<br />
schrieb er das Libretto für die in der U-Bahnlinie 5 aufgeführte<br />
Oper stationendrama der zeitoper an der Staatsoper <strong>Stuttgart</strong>.<br />
Für sein Schaffen erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, u. a.<br />
den Preis der Frankfurter Autorenstiftung, den Förderpreis zum<br />
Nicolas-Born-Preis und ein Aufenthaltsstipendium der Villa Aurora.<br />
Paul Brodowsky lebt in Freiburg im Breisgau.<br />
↘ ( Bertolt Brecht )<br />
» MaSS für MaSS gilt für viele als das philosophischste<br />
aller Shakespearischen Werke, es ist zweifellos sein<br />
fortschrittlichstes. Es verlangt <strong>von</strong> den Hochgestellten,<br />
dass sie nicht nach anderem MaSSe messen, als sie<br />
selbst gemessen sein wollen. Und es zeigt, dass sie nicht<br />
<strong>von</strong> ihren Untertanen eine moralische Haltung verlangen<br />
dürfen, die sie selber nicht einnehmen. «<br />
↘ ( Niccolò Machiavelli )<br />
Man muss wissen, dass es zwei Arten zu kämpfen gibt, die eine nach Gesetzen, die andere<br />
durch Gewalt; die erste ist die Sitte der Menschen, die andere die der Tiere. Da jedoch die<br />
erste oft nicht ausreicht, so muss man seine Zuflucht zur zweiten nehmen. Ein Fürst muss<br />
daher sowohl den Menschen wie die Bestie zu spielen wissen. […] Und weil denn ein Fürst<br />
imstande sein soll, die Bestie zu spielen, so muss er <strong>von</strong> dieser den Fuchs und den Löwen<br />
annehmen; denn der Löwe entgeht den Schlingen nicht, und der Fuchs kann dem Wolf nicht<br />
entgehen. Er muss also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und ein Löwe, um die<br />
Wölfe zu schrecken. Ein kluger Herrscher kann und soll daher sein Wort nicht halten, wenn<br />
ihm dies zum Schaden gereicht. […] Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen<br />
fehlen, seinen Wortbruch zu beschönigen. Hierfür könnte man zahllose moderne Beispiele<br />
anführen und nachweisen, wie viele Versprechungen und Verträge durch die Untreue der<br />
Fürsten gebrochen worden sind, und wie derjenige, der am besten den Fuchs zu spielen<br />
verstand, am weitesten gekommen ist. Freilich ist es nötig, dass man diese Natur geschickt<br />
zu verhehlen versteht und in der Verstellung und Falschheit ein Meister ist. Denn die<br />
Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, dass der,<br />
welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.<br />
↘ ( Niccolò Machiavelli )<br />
Der, welcher einem anderen<br />
zur Macht verhilft,<br />
geht selbst zugrunde;<br />
denn er macht<br />
ihn stark mit Geschick<br />
oder durch Gewalt, und<br />
beides ist dem, der zur<br />
Macht gelangt ist, verdächtig.<br />
Regie:<br />
Raum:<br />
Kostüme:<br />
Musik:<br />
Dramaturgie:<br />
Regieassistenz:<br />
Bühnenbildassistenz:<br />
Kostümassistenz:<br />
Inspizient:<br />
Souffleuse:<br />
Regiehospitanz:<br />
Bühnenbildhospitanz:<br />
Kostümhospitanz:<br />
Mit freundlicher Unterstützung durch<br />
Christian Weise<br />
Jo Schramm<br />
Andy Besuch<br />
Jens Dohle<br />
Christian Holtzhauer<br />
Sarah Schmid<br />
Jessica Dinger<br />
Hudda Chukri<br />
Bernd Lindner<br />
Maria Weber<br />
Genet Zegay<br />
Elena Scharwächter<br />
Lina Winkler<br />
www.cavallo-shop.info<br />
Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt / Technische Direktion <strong>Schauspiel</strong>: Reiner Darr / Technische Einrichtung:<br />
Guido Schneitz / Ton: Frank Bürger, Gerd-Richard Schaul, Monika Werner-Blosfeld / Licht: Siegfried Reiter,<br />
Sebastian Isbert / Beleuchtung: Peter Krawczyk / Video: Rainer Schwarz / Leitung Requisite: Philipp Unger /<br />
Requisite: Alexa Boussios , Alaoui Masbahi / Maschinerie: Hans-Werner Schmidt / Leitung Dekorationswerkstätten:<br />
Bernhard Leykauf / Technische Produktionsbetreuung: Tobias Laaber / Malsaal: Maik Sinz / Bildhauerei: Maik Glemser /<br />
Dekorationsabteilung: Donald Pohl / Schreinerei: Oliver Bundschuh / Schlosserei: Patrick Knopke / Leitung Maske:<br />
Heinz Schary / Maske: Renate Broda, Ilka Neuwinger, Andrea Wagner / Kostümdirektion: Werner Pick / Produktionsleitung<br />
Kostüme: Sabine Keller / Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke, Marina Bressan (Damen), Anna Volk, Johanna<br />
Kaelcke (Herren) / Färberei: Martina Lutz, Claus Staudt / Kunstgewerbe: Heidemarie Roos-Erdle, Daniel Strobel /<br />
Modisterei: Eike Schnatmann / Rüstmeisterei: Achim Bitzer / Schuhmacherei: Verena Bähr, Alfred Budenz /<br />
Statisterie: Andrea Holländer, Isabelle Grupp<br />
Ein herzliches Dankeschön an: Joe Bauer, Michael Beretin, Sabine Constabel, Gerhard Goller, Wolfgang Hohmann,<br />
Maria Kaiser, Jan Kaplan, Veronika Kienzle, Peter „Oskar“ Müller<br />
II<br />
↘ ( Niccolò Machiavelli )<br />
Ein Fürst darf daher die Nachrede<br />
der Grausamkeit nicht scheuen,<br />
um seine Untertanen in Treue<br />
und Einigkeit zu erhalten; denn<br />
mit einigen Strafgerichten, die du<br />
verhängst, bist du menschlicher,<br />
als wenn du durch übertriebene<br />
Nachsicht Unordnungen einrei-<br />
SSen lässt, die zu Mord und Raub<br />
führen. Die treffen ein ganzes<br />
Gemeinwesen, wogegen die Strafgerichte,<br />
die der Fürst verhängt,<br />
nur dem Einzelnen schaden.<br />
↘ ( Harold Bloom )<br />
Jeder hat […] seine besonderen Lieblinge unter <strong>Shakespeare</strong>s Dramen; die meinen<br />
sind MaSS für MaSS und Macbeth, Stücke, die mich mehr faszinieren als irgendein<br />
anderes literarisches Werk, jenes als Inbegriff des erhaben Ranzigen, dieses wegen<br />
seiner radikal ökonomischen Struktur. Das Wien des Lucio und die Hölle Macbeths sind<br />
unübertreffliche Darstellungen menschlicher Gebrechlichkeit, der sexuellen Malaise<br />
in MaSS für MaSS, des Horrors der Fantasie vor sich selbst in Macbeth. Dass MaSS<br />
für MaSS zwar nach wie vor geschätzt, aber nicht wirklich populär ist, hat mit dem<br />
dort herrschenden Ton der Zweideutigkeit zu tun: Wir wissen nie genau, wie wir das<br />
Stück aufzufassen haben, und wenn wir schließlich zu der verrückten letzten Szene<br />
gelangen, sind wir vollends auf fassungsloses Staunen zurückgeworfen. Die apokalyptische<br />
Heldenjungfrau Isabella spricht in der etwa 85 Verse langen Schlusspassage<br />
kein Wort, und sie schweigt auch noch, vielleicht vor Verblüffung, als der Herzog ihr<br />
zum guten Ende einen Heiratsantrag macht, ein Einfall, der ebenso irrwitzig ist wie<br />
alles Übrige in diesem unglaublichen und dennoch so unwiderstehlich überzeugenden<br />
Drama. Nachdem er uns eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen geboten hat, lässt<br />
<strong>Shakespeare</strong> uns <strong>von</strong> seinen befremdlichen Fantasien aufgewühlt allein – es ist, als<br />
wollte er die Komödie als literarische Form zu Tode reiten, sie über alle denkbaren<br />
Grenzen jagen, in ein Niemandsland jenseits der Farce und weit jenseits der Satire,<br />
womöglich jenseits aller noch so beißenden Ironie.<br />
↘ ( Herfried Münkler )<br />
Machiavelli ist nicht mehr da<strong>von</strong> überzeugt, dass die gute Absicht als Königsweg<br />
zum guten Ziel führt. Er denkt darüber nach, was die strategischen Voraussetzungen<br />
sind, um ein bestimmtes Ziel, etwa inneren Frieden, Stabilität der Republik,<br />
Sicherung der Herrschaft, zu erreichen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass möglicherweise<br />
auch das Gegenteil des moralisch Geforderten, also Lügen, Grausamkeit,<br />
physische Gewalt, die unverzichtbare Voraussetzung sein kann, dieses Ziel zu<br />
erreichen. Das Ziel selbst ist moralisch ausgestattet, ein gutes Ziel. Aber der Weg<br />
dorthin folgt einer Zweckrationalität, keinen moralischen Erwägungen.<br />
Wenn sich politische Akteure immer an die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit,<br />
Tapferkeit, Mäßigung und Weisheit halten, haben sie nicht sehr viele Optionen. Wenn<br />
ich mir die Möglichkeit einräume, gerecht oder auch ungerecht, freigiebig oder<br />
geizig, ehrlich oder unehrlich zu sein, verschaffe ich mir mehr Handlungsmöglichkeiten.<br />
[…] Ein politischer Akteur, sagt Machiavelli, muss gute Eigenschaften nicht in<br />
Wirklichkeit besitzen, aber er muss sich den Anschein geben, als ob er sie besäße.<br />
Wer das Sein um den Schein ergänzt, hat den Vorteil, dass der Gegenspieler nicht<br />
weiß, ob man etwas vortäuscht oder tatsächlich so ist. Wer täuscht, hat mehr<br />
Optionen. Politiker, die ihr moralisches Auftreten als Maske benutzen, wissen das.<br />
Machiavelli sensibilisiert uns dafür, einer Reihe moralischer Nervensägen, die es in<br />
der Politik gibt, zu misstrauen. Wer nur über Moral redet, kaschiert in der Regel<br />
seine Interessen.<br />
Impressum<br />
Textnachweis: Harold Bloom, <strong>Shakespeare</strong>. Die Erfindung des Menschlichen. Berlin, 2000; Bertolt Brecht, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Frankfurt am Main 1979; Stephen Greenblatt, Will in der Welt – Wie <strong>Shakespeare</strong> zu <strong>Shakespeare</strong> wurde, Berlin 2004; Niccolò Machiavelli, Der Fürst, Frankfurt am Main 2001; Herfried Münkler,<br />
Moralvirtuosen sind gefährlich, Interview in „brandeins“ Nr 09 / 2011, Hamburg 2011;/ Herausgeber: <strong>Schauspiel</strong> <strong>Stuttgart</strong> / Staatstheater <strong>Stuttgart</strong> / Intendant: Hasko Weber / Redaktion: Christian Holtzhauer / Gestaltung: Strichpunkt, <strong>Stuttgart</strong>/www.strichpunkt-design.de / Druck: medialogik GmbH