A. Lerndaten 11. Teil: Schuld B. Inhaltsübersicht 11. Teil C ...
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Lernprogramm Strafrecht <strong>11.</strong> <strong>Teil</strong><br />
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A. <strong>Lerndaten</strong> <strong>11.</strong> <strong>Teil</strong>: <strong>Schuld</strong><br />
Seiten: 15 (266 insgesamt)<br />
! ca. 70 Minuten (1075 = 17h 55 Min.)<br />
B. <strong>Inhaltsübersicht</strong> <strong>11.</strong> <strong>Teil</strong><br />
157 Grundsätze (Übersicht 20)<br />
158 <strong>Schuld</strong>fähigkeit/actio libera in causa<br />
159 Die speziellen <strong>Schuld</strong>merkmale<br />
160 Die <strong>Schuld</strong>formen<br />
161 Das Unrechtsbewusstsein<br />
162 Unterscheidung <strong>Schuld</strong>ausschließungsgründe - Entschuldigungsgründe<br />
163 Entschuldigender Notstand (§ 35 I)<br />
164 Der Nötigungsnotstand<br />
165 Notwehrüberschreitung (§ 33)<br />
166 Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />
167 RN bleibt unbesetzt<br />
C. Lernkontrolle<br />
1. Durcharbeiten am: ...............<br />
2. Durcharbeiten am: ...............<br />
3. Durcharbeiten am: ...............<br />
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Lernprogramm Strafrecht <strong>11.</strong> <strong>Teil</strong><br />
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<strong>11.</strong> <strong>Teil</strong>: <strong>Schuld</strong><br />
157 Grundsätze (Übersicht 20)<br />
Übersicht 20: Grundsätze des strafrechtlichen Begriffs „<strong>Schuld</strong>“<br />
(1) Im <strong>Schuld</strong>bereich geht es um die persönliche Vorwerfbarkeit<br />
(2) Es gilt grds. das <strong>Schuld</strong>- und Verantwortungsprinzip - nulla poena<br />
sine culpa (weiter s. nachfolgend (3))<br />
(3) Bedeutung des <strong>Schuld</strong>prinzips:<br />
(a) Neben der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ist die<br />
<strong>Schuld</strong> ein strafbegründendes und strafbegrenzendes Verbrechensmerkmal<br />
(b) Die <strong>Schuld</strong> des Täters muss alle Elemente des verwirklichten Unrechts<br />
umfassen.<br />
(c) Jede im Einzelfall verhängte Strafe muss schuldangemessen<br />
sein (§ 46 I 1)<br />
(4) <strong>Schuld</strong> = Vorwerfbarkeit der Tat im Hinblick auf die ihr zugrundeliegende<br />
rechtlich tadelnswerte Gesinnung<br />
(5) <strong>Schuld</strong>lehren:<br />
(a) "Psychologische <strong>Schuld</strong>auffassung": Identifizierung des<br />
<strong>Schuld</strong>begriffs mit dem psychischen Sachverhalt (= Wissen/Nichtwissen,<br />
Wollen/Nichtwollen) - Vorsatz und Fahrlässigkeit<br />
als "<strong>Schuld</strong>arten" (veraltet).<br />
(b) Normative <strong>Schuld</strong>lehre: Sieht das Wesen der <strong>Schuld</strong> in der<br />
Vorwerfbarkeit der Willensbildung und Willensbetätigung = normative<br />
Bewertung eines psychischen Sachverhalts - Elemente<br />
(h.M.):<br />
ω <strong>Schuld</strong>fähigkeit<br />
ω Spezielle <strong>Schuld</strong>merkmale<br />
ω <strong>Schuld</strong>form (Vorsatz-/Fahrlässigkeitsschuld)<br />
ω Unrechtsbewusstsein (= Möglichkeit der Unrechtseinsicht)<br />
ω (negativ:) Fehlen von Entschuldigungsgründen<br />
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158 Die <strong>Schuld</strong>fähigkeit/actio libera in causa<br />
a) <strong>Schuld</strong>unfähigkeit nach §§ 19, 20<br />
• Beim erwachsenen Täter wird das Vorhandensein der <strong>Schuld</strong>fähigkeit<br />
vermutet.<br />
• § 20 gewinnt in der Praxis vor allem im Zusammenhang mit der Blutalkoholkonzentration<br />
(BAK) Bedeutung. Bei einer BAK ab 3 0 /oo kommt<br />
§ 20 in Betracht. Bei Tötungsdelikten kann mit Blick auf die erhöhte<br />
Hemmschwelle ein Zuschlag vorzunehmen sein (s. dazu auch nachfolgend<br />
b)).<br />
• Zu beachten ist zudem die Rechtsprechung des BGH (sowohl bei § 20<br />
als auch bei § 21 - s.u. b) - erlangt die sog. Alkoholvorgeschichte<br />
des Täters im Einzelfall große Bedeutung; danach kann ein hohes<br />
Maß an Alkoholgewohnheit auch oberhalb der Grenzschwelle die –<br />
verminderte - <strong>Schuld</strong>fähigkeit unberührt lassen) -<br />
BGH NStZ-RR 1997, 161: Auch bei hochgradiger Alkoholisierung (3,61<br />
%o) kann Alkoholgewohnheit des Täters im Zusammenhang mit anderen<br />
aussagekräftigen psychodiagnostischen Kriterien geeignet sein,<br />
eine noch erhaltene Steuerungsfähigkeit zu belegen.<br />
BGH NStZ 1998, 295: Die BAK von 2,46%o legt die Annahme einer erheblichen<br />
Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit, die für eine Tat ab<br />
einer BAK von 2,2%o in Betracht zu ziehen ist, nahe. Als daneben zu<br />
beachtende psychodiagnostische Beurteilungskriterien sind in diesem<br />
Zusammenhang nur solche Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise<br />
darauf ergeben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters<br />
trotz erheblicher Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist [hier<br />
trotz Auswechselns des Tatmittels während der Tötungshandlung und<br />
Wählen einer mehrstelligen Telefonnummer nach der Tat verneint].<br />
b) Verminderte <strong>Schuld</strong>fähigkeit gem. § 21 als fakultativer Strafmilderungsgrund;<br />
Grenzwert ist hier die Marke von 2 0 /oo, ab der<br />
§ 21 in Betracht zu ziehen ist. Im Rahmen der Beurteilung von<br />
Tötungsdelikten wird die Untergrenze im Hinblick auf die erhöhte<br />
Hemmschwelle bei Angriffen auf das Leben allgemein bei 2,2 0 /oo<br />
angesetzt.<br />
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Achtung: BGH, Urt. v. 27.03.2003, Az. 3 StR 435/02, NStZ 2003, 480<br />
[Strafmilderung für betrunkene Täter? – zitiert aus der Pressemitteilung<br />
des BGH]: „In einem Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof<br />
hat ein Angeklagter geltend gemacht, dass das Landgericht in<br />
seiner Sache von einer Strafrahmenverschiebung zu Unrecht abgesehen<br />
habe, weil es seiner Einlassung, in den Stunden vor der Straftat<br />
(einer Vergewaltigung) zwei Flaschen Weißwein getrunken zu haben,<br />
nicht gefolgt war. Die Revisionsrüge hatte keinen Erfolg, weil das<br />
Landgericht, wie der mit der Sache befasste 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs<br />
ausgeführt hat, den Trinkmengenangaben des Angeklagten<br />
unter den festgestellten Umständen zu Recht nicht geglaubt hat. In<br />
seinem Urteil hat der Senat aber - über die Entscheidung des Einzelfalls<br />
hinausgehend - zum Ausdruck gebracht, dass er die bisherige<br />
Rechtsprechung für überprüfungsbedürftig hält. Er ist der Auffassung,<br />
dass eine Strafrahmenmilderung in der Regel nicht in Betracht kommt,<br />
wenn der Täter die erhebliche Verminderung seiner <strong>Schuld</strong>fähigkeit<br />
durch verschuldete Trunkenheit herbeigeführt hat. Für diese Auffassung<br />
spricht - abgesehen von eher rechtsdogmatischen Erwägungen,<br />
insbesondere auch solchen aus der Entstehungsgeschichte des § 21<br />
bzw. der Vorgängervorschrift - vor allem die Tatsache, dass die enthemmende<br />
Wirkung des Alkohols und die Gefahr einer deutlichen Herabsetzung<br />
der Hemmschwelle bei erheblichem Konsum heute allgemein<br />
bekannt sind. Im Hinblick darauf besteht regelmäßig kein Anlass,<br />
die Straftat eines Täters, der sich schuldhaft in einen Alkoholrausch<br />
versetzt hat, in einem milderen Licht zu sehen. Im Einzelfall - etwa bei<br />
Taten von alkoholkranken Tätern - mag ausnahmsweise eine andere<br />
Betrachtung angezeigt sein.“<br />
BGH NStZ 2004, 678, 680 (5. Strafs.): Bei nach vorwerfbarer Alkoholisierung<br />
begangenen Gewaltdelikten [hier: §§ 223, 224] scheidet eine<br />
Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 I regelmäßig aus, wenn in<br />
der Person des Täters oder in den situativen Verhältnissen des Einzelfalls<br />
Umstände vorliegen, die in Zusammenhang mit der Alkoholisierung<br />
das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant<br />
erhöht haben.<br />
c) Bedingte <strong>Schuld</strong>fähigkeit gem. § 3 JGG - Frage der Entwicklungsreife.<br />
d) Trotz <strong>Schuld</strong>unfähigkeit zum Tatzeitpunkt ist unter Umständen<br />
eine Bestrafung nach den Grundsätzen der actio libera in causa<br />
(a.l.i.c.) möglich -<br />
BGHSt 42, 235: Auf eine Straßenverkehrsgefährdung und auf das<br />
Fahren ohne Fahrerlaubnis sind die Grundsätze der actio libera in causa<br />
nicht anwendbar.<br />
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BGH, a.a.O.: Jedenfalls bei den Delikten der Straßenverkehrsgefährdung<br />
und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ist die Vorverlagerung der<br />
<strong>Schuld</strong> unzulässig. Die verschiedenen Ansätze, mit denen in Rechtsprechung<br />
und Literatur die a.l.i.c. erklärt wird, bieten zum einen <strong>Teil</strong><br />
keine tragfähige Grundlage für die Anwendung der Rechtsfigur auf die<br />
hier in Rede stehenden Verkehrsstraftaten; zum anderen <strong>Teil</strong> sind sie<br />
mit dem geltenden Recht nicht in Einklang zu bringen.<br />
Mit der Erwägung, dass, wenn der Alkoholkonsum zur <strong>Schuld</strong>unfähigkeit<br />
führt, bereits das Sichbetrinken die eigentliche Tatbestandshandlung<br />
darstellt [sog. "Tatbestandslösung"], kann die Anwendung der<br />
a.l.i.c. auf Straßenverkehrsgefährdung und Fahren ohne Fahrerlaubnis<br />
nicht begründet werden. Die Verkehrsstraftaten nach den § 315 c, § 21<br />
StVG setzen voraus, dass der Täter das Fahrzeug "führt". Es beginnt<br />
erst mit dem Bewegungsvorgang des Anfahrens selbst. Auch im Sichberauschen<br />
in Fahrbereitschaft liegt dementsprechend noch nicht der<br />
Beginn der Trunkenheitsfahrt.<br />
Im wesentlichen aus denselben Erwägungen kommt die Heranziehung<br />
der Grundsätze der a.l.i.c. auf die Trunkenheitsfahrt und die Straßenverkehrsgefährdung<br />
auch dann nicht in Betracht, wenn man die<br />
Rechtsfigur als einen Sonderfall der mittelbaren Täterschaft begreift,<br />
bei dem der Täter sich zur Ausführung der Tat seiner eigenen Person<br />
als Werkzeug bedient. Indem der Täter sich berauscht, führt er - wie<br />
ausgeführt - kein Fahrzeug.<br />
Eine Ausdehnung des Begriffs der "Begehung der Tat" i.S.d. § 20 in<br />
der Weise, dass das "vortatbestandliche, auf die Tatbestandsverwirklichung<br />
bezogene Vorverhalten", auch soweit es bloße Vorbereitung<br />
darstellt, im <strong>Schuld</strong>tatbestand erfasst wird, ist nicht möglich. Im Übrigen<br />
hätte dieses "Ausdehnungsmodell" über die Fallgestaltungen der<br />
a.l.i.c. hinaus, um die es hier geht, eine auch unter Präventions- und<br />
Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigende Einschränkung<br />
des § 20 zur Folge.<br />
Die Annahme schuldhaft begangener Vergehen nach § 315 c und § 21<br />
StVG kann schließlich auch nicht mit dem sog. Ausnahmemodell begründet<br />
werden. Das Ausnahmemodell ist mit dem eindeutigen Wortlaut<br />
des § 20, nach dem die <strong>Schuld</strong>fähigkeit "bei Begehung der Tat"<br />
vorliegen muss, nicht in Einklang zu bringen.<br />
Der Angekl. hat sich aber wegen vorsätzlichen Vollrausches gem.<br />
§ 323 a strafbar gemacht.<br />
S. auch LG Münster NStZ-RR 1996, 266 [keine Anwendung der a.l.i.c.<br />
bei § 316]: Jedenfalls bei der Tat gem. § 316 scheitert dieser Versuch<br />
[Annahme der a.l.i.c., weil bereits das Sich-Berauschen als Tathandlung<br />
anzusehen ist]. Wer außerhalb des Fahrzeugs trinkt, führt das<br />
Fahrzeug nicht im Straßenverkehr. Dies ist aber die im Tatbestand des<br />
Gesetzes beschriebene "Tat".<br />
υ Klausurhinweise: Die vorstehend zitierte Entscheidung des BGH<br />
markiert sicherlich einen Wendepunkt in der Behandlung der a.l.i.c.,<br />
lässt aber nicht den Schluss zu, der BGH habe die a.l.i.c. aufgegeben.<br />
Dies zeigt die nachfolgend zitierte Rechtsprechung.<br />
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Für die Klausur bedeutet die Entscheidung BGHSt 42, 235 m.E., dass<br />
die a.l.i.c. ihren Anknüpfungspunkt in dem Verhalten des Täters findet,<br />
das durch <strong>Schuld</strong>fähigkeit auf Seiten des Täters gekennzeichnet ist<br />
(z.B. das "Sich-Betrinken" bei einem Totschlag nach § 212), sog. Tatbestandsmodell.<br />
BGH NStZ 2000, 584 [2. Strafsenat – zu Freiheitsberaubung und gefährlicher<br />
Körperverletzung]: Die Entscheidung BGHSt 42, 235 betrifft<br />
nur die dort genannten Vergehen. Jedenfalls eine weitergehende Einschränkung<br />
des Anwendungsbereichs der Grundsätze der actio libera<br />
in causa ist nicht anzuerkennen (i.E. ebenso der 2. Strafsenat in NStZ<br />
1999, 448).<br />
S. auch BGH NStZ 2002, 28: In einem Fall alkoholbedingter <strong>Schuld</strong>unfähigkeit<br />
ist es für die actio libera in causa nicht begriffswesentlich,<br />
dass sich der Täter „Mut antrinkt“, um die beabsichtigte Tat nach Entfallen<br />
der Hemmungen im Rauschzustand zu vollführen; es genügt<br />
vielmehr, dass er, zur Tat entschlossen, Alkohol zu sich nimmt, obwohl<br />
er unter Billigung des Erfolges damit rechnet, dass er im Zustand alkoholbedingter<br />
<strong>Schuld</strong>unfähigkeit die geplante Tat begehen werde.<br />
BGH NStZ 2003, 535, 536 [2. Strafsenat - Anknüpfung der actio libera<br />
in causa an Verschulden oder Verhaltensweisen des Täters vor Tatbeginn].<br />
S. auch S/S-Lenckner/Perron, § 20, RN 33-35 b: “Insgesamt ist die gegenwärtige<br />
Situation wenig befriedigend. Trotz allseits bejahten Strafbedürfnisses<br />
fehlt ein Konsens sowohl hinsichtlich der Anwendbarkeit<br />
der a.l.i.c. de lege lata als auch hinsichtlich der de lege ferenda zu suchenden<br />
Lösung. Das Tatbestandsmodell ist nicht nur in sich fragwürdig,<br />
sondern inzwischen auch in der Rechtsprechung umstritten und<br />
versagt bei den eigenhändigen Delikten. Das Ausnahmemodell kann<br />
de lege lata nicht auf § 20, sondern nur auf § 21 angewendet werden,<br />
und gegenüber einer etwaigen gesetzliche Einführung sind die im Hinblick<br />
auf das <strong>Schuld</strong>prinzip bestehenden Bedenken weder grundsätzlich<br />
ausgeräumt noch ist hinreichend geklärt, wie der <strong>Schuld</strong>vorwurf<br />
dann – etwa nach Vorsatz- und Fahrlässigkeitsschuld – abgestuft werden<br />
sollte. [...]. Die bis zu BGHSt 42, 235 von der Rechtsprechung<br />
praktizierte Form der a.l.i.c. mit ihren strengen Voraussetzungen bei<br />
Vorsatzdelikten bildet daher von allen diskutierten Möglichkeiten noch<br />
die akzeptabelste Lösung.“<br />
υ Lernhinweis: Das Lernprogramm stellt im Folgenden - unverändert -<br />
die bisherigen Grundsätze zur a.l.i.c. dar. Bitte berücksichtigen Sie a-<br />
ber, dass diese für die vorerwähnten Straftatbestände (§ 315 c ...) keinerlei<br />
Verbindlichkeit mehr aufweisen.<br />
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aa)<br />
Voraussetzungen der (vorsätzlichen) a.l.i.c.<br />
Prüfschema 27: Voraussetzungen vorsätzlich a.l.i.c<br />
(1) Der Täter muss die Ursachenreihe zu einer bestimmten Straftat,<br />
mit deren Ausführung er erst nach dem Verlust seiner <strong>Schuld</strong>fähigkeit<br />
beginnt, noch im Zustand der strafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
in Gang setzen (= vorverlegte Verantwortlichkeit)<br />
(2) Defektzustand muss vorsätzlich herbeigeführt worden sein.<br />
(3) Vorsatz war zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Begehung einer<br />
(wenigstens ihrer Art nach) bestimmten Straftat gerichtet:<br />
(a) Wer sich mit dem vorgefassten Entschluss, im Zustand des Vollrausches<br />
irgendeine Gewalttätigkeit zu begehen, dem Alkoholgenuss<br />
hingibt, hat keinen hinreichend bestimmten Vorsatz -<br />
es bleibt § 323 a<br />
(b) Bei einem Vorsatzwechsel nach Eintritt des Defektzustandes greift<br />
für einen neuen Vorsatz und dessen Realisierung wiederum § 323<br />
a ein; das gleiche gilt bei sonstigen Abweichungen wesentlicher Art<br />
zwischen dem ursprünglichen Tatvorsatz und der konkreten Tatgestaltung<br />
(c) Achtung: Entgegen BGHSt 21, 381, 384 – dazu nachfolgend -<br />
nimmt die h.L. (s. z.B. W/B, AT, RN 418) bei einem error in persona<br />
im Zuge der Tatausführung bei der actio libera in causa eine<br />
wesentliche Abweichung gegenüber dem im defektfreien Zustand<br />
gefassten Vorsatz an (Arg.: Irrtum nach dem Verlust der <strong>Schuld</strong>fähigkeit)<br />
BGHSt 21, 381, 384: Der Irrtum über die Person lässt die Vorsätzlichkeit<br />
der Tathandlung unberührt und schließt die Bestrafung wegen vorsätzlicher<br />
Tatbegehung allgemein und erst recht im Falle des verantwortlichen<br />
In-Gang-Setzens der Ursachenreihe nicht aus, weil er keine<br />
Abweichung der Ausführung von der Planung in einem strafrechtlichen<br />
Merkmal zur Folge hat.<br />
BGH NStZ 2002, 28: In einem Fall alkoholbedingter <strong>Schuld</strong>unfähigkeit<br />
ist es für die actio libera in causa nicht begriffswesentlich, dass sich<br />
der Täter „Mut antrinkt“, um die beabsichtigte Tat nach Entfallen der<br />
Hemmungen im Rauschzustand zu vollführen; es genügt vielmehr,<br />
dass er, zur Tat entschlossen, Alkohol zu sich nimmt, obwohl er unter<br />
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Billigung des Erfolges damit rechnet, dass er im Zustand alkoholbedingter<br />
<strong>Schuld</strong>unfähigkeit die geplante Tat begehen werde.<br />
bb)<br />
Weitere Details<br />
(1) Ob die bloße Herbeiführung des Defekts bereits einen Versuch der<br />
geplanten Straftat bedeutet ist sehr umstr. (auf der Basis des herrschenden<br />
Tatbestandsmodells ist die „Theorie von der Ausführungshandlung“<br />
dogmatisch nicht haltbar - m.E. richtig Schweinberger, JuS<br />
2006, 507, 510 - was dazu führt, dass bei grundsätzlicher Anerkennung<br />
der a.l.i.c. ein Versuchsbeginn konsequent bei der Herbeiführung<br />
des Defekts zu sehen ist)<br />
(2) Eine actio libera in causa in Form der fahrlässigen Tatbegehung<br />
kommt dann in Betracht, wenn der Täter den maßgeblichen Defekt<br />
vorsätzlich oder fahrlässig herbeiführt und dabei in fahrlässiger Weise<br />
nicht bedenkt bzw. nicht damit rechnet, dass er im Zustand der<br />
<strong>Schuld</strong>unfähigkeit eine bestimmte Straftat verwirklichen werde (große<br />
Bedeutung für die Praxis)<br />
υ Achtung: Beachten Sie auch hier die Entscheidung des BGH v.<br />
22.08.1996 (BGHSt 42, 235): Dem <strong>Schuld</strong>spruch wegen fahrlässiger<br />
Tötung steht nicht entgegen, dass der Angeklagte bei der Tötungshandlung<br />
selbst aufgrund seiner Alkoholisierung (nicht ausschließbar)<br />
schuldunfähig i.S.d. § 20 war. Insofern bedarf es nicht des Rückgriffs<br />
auf die Rechtsfigur der a.l.i.c. Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs<br />
ist bei § 222 - wie auch bei anderen fahrlässigen Erfolgsdelikten<br />
- jedes in Bezug auf den tatbestandsmäßigen "Erfolg" sorgfaltswidrige<br />
Verhalten des Täters, das dieser ursächlich herbeiführt [hier: das Sich-<br />
Betrinken trotz erkennbarer Gefahr einer anschließenden Trunkenheitsfahrt].<br />
Anm.: Damit hat sich die fahrlässige a.l.i.c. für die fahrlässigen Erfolgsdelikte<br />
„erledigt“!<br />
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υ Lernhinweis: Empfehlenswert zur Nacharbeit der a.l.i.c. sind der<br />
Beitrag von Schweinberger, JuS 2006, S. 307 ff. sowie die Ausführungen<br />
von Roxin (AT I, § 20, RN 56-76). Man sollte mit Roxin beginnen<br />
und sodann den Beitrag von Schweinberger lesen!<br />
159 Die speziellen <strong>Schuld</strong>merkmale<br />
υ Lernhinweis: Lesen Sie bitte noch einmal o. RN 17!<br />
a) Begriff: Merkmale, die unmittelbar und ausschließlich den in der Tat<br />
zum Ausdruck kommenden Gesinnungsunwert näher charakterisieren.<br />
b) Beispiele<br />
- § 211 II, 1. Gruppe<br />
- Böswilligkeit (§§ 90 a Nr. 1, 130 Nr. 3, 225 I)<br />
- Rücksichtslosigkeit (§ 315 c)<br />
160 Die <strong>Schuld</strong>formen<br />
Der vorsätzlichen oder fahrlässigen Begehungsweise entspricht der<br />
<strong>Schuld</strong>typus der Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuld:<br />
a) Vorsatzschuld = die rechtsfeindliche oder gleichgültige Einstellung<br />
des Täters gegenüber den Verhaltensnormen des Rechts<br />
b) Fahrlässigkeitsschuld = die nachlässige oder sorglose Einstellung<br />
gegenüber den Sorgfaltsanforderungen der Rechtsordnung<br />
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υ Beachte: Der Tatbestandsvorsatz als Verhaltensform und subjektives<br />
Unrechtselement liefert für den ihm entsprechenden <strong>Schuld</strong>typus<br />
der vorsätzlich-fehlerhaften Einstellung zur Rechtsordnung (= Vorsatzschuld)<br />
nur ein widerlegbares "Indiz" - dieses Indiz wird hinfällig, wenn<br />
der Täter bei der Vornahme der Handlung die Voraussetzungen eines<br />
anerkannten Rechtfertigungsgrundes irrig annimmt (Erlaubnistatbestandsirrtum)<br />
- str. (s.u. RN 282)<br />
161 Das Unrechtsbewusstsein<br />
a) Gegenstand des Unrechtsbewusstseins = die Einsicht des<br />
Täters, dass sein Verhalten rechtlich verboten ist.<br />
b) Unterscheide<br />
aa)<br />
bb)<br />
Aktuelles Unrechtsbewusstsein = dem Täter steht das Unrecht seiner<br />
vorsätzlichen Tat klar vor Augen (Regelfall)<br />
(Ausreichend ist ein) potentielles Unrechtsbewusstsein = wenn der<br />
Täter bei dem ihm zumutbaren Einsatz seiner Erkenntniskräfte und<br />
Wertvorstellungen die Einsicht in das Unrecht der Tat gewinnen konnte.<br />
υ Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat infolge eines unvermeidbaren<br />
Verbotsirrtums die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne<br />
<strong>Schuld</strong> (§ 17 S. 1).<br />
162 Unterscheidung <strong>Schuld</strong>ausschließungsgründe -<br />
Entschuldigungsgründe<br />
a) <strong>Schuld</strong>ausschließungsgründe: Hier fehlt es an einer <strong>Schuld</strong>voraussetzung<br />
bzw. an einem schuldbegründenden Merkmal -<br />
Fallgruppen:<br />
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_____________________________________________________________________<br />
• <strong>Schuld</strong>unfähigkeit (§§ 19, 20)<br />
• Unvermeidbarer Verbotsirrtum (§ 17 S. 1)<br />
b) Entschuldigungsgründe: Sie bewirken eine so starke Herabsetzung<br />
des Unrechts- und <strong>Schuld</strong>gehalts der Tat, dass dies zur<br />
Straflosigkeit führt - Fallgruppen:<br />
• Entschuldigender Notstand (§ 35 I)<br />
• Notwehrüberschreitung (§ 33)<br />
• Handeln aufgrund eines für verbindlich gehaltenen rechtswidrigen<br />
Befehls<br />
• Entschuldigende Pflichtenkollision<br />
163 Entschuldigender Notstand (§ 35 I)<br />
a) Prüfungsaufbau<br />
Prüfschema 28: Entschuldigender Notstand (§ 35)<br />
A. Gegenwärtige Gefahr für<br />
I. Leben, Leib oder Freiheit des<br />
II. Täters, eines Angehörigen des Täters (§ 11 I Nr. 1) oder eine andere<br />
ihm nahe stehende Person<br />
B. Gefahr nicht anders abwendbar: Handeln objektiv erforderlich<br />
und geeignet:<br />
I. Das "relative mildeste Mittel" ist zu wählen<br />
II. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (der angerichtete<br />
Schaden darf nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zur<br />
Schwere der Gefahr stehen)<br />
C. Subjektiv in Kenntnis der Gefahrenlage und mit Rettungswillen<br />
D. § 35 I 2<br />
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b) Einzelheiten<br />
aa)<br />
Notstandslage<br />
• Rechtsgut Freiheit betrifft nur die Fortbewegungsfreiheit gem. § 239<br />
• Zum Gefahrbegriff s.o. RN 140 b) aa) (2)<br />
bb)<br />
Notstandshandlung<br />
• Notstandshandlung als ultima ratio<br />
• Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - je gravierender die mit der Rettungshandlung<br />
verbundene Rechtsgutsverletzung ist, desto sorgfältiger<br />
muss der Täter die Möglichkeiten eines anderen Ausweges prüfen!<br />
cc) Grenzen (§ 35 I 2)<br />
• Verschuldet braucht die Gefahrverursachung nicht zu sein (str.) - zumindest<br />
ist aber ein objektiv pflichtwidriges Vorverhalten zu fordern.<br />
• Bei Rettungshandlungen zugunsten von Angehörigen oder Nahestehenden<br />
stellt das Gesetz in § 35 I 2 nicht auf deren Vorverhalten ab,<br />
sondern auf die Gefahrverursachung durch den Täter (str.) - W/B, AT,<br />
RN 441: "Entscheidend ist die übergeordnete Frage, ob dem Täter gerade<br />
wegen der in § 35 I 2 erwähnten Besonderheiten zuzumuten war,<br />
die Gefahr hinzunehmen und den Notstand zu bestehen."<br />
164 Der Nötigungsnotstand<br />
a) Begriff: Ein Nötigungsnotstand liegt vor, wenn der Täter durch Gewalt<br />
oder Drohung mit einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr<br />
für Leben, Leib oder Freiheit seiner selbst, eines Angehörigen o-<br />
der ihm nahe stehenden Person zu einer rechtswidrigen Tat genötigt<br />
wird.<br />
b) Problem: Bleibt für eine Rechtfertigung des abgenötigten Verhaltens<br />
nach § 34 Raum, wenn es gemessen an dem vom Nötiger angedrohten<br />
Übel nur zu einer relativ geringfügigen Rechtsgutsverletzung<br />
führt? Dazu ein<br />
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Beispiel (vgl. W/B, AT, RN 443): O wird durch T unter Androhung<br />
schwerer Misshandlungen dazu gezwungen, eine Fensterscheibe der<br />
Wohnung des A einzuwerfen.<br />
c) Problemlösung<br />
aa) T.d.L.: Rechtfertigung nach § 34<br />
bb)<br />
cc)<br />
a.A. (h.M.): § 35 I - Arg.: Der Genötigte tritt auf die Seite des Unrechts;<br />
die Rechtsposition des (der) Betroffenen würde ansonsten eingeschränkt<br />
(keine Notwehr möglich!).<br />
Vermittelnde Auffassung will Schwere der Straftat entscheiden lassen<br />
(§ 35 I gilt nur für solche Straftaten von erheblichem Gewicht)<br />
165 Notwehrüberschreitung (§ 33)<br />
a) Prüfschema<br />
Prüfschema 29: § 33 (intensiver Notwehrexzess – str.)<br />
1. Objektiv: Bestehen einer Notwehrlage<br />
2. Vorliegen von Furcht, Verwirrung oder Schrecken<br />
3. Überschreitung der zulässigen Verteidigung ("mehr als erforderlich")<br />
4. Subjektiv: Unbewusste oder bewusste (str.) Überschreitung<br />
b) Details<br />
aa)<br />
Die Notwehrüberschreitung ist ein Entschuldigungsgrund (h.M.)<br />
bb) Problem 1: § 33 gilt nicht für den sog. extensiven Notwehrexzess =<br />
Angreifer wird durch ein bewusstes Hinwegsetzen über das Erfordernis<br />
der "Gegenwärtigkeit" durch den zu seiner Verteidigung Entschlossenen<br />
betroffen (str.).<br />
cc)<br />
Problem 2: § 33 gilt nicht für die Fälle der Putativnotwehr = Verteidiger<br />
hält den Angriff für irrtümlich (schon oder noch) gegenwärtig - es<br />
finden Irrtumsregeln Anwendung (Arg.: § 33 setzt einen wirklichen Angriff<br />
voraus); Erlaubnistatbestandsirrtum – Behandlung sehr str. (s.u.<br />
RN 282).<br />
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BGH NStZ 2002, 141: „Jedenfalls soweit das LG den Angekl. gemäß<br />
§ 33 wegen der Messerstiche für entschuldigt hält, die er führte, als der<br />
Nebenkläger bereits am Boden lag und nicht mehr in der Lage war, etwas<br />
gegen den Angekl. zu unternehmen und sich diesem zu widersetzen,<br />
ist seine rechtliche Beurteilung des Geschehens fehlerhaft. In diesem<br />
Zeitpunkt lag kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Nebenkl.<br />
gegen den Angekl. mehr vor. Es entschuldigte den Angekl.<br />
nicht, dass er dies aus panischer Angst und Verwirrung nicht erkannte.<br />
§ 33 kommt dem Täter, der aus einem der dort genannten astehnischen<br />
Affekten handelt, nur so lange zu Gute, bis die Notwehrlage und<br />
Angriffsgefahr endgültig beseitigt ist [...].“<br />
Der BGH weist darauf hin, dass sich der Täter zwar in einem Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
befunden habe, dies schließe aber die Strafbarkeit<br />
wegen fahrlässiger Tatbegehung [hier: gefährliche Körperverletzung]<br />
nicht aus. Die Entscheidung bitte nachlesen!<br />
dd)<br />
Problem 3: § 33 gilt grds. nicht für die Fälle des Putativnotwehrexzesses<br />
= irrige Annahme des Angriffs und Überschreitung der Grenzen<br />
der Notwehr - der in Putativnotwehr Handelnde darf zur Verteidigung<br />
nicht mehr tun, als wenn er in wirklicher Notwehr wäre - doch ist,<br />
wenn der Täter unvermeidbar irrig einen Angriff annimmt, § 33 analog<br />
anzuwenden, wenn er bei wirklicher Notwehrlage gegeben wäre (nach<br />
a.A. soll § 17 zur Anwendung gelangen).<br />
c) Rechtsprechung<br />
BGH NStZ 1989, 474: § 33 greift auch dann ein, wenn der Täter in<br />
Kenntnis der wahren Sachlage aus den dort genannten Affekten seine<br />
Notwehrbefugnis bewusst überschreitet.<br />
BGH NStZ-RR 1999, 264: Der in § 33 geforderte (asthenische) Effekt<br />
braucht nicht die überwiegende Ursache für die Notwehrüberschreitung<br />
sein. Es genügt, dass er neben anderen gefühlsmäßigen Regungen<br />
für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war.<br />
BGHSt 39, 133, 139 [Fall Sonntag]: Besteht infolge der von dem Angegriffenen<br />
schuldhaft mitverursachten Notwehrlage noch ein (wenn<br />
auch eingeschränktes) Notwehrrecht nach § 32, so ist grundsätzlich<br />
auch Raum für die Anwendung des § 33, sofern der Täter die Grenzen<br />
der (eingeschränkten) Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken<br />
überschreitet. Dies gilt aber dann nicht, wenn sich der rechtswidrig Angegriffene<br />
planmäßig in eine tätliche Auseinandersetzung mit seinem<br />
Gegner eingelassen hat, um unter Ausschaltung der für die<br />
Konfliktlösung zuständigen und erreichbaren Polizei den ihm angekündigten<br />
Angriff mit eigenen Mitteln abzuwehren und die Oberhand über<br />
seinen Gegner zu gewinnen.<br />
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Zur (durch den BGH ebenfalls abgelehnten) Heranziehung von<br />
§ 34 s.o. RN 141.<br />
BGH NStZ 1995, 76, 77: Im Hinblick auf die vom Gesetzgeber vorgesehene<br />
völlige Straflosigkeit selbst bei bewusster Überschreitung der<br />
erforderlichen Notwehr, muss - worauf das LG zutreffend hinweist - ein<br />
gesteigertes Maß an Angst vorliegen, um die Voraussetzungen der<br />
Furcht i.S.d. § 33 zu begründen. Zu verlangen ist 'ein durch das Gefühl<br />
des Bedrohtseins verursachter Störungsgrad, bei dem die Fähigkeit,<br />
das Geschehen richtig zu verarbeiten, erheblich reduziert war'. Gemeint<br />
ist damit, dass der Täter aktuell auf Grund einer besonders intensiven,<br />
gesteigerten Gemütsbewegung und -erregung gehandelt haben<br />
muss und gerade durch ein solches Ausmaß der Angst zu Handlungen<br />
hingerissen worden ist, die das Maß des Erforderlichen überschreiten.<br />
BGH NStZ 1995, 177: Die Anwendbarkeit des § 33 wird nicht dadurch<br />
ausgeschlossen, dass sich der Angegriffene dem Angriff durch<br />
Flucht oder vorsorgliche Einschaltung der Polizei hätte entziehen<br />
können.<br />
υ Anmerkung: Dieser Fall unterscheidet sich von dem in BGHSt 39,<br />
133 entschiedenen (s.o.) dadurch, dass der Täter dort die bewaffnete<br />
Auseinandersetzung mit seinen Gegnern noch vor Beginn des rechtswidrigen<br />
Angriffs und außerhalb des von den Angreifern vorgesehenen<br />
Tatortbereichs auf öffentlicher Straße gesucht hat, um seinerseits den<br />
erwarteten Angriffen zuvorzukommen.<br />
166 Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />
a) Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ist nach h.M. nicht<br />
schlechthin als "übergesetzlicher Entschuldigungsgrund" anzuerkennen<br />
(Wessels/Beulke, AT, RN 451).<br />
b) Ausnahme: Ganz außergewöhnliche Konfliktsituationen (Beispiel:<br />
NS-Ärzte während der "Euthanasieaktion") - W/B, a.a.O., RN 452: "In<br />
einer so ungewöhnlichen, nahezu unlösbaren Pflichtenkollision vermag<br />
die Rechtsordnung keinen <strong>Schuld</strong>vorwurf zu erheben, wenn der Täter<br />
seine Entscheidung nach bestem Gewissen trifft und sein vom Rettungszweck<br />
bestimmtes Handeln unter den gegebenen Umständen<br />
das einzige Mittel darstellt, noch größeres Unheil für Rechtsgüter von<br />
höchstem Wert zu verhindern."<br />
RN 167 bleibt unbesetzt!<br />
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