Texttafel Fall II - Institut für Ãffentliches Wirtschaftsrecht
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Übung Verfassungsrecht SS 2011 Bruno Binder /Simone Grochar<br />
Diplomstudium Rechtswissenschaften/Bachelorstudium <strong>Wirtschaftsrecht</strong> 148.037<br />
<strong>Texttafel</strong> zum <strong>Fall</strong> <strong>II</strong>: LKW-Verkehr auf der Loferer Bundesstraße<br />
(mittelbare Bescheidbeschwerde)<br />
A. Grundrechtsdogmatik: wirtschaftliche Reflexwirkung (VfSlg 8060/1977), verfassungsimmanente<br />
Schranken, Schutzbereich, Eingriff und Verletzung des jeweiligen Grundrechts<br />
B. Artikel 144 Abs 1 B-VG (mittelbare Bescheidbeschwerde) (Binder/Trauner, Öffentliches<br />
Recht - Grundlagen (2008) RZ [1093], [1174], [2478]).<br />
C. Checklist<br />
• Bescheid<br />
• Verordnung<br />
D. Grundrechte: Gleichheitssatz (Art 7 B-VG und Art 2 StGG 1867; Art 20 EU-GRCharta),<br />
Erwerbsfreiheit (Art 6 StGG 1867, bzw. unternehmerische Freiheit Art 16 EU-GRCharta),<br />
Eigentumsfreiheit (Art 5 StGG 1867 und Art 1 erstes ZPzEMRK, Art 17 EU-GRCharta)<br />
E. Verordnung<br />
1. Präjudizialität<br />
Nur wenn VfGH die Verordnung bei der Entscheidung über die anhängige Bescheidbeschwerde<br />
anzuwenden hat, ist eine Verordnungsprüfung von Amts wegen zulässig (Art 139<br />
Abs 1 B-VG) VfSlg 14.257/1995<br />
2. Gesetzwidrigkeit, Verfassungswidrigkeit:<br />
Gesetzwidrigkeit:<br />
• im Hinblick auf § 43 Abs 2 StVO (Verkehrsbedeutung der Straße)<br />
• im Hinblick auf § 45 Abs 2 und 2a StVO (Unzulässigkeit der Ausnahmebestimmungen)<br />
Verfassungswidrigkeit:<br />
• Gleichheitssatz (Art 7 B-VG und Art 2 StGG 1867), ad <strong>Fall</strong>: unsachliche Regelung im<br />
Hinblick auf die Investition des Frächters - Vertrauensschutz (Binder/Trauner Rz [0019],<br />
[0254], [2339]).<br />
• Erwerbsfreiheit (Art 6 StGG 1867) - Beschränkungen der Erwerbsfreiheit nur zulässig,<br />
wenn sie durch ein öffentliches Interesse geboten, geeignet, zur Zielerreichung adäquat<br />
und auch sonst sachlich zu rechtfertigen sind (= Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), VfSlg<br />
11.483/1987; (Binder/Trauner Rz [0302], [0345], [2224]); ad <strong>Fall</strong>: Verordnung nicht verhältnismäßig,<br />
da nicht erforderlich und nicht angemessen.<br />
• Eigentumsfreiheit (Art 5 StGG 1867 und Art 1 erstes ZPzEMRK) - Beschränkung der<br />
Eigentumsfreiheit nur zulässig, wenn dadurch nicht der Wesensgehalt des Grundrechtes<br />
berührt wird, die Eigentumsbeschränkung im öffentlichen Interesse liegt und nicht unverhältnismäßig<br />
und unsachlich ist, VfSlg 15.577/1999 (Binder/Trauner Rz [0299], [0345],<br />
[2191]), ad <strong>Fall</strong>: Beschränkung des Eigentums unverhältnismäßig.<br />
3. Gemeinschaftsrechtswidrigkeit; Anregung für Vorlageantrag (Antrag auf Vorabentscheidung)<br />
an den Europäischen Gerichtshof; Anwendungsvorrang; EU-Grundrechtscharta<br />
- Unternehmerische Freiheit (Art 16 EU-GRCharta), Eigentumsfreiheit (Art 17 EU-<br />
GRCharta), Gleichheit vor dem Gesetz (Art 20 EU-GRCharta); Unterschied Grundfreiheiten<br />
und Grundrechte; ad <strong>Fall</strong>: 1.) Art 34 und 35 AEUV: Verbot der mengenmäßigen Ein- und<br />
Ausfuhrbeschränkungen sowie Verbot aller Maßnahmen mit gleicher Wirkung (EuGH<br />
11.7.1974, C-8/74, Dassonville, Slg 1974, 00837; EuGH 12.6.2004, C-112/00, Schmidberger,<br />
Slg 2003, I-05659). Das Nachtfahrverbot greift in Art 34 und 35 AEUV ein und verletzt
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Diplomstudium Rechtswissenschaften/Bachelorstudium <strong>Wirtschaftsrecht</strong> 148.037<br />
diese Grundfreiheiten, es sei denn der Eingriff ist durch die Ausnahmebestimmung des Art<br />
36 AEUV gerechtfertigt.<br />
E. Bescheid<br />
Subjektive Rechte (Beschwerdepunkte)<br />
• einfachgesetzliche Rechte nach § 45 Abs 2 und Abs 2a StVO<br />
• Gleichheitssatz (Art 7 B-VG und Art 2 StGG 1867)<br />
• Erwerbsfreiheit (Art 6 StGG 1867)<br />
• Eigentumsfreiheit (Art 5 StGG 1867 und Art 1 erstes ZPzEMRK)<br />
F. Schriftsatz<br />
1. Deckblatt<br />
2. Beschwerdepunkte (sowohl einfachgesetzliche Rechte als auch Grundrechte)<br />
3. Anträge: Aufhebungsantrag samt Nebenanträgen (Kostenersatz)<br />
4. Anregungen:<br />
- Verordnungsprüfung;<br />
- Vorabentscheidung (Vorlagefrage: Die Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 3.<br />
November 2010, über ein generelles Nachtfahrverbot auf der Loferer Bundesstraße, kundgemacht<br />
im LGBL YY/2010, beeinträchtigt die Frächterinteressen. “Greifen generelle Nachtfahrverbote<br />
auf für den Durchzugsverkehr bedeutsamen Routen in die Warenverkehrsfreiheit<br />
gemäß Art 28 ff AEUV ein? Sind sie als mengenmäßige Beschränkung von Ein- und Ausfuhr<br />
bzw. als Maßnahmen gleicher Wirkung gemäß Art 34 und 35 AEUV zu sehen?“).<br />
5. Begründung der Gesetz- und Verfassungswidrigkeit der Verordnung:<br />
- Präjudizialität<br />
VfGH muss bei Beurteilung des Anspruchs auf bescheidmäßige Ausnahmegenehmigung<br />
die Verordnung berücksichtigen.<br />
- Einfach gesetzliche Rechte<br />
- Bei Verkehrsbeschränkungen durch Verordnung muss gemäß § 43 Abs 2 StVO auf<br />
den „angestrebten Zweck“ und „die Bedeutung der Verkehrsbeziehung und der Verkehrserfordernisse<br />
Bedacht“ genommen werden; Verkehrsbedeutung nicht ausreichend<br />
berücksichtigt.<br />
- Verordnung widerspricht Ausnahmeregelung nach § 45 Abs 2 und 2a StVO<br />
- Gleichheitssatz<br />
Ohne sachlichen Grund wurde Rechtslage, auf die sich der Frächter unter erheblichem<br />
wirtschaftlichen Aufwand durch Anschaffung lärmarmer LKW verlassen durfte,<br />
schwerwiegend verändert; belastender Eingriff in erworbene Rechtsposition gleichheitswidrig,<br />
da Frächter zuvor durch das beschränkte Nachtfahrverbot zur Investition<br />
in die lärmarmen LKW veranlasst wurde.<br />
- Erwerbsfreiheit<br />
Lärmarme LKW können nicht mehr (sinnvoll) genützt werden, wiederkehrende temporäre<br />
Unbenutzbarkeit der bedeutenden Verkehrslinie, dadurch Beeinträchtigung der<br />
Erwerbsausübung; öffentliches Interesse (Lärmschutz und Emissionsschutz) gegeben,<br />
Nachtfahrverbot für LKW als Mittel auch geeignet, aber generelles Nachtfahrverbot<br />
als Mittel im Hinblick auf Bedeutung der Loferer Bundesstraße für den Verkehr<br />
und Schwere des Eingriffs zur Zielerreichung nicht adäquat und auch sachlich nicht<br />
gerechtfertigt bzw. erforderlich (VfSlg 14.169/1995: Recht auf Erwerbsfreiheit durch<br />
Nachtfahrverbot nur bei Intentionalität des Eingriffs verletzt).
Übung Verfassungsrecht SS 2011 Bruno Binder /Simone Grochar<br />
Diplomstudium Rechtswissenschaften/Bachelorstudium <strong>Wirtschaftsrecht</strong> 148.037<br />
- Eigentumsfreiheit<br />
Investition in lärmarme LKW zuerst durch beschränktes Nachtfahrverbot veranlasst,<br />
dann durch Verbot (auch) der lärmarmen LKW mit generellem Nachtfahrverbot frustriert;<br />
öffentliches Interesse (Lärmschutz und Emissionsschutz) gegeben, aber die Beschränkung<br />
des Eigentums durch generelles Nachtfahrverbot im Hinblick auf die<br />
Schwere des Eingriffs (zuerst veranlasste Investitionen werden frustriert) unverhältnismäßig<br />
(im Gegensatz dazu: bloße Minderung der wirtschaftlichen Chancen kein<br />
Eingriff in Eigentumsfreiheit).<br />
6. Begründung der Anregung zum Antrag auf Vorabentscheidung:<br />
EU-Grundfreiheit des Verbots der mengenmäßigen (Ein- oder Ausfuhr)Beschränkung oder<br />
Maßnahme gleicher Wirkung nicht nur dann verletzt, wenn Ein- oder Ausfuhr unmöglich gemacht<br />
wird, sondern auch, wenn die Maßnahme die Ein- oder Ausfuhr schwieriger oder<br />
kostspieliger gestaltet. Um eine Maßnahme gleicher Wirkung handelt es sich auch, wenn<br />
eine Norm wirkungslos ist oder über das Ziel hinausschießt und durch eine andere, den<br />
Handel weniger beschränkende Maßnahme ersetzt werden könnte (EuGH 11.7.1974, C-<br />
8/74, Dassonville).<br />
F. Ergreiferprämie<br />
Aufhebung von Gesetzen und Verordnungen durch VfGH gilt nur ex nunc für die Zukunft.<br />
Ausnahme nur für den „Anlassfall“, der Anlass für die Aufhebung des Gesetzes oder der<br />
Verordnung war; Aufhebung wirkt als Prämie für die Ergreifung der rechtswidrigen Norm ex<br />
tunc auf den Anlassfall zurück. Als dem Anlassfall gleich gestellt gelten neben dem Anlassfall,<br />
der tatsächlich Anlass zur Aufhebung war, alle Beschwerden, die vor Beginn der mündlichen<br />
Verhandlung bzw. der nicht öffentlichen Beratung im Normenprüfungsverfahren eingelangt<br />
sind. VfSlg 10.616/1985<br />
Für Tatbestände, die vor der Aufhebung verwirklicht wurden, jedoch nicht Anlassfall oder<br />
diesem gleich gestellt sind, ist die aufgehobene Verordnung bzw. das aufgehobene Gesetz<br />
gemäß Art 139 Abs 6 bzw. Art 140 Abs 7 B-VG weiter anzuwenden, wenn der VfGH in seinem<br />
aufhebenden Erkenntnis nichts anderes ausspricht. VfSlg 14.536/1996 (Binder/Trauner<br />
Rz [0970], [2218])