Menschenrechte heute - Behindertenbeauftragter des Landes ...
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<strong>Menschenrechte</strong> <strong>heute</strong><br />
Jahresabschlussveranstaltung<br />
<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>beauftragten für<br />
Menschen mit Behinderungen<br />
am 10.12.2013<br />
im Historischen Museum Hannover<br />
3
Inhalt<br />
EINFÜHRUNG 5<br />
MENSCHENRECHTE - HEUTE 9<br />
MACHTMISSBRAUCH VERHINDERN – MITENTSCHEIDUNG STÄRKEN 19<br />
DAS BEHINDERTENGLEICHSTELLUNGSGESETZ (BGG), EIN MEILENSTEIN<br />
FÜR EINE BEHINDERTENPOLITIK VON MORGEN 23<br />
ZEITTAFEL 27<br />
4
„Wenn man wirklich etwas verändern will,<br />
dann muss man eine ganze Persönlichkeit<br />
einzusetzen haben, und dazu gehört untrennbar<br />
ein Kopf, ein Herz und ein Temperament.“<br />
1<br />
Carl von Ossietzky<br />
Einführung<br />
Die vorliegende Broschüre dokumentiert die Veranstaltung vom 10. 12. 2013 zum Thema<br />
<strong>Menschenrechte</strong> <strong>heute</strong>, ergänzt um einen Beitrag zum Behindertengleichstellungsgesetz,<br />
das als Meilenstein auf dem Weg zu einer zukünftigen Behindertenpolitik anzusehen ist.<br />
Einer guten Tradition folgend habe ich zu meiner diesjährigen Jahresabschlussveranstaltung<br />
in das Historische Museum Hannover gebeten. Etwa 80 Menschen, in Behindertenselbsthilfeorganisationen<br />
engagiert, waren meiner Einladung gefolgt.<br />
Das Thema „<strong>Menschenrechte</strong> <strong>heute</strong>“ war nicht ohne Grund gewählt worden:<br />
Auf den Tag genau vor 65 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der <strong>Menschenrechte</strong> von<br />
der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet. Und auf den Tag<br />
genau vor 20 Jahren hatte ich stellvertretend für die vielen politisch aktiven Menschen mit<br />
Behinderungen von der Internationalen Liga für <strong>Menschenrechte</strong> den Carl-von-Ossietzky-<br />
Preis entgegengenommen.<br />
Der Frage nachzugehen, wie es um die <strong>Menschenrechte</strong> <strong>heute</strong>, 65 Jahre nach der Deklaration,<br />
bestellt ist, lag also nahe. Haben wir die Erfüllung der <strong>Menschenrechte</strong> in Deutschland<br />
wirklich erreicht? Wir erleben täglich, dass beispielsweise Teilhabe und Partizipation von<br />
Menschen mit Behinderungen in vielen Bereichen <strong>des</strong> täglichen Lebens noch nicht in der<br />
Realität angekommen sind.<br />
Hauptredner war der Journalist und Publizist Eckart Spoo, der sich seit Jahrzehnten für die<br />
Einhaltung der <strong>Menschenrechte</strong> einsetzt. Wer ist daher besser geeignet als er, um über dieses<br />
Thema zu referieren.<br />
Ich kenne Eckart Spoo schon aus seiner Zeit als Niedersachsen-Korrespondent der Frankfurter<br />
Rundschau. Neben seiner Tätigkeit als Publizist und Journalist ist er u.a. Mitglied der<br />
Internationalen Liga für <strong>Menschenrechte</strong>, Mitbegründer und langjähriger Redakteur <strong>des</strong><br />
Grundrechte-Reports sowie der Zweiwochenschrift Ossietzky.<br />
Als zentrale Punkte nannte Eckart Spoo in seinem Vortrag u.a. Medienwirklichkeit und Arbeitslosigkeit.<br />
Er empfahl, sich zu solidarisieren, um hier eine Veränderung herbeizuführen.<br />
Diese Anregung nahmen die Anwesenden gerne auf. Obgleich wir uns seit Jahren gemeinsam<br />
für das konsequente Eintreten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und<br />
gegen jegliche Form der Gewalt und Diskriminierung einsetzen, waren wir uns einig, dass es<br />
ein dauerhafter Prozess sein muss, immer wieder selbstbewusst die Einhaltung unserer<br />
Grundrechte einzufordern. Dies kann nur durch gemeinsame öffentliche Formulierung unserer<br />
Ziele gelingen.<br />
Übereinstimmend wurde der Wunsch nach einer deutlicheren Beachtung von Menschen mit<br />
Behinderungen in den Medien geäußert, denn dieser Personenkreis wird aktiv und eigenständig<br />
in den Medien so gut wie nicht abgebildet. Dabei sind wir ein selbstverständlicher<br />
1 Elke Suhr, Carl von Ossietzky – Eine Biografie, Frankfurt am Main 1988, S.85 f.<br />
5
Bestandteil der Gesellschaft. Genauso selbstverständlich sollten wir im Fernsehen oder im<br />
Radio vorkommen. Die schon genannte hohe Arbeitslosigkeit besonders im Behindertenbereich<br />
bedarf ebenso einer Korrektur, die wir nicht vernachlässigen dürfen einzufordern.<br />
Bereichert wurde die Veranstaltung von Schülerinnen und Schülern, die Ausgrenzung und<br />
Diskriminierung persönlich erlebt haben und darüber in Dialog- und Monologform berichteten.<br />
Die blinden und sehbehinderten Jugendlichen hatten im Rahmen einer Theater-AG <strong>des</strong> Kooperationsprojekts<br />
der Franz Mersi Schule mit dem Lan<strong>des</strong>bildungszentrums für Blinde in<br />
Hannover im August 2013 an einer Ausstellung zum „Thema Demokratie<br />
stärken – Rechtsextremismus bekämpfen“ mitgewirkt.<br />
Diese Ausstellung hat mich tief beeindruckt. Ich war sehr froh,<br />
dass die Verantwortlichen, Frau Backsmann und Frau Schröer<br />
vom Lan<strong>des</strong>bildungszentrum für Blinde, spontan die Zusage für<br />
den Auftritt ihrer Schülerinnen und Schüler gegeben haben.<br />
Musikalisch umrahmten die Veranstaltung<br />
Jana Alina Kornfeld mit ihrem<br />
eindrucksvollen und berührenden<br />
Gesang sowie Frederik<br />
Darnauer mit bezaubernden Musikstücken<br />
am Klavier.<br />
Ein herzlicher Dank gilt allen Schülerinnen<br />
und Schülern für diese<br />
wunderbaren Momente. Ihr habt mit Eurem Vortrag den Spannungsbogen<br />
von älteren zu jungen Menschen meisterhaft geschafft<br />
und somit eine Einheit mehrerer Generationen bewirkt.<br />
Weiter bedanke ich mich an dieser Stelle bei Eckart Spoo<br />
für seinen Beitrag, der am Interesse der Anwesenden<br />
feststellen konnte, dass er mit seinen Worten den Nerv der<br />
Teilnehmenden getroffen hatte. In meinen Dank schließe<br />
ich auch Sylvia Remé mit ein, die diese Veranstaltung organisiert<br />
hat.<br />
Ich wünsche mir, dass diese Broschüre allen Mut macht,<br />
den Gedanken der Realisierung unserer Grundrechte<br />
auch für Menschen mit Behinderungen weiter zu verfolgen.<br />
Hannover, Februar 2014<br />
Karl Finke<br />
6
<strong>Menschenrechte</strong> - <strong>heute</strong><br />
Der 10. Dezember – in anderen<br />
Ländern stärker beachtet<br />
als in Deutschland –<br />
ist der alljährliche Tag der<br />
<strong>Menschenrechte</strong>, denn am<br />
10. Dezember 1948 wurde<br />
in New York die Universale<br />
Erklärung der <strong>Menschenrechte</strong><br />
verkündet. Am 10.<br />
Dezember 1993 zeichnete in<br />
Berlin die Internationale Liga<br />
für <strong>Menschenrechte</strong> Karl<br />
Finke für seine Verdienste<br />
um die <strong>Menschenrechte</strong> mit<br />
der Carl-von-Ossietzy-<br />
Medaille aus. Zum 10. Dezember<br />
2013 hat nun dieser von mir hochgeschätzte Menschenrechtsaktivist mich<br />
eingeladen, hier über das Thema „<strong>Menschenrechte</strong> – <strong>heute</strong>“ zu sprechen. Danke.<br />
In der Formulierung <strong>des</strong> Themas steckt die Feststellung, dass die <strong>Menschenrechte</strong><br />
nicht zeitlos sind, sondern von jeweiligen Zeitumständen abhängig. Immer kommt es<br />
darauf an, wer wann wo gegen wen welche Interessen geltend macht. Vielleicht<br />
missfällt uns diese Vorstellung der Zeitbedingtheit der <strong>Menschenrechte</strong>. Sicher wünschen<br />
wir uns die absolute Geltung der <strong>Menschenrechte</strong> durch alle Zeiten der<br />
Menschheitsentwicklung. Aber ist es nicht auch eine erfreuliche, ermutigende Vorstellung,<br />
dass es möglich, dass es uns möglich ist, <strong>Menschenrechte</strong> zu erkennen, zu<br />
formulieren, zu erkämpfen, sie weiterzuentwickeln? Karl Finkes konsequentes Engagement<br />
für die Rechte der Menschen mit Behinderungen beweist das doch, nicht<br />
wahr?<br />
Nehmen wir ein anderes Beispiel: das Recht auf Freiheit von Sklaverei. Die Reichen<br />
und Mächtigen hatten nie ein Interesse daran, dieses Recht anzuerkennen, schon<br />
gar nicht als absolutes Menschenrecht. Vielmehr hielten sie sich für berechtigt, Sklaven<br />
zu halten. Es bedurfte langer, schwerer Kämpfe, um die Sklaverei und die<br />
Zwangsarbeit zu ächten. Bis <strong>heute</strong> ist das noch nicht überall gelungen – auch in<br />
Deutschland ist gegen Zwangsarbeit immer noch einiges zu tun. Viele Fernsehfilme<br />
über Zwangsprostitution handeln davon.<br />
Es gibt Fortschritte, über die wir uns freuen dürfen. Inzwischen sind <strong>Menschenrechte</strong><br />
in vielen Staatsverfassungen und internationalen Pakten verbürgt. Das ist viel wert,<br />
aber es genügt nicht. Die Geschichte lehrt, dass wir im Kampf um die <strong>Menschenrechte</strong><br />
weit zurückgeworfen werden können. Am schlimmsten geschah das in Deutschland<br />
unter dem Nazi-Regime. Viele Millionen Menschen wurden total entrechtet und<br />
entwürdigt. Nach dem Nazi-Programm „Vernichtung durch Arbeit“ waren Häftlinge<br />
gezwungen, buchstäblich bis zum Umfallen die Waffen zu schmieden, mit denen ihre<br />
Familien, ihre Völker vernichtet werden sollten. Joseph Goebbels verkündete es<br />
ausdrücklich als Ziel <strong>des</strong> Nazi-Regimes, das Jahr 1789 aus der Geschichte auszuradieren,<br />
das Jahr der Französischen Revolution, zu deren ersten Taten nach der Erstürmung<br />
der Bastille die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gehört hatte.<br />
9
Aber als dann das Nazi-Regime niedergerungen war, wurde es möglich, die Vereinten<br />
Nationen zu gründen und in ihrer Charta – zunächst allerdings nur in allgemeiner<br />
Form – die <strong>Menschenrechte</strong> zu verankern. Seitdem ist es gelungen, immer konkretere<br />
Vereinbarungen zu treffen, darunter auch das UN-Übereinkommen von 2008 über<br />
die Rechte der Menschen mit Behinderungen.<br />
Freilich: Wenn <strong>Menschenrechte</strong> zu Papier gebracht und von vielen Mitgliedsstaaten<br />
der UN anerkannt sind, ist damit nicht garantiert, dass sie von allen Staaten eingehalten<br />
werden. Es kann deprimierend wirken, wenn gerade große, mächtige Staaten<br />
die UN-Pakte nicht als rechtsverbindlich anerkennen. Der Streit darüber begann<br />
gleich 1945. Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech hat kürzlich („Friedens<br />
Forum“ 5/13) an die damalige Kontroverse zwischen Churchill und Stalin über die<br />
Aufnahme der <strong>Menschenrechte</strong> in die UN-Charta erinnert: „Da Churchill die Kodifizierung<br />
der ökonomischen und sozialen <strong>Menschenrechte</strong> ablehnte, verweigerte Stalin<br />
wiederum die Aufnahme der zivilen und politischen <strong>Menschenrechte</strong>.“ Einerseits ging<br />
es beispielsweise um das Recht auf Arbeit, das Recht auf Nahrung, das Recht auf<br />
Wohnung, das Recht auf Kleidung, das Recht je<strong>des</strong> Menschen auf medizinische Behandlung,<br />
die dem heutigen wissenschaftlichen Standard entspricht, andererseits um<br />
solche Rechte wie Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit und Versammlungsfreiheit.<br />
Dazu Paech: „Die Kontroverse bestimmte auch die Beratungen über die Universelle<br />
Menschenrechtsdeklaration von 1948. Man kam zwar überein, das gesamte klassenübergreifende<br />
Spektrum der <strong>Menschenrechte</strong> zu erfassen, der Deklaration aber<br />
insgesamt die Rechtsverbindlichkeit vorzuenthalten. Der Widerspruch war unüberwindbar,<br />
so dass der internationale Druck, endlich ein verbindliches Dokument der<br />
<strong>Menschenrechte</strong> zu formulieren, 1966 zu der Trennung in zwei Pakte führte. Während<br />
die Rechtsverbindlichkeit <strong>des</strong> Paktes für zivile und politische Rechte nunmehr<br />
unbestritten ist, wird sie für den Pakt für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte<br />
vor allem von den dominanten kapitalistischen Staaten <strong>des</strong> atlantischen Bündnisses<br />
abgelehnt. Die USA haben ihn noch immer nicht ratifiziert, und die Europäische<br />
Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 blendet die ökonomischen und<br />
sozialen Rechte völlig aus. Die Bun<strong>des</strong>republik hat den Pakt zwar 1973 ratifiziert,<br />
sieht in <strong>des</strong>sen Forderungen allerdings eher eine (...) programmatische Zielverpflichtung<br />
(...) als eine bindende Rechtsverpflichtung.“ Das gilt auch für die sogenannten<br />
<strong>Menschenrechte</strong> der „dritten Generation“, nämlich die <strong>Menschenrechte</strong> auf Entwicklung<br />
und Frieden.<br />
Menschenrechtler in aller Welt und auch in der Bun<strong>des</strong>republik müssen meines Erachtens<br />
dringend auf die Einbeziehung aller <strong>Menschenrechte</strong> ins jeweilige Verfassungsrecht,<br />
bei uns also ins Grundgesetz der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland hinwirken.<br />
Ich bedauere, dass die deutsche Öffentlichkeit äußerst wenig von der konstruktiven<br />
Arbeit der UN-Vollversammlung und ihrer Gremien erfährt. Man liest und hört fast nur<br />
vom Sicherheitsrat, einem Machtzentrum, in dem die Atommächte USA, Großbritannien,<br />
Frankreich, Russland und China ständige Sitze sowie Vetorecht haben und sich<br />
folglich nie um Wiederwahl bemühen müssen. Statt sich für eine Demokratisierung<br />
<strong>des</strong> Sicherheitsrats zu engagieren, verlangt die Bun<strong>des</strong>republik, selbst in dieses<br />
Weltherrschaftskonsortium aufgenommen zu werden.<br />
Beängstigend finde ich, dass <strong>Menschenrechte</strong> <strong>heute</strong> vor allem als Propagandawaffe<br />
in der Außenpolitik missbraucht werden. Dazu noch einmal Norman Paech: „Noch<br />
10
vor 15 Jahren konnte man weder in dem voluminösen Werk von Henry Kissinger<br />
‚Vom Wesen der Außenpolitik‘ noch in den tonangebenden Analysen zu Frieden,<br />
Krieg und dem System der internationalen Beziehungen, geschweige denn in den<br />
außenpolitischen Programmen der CDU/CSU, SPD, FDP und <strong>des</strong> Bündnis 90/Die<br />
Grünen ein Wort zur Bedeutung der <strong>Menschenrechte</strong> entdecken. Heute gibt es kaum<br />
eine politische Konfrontation und keine militärische Intervention, die nicht die <strong>Menschenrechte</strong><br />
als Basis der Argumentation und Legitimation ihres Eingriffes heranzieht.“<br />
<strong>Menschenrechte</strong> fordert man immer nur vom anderen ein, von dem, den man unter<br />
Druck setzen und in Misskredit bringen will. Deutschland verlangt von China <strong>Menschenrechte</strong><br />
für die Tibeter, aber nicht von unserem NATO-Verbündeten Türkei für<br />
die Kurden, nicht von Lettland und Estland für die Russen (die ein Viertel der Bevölkerung<br />
ausmachen, aber rechtlich diskriminiert sind und zu einem großen Teil nicht<br />
einmal wählen dürfen), nicht von den USA für die Indianer, nicht von Israel für die<br />
Palästinenser. Die Tibeter sollen Autonomie, wenn nicht gleich völlige Eigenstaatlichkeit<br />
erlangen wie die albanischstämmigen Kosovaren. Warum nicht auch Autonomie<br />
für die Basken in Spanien oder die Roma in Rumänien oder die Aborigines in<br />
Australien? In Deutschland sollen sich ganz selbstverständlich alle Bevölkerungsgruppen<br />
assimilieren, sollen der „Leitkultur“ folgen; in gleichem Sinne unterstützen<br />
tonangebende deutsche Politiker und Publizisten befreundete Staaten, die von allen<br />
ethnischen Gruppen Assimilierung verlangen. Wenn sich eine Gruppe gegen systematische<br />
Benachteiligung auflehnt, wird sie in hiesigen Medien schnell als „terroristisch“<br />
abgestempelt. Als „terroristisch“ galt zum Beispiel jahrzehntelang der von Nelson<br />
Mandela geführte African National Congress, denn die Bun<strong>des</strong>republik Deutschland<br />
war dem mörderischen Apartheid-Regime eng verbunden. Bei ethnischen Konflikten<br />
in nicht befreundeten Staaten dagegen wie China oder Jugoslawien stellte<br />
sich Deutschland regelmäßig auf die Seite derer, die sich auflehnen und Selbstbestimmung,<br />
Eigenständigkeit verlangen. Da gilt die alte imperialistische Devise „divide<br />
et impera“ (teile und herrsche). Und wenn dann irgendwo in der Welt angeblich die<br />
<strong>Menschenrechte</strong> zu verteidigen sind, müssen wir nach <strong>heute</strong> vorherrschender neoliberaler<br />
Ideologie selbstverständlich zum militärischen Eingreifen, zum Angriffskrieg<br />
bereit sein. So führen wir hochmoralisch die <strong>Menschenrechte</strong> ins Feld, um die Souveränität<br />
anderer Staaten aufzusprengen und die Friedensordnung der UN-Charta<br />
und <strong>des</strong> Völkerrechts zu unterlaufen.<br />
Krieg für <strong>Menschenrechte</strong> – den in Deutschland die Springer-Presse und sie nicht allein<br />
und in England und den USA vor allem die Murdoch-Presse propagieren –, Krieg<br />
für <strong>Menschenrechte</strong> ist ein Unding. Frieden ist ein Menschenrecht. Und der gebotene<br />
Weg zum Frieden ist das Völkerrecht, das den Angriffskrieg verbietet. Das deutsche<br />
Grundgesetz ächtet jede Vorbereitungshandlung für den Angriffskrieg – eine leider<br />
wenig bekannte Bestimmung unserer Verfassung. Völkerrechtlich ist militärische und<br />
auch nichtmilitärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten<br />
verboten. Konflikte sollen auf dem Verhandlungswege gelöst werden. So gebietet es<br />
zum Beispiel das von allen europäischen Staaten, den USA und Kanada unterschriebene<br />
Gründungsdokument der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
in Europa (OSZE) von 1975. Aber die stärkste Militärmacht der Welt entzieht sich<br />
in vielen Fällen den völkerrechtlichen Verpflichtungen und lehnt Verhandlungen ab,<br />
zum Beispiel 2001, nach dem 11. September, als die USA die Verhandlungsangebote<br />
der in Afghanistan regierenden Taliban brüsk ablehnte und statt<strong>des</strong>sen den Angriffskrieg<br />
begann.<br />
11
Als völkerrechtliche Errungenschaft gibt es auch Rechtswege, um den <strong>Menschenrechte</strong>n<br />
Geltung zu verschaffen; doch hier blockieren wiederum die USA. Die Geschichte<br />
<strong>des</strong> Internationalen Strafgerichtshofs und der auf Initiative von NATO-<br />
Ländern eingerichteten Sondertribunale ist peinlich. So peinlich wie jetzt das Streben<br />
der USA nach einer Vereinbarung mit Afghanistan: Das arme Land, eines der ärmsten<br />
der Welt, soll darin zusichern, dass von US-Soldaten begangene Kriegsverbrechen<br />
straffrei bleiben.<br />
Schauen wir uns an, was die Menschenrechtskriege, die sogenannten humanitären<br />
Kampfeinsätze der vergangen Jahre bewirkt haben. Der Irak, zuvor eines der entwickeltsten<br />
unter den Entwicklungsländern, wurde in schreien<strong>des</strong>, nein, viel schlimmer:<br />
in totenstilles Elend gebombt. Hunderttausende Menschen verloren ihr Leben. Niemand<br />
kennt die Zahl der Kriegsversehrten, der zum Teil schrecklich Verkrüppelten<br />
und Verunstalteten – sicher liegt sie viel höher als die Zahl der Getöteten. Krieg, jeder<br />
Krieg macht unzählige Menschen zu Behinderten. Der Krieg gegen den Irak<br />
machte auch unzählige Menschen, darunter besonders viele Menschen mit Behinderungen,<br />
arbeitslos und viele obdachlos. Dieser Krieg war ein Krieg gegen die <strong>Menschenrechte</strong><br />
von Millionen Irakern. Es wird Generationen erfordern, die Folgen zu<br />
bewältigen.<br />
Und was wurde aus Afghanistan, wo deutsche Soldaten unter anderem dabei helfen<br />
sollten, unterdrückte Frauen zu befreien und die Heroin-Produktion zu unterbinden<br />
und den Terror der Taliban zu brechen? Nach zwölf Jahren Krieg sind die Rechte der<br />
Frauen nicht gestärkt, sondern geschwächt; der Mohn blüht und gedeiht zu Heroin in<br />
größeren Mengen als je zuvor; und der von der NATO eingesetzte Präsident Karsai<br />
sucht jetzt Verhandlungen mit den Taliban.<br />
Die Propagandisten der Menschenrechtskriege redeten uns ein, die Serben, die Iraner,<br />
die Syrer bereiteten Völkermord vor: mit Massenvertreibungen, mit Urananreicherung,<br />
mit Chemiewaffen. Inzwischen wissen wir, wer Chemiewaffen nach Syrien<br />
geliefert hat: deutsche Firmen. In Deutschland sind schon seit langem Uran-<br />
Anreicherungsanlagen in Betrieb. Die Behauptungen, der Irak verfüge über Massenvernichtungsmittel,<br />
erwiesen sich als frei erfunden; über Atombomben verfügen<br />
hauptsächlich die USA; und solche Waffen sind auch auf deutschem Boden stationiert.<br />
Und in Jugoslawien, wo nach bald 15 Jahren immer noch weit über 1000 Bun<strong>des</strong>wehrsoldaten<br />
stationiert sind, hat inzwischen zwar tatsächlich eine „ethnische<br />
Säuberung“ stattgefunden, aber andersherum als damals, 1999, angekündigt: Viele<br />
Serben sind vertrieben, die Roma fast alle und die Juden.<br />
Welche Menschenrechtsheuchelei in all den Kriegen, an denen übrigens die deutsche<br />
Waffenindustrie gut verdient! Deutschland hat sich ja zum drittgrößten Waffenexporteur<br />
der Welt entwickelt. Und jetzt muss Deutschland unbedingt auch Kampfdrohnen<br />
produzieren. Wir lassen schon seit Jahren zu, dass US-Geheimdienstler<br />
und -Soldaten von deutschem Boden aus Drohnen starten, um in weit entfernten<br />
Ländern Wohnhäuser und die darin schlafenden Familien zu vernichten: politisch unerwünschte<br />
Menschen mitsamt ihren Angehörigen zu ermorden. Menschen, die vor<br />
keinem Gericht angeklagt waren, in keinem Prozess sich verteidigen konnten. Das ist<br />
unvereinbar mit den <strong>Menschenrechte</strong>n und dem Völkerrecht. Und so was nennt sich<br />
dann „humanitäre Einsätze“.<br />
12
Die Sprache regierender Politiker und tonangebender Medien verschleiert diese<br />
Tendenzen. Es ist nicht leicht, hinter den Nebelschwaden der Propaganda die Realität<br />
zu erkennen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um einige der sprachlichen Tricks zu<br />
durchschauen. Wenn man aber erst einmal dahintergekommen ist, dass die eine Seite<br />
von Terroristen spricht und die andere von Freiheitskämpfern, wenn von denselben<br />
Menschen die Rede ist, dann findet man sich schon leichter durch.<br />
Was denken wir, wenn uns gesagt wird: „Wir müssen normal werden, wir müssen<br />
endlich erwachsen werden, wir müssen wieder Verantwortung übernehmen?“ So war<br />
es vor allem in den 1990er Jahren immer wieder zu hören und zu lesen. Gemeint<br />
war: Die Deutschen sollen wieder zum Kriegführen bereit werden.<br />
Oder in den letzen Jahren bei jeder Gelegenheit: „Wir müssen wettbewerbsfähig<br />
werden“ – nachdem das vereinte Deutschland, das weitaus größte, bevölkerungsreichste,<br />
mächtigste Land in der EU, alle anderen EU-Länder längst nieder konkurriert<br />
hat. Wettbewerbsfähig werden – damit ist gemeint: Die Produktionskosten sollen<br />
weiter sinken. Deshalb: weniger Lohn, geringere Sozialleistungen, noch mehr Export.<br />
Und natürlich mehr Profit. Verschärfte Ausbeutung, um immer noch billiger produzieren,<br />
ausländische Produzenten verdrängen zu können.<br />
Ich möchte Ihnen einige Sätze aus dem am 29. November verkündeten Lehrschreiben<br />
„Evangelii gaudium“ vorlesen, in dem Papst Franziskus mit seiner Autorität vieles<br />
gesagt hat, was ich als Nichtkatholik ganz ähnlich denke und nicht besser sagen<br />
könnte. Ich zitiere:<br />
„Ebenso wie das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ eine deutliche Grenze setzt, um den<br />
Wert <strong>des</strong> menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir <strong>heute</strong> ein ‚Nein zu einer Wirtschaft<br />
der Ausschließung und der Disparität der Einkommen‘ sagen. Diese Wirtschaft<br />
tötet. (...) Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach<br />
dem Gesetz <strong>des</strong> Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht.<br />
Infolge<strong>des</strong>sen sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an<br />
den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an<br />
sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen<br />
kann. Wir haben die ‚Wegwerfkultur‘ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht<br />
nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern<br />
um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft,<br />
in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich<br />
nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man<br />
steht draußen.“<br />
Darf ich Ihnen noch ein paar weitere Sätze <strong>des</strong> Papstes vorlesen? Ich zitiere: „ Die<br />
Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Müll’‚ Abfall‘. (...) Einer der<br />
Gründe dafür liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich<br />
akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften.<br />
Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung<br />
eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung <strong>des</strong> Vorrangs <strong>des</strong> Menschen!<br />
Wir haben neue Götzen geschaffen. (...) Während die Einkommen einiger weniger<br />
exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser<br />
glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die<br />
die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. (...) Die<br />
Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System (...) ist alles<br />
13
Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen <strong>des</strong> vergötterten Marktes,<br />
die zur absoluten Regel werden. (...) Das Wort ‚Solidarität‘ hat sich ein wenig<br />
abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als<br />
einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen,<br />
die in den Begriffen der Gemeinschaft und <strong>des</strong> Vorrangs <strong>des</strong> Lebens aller gegenüber<br />
der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt. (...) Wir sprechen nicht<br />
nur davon, allen die Nahrung oder eine ‚menschenwürdige Versorgung‘ zu sichern,<br />
sondern, dass sie einen ‚Wohlstand in seinen vielfältigen Aspekten‘ erreichen. Das<br />
schließt die Erziehung, den Zugang zum Gesundheitswesen und besonders die Arbeit<br />
ein, denn in der freien, mitverantwortlichen und solidarischen Arbeit drückt der<br />
Mensch die Würde seines Lebens aus und steigert sie. (...) Solange die Probleme<br />
der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie<br />
der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen<br />
der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme<br />
der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden.“<br />
Ich habe mir herausgenommen, den Papst so ausführlich zu zitieren, weil ich vermute,<br />
dass Sie oder die meisten von Ihnen diese Äußerungen noch nicht kannten. Die<br />
Medien haben wenig Notiz davon genommen. Freundlichere Aufmerksamkeit hätte<br />
Franziskus bei den Herren der öffentlichen Meinung vielleicht gefunden, wenn er wie<br />
manche seiner Vorgänger einem Kreuzzug gegen den Islam seinen Segen gegeben<br />
hätte, vielleicht gegen Syrien oder Iran, wo viel Öl lockt. Ich möchte aktuell anregen,<br />
den Koalitionsvertrag an den Einsichten und Mahnungen dieses Papstes zu messen.<br />
Ich verstehe das Lehrschreiben als eine scharfe Absage an die Ideologie <strong>des</strong> Neoliberalismus.<br />
Diese Ideologie, die seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in<br />
Westeuropa und den USA weite Verbreitung gefunden und die ganze Gesellschaft<br />
tief durchdrungen hat, diese Ideologie, die das Recht <strong>des</strong> Stärkeren behauptet und<br />
die völlige Freiheit der Märkte verlangt, damit der Stärkere sich durchsetzen kann,<br />
verträgt sich schwerlich, nein: überhaupt nicht mit den <strong>Menschenrechte</strong>n, die für alle<br />
Menschen gleichermaßen gelten. Die Neoliberalen können den Gedanken, dass alle<br />
Menschen gleiche Rechte haben, nicht ertragen. Neoliberalismus ist eine Herrschaftsideologie,<br />
wohingegen sich der Kampf um <strong>Menschenrechte</strong> immer gegen bestehende<br />
Herrschaft richtet.<br />
Der Neoliberalismus tendiert zur Plutokratie und Aristokratie, während der Kampf um<br />
<strong>Menschenrechte</strong> immer auf die Demokratie ausgerichtet ist. Ausgehend von den<br />
Lehren <strong>des</strong> Österreichers Friedrich von Hayek, <strong>des</strong> Begründers dieser Schule, predigen<br />
<strong>heute</strong> viele Professoren und die Chefs vieler Wirtschaftsredaktionen und all die<br />
vielen von Unternehmerverbänden gestifteten Institute immer mehr „Eigenverantwortung“<br />
<strong>des</strong> Einzelnen und rechtfertigen damit den Abbau von Sozialstaatlichkeit, und<br />
viele Politiker reden schon genau wie sie.<br />
Mir ist aufgefallen, dass in politischen Debatten ein Wort immer wiederkehrt, das ich<br />
früher selten wahrgenommen hatte: die Werte (immer in der Mehrzahl). Beim Nachdenken<br />
kam ich darauf, dass dieses Wort, von konservativer Seite kommend, mehr<br />
und mehr an die Stelle der Rechte, der <strong>Menschenrechte</strong> getreten ist. Ich beobachte<br />
das mit wachsender Sorge. Sonntagsredner beschwören feierlich „unsere Werte“, die<br />
wir zu bewahren verpflichtet seien. Mein Verdacht wächst, dass damit im Kern<br />
schnöde Macht- und Besitzverhältnisse gemeint sind, an die wir nicht rühren sollen.<br />
Sicher meint es nicht jeder so, viele plappern einfach nach, was ihnen vorgeplappert<br />
14
wird, gerade wenn es so schön feierlich klingt. Menschenrechtler dagegen, die nun<br />
offenbar auch den Papst zu den Ihren zählen dürfen, setzen sich mit bestehenden<br />
Macht- und Besitzverhältnissen auseinander, um <strong>Menschenrechte</strong> durchzusetzen.<br />
Die Rechte, die wir geltend machen, gehören allen Menschen. Aber die Werte, „unsere<br />
Werte“, die nirgendwo definiert sind? Was gehört uns davon, und was gehört<br />
anderen Menschen, anderen Völkern, die nicht zur „Wertegemeinschaft“ gehören, als<br />
die sich die NATO ausgibt? „Unsere Werte“ erweisen sich als ein großer Schaum,<br />
der geschlagen wird, damit wir nicht durchblicken, während wir selber abgewertet<br />
werden. In den 1990er Jahren bis hin zur „Agenda 2010“ verkündeten modebewusste<br />
Philosophen und Feuilletonisten den „Wertewandel“ – erinnern Sie sich? Derweil<br />
stiegen die Börsenwerte, und auf dem sogenannten Arbeitsmarkt mussten immer<br />
mehr Menschen erfahren, dass sie immer weniger wert waren.<br />
Mir kam meine Tante Erna in den Sinn, die durch Epilepsie schwer behindert war.<br />
Für die Nazis war sie lebensunwert, nicht wert, leben zu dürfen. Solchen Menschen<br />
wurde das primäre Menschenrecht, das Recht zu leben, aberkannt. Der damalige<br />
Papst protestierte nicht.<br />
In den 1990er Jahren veranstaltete ich gemeinsam mit Freunden in der hannoverschen<br />
Volkshochschule eine Vortrags- und Diskussionsreihe „Vom Wert <strong>des</strong> Menschen“.<br />
Einer der Referenten, Oskar Negt, sagte damals – ganz in meinem Sinne –.<br />
er spreche nicht gern vom Wert <strong>des</strong> Menschen, sondern lieber von der Menschenwürde.<br />
Davon spricht auch das Grundgesetz der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland gleich<br />
im ersten Satz: „Die Würde <strong>des</strong> Menschen ist unantastbar.“ Auch das klingt aber vielleicht<br />
ein bisschen zu feierlich, abgehoben von der Realität, zumal wir doch alle täglich<br />
erleben oder erfahren, dass die Menschenwürde angetastet, zusammengeschlagen,<br />
brutal zerbombt wird. Darum sollten wir zwei Hexameter-Zeilen von Friedrich<br />
Schiller im Kopf behalten: „Menschenwürde. Nicht mehr davon, ich bitt euch! Zu essen<br />
gebt ihm, zu wohnen; habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“<br />
Ich erwähnte unser Grundgesetz von 1948/49. Darin sollten die <strong>Menschenrechte</strong> –<br />
soweit sie damals schon formuliert waren – als Grundrechte festgeklopft werden. In<br />
Artikel 19 heißt es ausdrücklich: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt<br />
angetastet werden.“ Allerdings fanden die ökonomischen, sozialen und<br />
kulturellen <strong>Menschenrechte</strong> im Grundgesetz kaum Beachtung – ganz anders als zuvor<br />
in den Verfassungen der Bun<strong>des</strong>länder, die ich dringend zur Lektüre empfehle,<br />
zum Beispiel die bayerische und die hessische, die beide durch Volksentscheid mit<br />
großer Mehrheit demokratisch beschlossen worden waren, oder die nordrheinwestfälische.<br />
Großartig, wie konkret dort die Lehren aus der jüngsten deutschen<br />
Vergangenheit gezogen worden waren, darunter das strikte Verbot wirtschaftlicher<br />
Monopole. Auch das Recht auf Arbeit steht da noch auf dem Papier, wird aber in politischen<br />
und juristischen Auseinandersetzungen meist lässig abgetan, als wäre es<br />
von der Zeit überholt. Niedersachsen schuf sich in den 1990er Jahren eine neue Verfassung,<br />
in der <strong>Menschenrechte</strong> nicht mehr vorkommen, weil, so die Begründung,<br />
das Grundgesetz sie doch verbürge.<br />
In den 65 Jahren seines Bestehens ist das Grundgesetz rund 65 mal geändert worden<br />
(ich habe zuletzt nicht mehr mitgezählt). In der Regel zu Lasten der Grundrechte,<br />
die im Zuge der Remilitarisierung, der Notstands- und der Antiterrorgesetze zum<br />
Teil drastisch eingeschränkt wurden.<br />
15
Sehen wir uns einmal unter den Grundrechten um. Was ist aus dem Willen der Verfasser<br />
<strong>des</strong> Grundgesetzes geworden?<br />
Artikel 3, 3 sagt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Aber je<strong>des</strong> Jahr am 8.<br />
März, dem Internationalen Frauentag, beklagen Frauenverbände und Gewerkschaften:<br />
Frauen verdienen im Durchschnitt 30 Prozent weniger als Männer.<br />
Artikel 4: „Die Freiheit <strong>des</strong> Glaubens, <strong>des</strong> Gewissens und die Freiheit <strong>des</strong> religiösen<br />
und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Ja, die evangelische und<br />
die katholische Kirche werden vom Staat sogar großzügig unterstützt, auch die jüdischen<br />
Gemeinden. Ganz anders ergeht es den Muslimen. Katholische Nonnen dürfen<br />
ihr Haupthaar verhüllen, auch wenn sie Schulunterricht geben, muslimische Kindergärtnerinnen<br />
durften es in vielen Fällen nicht. Und der Freidenkerverband erfreut<br />
sich nicht solcher Privilegien wie die Kirchen, die zum Beispiel gesetzlich mit Sitzen<br />
in den Rundfunkräten gesegnet sind.<br />
Artikel 5: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk<br />
und Fernsehen werden gewährleistet.“ Inzwischen ist dieses Grundrecht weitgehend<br />
von einigen Großkonzernen monopolisiert. Denken Sie, weil es naheliegt, an Madsack.<br />
Dieser Konzern hat nicht nur in Hannover und Umgebung das Monopol, sondern<br />
inzwischen auch in Leipzig, in Marburg, in Lübeck, in Rostock und so weiter und<br />
hat großen Einfluss auf Rundfunk und Fernsehen gewonnen. Ein großes Problem<br />
besteht darin, dass die Medienkonsumenten nicht wissen und nicht einmal ahnen, ob<br />
sie <strong>des</strong>informiert werden. Die zehn Konzerne, in deren Händen sich der weitaus<br />
größte Teil der Medien befindet, unterscheiden sich inhaltlich wenig und sind miteinander<br />
vielfältig verbunden, und es wäre naiv, von ihnen zu erwarten, dass sie diese<br />
Besitz- und Machtverhältnisse in den Medien jemals selber problematisieren würden.<br />
Größter deutscher Medienkonzern ist nach wie vor Springer mit „Bild“, „Welt“ und so<br />
weiter. Er hat zwar kürzlich einige Blätter oder Beteiligungen verkauft, auch an Madsack,<br />
hat dafür aber sehr lukrative Internet-Portale erworben und in anderen Ländern,<br />
zum Beispiel Polen, kräftig expandiert. Frage: Wo bleibt im Schatten der Medienmonopole<br />
die Volkssouveränität? Ich halte diesen Zustand schlicht für verfassungswidrig.<br />
(Es versteht sich, dass das, was ich hier über Madsack gesagt habe,<br />
nicht gegen die Journalisten bei der HAZ oder der NP gerichtet ist, die ihre „öffentliche<br />
Aufgabe, von der das Presserecht spricht, ernst nehmen. Im Gegenteil: Sie verdienen<br />
Respekt und Unterstützung, wenn sie sich jetzt zum Beispiel gegen die Zusammenlegung<br />
von Redaktionen, für die Bewahrung eines Restbestands an Vielfalt,<br />
gegen die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen engagieren.)<br />
Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis<br />
friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Aber es kann passieren, dass sie von der<br />
Polizei eingekesselt und viele Stunden festgehalten werden. Richter haben das Einkesseln<br />
verboten, aber es geschieht wieder und wieder.<br />
Artikel 10: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.“<br />
Ein Witz – vor allem seit uns der Bun<strong>des</strong>tag auch noch das „Recht auf informationelle<br />
Selbstbestimmung“ zuerkannt hat. Einige wenige Bürgerrechtler wie<br />
der Freidemokrat Burkhard Hirsch und auch ich haben schon vor vielen Jahren darauf<br />
hingewiesen, dass Deutschland sich zum Weltmeister im Abhören entwickelt<br />
hatte. Und ich hatte auch auf das Treiben der US-amerikanischen Geheimdienste<br />
CIA und ANS hingewiesen, vor allem in dem schon vor 30 Jahren vorgelegten Buch<br />
16
„Unheimlich zu Diensten – Medienmissbrauch durch Geheimdienste“. Zum Glück haben<br />
Edward Snowden und andere jetzt mehr Publizität gefunden. Aber es ist eine<br />
Schande, dass solche Aufklärer wie Bradley-Shirley Manning zu jahrzehntelangen<br />
Freiheitsstrafen verurteilt werden oder sich fern ihrer Heimat verstecken müssen.<br />
Warum haben regierende deutsche Politiker nicht das Selbstbewusstsein, Snowden<br />
Asyl anzubieten?<br />
Artikel 16: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Nein, ein Genussmittel ist es<br />
nicht. Seit der Änderung, der Aushöhlung <strong>des</strong> Asylrechts in den 1990er Jahren gehört<br />
viel Glück und Geld dazu, Deutschland zu erreichen, um hier einen Asylantrag<br />
stellen zu können. Und ich möchte Ihnen allen empfehlen, mal einen Abschiebeknast<br />
zu besuchen. Der Niedersächsische Lan<strong>des</strong>flüchtlingsrat ist Ihnen sicher gern behilflich.<br />
Es ist ein Schande, wie da mit dem Vermächtnis der verfolgten Antifaschisten<br />
umgegangen wird, die im Ausland Zuflucht suchen mussten.<br />
Papst Franziskus – keine Sorge: Ich will hier keine Werbesendung für die Kirche veranstalten,<br />
aber diesem klugen und humanistisch denkenden Mann sollte man zuhören;<br />
vielleicht wird man ihn auch eines Tages schützen müssen –Papst Franziskus<br />
unternahm seine erste Reise nach Lampedusa zu den Flüchtlingen aus Afrika. Vielleicht<br />
werden Sie sagen: Das können doch nicht alles politisch Verfolgte sein, die da<br />
nach Europa streben. Vorsicht! Der Papst sprach in diesem und in anderen Zusammenhängen,<br />
auch in seinem Lehrschreiben, von Strukturen, die geändert werden<br />
müssten. Und darauf möchte ich zum Ende meiner Redezeit noch zu sprechen<br />
kommen, obwohl ich bei der Bestandsaufnahme der Grund- und <strong>Menschenrechte</strong><br />
noch längst nicht alle erwähnt habe und obwohl unter der Großen Koalition noch weitere<br />
Eingriffe drohen, zum Beispiel ins Streikrecht, wie dem Koalitionsvertrag zu entnehmen<br />
ist.<br />
Ja, wir sollten uns mit Strukturen beschäftigen, mit Macht- und Besitzverhältnissen,<br />
mit dem Aufkauf von Ackerland in Afrika durch große Konzerne, mit den schwimmenden<br />
Fischfabriken aus Europa, die die afrikanischen Küsten leerfischen, mit der<br />
Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, mit dem Export von Giftmüll in die sogenannten<br />
unterentwickelten Länder, mit der Tatsache, dass Deutschland sich verpflichtet<br />
hat, 0.7 Prozent <strong>des</strong> Sozialprodukts als Entwicklungshilfe zu zahlen, aber in<br />
all den Jahren nicht die Hälfte dieser 0,7 Prozent aufgebracht hat. Und in diesen Zusammenhang<br />
gehören auch die Kriege, für die Deutschland reichlich Waffen liefert.<br />
Sind das keine politischen Gründe? Geht uns das nichts an? Können wir es still ertragen,<br />
wenn der bisherige Vorsitzende <strong>des</strong> Menschenrechtsausschusses im Bun<strong>des</strong>tag<br />
mitteilt, es seien schon 25.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken? Hören wir<br />
lieber nicht genau hin?<br />
Tagtäglich erfahren wird von Verstößen gegen die Grund- und <strong>Menschenrechte</strong>. Diese<br />
vielen Nachrichten können uns überfordern, nicht wahr? Guantanamo, das immer<br />
noch nicht aufgelöst ist, Folter, Fukushima und andere Umweltfrevel, verdoppelter<br />
statt halbierter Ausstoß von CO2 mit der Folge schnelleren Klimawandels, Jugendarbeitslosigkeit<br />
(in Griechenland inzwischen mehr als 65 Prozent), Verdrängung von<br />
Steuerfahndern in die Psychiatrie, nachdem sie großen Steuersündern offenbar zu<br />
nahe gekommen sind, Kommerzialisierung <strong>des</strong> Gesundheitswesens, Umverteilung<br />
<strong>des</strong> gesellschaftlich hergestellten Reichtums von unten nach oben, Vergrößerung der<br />
Kluft zwischen Arm und Reich. Als Einzelne fühlen wir uns gegenüber all diesen<br />
Missständen machtlos. Ich schlage <strong>des</strong>wegen vor, dass wir Menschen mit Behinde-<br />
17
ungen zwar weiterhin besonders darauf achten, dass wir nicht ausgegrenzt werden,<br />
also dass wir Karl Finkes vielfältige Arbeit mit eigenen Ideen weiterführen, aber dass<br />
wir uns darüber hinaus mit anderen menschenrechtlich Engagierten auf zwei Aufgaben<br />
konzentrieren:<br />
- Demokratisierung der Medien<br />
- Vollbeschäftigung.<br />
In der Vermachtung der Medien und in der (vielfach verschleierten) Massenarbeitslosigkeit<br />
sehe ich die beiden Schlüsselfragen unserer Zeit. Wir brauchen Medien, die<br />
zuverlässig informieren, damit wir uns wirksam am politisch-gesellschaftlichen Leben<br />
beteiligen können und mit unseren Anliegen selber zu Wort kommen. Sonst kann<br />
Demokratie nicht gedeihen. Demokratie kann aber auch nicht gedeihen, wenn Millionen<br />
Menschen ihres Rechts auf Arbeit beraubt sind. Arbeitslosigkeit, vor allem Langzeitarbeitslosigkeit<br />
kann einschüchtern, demoralisieren. Die Produktivität hat sich<br />
durch technischen Fortschritt in solchem Maße erhöht, dass die Arbeitszeit auf 30<br />
Stunden in der Woche, ich meine sogar 28 Stunden verkürzt werden muss, also vier<br />
Tage mit sieben Stunden, selbstverständlich mit vollem Lohnausgleich. Wissenschaftler,<br />
mit denen ich zusammenarbeite, darunter Professor Heinz-Josef Bontrup<br />
hier in Hannover, haben längst errechnet, dass dieses Maß an Erwerbstätigkeit ausreichen<br />
würde. Es würde mich freuen, wenn die eine oder der andere Anwesende bei<br />
solchen Initiativen mitmachen würde. Ich bin sicher: Wenn wir uns mit vielen anderen<br />
vorrangig auf den Kampf gegen monopolisierte Massenmedien und gegen die Massenarbeitslosigkeit<br />
einlassen und damit Erfolg haben, werden wir oder unsere Kinder<br />
es wesentlich leichter haben, auch die anderen <strong>Menschenrechte</strong> vom Papier in die<br />
gesellschaftliche Wirklichkeit zu übertragen.<br />
Eckart Spoo<br />
18
Machtmissbrauch verhindern – Mitentscheidung stärken<br />
Als ich vor gut 20 Jahren, am<br />
10.12.1993, die Carl-von-<br />
Ossietzky-Medaille von der<br />
Internationalen Liga für <strong>Menschenrechte</strong><br />
erhielt, empfand<br />
ich dies als eine große Ehre.<br />
Die Auszeichnung war zugleich<br />
Verpflichtung und Ansporn,<br />
mich weiter für die<br />
Einhaltung der <strong>Menschenrechte</strong>,<br />
insbesondere für die<br />
Menschen mit Behinderungen,<br />
einzusetzen. Die Medaille<br />
habe ich stellvertretend<br />
für alle politisch aktiven<br />
Menschen mit Behinderungen entgegengenommen, die „für die Realisierung der<br />
Rechte von Behinderten und deren Verankerung im Grundgesetz“ eintreten, so der<br />
Wortlaut der Verleihungsurkunde.<br />
Anfang der 90er Jahre ging es uns, neben dem Abbau struktureller Ausgrenzung in<br />
den Bereichen Arbeit, Bildung und Barrierefreiheit, um die Verhinderung der verstärkt<br />
festzustellenden verbalen und körperlichen Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen.<br />
Heute ist die Fragestellung nach der gesellschaftlichen Macht dazu gekommen.<br />
Einiges ist seit dem erreicht worden. Mit dem neuen Verständnis von Behinderung im<br />
Rahmen der Behindertenpolitik der vergangenen Jahre wurden die bisher üblichen<br />
Begriffe wie Eingliederung und Fürsorge durch Teilhabe und Selbstbestimmung ersetzt.<br />
Dieses ist schon ein Teilerfolg, weil darin auch unser Selbstbewusstsein im<br />
Verhältnis zu nichtbehinderten Menschen sichtbar wird.<br />
Die zunehmende Gewalt in den 90er Jahren gegenüber Menschen mit Behinderungen<br />
führte zu einer breiten Diskussion in der Öffentlichkeit. Erstmals gelang es der<br />
Behindertenbewegung, gemeinsam mit den Behindertenverbänden durch koordinierte<br />
Kampagnen, so auch die, die ich als Lan<strong>des</strong>beauftragter für Menschen mit Behinderungen<br />
initiierte, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Es gelang bei der anstehenden<br />
Reform <strong>des</strong> Grundgesetzes, diesen Personenkreis einzubeziehen. In der<br />
Folge wurde 1994 der Art. 3 um die Bestimmung „Niemand darf wegen seiner Behinderung<br />
benachteiligt werden“ ergänzt.<br />
Aber auch danach hörten die Menschen mit Behinderungen nicht auf, Einfluss auf<br />
die Politik und die Gesetzgebung zu nehmen. So wurde der Paradigmenwechsel<br />
vom Fürsorgeprinzip hin zu Menschen mit rechtlichen Ansprüchen bei der Reform<br />
<strong>des</strong> Sozialgesetzbuchs IX (Teilhabe und Rehabilitation) fortgesetzt. Es folgten Behindertengleichstellungsgesetze<br />
auf Lan<strong>des</strong>- und Bun<strong>des</strong>ebene. Dem Bun<strong>des</strong>gesetz<br />
lag ein Gesetzentwurf <strong>des</strong> Forums behinderter Juristinnen und Juristen zugrunde.<br />
Auch das 2006 verabschiedete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz setzte den<br />
Paradigmenwechsel fort. Es schloss die bis dahin vorhandene Lücke im Zivil- und<br />
Arbeitsrecht.<br />
19
Ohne Beteiligung und Beharrlichkeit von Interessenverbänden und der Behindertenbewegung,<br />
ich nenne hier namentlich die politisch aktiven Menschen mit Behinderungen<br />
der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, wäre das Gesetzgebungsverfahren<br />
sicher nicht so zügig durchgeführt worden.<br />
Vieles musste hart erkämpft werden, um Menschen mit Behinderungen die Teilhabe<br />
am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. So wurde beispielsweise in meiner<br />
Heimat Niedersachsen als letztem Bun<strong>des</strong>land ein Niedersächsisches Gesetz zur<br />
Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen beschlossen. Nach langwierigen<br />
Auseinandersetzungen, nach Intervention sowohl von Behindertenverbänden<br />
und von mir und nach Gründung eines breiten „Bündnisses für ein Niedersächsisches<br />
Gleichstellungsgesetz“ wurde 2007 dann ein mit den Menschen mit Behinderungen<br />
abgestimmtes Gleichstellungsgesetz verabschiedet.<br />
Auf internationaler und nationaler Ebene gilt es, die seit 2009 auch für Deutschland<br />
verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umzusetzen. Sie stellt<br />
klar, auch für Menschen mit Behinderungen gelten selbstverständlich alle <strong>Menschenrechte</strong>.<br />
Zentrale Ziele sind Teilhabe, Selbstbestimmung, uneingeschränkte Gleichstellung<br />
und Barrierefreiheit.<br />
Unter meiner Leitung tagt in Niedersachsen seit 2013 eine Fachkommission Inklusion<br />
und ein Interministerieller Arbeitskreis (IMAK). Die Fachkommission wird für die<br />
Lan<strong>des</strong>regierung eine Empfehlung zu einem Niedersächsischen Aktionsplan zur<br />
Umsetzung der UN-BRK erarbeiten. Der IMAK hat die Aufgabe, alle Niedersächsischen<br />
Gesetze darauf hin zu prüfen, ob sie mit den Zielen der UN-BRK übereinstimmen.<br />
Auf der Grundlage der UN-BRK werden konkrete Schritte zur Umsetzung gelebter<br />
Inklusion ausgearbeitet, damit Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich<br />
in der Mitte der Gesellschaft leben können.<br />
Es bleibt noch viel zu tun, um diese Ziele auf allen Ebenen zu ereichen! Dazu gehört<br />
es, nicht nachzulassen in dem Bemühen, echte Teilhabe statt Teilnahme in allen Bereichen<br />
durchzusetzen. Teilnahme bedeutet in der Konsequenz lediglich Duldung.<br />
Sie schließt aus, dass sich Menschen auf Augenhöhe begegnen können.<br />
Im schulischen Bereich müssen die Bemühungen zum Ausbau <strong>des</strong> gemeinsamen inklusiven<br />
Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern deutlich verstärkt<br />
werden. Ich will, dass Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen gebracht<br />
werden. Sicherlich braucht es dafür entsprechende materielle Mittel, aber nicht nur.<br />
Wir brauchen eine mentale Barrierefreiheit und zwar in den Köpfen aller Menschen.<br />
Nur so kann Inklusion gelingen. Nur so bleibt niemand außen vor.<br />
Die Benachteiligungen im Arbeitsleben und im Bereich Bildung liegen auf der Hand.<br />
Menschen mit und ohne Behinderung wachsen in getrennten Lebenswelten auf. Das<br />
fördert Berührungsängste und Vorbehalte in Schule und Arbeitswelt. Es müssen<br />
strukturelle und bürokratische Barrieren abgebaut werden, um Menschen mit Behinderungen<br />
den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Nach dem Besuch<br />
der Sonder-, jetzt Förderschulen, führt der Weg noch zu oft in die Werkstätten<br />
für Menschen mit Behinderungen statt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Menschen<br />
mit Behinderungen wollen nicht länger Sonderwelten, die sie ausgrenzen.<br />
20
Eine zentrale Forderung neben der Teilhabe ist die Mitgestaltung bei den Belangen,<br />
die Menschen mit Behinderungen betreffen. Die UN-BRK macht dazu konkrete Vorgaben,<br />
wenn sie von Partizipation, also von Mitentscheidung und Mitbestimmung, im<br />
politischen Raum spricht. Sie fordert die direkte Beteiligung bei allen Initiativen, Projekten<br />
und politischen Vorhaben durch die Stärkung <strong>des</strong> aktiven und passiven Wahlrechts.<br />
Um diesen wichtigen politischen Aspekt der Mitgestaltung deutlich zu machen, habe<br />
ich öffentlich eine Quote, ähnlich wie bei der Frauenquote und in Teilen auch bei<br />
Migranten, für Menschen mit Behinderungen gefordert. Konkret bedeutet das für<br />
mich, für jeden zehnten Listenplatz in den Parlamenten einen Menschen mit Behinderungen<br />
vorzusehen. Denn auf Bun<strong>des</strong>- und Europa-Ebene ist für Deutschland lediglich<br />
ein Abgeordneter mit sichtbaren Behinderungen bekannt.<br />
Die Parteien, die bereits bei der Nominierung bestimmte Quoten berücksichtigen,<br />
beispielsweise nach Herkunft, Geschlecht, Region, sollten sich darüber klar sein,<br />
dass sie auch entsprechende Pflichten gegenüber Menschen mit Behinderungen haben<br />
und dass in Zeiten der UN-BRK die sichtbare Repräsentanz von Menschen mit<br />
Behinderungen zum heutigen Menschenbild gehört.<br />
Ich werde mich weiter konsequent für eine teilhabeorientierte Zukunftsgestaltung für<br />
Menschen mit Behinderungen einsetzen – auch bei gegenläufigen Strömungen.<br />
Das gilt neben Bildung und Schule selbstverständlich auch für Kultur, Freizeit, Sport<br />
und politische Teilhabe - ich nannte schon die Quote - und die Realisierung eines inklusiven<br />
Arbeitsmarktes. Gerade hier muss diesen Menschen nicht nur ein beruflicher<br />
Einstieg, sondern auch ein beruflicher Aufstieg ermöglicht werden. Warum sollte<br />
es nicht Menschen mit Behinderungen in beruflichen Leitungsfunktionen geben? Warum<br />
gibt es noch viel zu selten behinderte Abteilungsleiter, Staatssekretäre oder Minister<br />
oder eine entsprechende Zahl von Abgeordneten? Nach meiner Erfahrung<br />
geht es da um Macht über Menschen und an dieser erworbenen Macht wollen die,<br />
die diese Macht besitzen, möglichst festhalten.<br />
Was wir brauchen, ist eine kooperative Partnerschaft. Wir müssen gemeinsam weiterführende<br />
Ziele definieren und dürfen uns nicht mit barrierefreien Bahnhöfen und<br />
Universitäten zufrieden geben.<br />
Mein Ziel ist ein Zusammenleben im Alltag, in der Freizeit, im Sport, im Beruf – kurz,<br />
in allen Bereichen <strong>des</strong> menschlichen Miteinanders – ohne Ausgrenzung bei gegenseitiger<br />
Toleranz und Achtung. Ich bin zuversichtlich, dass es uns eines Tages auch<br />
gelingt; erst wenn wir nicht mehr über Inklusion reden (müssen), können wir von einer<br />
gelungenen Inklusion reden.<br />
Karl Finke<br />
21
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG),<br />
ein Meilenstein für eine Behindertenpolitik von morgen<br />
Ich freue mich, dass der Bun<strong>des</strong>verband Selbsthilfe Körperbehinderter zehn Jahre<br />
BGG zum Anlass nimmt, um hier im Kleisthaus mit Unterstützung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>beauftragten<br />
für die Belange behinderter Menschen eine Fachtagung durchzuführen. 2 Dies<br />
sowohl zur Bestandsaufnahme, zur historischen Einordnung wie auch um hieraus die<br />
richtigen behindertenpolitischen Ziele abzuleiten.<br />
Der Weg zur Selbstfindung, Selbstorganisation und Selbstentscheidung behinderter<br />
Menschen ist jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Etappen zuzuordnen. Bei der<br />
Organisation der Behindertenselbsthilfegruppen und –verbände sprechen wir in der<br />
Regel von der so genannten Dreiwellentheorie.<br />
Nach der Gründung von Behindertenorganisationen und –verbänden, die sogenannten<br />
Kriegsopferverbände (Blindenverband und Reichsbund, jetzt Sozialverband) im<br />
Umfeld <strong>des</strong> Ersten Weltkrieges folgten nach dem zweiten Weltkrieg als erste Welle<br />
die Elternverbände wie z.B. Lebenshilfe, VdK und Bun<strong>des</strong>verband Körperbehinderter,<br />
die auch die ersten Fundamente zur medizinischen, beruflichen und sozialen<br />
Wiedereingliederung behinderter Menschen gelegt haben.<br />
Die so genannte zweite Welle aktiver behinderter Menschen entwickelte sich parallel<br />
zu den gesellschaftlichen Reformbestrebungen der siebziger Jahre. Neue soziale<br />
Bewegungen entwickelten sich, politische Initiativen wurden gestartet, Basis und<br />
Bürgerbewegungen haben nicht nur in Deutschland bisher erstarrte Formen kräftig<br />
durchlüftet. Neuer Schwung kam durch die Selbsthilfebewegung vieler neuer Gruppen<br />
und Verbände auf. Forderungen, wie das Finalitätsprinzip, die Integration behinderter<br />
Menschen und die Einführung <strong>des</strong> Normalitätsprinzips statt <strong>des</strong> bisher gültigen<br />
Kausalitätsprinzips bei der Förderung behinderter Menschen waren aktuelle Themen.<br />
Der allgemeine Arbeitskräftemangel machte es erforderlich, alle vorhandenen Arbeitskräftepotentiale<br />
zu erschließen und auch behinderte Menschen gezielt zu fördern<br />
und in das Berufs- und Arbeitsleben zu integrieren. Berufsbildungswerke und<br />
Berufsförderungswerke entstanden flächendeckend. Diese politisch brodelnde Zeit<br />
der siebziger Jahre ist im Bewusstsein behinderter Menschen als die Dekade der<br />
Rehabilitation, aber auch als die Dekade defizitorientierenden Denkens im Bewusstsein<br />
verankert.<br />
Dieser gesellschaftlich wichtige Schritt wurde nach einer Zeit nachlassender politischer<br />
Aktivität und verstärkten lange vorhandenen Phase <strong>des</strong> Sozialabbaus von der<br />
dritten aktiven Welle behinderter Menschen mit neuer Dynamik versehen. Deutliches<br />
Zeichen <strong>des</strong> En<strong>des</strong> dieses Zeitabschnitts defizitorientierten Denkens waren die Aktionen<br />
behinderter Menschen anlässlich der Feierstunde zum UN-Welttag der Behinderten<br />
1981 mit der Ankettungsaktion vieler bis <strong>heute</strong> aktiver behinderter Menschen<br />
auf der Bühne <strong>des</strong> Festsaals in Dortmund. Mit Beginn der neunziger Jahre hat die bis<br />
<strong>heute</strong> aktive und das Bewusstsein weitgehend mitprägende Selbstbestimmt-Leben-<br />
Bewegung behinderter Menschen die behindertenpolitischen Themen gesetzt und<br />
2 Rede <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>beauftragten für Menschen mit Behinderungen und Vorstandsmitglied <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verban<strong>des</strong><br />
Selbsthilfe Körperbehinderter, Karl Finke, anlässlich der Tagung „10 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz“ am<br />
29.11.2012, Kleisthaus, Berlin<br />
23
neue Akzente formuliert. Der offensiv eingebrachte Selbstvertretungsanspruch behinderter<br />
Menschen war hier kennzeichnend und die Botschaft, dass die Zeiten ewiger<br />
Kindheit für behinderte Menschen nun auf die Müllhalde der Geschichte gehören.<br />
Die Inhalte, aber auch die hier agierenden Personen haben im sozial- und behindertenpolitischen<br />
Umfeld zügig die Meinungsführerschaft für uns behinderte Menschen<br />
übernommen und die Botschaft vieler Großverbände, wir sind der Anwalt der Behinderten<br />
als eine Form von Entmündigung entlarvt.<br />
Schon bald machten diese selbstbewussten behinderten Menschen mit Kampagnen<br />
und Aktionen auf sich aufmerksam. Statt gefällig, untertänig die Entscheidung der<br />
Bund-Länder-Verfassungskommission auf ein Nein zur Verfassungsergänzung zugunsten<br />
behinderter Menschen hinzunehmen, starteten sie eine bun<strong>des</strong>weit beachtete<br />
Kampagne. Parallel zueinander liefen hier zwei über Deutschland hinaus beachtete<br />
Aktionen. Zum einen die <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verban<strong>des</strong> Selbsthilfe Körperbehinderter und<br />
der neuen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung zu einer Verfassungsergänzung und einem<br />
Antidiskriminierungsgesetz sowie zeitgleich die Kampagne von Behindertenverbänden<br />
und Selbsthilfegruppen zusammen mit dem Behindertenbeauftragten aus<br />
Niedersachsen gegen Gewalt gegen behinderte Menschen und andere Minderheiten.<br />
Diese Kampagne, die zu kleinen und großen Demonstrationen, allein über 2.000<br />
Bürgerinnen und Bürger bei einer Demonstration zwischen Behindertenverbänden<br />
und Amnesty International geführt hat, wirkte gravierend bewusstseinsändernd.<br />
Der damalige Bun<strong>des</strong>präsident von Weizsäcker hat mit ausdrücklichem Bezug auf<br />
die Kampagne aus Niedersachsen als erster CDU-Politiker die Verfassungsergänzung<br />
zugunsten behinderter Menschen gefordert. Dies ist dann später auch erfolgt<br />
und im Bun<strong>des</strong>tag einstimmig verabschiedet. Uns war seinerzeit allen klar: Dies ist<br />
erst ein erster Schritt. Um auch allen Aktiven gesellschaftlich deutlich zu machen, wir<br />
sind noch immer außen vor und noch lange nicht mittendrin, haben die damaligen<br />
Akteurinnen und Akteure bewusst auf den Stufen <strong>des</strong> Reichstags eine Open-Air-<br />
Pressekonferenz abgehalten und bewusst vereinbart: jetzt erst mal neue Kraft schöpfen<br />
und dann Richtung Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze politische<br />
Aktivitäten aufgreifen. Viele der damaligen Akteurinnen und Akteure sind <strong>heute</strong> noch<br />
mittendrin bei uns: Es sind, um einige Namen zu nennen, Andreas Jürgens, Sigrid<br />
Arnade, Ottmar Miles-Paul und bei gleichen Zielen in parallel anderen Zusammenhängen<br />
agierend der vortragende Karl Finke. Jetzt galt es neben der Organisationskompetenz<br />
auch andere Kompetenzen einzubringen, z. B. unsere Fachkompetenz.<br />
Hier hat sich das Forum behinderte Juristinnen und Juristen historisch verdient gemacht.<br />
Es hat einen ersten Entwurf für ein Behindertengleichstellungsgesetz vorgelegt.<br />
Es galt jetzt jedoch, die politische Ebene zu erreichen und hier unsere Anliegen<br />
einzubringen. Der Regierungswechsel 1998 brachte dann auch behindertenpolitisch<br />
den so genannten Paradigmenwechsel. Er ist auf das unermüdliche Engagement<br />
vieler behinderter Menschen zurück zu führen, aber auch auf den persönlichen Einsatz<br />
und die politische Umsetzungskompetenz <strong>des</strong> damaligen Beauftragten der Bun<strong>des</strong>regierung<br />
für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Karl Hermann<br />
Haack. Zu Beginn dieser politischen Epoche wurde das so genannte behindertenpolitische<br />
Vier-Punkte-Programm verabschiedet. Dies sollte die Behindertenpolitik der<br />
nächsten zehn Jahre prägen und wirkt bis <strong>heute</strong> fort. Es handelt sich um<br />
24<br />
- die Novellierung der Reha-Gesetze unter Einbeziehung <strong>des</strong> Schwerbehinder-<br />
- tengesetzes im SGB IX mit der Verankerung <strong>des</strong> Teilhabeaspektes.
- Die Einführung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache.<br />
- Ein Antidiskriminierungs- bzw. ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, sowie<br />
- die Verabschiedung <strong>des</strong> Behindertengleichstellungsgesetzes in seiner jetzigen<br />
Form.<br />
Vier Schritte, vier Meilensteine, die Deutschland und das Bewusstsein behinderter<br />
Menschen verändert haben und weiterhin verändern. Barrierefreiheit als allgemeiner<br />
Standard im baulichen Bereich ist im Bewusstsein und Handeln der Gesellschaft angekommen.<br />
Barrierefreie Anforderungen sowohl für Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzer<br />
wie auch für Sinnesgeschädigte, Lern- und geistig Behinderte sind in ihrer<br />
Ausfächerung jetzt in der Regel Teil gesellschaftlichen Denkens und Planens. Wir<br />
in Hannover sind besonders stolz, zu Beginn dieses Paradigmenwechsels im Jahr<br />
2000 in Hannover die erste barrierefreie Weltausstellung weltweit verwirklicht zu haben.<br />
Standards, die bis <strong>heute</strong> nachwirken und nach denen sich bis <strong>heute</strong> erkundigt<br />
wird. Nicht, wie man es technisch macht, sondern wie man Bürgerbeteiligung, Beteiligung<br />
behinderter Menschen und deren konkrete Mitentscheidung in einen gesellschaftlichen<br />
Prozess mit einbezieht. Dies hat das Bewusstsein behinderter Menschen<br />
in Hannover bis <strong>heute</strong> geprägt. So haben sie erst vor einem halben Jahr bei<br />
einem politischen hin und her bei einer Planung einer neuen Stadtbahntrasse durch<br />
gezielte Aktionen und entsprechender Medienbegleitung ihr Interesse bekundet und<br />
die vermeintlichen Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter behinderter<br />
Menschen deutlich zurecht gewiesen.<br />
Im Dialog mit gesellschaftlich fortschrittlichen Kräften gilt es jetzt, die Inhalte <strong>des</strong><br />
Vier-Punkte-Programms von 1998 auf den Prüfstand zu stellen und neue Ziele zu definieren.<br />
Bereits 1998 waren zentrale behindertenpolitische Forderungen aktuell, die<br />
jetzt eine Chance auf Verwirklichung haben. Dies ist vorrangig ein einkommens- und<br />
vermögensunabhängiges Teilhabegeld für alle behinderten Menschen sowie die<br />
Herausnahme der Leistungen der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe. Ebenfalls<br />
muss die Eindeutigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention zugunsten einer inklusiven<br />
Bildung nach Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention genutzt werden, inklusive<br />
Bildung zu verwirklichen, Parallelsysteme zwischen inklusiven und Fördersystemen<br />
auslaufen zu lassen.<br />
Seit Mitte der siebziger Jahre, der Verabschiedung der sonderpädagogischen Gutachten<br />
der Bildungskommission <strong>des</strong> Deutschen Bildungsrates ist die Frage integrativer<br />
(inklusiver) Bildung ja oder nein wissenschaftlich geklärt. Geändert hat sich bisher<br />
wenig. Die beharrenden Elemente haben sich bis gestern gut behaupten können.<br />
Jetzt sollte ihre Zeit vorbei sein. Schulische Inklusion als ein Element einer inklusiven<br />
Gesellschaft ist an der Tagesordnung und muss von uns ohne Relativierungen eingefordert<br />
werden. Die fortwährende Ignoranz, behinderte Menschen als gesellschaftliche<br />
Mitentscheiderinnen und Mitentscheider vom bisherigen gesellschaftlichen Katzentisch<br />
in die Runde der Entscheiderinnen und Entscheider aufzunehmen, muss<br />
zügig von uns eingefordert werden. Nicht bipolares Denken wie Selbst- statt<br />
Fremdhilfe oder Autonomie statt Fremdbestimmung, sondern kooperative Partnerschaft<br />
bei gleichen Rechten und Entscheidungskompetenzen zwischen behinderten<br />
und nichtbehinderten Menschen sind unser Ziel, konkret zurzeit aufgrund der noch<br />
immer dominierenden bevormundenden Strukturen muss der Stichentscheid in behindertenpolitischen<br />
Fragen bei uns liegen.<br />
25
Auch unser verbandliches Umfeld ist, vom BSK einmal abgesehen, noch häufig<br />
dadurch geprägt, dass nichtbehinderte Menschen die Entscheiderfunktionen dominieren.<br />
Dies gilt im politischen Umfeld entsprechend. Hier gilt es, sowohl das aktive<br />
wie auch passive Wahlrecht behinderter Menschen gezielt zu fördern und gesellschaftlich<br />
deutlich zu machen, dass knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland mit<br />
einer Behinderung, davon ca. acht Millionen schwerbehinderte Menschen, bei allen<br />
Initiativen, Projekten und Konzepten von gesellschaftlicher Bedeutung mitentscheiden<br />
wollen.<br />
Die Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion ist den meisten geläufig.<br />
Wichtig für mich ist noch, darauf hinzuweisen, dass in allen Übersetzungen der UN-<br />
Behindertenrechtskonvention noch vom integrativen System die Rede ist. Wir Menschen<br />
mit Behinderungen haben den Begriff der Inklusion in Deutschland nicht nur<br />
für uns salonfähig gemacht. Er hat im Unterschied zu integrativen Systemen auch<br />
noch einige Erweiterungen.<br />
Dies ist erneut ein Dreiklang von Empowerment behinderter Menschen (Selbstbeund<br />
–ermächtigung), Partizipation, Inklusion und angemessene Vorkehrungen zur<br />
Stärkung der Mitentscheidung und Teilhabe behinderter Menschen sowie dann die<br />
konkreten Arbeitsfelder wie Arbeit, Bildung, Barrierefreiheit, Sport und Wohnformen.<br />
Durch die traditionellen Verbände wurden wir stets nur auf die konkreten Arbeitsfelder<br />
reduziert. Lassen wir uns hierauf nicht ein. Dies ist alter Wein in neuen Schläuchen<br />
und Erhalt alter Machtstrukturen. Bestenfalls der Ersatz von neuen Professionellen<br />
durch alte Professionelle; die Abhängigkeiten bleiben! Herr Dr. Aichele, der<br />
Referent nach mir, wird Ihnen die Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention und<br />
deren Bedeutung für das BGG sowie die erforderlichen Veränderungspotentiale sicherlich<br />
konkret erläutern. Nur eines muss klar sein: In der Folge <strong>des</strong> BGG und der<br />
Konkretisierung durch die UN-Behindertenrechtskonvention geht es um Weiterentwicklung,<br />
und zwar unter der Prämisse, die Frage von Koch und Kellner muss eindeutig<br />
in unserem Sinne entschieden werden oder, wie wir es stets gesagt haben:<br />
Wir können am besten darstellen, was wir denken, fühlen und wünschen und<br />
wollen mitgestalten und nicht gestaltet werden.<br />
Das Behindertengleichstellungsgesetz und das berühmte Vier-Punkte-Programm im<br />
Bewusstsein aller, das humanitäre Anliegen und die konkreten Artikel der UN-<br />
Behindertenrechtskonvention als Handlungsanleitung sowie dann die konkreten<br />
Schritte vor Ort gemeinsam mit uns allen zu vereinbaren, das ist eine Behindertenpolitik<br />
von morgen, die alle knapp 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung mit<br />
einbezieht und im besonderen eigenen Sinne gesellschaftlich verändernd und bewusstseinsbildend<br />
ist.<br />
Karl Finke<br />
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Zeittafel<br />
1889 Geburt Carl von Ossietzky am 3. Oktober<br />
1922 Gründung der Internationalen Föderation der Ligen für <strong>Menschenrechte</strong><br />
(FIDH); Umbenennung in „Deutsche Liga für <strong>Menschenrechte</strong>“<br />
1933 Verbot in der Nacht <strong>des</strong> Reichstagsbran<strong>des</strong>; bis dahin Engagement für<br />
die Weimarer Verfassung sowie gegen Militarisierung und Krieg. Führende<br />
Mitglieder – darunter der Liga-Vorsitzende und Herausgeber der<br />
„Weltbühne“, Carl von Ossietzky-, gehören zu den ersten Opfern der<br />
NS-Herrschaft. Sie werden fortan verfolgt, verhaftet, vertrieben.<br />
1936 Ossietzky erhält am 23. November den Friedensnobelpreis<br />
1938 Ossietzky stirbt am 4. Mai an den Folgen von Misshandlungen in verschiedenen<br />
KZs<br />
Nach Ende <strong>des</strong> 2. Weltkrieges<br />
gründen Mitglieder der ehemaligen Deutschen Liga in Berlin die Nachfolgeorganisation:<br />
„Internationale Liga für <strong>Menschenrechte</strong> – Im Geiste<br />
Carl von Ossietzkys“<br />
1948 Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der <strong>Menschenrechte</strong> von<br />
der Generalversammlung der Vereinten Nationen<br />
Seit 1962<br />
verleiht die Liga jährlich (seit 2012 min<strong>des</strong>tens einmal zweijährlich) die<br />
Carl-von-Ossietzky-Medaille für Zivilcourage bei der Verwirklichung,<br />
Verteidigung und Erweiterung der <strong>Menschenrechte</strong> und <strong>des</strong> Friedens.<br />
1994 Ergänzung Art. 3 GG um die Bestimmung „Niemand darf wegen seiner<br />
Behinderung benachteiligt werden“<br />
2001 Einordnung <strong>des</strong> Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts in das<br />
Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)<br />
2002 Verabschiedung <strong>des</strong> Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG)<br />
2006 Verabschiedung <strong>des</strong> Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)<br />
2007 Verabschiedung <strong>des</strong> Niedersächsischen Behindertengleichstellungsgesetzes<br />
(NBGG)<br />
2009 Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)<br />
2013 Einrichtung der Fachkommission Inklusion und <strong>des</strong> Interministeriellen<br />
Arbeitskreises (IMAK) zur Erarbeitung eines Niedersächsischen Aktionsplans<br />
zur Umsetzung der UN-BRK<br />
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Weiterführen<strong>des</strong> zum Thema <strong>Menschenrechte</strong><br />
beim Deutschen Institut für <strong>Menschenrechte</strong> unter<br />
www.institut-fuer-menschenrechte.de<br />
Herausgegeben vom:<br />
Niedersächsischen Lan<strong>des</strong>beauftragten<br />
für Menschen mit Behinderungen<br />
Postfach 141<br />
30001 Hannover<br />
Februar 2014<br />
Schriftenreihe Band 48<br />
Die Broschüre erscheint auch im Internet:<br />
www.behindertenbeauftragter-niedersachsen.de<br />
Fotos: Uwe Hellweg<br />
Gestaltung: Michael Remé<br />
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