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Sacred Bridges – Musik und Tanz - Ensuite

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KULTUR & GESELLSCHAFT<br />

a desperate housewife<br />

Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli<br />

■ Alles ist bereit: Der Baum dekoriert, der Tisch<br />

gedeckt, das Haus geputzt. Die Geschenke hat<br />

Claire bereits vor Wochen eingekauft. Sie ist keine,<br />

die sich in letzter Minute durch die überfüllten<br />

Kaufhäuser kämpft. Das tut sie sich nicht an,<br />

schliesslich hat sie die Zeit im Griff. Claire scheint<br />

den Master in Time Management zu besitzen. Jedes<br />

Jahr beweist sie dies aufs Neue, wenn sie das<br />

Weihnachtsmenü bis ins kleinste Detail plant. Auch<br />

heuer hat sie schon im Oktober den Zeitplan fein<br />

säuberlich in die Exceltabelle eingetragen. Exakt<br />

berechnet, haarscharf kalkuliert. Sie ist top vorbereitet<br />

für den heutigen Abend. Eigentlich könnte<br />

sie sich schon mal ein Gläschen genehmigen. Die<br />

Kinder sind mit den Grosseltern spazieren gegangen,<br />

ihr Mann weilt am Geschäfts-Apéro. Sie<br />

schenkt sich einen Martini ein <strong>und</strong> lässt zwei Eiswürfel<br />

ins Glas fallen.<br />

Claire bindet sich die Kochschürze um. Auf dem<br />

blank polierten Chromstahl vor ihr liegt das 5-Kilo-<br />

Tier: Ein Prachtexemplar von einem Truthahn. Sie<br />

wird ihn füllen mit einer raffi nierten Farce, deren<br />

Zutaten sie sorgfältig aufeinander abgestimmt<br />

hat <strong>und</strong> welche nicht einmal die Kampf-Betty-<br />

Bossis aus der Verwandtschaft erraten werden.<br />

Eine wichtige Zutat hat Claire vor St<strong>und</strong>en schon<br />

in Whisky eingelegt: Die Backpfl aumen. «Unwiderstehlich,<br />

die Dinger», seufzt sie, während sie sich<br />

nacheinander drei vor Whisky triefende Pfl aumen<br />

in den M<strong>und</strong> schiebt. Nun fühlt sie sich stark <strong>und</strong><br />

mutig <strong>und</strong> bereitet die Füllung zu: Weicht Brot ein,<br />

hackt Kräuter, würzt <strong>und</strong> mischt. Als Claire auf die<br />

Uhr schaut, ist sie kurz irritiert, vergleicht die reale<br />

Zeit mit der Kalkulation auf der Tabelle: Zehn<br />

Minuten in Verzug. Das Vogelvieh gibt wahrlich Arbeit.<br />

Einen Moment lang erscheint sie sich selber<br />

klein <strong>und</strong> machtlos neben diesem Gefl ügelberg, für<br />

den sie so viel Liebe aufwendet, um ihre Familie<br />

<strong>und</strong> Verwandtschaft zu beglücken, ihnen diesen<br />

besinnlichen Abend so unvergesslich wie möglich<br />

zu machen, <strong>und</strong> überhaupt. Sie leert das Glas Martini.<br />

Der Alkohol vermischt sich in ihrem Magen<br />

mit Vorfreude. Trotzdem ist sie nervös. Die zehn<br />

Minuten Verzug sind bereits zu einer Viertelst<strong>und</strong>e<br />

angewachsen.<br />

Refl exartig öffnet Claire den Kühlschrank, greift<br />

nach der Flasche Prosecco <strong>und</strong> hält sie sich an ihre<br />

glühenden Wangen. Nach kurzem Zögern lässt sie<br />

den Korken knallen <strong>und</strong> die sprudelnde Flüssigkeit<br />

ins Sektglas laufen. Ein kräftiger Schluck prickelt<br />

alsbald hinter ihrem Bauchnabel. Die wohlige Wärme<br />

beruhigt Claire. Sie schnürt die Küchenschürze<br />

enger. Dann spreizt sie dem Truthahn die Schenkel<br />

auseinander <strong>und</strong> beginnt, ihn mit der raffi nierten<br />

Farce zu stopfen. Ihr Truthahn wird noch lange zu<br />

reden geben. Langsam füllt sich die Bauchhöhle<br />

des Vogels. Claire stopft weiter, während die Intervalle<br />

zwischen den Griffen zum Sektglas kürzer<br />

werden. Mit schmierigen Händen umklammert sie<br />

das Glas <strong>und</strong> denkt an all die kleinen Arbeiten, die<br />

noch anstehen. Das sind genau die Dinge, die Ungeübte<br />

zeitlich unterschätzen. Sie hält inne: Oder<br />

hat sie selbst den Aufwand dieses Gerichtes unterschätzt?<br />

Ach was! Wäre doch gelacht, wenn sie<br />

mit einem Weihnachtstruthahn nicht mehr fertig<br />

werden würde. Mit geschickter Hand schnürt sie<br />

dem Vogel energisch die Beine zusammen, setzt<br />

ihn auf das eingefettete Blech <strong>und</strong> schiebt ihn in<br />

den heissen Ofen. Jetzt wird alles gut.<br />

Beim nächsten Blick auf die Uhr realisiert Claire,<br />

dass sie ihrem Zeitplan nun um 45 Minuten hinterher<br />

hinkt. Langsam gerät sie in Panik. Mit zittriger<br />

Hand geht sie die Liste durch: Die Suppe muss<br />

sie noch abschmecken, den Salat waschen, das<br />

Magazin<br />

Gemüse in den Steamer werfen, Apéro-Brötchen<br />

streichen, Teller vorwärmen, sich schön machen...<br />

Gedankenverloren setzt sie die Prosecco-Flasche<br />

an den M<strong>und</strong> <strong>und</strong> leert sie Schluck für Schluck.<br />

Hoffentlich machen die Kinder nicht wieder so ein<br />

Theater beim Essen. Letztes Jahr wollten sie partout<br />

nicht vom Roastbeef probieren, das sie genau<br />

auf den Punkt servierte <strong>und</strong> das ihr viel Lob einbrachte.<br />

Dabei will sie ihren Nachwuchs doch früh<br />

genug zu kleinen Gourmets erziehen. Halb fünf!<br />

Nun hat die Ohnmacht Claire ergriffen <strong>und</strong> lässt<br />

sie einige Sek<strong>und</strong>en erstarren. Im Hintergr<strong>und</strong><br />

spielen zarte Streicher ein Weihnachtskonzert.<br />

Draussen tanzen die Schneefl ocken. Plötzlich fühlt<br />

sich Claire leicht. Sie taumelt zum Radio, würgt die<br />

Streicher ab <strong>und</strong> schaltet um: «Jingle Bells» auf<br />

dem einen, «Oh du fröhliche» auf dem anderen<br />

Sender. Dazwischen die Zeit: 17 Uhr. Sie schaltet<br />

weiter <strong>und</strong> Elvis ertönt. Übermütig dreht sie den<br />

Volumen-Knopf auf, reisst sich die Schürze vom<br />

Leib <strong>und</strong> entledigt sich ihrer Bluse. Dann dreht sie<br />

Pirouette um Pirouette, bis ihr fast schwindlig wird.<br />

Plötzlich gibt es einen Knall. Erschrocken starrt<br />

Claire in Richtung Ofen. Eine fettige, <strong>und</strong>efi nierbare<br />

Masse läuft an der Innenseite der Ofentüre<br />

herunter. Sofort öffnet Claire den Ofen. Der Vogel<br />

scheint weggefl ogen, seine Form ist nicht mehr erkennbar.<br />

Auf dem Blech liegt ein Klumpen Füllung<br />

umringt von Gebeinen. Das Gefl ügelfl eisch klebt an<br />

Wänden <strong>und</strong> Decke des Ofens. Claires Traum vom<br />

perfekten Weihnachtsdinner ist mit dem Truthahn<br />

geplatzt. Halbnackt <strong>und</strong> im langsam schwindenden<br />

Prosecco-Rausch kniet sie vor dem Ofen. So sieht<br />

sie aus: Eine schöne Bescherung. Von weitem hört<br />

sie schon das Lachen ihrer Kinder. Und eben fährt<br />

ihr Mann den Wagen in die Garage.<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 72 | Dezember 08 15

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