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<strong>Degas</strong><br />

Klassik und Experiment<br />

STAATLICHE KUNSTHALLE KARLSRUHE


MOBILITÄTSPARTNER PARTNER HAUPTSPONSOR KATALOGSPONSOREN


DEGAS<br />

KLASSIK UND EXPERIMENT<br />

Herausgegeben von Alexander Eiling für die<br />

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe


4 DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT


TEXT<br />

5


Inhalt<br />

8 Leihgeber<br />

11 <strong>Degas</strong> in Karlsruhe<br />

Pia Müller-Tamm<br />

Aufsätze<br />

16 Klassik und Experiment<br />

im Werk von Edgar <strong>Degas</strong><br />

Alexander Eiling<br />

30 Kopieren und erfahren.<br />

Kennen und sammeln<br />

Margret Stuffmann<br />

42 <strong>Degas</strong> – Manet.<br />

Eine facettenreiche<br />

und vitale Beziehung<br />

MaryAnne Stevens<br />

54 <strong>Degas</strong> und der Japonismus<br />

Anett Göthe<br />

66 <strong>Degas</strong> und Deutschland<br />

Bettina Kaufmann<br />

<strong>Katalog</strong><br />

77 Selbstbildnisse und<br />

Familienporträts<br />

105 Porträts von Freunden<br />

und Bekannten<br />

135 Das moderne Individuum.<br />

Zwischen Porträt und Genre<br />

157 Von Sparta nach Paris.<br />

Historie und Bühne<br />

201 Vom Parthenon-Fries auf<br />

die Rennbahn<br />

227 Sehen und erinnern.<br />

Die Landschaften<br />

245 Aktdarstellungen<br />

Anhang<br />

275 Biographie<br />

281 Literaturverzeichnis


8<br />

Leihgeber<br />

Amsterdam, Rijksmuseum<br />

Taco Dibbits<br />

Jane Turner<br />

Berlin, Staatliche Museen zu Berlin,<br />

Alte Nationalgalerie<br />

Prof. Dr. Michael Eissenhauer<br />

Udo Kittelmann<br />

Berlin, Staatliche Museen zu Berlin,<br />

Kupferstichkabinett<br />

Prof. Dr. Hein.-Th. Schulze Altcappenberg<br />

Dr. Holm Bevers<br />

Bern, Kunstmuseum Bern<br />

Dr. Matthias Frehner<br />

Bern, Sammlung E. W. Kornfeld<br />

Birmingham,<br />

The Barber Institute of Fine Arts<br />

Nicola Kalinsky<br />

Robert Wenley<br />

Boston, Museum of Fine Arts<br />

Malcolm Rogers<br />

Ronni Baer<br />

Bremen, Kunsthalle Bremen<br />

Dr. Christoph Grunenberg<br />

Dr. Anne Buschhoff<br />

Dr. Christin Melzer<br />

Chicago, The Art Institute of Chicago<br />

Dr. Douglas Druick<br />

Dr. Sylvain Bellanger<br />

Dr. Suzanne Folds McCullagh<br />

Dr. Gloria Groom<br />

Columbus, Columbus Museum of Art<br />

Nannette V. Maciejunes<br />

Dominique H. Vasseur<br />

Detroit, Detroit Institute of Arts<br />

Graham W. J. Beal<br />

Edinburgh, Scottish National Gallery<br />

Michael Clarke CBE<br />

Dr. Francis Fowle<br />

Frankfurt am Main<br />

Graf und Gräfin Christoph Douglas<br />

Frankfurt am Main, Städel Museum<br />

Max Hollein<br />

Dr. Felix Krämer<br />

Dr. Jutta Schütt<br />

Dr. Martin Sonnabend<br />

Städelscher Museums-Verein e. V.<br />

Sylvia von Metzler<br />

Genf, Sammlung Jean Bonna<br />

Jean Bonna<br />

Nathalie Strasser<br />

Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe<br />

Prof. Dr. Sabine Schulze<br />

Köln, Museum Ludwig<br />

Dr. Yilmaz Dziewior<br />

Katia Baudin<br />

Dr. Julia Friedrich<br />

Köln, Wallraf-Richartz-Museum &<br />

Fondation Corboud<br />

Dr. Marcus Dekiert<br />

Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts<br />

Bernard Fibicher<br />

Le Havre, Musée d’art moderne André Malraux<br />

Annette Haudiquet<br />

Virginie Delcourt<br />

Lissabon, Calouste Gulbenkian Foundation<br />

João Castel-Branco Pereira<br />

Luísa Sampaio<br />

London, Jean-Luc Baroni Ltd<br />

Jean-Luc Baroni<br />

London, Royal Academy of Arts<br />

Kathleen Soriano<br />

Nick Savage<br />

London, Stephen Ongpin Fine Art<br />

Stephen Ongpin<br />

Cambridge (GB),<br />

The Fitzwilliam Museum<br />

Tim Knox<br />

Dr. David Scrase<br />

Dr. Jane Munro<br />

Genf, Sammlung Marie-Anne<br />

Krugier-Poniatowski<br />

Evelyne Ferlay (Krugier & Cie)<br />

Hamburg, Hamburger Kunsthalle<br />

Prof. Dr. Hubertus Gaßner<br />

Dr. Andreas Stolzenburg<br />

London, The Courtauld Gallery<br />

Dr. Ernst Vegelin<br />

Dr. Karen Serres<br />

London, The National Gallery<br />

Dr. Nicolas Penny<br />

Christopher Riopelle


DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT<br />

9<br />

Los Angeles, Los Angeles County<br />

Museum of Art<br />

Michael Govan<br />

Jean Patrice Marandel<br />

Madrid, Sammlung Carmen<br />

Thyssen-Bornemisza<br />

Baronin Carmen Thyssen-Bornemisza<br />

Guillermo Solana<br />

Juan Ángel Lopez-Manzanares<br />

München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen<br />

– Neue Pinakothek<br />

Prof. Dr. Klaus Schrenk<br />

Dr. Joachim Kaak<br />

New York, Acquavella Galleries Inc.<br />

Esperanza Sobrino<br />

Jean Edmonson<br />

New York,<br />

The Metropolitan Museum of Art<br />

Thomas P. Campbell<br />

Ottawa, National Gallery of Canada<br />

Marc Mayer<br />

Dr. Paul Lang<br />

Dr. Annabelle Kienle-Poňka<br />

Paris, Bibliothéque nationale de France<br />

Bruno Racine<br />

Marie-Hélène Petitfour<br />

Paris, Musée du Louvre<br />

Jean-Luc Martinez<br />

Vincent Pomarède<br />

Sébastien Allard<br />

Paris, Musée d’Orsay<br />

Guy Cogeval<br />

Xavier Rey<br />

Pau, Musée des Beaux-Arts de Pau<br />

Jean-Pierre Melot<br />

Dominique Vazquez<br />

Riehen/Basel, Fondation Beyeler<br />

Sam Keller<br />

Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen<br />

Sjarel Ex<br />

Saarbrücken, Stiftung<br />

Saarländischer Kulturbesitz<br />

Dr. Roland Mönig<br />

Dr. Roland Augustin<br />

Solothurn, Kunstmuseum Solothurn<br />

Dr. Christoph Vögele<br />

Stuttgart, Staatsgalerie<br />

Prof. Dr. Christiane Lange<br />

Dr. Christopher Conrad<br />

Tours, Musée des Beaux-Arts<br />

Sophie Join-Lambert<br />

Ulm, Ulmer Museum<br />

Dr. Gabriele Holthuis<br />

Vulaines-sur-Seine,<br />

Musée départemental Stéphane Mallarmé<br />

Hervé Joubeaux<br />

Hélène Oblin<br />

Washington D. C., Dumbarton Oaks<br />

Research Library and Collection<br />

Dr. Jan Ziolkowski<br />

Dr. Gudrun Buehl<br />

James N. Carder<br />

Washington D. C., National Gallery of Art<br />

Earl A. Powell III.<br />

Dr. Mary Morton<br />

Dr. Andrew Robison<br />

Dr. Kimberly A. Jones<br />

Wien, Albertina<br />

Dr. Klaus Albrecht Schröder<br />

Dr. Christine Ekelhart<br />

Wien, Österreichische Galerie Belvedere<br />

Dr. Agnes Husslein-Arco<br />

Dr. Stephan Koja<br />

Winterthur, Kunstmuseum Winterthur<br />

Dr. Dieter Schwarz<br />

Wuppertal, Von der Heydt-Museum<br />

Dr. Gerhard Finckh<br />

Zürich, Sammlung Walter Feilchenfeldt<br />

Zürich, Kunsthaus Zürich<br />

Dr. Christoph Becker<br />

Philippe Büttner<br />

Den genannten Leihgebern sowie allen,<br />

die ungenannt bleiben möchten, danken<br />

wir für ihre großzügige Unterstützung.


10 DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT


VORWORT UND DANK<br />

11<br />

<strong>Degas</strong><br />

in Karlsruhe<br />

PIA MÜLLER-TA MM<br />

Warum <strong>Degas</strong> in Karlsruhe? Weshalb einen Künstler<br />

zeigen, der im weltweiten Ausstellungsgeschehen<br />

dauerhaft präsent ist? Wie sich einem Maler nähern, dessen<br />

Bilder sich wie Markenzeichen in den Köpfen der<br />

Kunstliebhaber festgesetzt haben? Ein Blick auf die jüngere<br />

Ausstellungsgeschichte zeigt, dass auch hierzulande<br />

kein Mangel an Manifestationen für den »Maler des modernen<br />

Lebens« besteht. In Baden-Württemberg beginnt<br />

<strong>Degas</strong>’ Ausstellungsgeschichte mit der legendären Schau<br />

<strong>Degas</strong>. Pastelle Ölskizzen Zeichnungen, die Götz Adriani<br />

1984 für die Kunsthalle Tübingen eingerichtet hat. In die<br />

europäische Ausstellungsgeschichte ist die <strong>Degas</strong>-Retrospektive<br />

des Grand Palais in Paris von 1988 (in Kooperation<br />

mit der National Gallery of Canada in Ottawa und<br />

dem Metropolitan Museum of Art in New York) als<br />

»landmark show« eingegangen. Danach haben zahlreiche<br />

monographische Ausstellungen das Œuvre des Künstlers<br />

unter thematischen Gesichtspunkten betrachtet: 1994 / 95<br />

standen die Porträts im Kunsthaus Zürich und der Kunsthalle<br />

Tübingen im Mittelpunkt; die Ausstellung der<br />

Hamburger Kunsthalle in Kooperation mit der Fundación<br />

Mapfre in Madrid 2009 widmete sich dem posierenden<br />

weiblichen Körper zwischen Bordell, Bühne und Boudoir.<br />

2011 zeigte die Royal Academy of Arts in London <strong>Degas</strong><br />

and the Ballet, und 2012 präsentierte das Musée d’Orsay<br />

in Paris (in Kooperation mit dem Museum of Fine Arts in<br />

Boston) mit <strong>Degas</strong> et le nu eine umfassende Schau zu den<br />

Aktdarstellungen; im selben Jahr profilierte die Fondation<br />

Beyeler in Riehen <strong>Degas</strong> in seinem Spätwerk als »kühnen<br />

Wegbereiter der Moderne«. Die Ny Carlsberg Glyptotek<br />

in Kopenhagen näherte sich <strong>Degas</strong> 2013 mit Blick auf<br />

sein methodisches Vorgehen und die innovativen Verfahren<br />

seines künstlerischen Werkprozesses. Die nächste große<br />

außereuropäische Schau kündigen die National Gallery<br />

of Victoria in Melbourne und das Museum of Fine<br />

Arts in Houston für 2016 / 17 unter dem Titel <strong>Degas</strong>: A<br />

New Vision an. Warum also 2014 <strong>Degas</strong> in Karlsruhe?<br />

Wie so oft ist uns die Sammlung der Kunsthalle Impulsgeber.<br />

Insgesamt sieben <strong>Degas</strong>-Werke umfasst der Bestand;<br />

sieben Werke, die gleichsam sieben verschiedene<br />

Blickschneisen in das kolossale Œuvre des Künstlers öffnen.<br />

Zwischen 1961 und 1981 konnten diese Werke in relativ<br />

schneller Folge erworben werden. In dem sechsteiligen<br />

Konvolut des Kupferstichkabinetts zeigen sich die hohe<br />

schöpferische Potenz des Künstlers und der mediale<br />

Facettenreichtum von <strong>Degas</strong>’ Kunst auf Papier. Es umspannt<br />

die Zeit von den fünfziger bis in die neunziger<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts, vom Frühwerk – die älteste<br />

Arbeit im Bestand ist die radierte Darstellung des Kupferstechers<br />

Joseph Tourny von 1857 (erworben 1964, Kat. 22)<br />

– bis zum Spätwerk des Jahres 1892, in dem die Landschaftsmonotypie<br />

Cap Ferrat (erworben 1981, Kat. 107)<br />

entstand. Die frühe Rembrandt-Rezeption <strong>Degas</strong>’, der experimentelle<br />

Umgang mit der Drucktechnik und die Tendenz<br />

zur Autonomie des Einzelabzugs kennzeichnen die<br />

Tourny-Darstellung als kreative Schöpfung und Weiterentwicklung<br />

aus der Tradition des graphischen Metiers.<br />

In der Radierung Mary Cassatt im Louvre (Gemäldegalerie),<br />

einer aufwändigen Mischtechnik des Jahres 1879 / 80 (1961<br />

erworben, Kat. 47), ist das Pariser Weltmuseum als Lernort<br />

der Künstler / innen präsent. In seinem steilen Hochformat<br />

und der Überführung von Raum in ein Gefüge


12<br />

DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT<br />

von Flächen bezeugt das Blatt auch eine neuartige, von<br />

der japanischen Ästhetik geprägte Bildauffassung. Junge<br />

Tänzerin im Gegenlicht, eine Kreidezeichnung auf grauem<br />

Papier aus der Zeit um 1878 (erworben 1980, Kat. 67),<br />

steht im Banne von <strong>Degas</strong>’ Obsession für das Ballett, die<br />

sich nach 1870 in allen Medien des Künstlers einschließlich<br />

der Fotografie manifestiert. Bewegung und Stillstand,<br />

das Transitorische und die prekäre Balance der Figur sind<br />

hier ebenso thematisch geworden wie das Ephemere einer<br />

Pose, das sich im Aussparen und Weglassen von zeichnerischen<br />

Markierungen zeigt. Bei der Sängerin in einem<br />

Pariser Gartencafé von 1880 (erworben 1976, Kat. 65),<br />

einem Exemplar aus <strong>Degas</strong>’ 25-teiliger Gruppe von Darstellungen<br />

im Fächerformat, hat das Ineinanderfließen<br />

der Aquarellfarbe auf Seide die Motive um die einzige<br />

deutliche Setzung, den vertikalen Balken, malerisch weitgehend<br />

aufgelöst. Das Fluide und das Trockene – beide<br />

Möglichkeiten finden sich zeitgleich in <strong>Degas</strong>’ künstlerischem<br />

Repertoire: Madame Henri Rouart im Sessel vor<br />

einem Tischchen mit Tanagra-Statuette von 1884 (erworben<br />

1979, Kat. 27) ist in Pastellkreide über Bleistift abgefasst –<br />

in einer Technik, die bei den Porträtisten des Dixhuitième<br />

beliebt war und die durch <strong>Degas</strong> wiederbelebt und eigensinnig<br />

neu interpretiert wurde. Anders als in der kunsthistorischen<br />

Tradition setzt er hier die einzelnen Farbstriche<br />

isoliert nebeneinander, spielt mit Leerflächen und Formandeutungen<br />

und vereitelt dadurch genau jene Illusion von<br />

Stofflichkeit und gegenständlicher Präsenz, für die das<br />

Pastell geschätzt wurde. Im Wettstreit zwischen Erscheinen<br />

und Verschwinden der Motive im Bild markiert die<br />

späte Landschaftsmonotypie Cap Ferrat (Kat. 107) zweifellos<br />

einen Extrempunkt: Hier zeigt sich die gesteigerte<br />

Experimentierfreude bei der Arbeit im Atelier in einem<br />

intensiven physisch-taktilen Austauschvorgang zwischen<br />

dem Künstler und den künstlerischen Mitteln, der sich in<br />

Verbindung mit Zufallsmomenten der differenzierten<br />

Oberflächentextur des Bildes sichtbar einschreibt. Während<br />

hier, in der Atelierschöpfung einer Landschaft, das<br />

Postulat der Nachahmung von Gesehenem weitgehend<br />

annulliert ist, so muss dies als Anspruch des Künstlers bei<br />

den gemalten Porträts noch vorausgesetzt werden. Bildnis<br />

Madame Jeantaud aus der Zeit um 1877 (erworben 1981,<br />

Kat. 30) zählt zu den herausragenden Werken dieses Genres<br />

in <strong>Degas</strong>’ Kunst: eine repräsentative und doch höchst<br />

ambivalente Darstellung, inspiriert sowohl von klassischen<br />

Porträtformeln aus Renaissance und Manierismus<br />

als auch von den Findungen des französischen Klassizismus,<br />

die sich in dem innerbildlichen Gegensatz zwischen<br />

der ausformulierten Gesichtsdarstellung und der im skizzenhaften<br />

Ebauche-Zustand belassenen Umgebung zeigen.<br />

Der Körper der Dargestellten bleibt eigentümlich<br />

amorph; er scheint ebenso wie die beiden Hunde, das<br />

Mobiliar und der Raum entmaterialisiert. So heterogen<br />

das <strong>Degas</strong>-Konvolut der Kunsthalle in Erscheinung tritt:<br />

Sehen, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten lassen<br />

sich darin auf unterschiedlichen Stufen im Werkprozess<br />

des Künstlers verfolgen. Das reflektierte Aneignen, das<br />

bewusste Abstandnehmen und das skeptische Suchen<br />

sind Quellen seiner künstlerischen Energie. Bei <strong>Degas</strong><br />

gibt es keine Gestaltung ex nihilo, sondern eine komplizierte<br />

Praxis, die die überkommenen künstlerischen<br />

Mittel und Verfahrenswege neu interpretiert und die aus<br />

Traditionsbeständen ungeahnten Mehrwert für die Gegenwart<br />

des 19. Jahrhunderts gewinnen konnte.<br />

Doch was hat unsere Gegenwart über diesen Künstler<br />

zu sagen? Dass er kein Impressionist war, ist mittlerweile<br />

Gemeingut der jüngeren <strong>Degas</strong>-Forschung. Inwieweit er<br />

jedoch vor allem Realist war, wird von den Interpreten<br />

seines Werkes unterschiedlich beurteilt. Ein weiter Zweig<br />

der <strong>Degas</strong>-Forschung seit den neunziger Jahren des letzten<br />

Jahrhunderts hat neue Sichtweisen auf die weiblichen<br />

Protagonisten seiner Bilder und deren sexuell konnotierte<br />

Posen eröffnet. Die für Gender-Verhältnisse sensibilisierte<br />

Kunstwissenschaft weiß um die höchst ambivalente Haltung<br />

des Künstlers zu Frauen. Deren Körper werden vor<br />

allem in der anglo-amerikanischen Forschung als Objekte<br />

der Zurschaustellung, Disziplinierung und Vermarktung<br />

gesehen. Gender als Kategorie stößt Deutungen an, die<br />

heute unverzichtbar sind und auch unser Projekt befruchtet<br />

haben. Die Ausstellung der Kunsthalle geht aber vor<br />

allem von einer bildgeschichtlichen Betrachtung aus, für<br />

die sich der Sammlungsbestand der Kunsthalle einmal<br />

mehr als Fundus bewährt hat. Die Kontextualisierung von<br />

<strong>Degas</strong>’ Arbeiten in der Kunsthalle ermöglicht es, seine<br />

Bedeutung als gegenwartsbewusster Traditionalist und<br />

als kunsthistorisch versierter Erneuerer der französischen<br />

Kunst des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Nach den<br />

thematischen <strong>Degas</strong>-Ausstellungen der letzten Jahre ist es<br />

das Anliegen der Karlsruher Schau, vor allem jene Aspekte<br />

von <strong>Degas</strong>’ Kunst, die in der öffentlichen Wahrnehmung<br />

bislang weniger Aufmerksamkeit erhalten haben,<br />

ins Blickfeld zu rücken. Zu diesen zählen seine Porträts<br />

und Landschaften sowie, untrennbar damit verbunden,<br />

seine Anfänge als Kopien- und Historienmaler. Die Ausstellung<br />

gliedert sich in sieben thematische Gruppen, die<br />

sich <strong>Degas</strong> zum einen über seine Kopierpraxis, zum anderen<br />

über seine experimentellen Techniken nähern. Eine<br />

solche Perspektive kann auf Vorarbeiten in der <strong>Degas</strong>-Forschung<br />

aufbauen; sie erhält jetzt erstmals in Deutschland<br />

die anschauliche Basis in einer Ausstellung.<br />

<strong>Degas</strong>. Klassik und Experiment ist der Höhepunkt im<br />

Ausstellungsjahr der Kunsthalle 2014. Das ambitionierte<br />

Vorhaben fügt sich aufs Beste in die lange Geschichte zur<br />

Kunst des französischen 18. und 19. Jahrhunderts im


VORWORT UND DANK<br />

13<br />

Programm der Kunsthalle, deren letzte Manifestationen<br />

die Große Landesausstellung Camille Corot. Natur und<br />

Traum (2012) und Fragonard. Poesie und Leidenschaft<br />

(2013) waren. Es schließt partiell auch an das Forschungsund<br />

Ausstellungsprojekt der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe<br />

und der Hochschule für Gestaltung an, das 2012 in<br />

die Ausstellung Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von<br />

Dürer bis Youtube mündete. <strong>Degas</strong>. Klassik und Experiment<br />

widmet sich einem Œuvre, das zu den komplexesten<br />

des 19. Jahrhunderts zählt und das eine ganz besondere<br />

Herausforderung für die wissenschaftliche Erschließung<br />

darstellt. Wie lässt sich Übersicht herstellen in einem<br />

Werk, das über 1500 Gemälde und Pastelle, mehrere Tausend<br />

Zeichnungen und Graphiken sowie Hunderte von<br />

plastischen Arbeiten umfasst? Wie lässt sich Orientierung<br />

gewinnen in einem Bestand, der sowohl technisch als<br />

auch motivisch komplizierter ist als die meisten anderen<br />

Werkkomplexe der Epoche?<br />

Alexander Eiling, der Kurator für Malerei und Skulptur<br />

der Moderne in der Kunsthalle, hat diese Herausforderung<br />

angenommen. <strong>Degas</strong>. Klassik und Experiment trägt<br />

ganz seine Handschrift. Auf der Basis des <strong>Degas</strong>-Bestands<br />

der Kunsthalle und seiner intensiven Forschungen zu<br />

Original und Kopie im Kontext der Ausstellung Déjà-vu?<br />

hat er den gedanklichen Ansatz der Ausstellung entwickelt<br />

und die Gesamtkonzeption ausformuliert. Schnell<br />

hat sich gezeigt, dass der Kurator die Partner des Projektes,<br />

insbesondere die Leihgeber, mit seiner spezifischen<br />

Fragestellung überzeugen konnte und viel Anerkennung<br />

für seine Komposition von Werkensembles erhielt. Aber<br />

<strong>Degas</strong>’ Bilder zählen zu den viel gefragten Werken im internationalen<br />

Leihverkehr; zahlreiche seiner Arbeiten sind<br />

aufgrund ihrer besonderen Materialität in fragilem Zustand;<br />

nicht alle Leihwünsche konnten von daher in<br />

Erfüllung gehen. Es galt, auf einem langen Verhandlungsweg<br />

jene Substanz zu sichern, die unerlässlich für die<br />

plausible Darstellung der Ausstellungsidee zu sein schien.<br />

Dass dies gelungen ist, ist der wissenschaftlichen Expertise<br />

und dem klugen und hochengagierten Vorgehen von<br />

Alexander Eiling zu verdanken, der sich über knapp zwei<br />

Jahre der Vorbereitung dieser Ausstellung gewidmet hat.<br />

Als Ergebnis ist ein Konvolut von 120 <strong>Degas</strong>-Werken aus<br />

nationalen und internationalen Sammlungen zu besichtigen,<br />

darunter Hauptwerke des Künstlers ebenso wie seltener<br />

gezeigte Trouvaillen. Ergänzt wird das reiche Ensemble<br />

durch eine gezielte Auswahl an Bildern von älteren<br />

Künstlern und Zeitgenossen – von Rembrandt, Ingres,<br />

Géricault, Chassériau, Daumier, Manet, Gauguin und<br />

Cézanne –, bei denen der Kurator nicht zuletzt aus den<br />

Eigenbeständen der Kunsthalle schöpfen konnte. Unser<br />

gemeinsamer Dank gilt allen Leihgebern, die sich für dieses<br />

überaus lohnende Vorhaben gewinnen ließen und die<br />

der Kunsthalle ihre kostbaren Werke für die Dauer der<br />

Ausstellung anvertraut haben.<br />

Wie bereits bei früheren Projekten zur französischen<br />

Kunst, so war auch bei der Vorbereitung dieser Ausstellung<br />

der intensive Gedankenaustausch mit Margret Stuffmann<br />

eine wertvolle Hilfe, ohne die das anspruchsvolle<br />

Projekt nicht in dieser Weise hätte gelingen können.<br />

Walter Feilchenfeldt ist der Ausstellung nicht nur als Leihgeber<br />

verbunden, sondern hat das Projekt auch durch die<br />

Vermittlung von Kontakten zu wichtigen <strong>Degas</strong>-Sammlern<br />

sehr unterstützt. Ann Dumas, Kuratorin mehrerer<br />

<strong>Degas</strong>-Ausstellungen in den vergangenen Jahren, sowie<br />

Martin Schwander, der Kurator der <strong>Degas</strong>-Ausstellung<br />

der Fondation Beyeler, haben sich bei Privatsammlern<br />

sehr für das Projekt eingesetzt. Zahlreiche weitere Kolleginnen<br />

und Kollegen in anderen Häusern haben zum Gelingen<br />

unserer Ausstellung mit ihrem Wissen und ihren<br />

Kontakten beigetragen. Herzlich danken wir Sébastien<br />

Allard, Gudrun Buehl, Stephanie Buck, James N. Carder,<br />

Michael Clarke, João Castel-Branco Pereira, Line Clausen<br />

Pedersen, Guy Cogeval, Evelyne Ferlay, Gerhard Finckh,<br />

Frances Fowle, Flemming Friborg, Lukas Gloor, Gloria<br />

Groom, Kimberly Jones, Anabelle Kienle, Eberhard W.<br />

Kornfeld, Paul Lang, Henri Loyrette, Suzanne Folds<br />

McCullagh, Mary Morton, Diane Nixon, Stephen Ongpin,<br />

Xavier Rey, Christopher Riopelle, Andrew Robison,<br />

Luísa Sampaio, Ev und René Scharf, F. Carlo Schmid,<br />

Jutta Schütt, Karen Serres, Guillermo Solana, Martin<br />

Sonnabend, Werner Spies, Baronin Carmen Thyssen-<br />

Bornemisza, Dominique Vazquez, Margit Weinberg<br />

Staber, Bill Zachs und Annabelle Zettel.<br />

Alexander Eiling war gleichfalls verantwortlich für die<br />

Gesamtkonzeption des <strong>Katalog</strong>es und der Begleitmedien,<br />

mit denen die Ausstellung vermittelt wird. In seinem<br />

grundlegenden Einführungstext profiliert er <strong>Degas</strong> als<br />

Protagonisten einer Kunstgeschichte, die sich nicht als<br />

lineare Fortschrittsgeschichte darbietet, sondern sich in<br />

der Verknüpfung gegenläufiger Orientierungen ereignet.<br />

In diesem Sinne entfalten auch die Beiträge von Margret<br />

Stuffmann, MaryAnn Stevens und Anett Göthe eine differenzierte<br />

Sicht auf <strong>Degas</strong>’ Beitrag zur Moderne, der<br />

durch den Artikel von Bettina Kaufmann zur Erwerbungsgeschichte<br />

von <strong>Degas</strong> in deutschen Museen ergänzt<br />

wird. Unser Dank gilt allen Autorinnen für ihre instruktiven<br />

Essays. Ariane Mensger, Maike Hohn, Viola Hildebrand-Schat<br />

sowie Alexander Eiling und die Kolleginnen<br />

aus der Kunsthalle, Sonja Maria Krämer, Astrid Reuter,<br />

Dorit Schäfer, Nina Trauth und Katharina Weiler, haben<br />

für jedes Exponat eigens <strong>Katalog</strong>texte verfasst und sie mit<br />

dem aktuellen Forschungsstand in den Kontext der Ausstellung<br />

integriert; auch hier lag der weitaus größte Teil<br />

der Textarbeit bei Alexander Eiling. Bei der Erarbeitung


14<br />

DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT<br />

von Ausstellung und <strong>Katalog</strong> wurde der Kurator von Sonja<br />

Maria Krämer als kuratorischer Assistentin tatkräftig unterstützt.<br />

Ihre fundierten Kenntnisse über den Künstler<br />

und sein Werk haben das Projekt sehr bereichert. Bei der<br />

<strong>Katalog</strong>redaktion waren außerdem Nina Trauth und Tessa<br />

Rosebrock hilfreich. Unser herzlicher Dank gilt dem <strong>Katalog</strong>-Team<br />

innerhalb der Kunsthalle ebenso wie der tatkräftigen<br />

Lektorin Juliane Betz und dem Hirmer Verlag<br />

mit Jutta Allekotte für die Projektbetreuung, Peter Grassinger<br />

für die Herstellung, Sabine Gottswinter-Pätzold<br />

für das Korrektorat sowie Ingrid Hacker-Klier für die<br />

Übersetzungsarbeit. Bei der graphischen Gestaltung hat<br />

sich die Zusammenarbeit mit Fine German Design,<br />

Frankfurt, wieder bewährt; unser Dank gilt Carsten<br />

Wolff, Larissa Pelka, Irina Kistner und Lilly Hummel. Für<br />

die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung sind<br />

wir der Ernst von Siemens Kunststiftung, ihrem Präsidenten<br />

Armin Zweite und ihrem Geschäftsführer Joachim<br />

Fischer sowie der International Music and Art Foundation,<br />

Liechtenstein, sehr zu Dank verpflichtet.<br />

Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen innerhalb der<br />

Kunsthalle haben tatkräftig zum Gelingen des vielschichtigen<br />

Projektes beigetragen. Ein besonderer Dank gilt unserer<br />

umsichtigen Registrarin Rieke Friese für die vorzügliche<br />

Abwicklung des Leihverkehrs. Die Junge Kunsthalle<br />

zeigt die instruktive Begleitausstellung Wie malt <strong>Degas</strong>?,<br />

die von Sybille Brosi, Petra Erler-Striebel und Elena<br />

Welscher eingerichtet und von Enver Isufi, Christoph<br />

Heimbach und Andres Kilian künstlerisch begleitet wird.<br />

Die Presseabteilung mit Alexandra Hahn und Isabel<br />

Koch, die Marketing-Abteilung mit Rebecca Debatin, die<br />

Fotowerkstatt und die Bibliothek sind hier ebenso zu nennen<br />

wie die Restaurierungsabteilung unter der Leitung<br />

von Thomas Heidenreich. Der Aufbau in den Räumen im<br />

Obergeschoss des Durmflügels wurde von der technischen<br />

Abteilung unter Michael Kirchgässner betreut. Bei<br />

der Gestaltung der Präsentation kam uns die Beratung<br />

von Nina S. Beitzen, unterstützt von Valeska Höchst, zugute.<br />

Allen sei vielmals für die gute Zusammenarbeit<br />

gedankt.<br />

Das Begleitprogramm zur Ausstellung eröffnet thematisch<br />

und methodisch differenzierte Perspektiven auf<br />

Künstler und Werk. Dass wir Beat Wyss, Professor an der<br />

Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, für einen Vortrag<br />

gewinnen konnten, erfüllt uns mit großer Dankbarkeit.<br />

In Fortsetzung unserer bewährten Kooperation mit<br />

der Hochschule für Musik Karlsruhe veranstaltet die<br />

Kunsthalle eine vierteilige Konzertreihe im Begleitprogramm<br />

der Ausstellung. Für die immer wieder erfreuliche<br />

Zusammenarbeit danken wir dem Rektor der Hochschule<br />

Hartmut Höll, Markus Stange und Anna Zassimova<br />

sowie Daniel Fueter und den Studierenden.<br />

Hauptsponsor der Ausstellung ist die L-Bank Staatsbank<br />

für Baden-Württemberg, die damit die gewachsenen guten<br />

Verbindungen zur Kunsthalle ein weiteres Mal unter<br />

Beweis stellt. Unser herzlicher Dank gilt Christian Brand,<br />

dem ehemaligen Vorstandssprecher, und Cordula Bräuninger,<br />

der Leiterin der Abteilung Kommunikation, für<br />

die großzügige Förderung. Dankbar heben wir die Förderung<br />

der Ausstellung durch den Dr. Ilse Völter Stiftungsfonds<br />

und die Sparkassenstiftung GUTESTUN hervor.<br />

Unser Dank gilt Ilse Völter sowie Michael Huber, dem<br />

Vorstandssprecher der Sparkasse Karlsruhe Ettlingen, und<br />

Gisela von Renteln, der Geschäftsführerin der Sparkassen-<br />

Stiftung.<br />

In diesen Dank schließen wir alle weiteren Partner des<br />

Projektes ein: die Deutsche Bahn, unseren Mobilitätspartner,<br />

das Autohaus Graf Hardenberg, die vielen Partner<br />

in den Medien, die zur breiten Kommunikation der<br />

Ausstellung beitragen, sowie die hilfreichen Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter in den städtischen Ämtern und<br />

Tochtergesellschaften. Hierzu zählen die Karlsruher<br />

Messe- und Kongress-GmbH, die Karlsruhe Tourismus<br />

GmbH, die Karlsruhe Event GmbH sowie die Stadtmarketing<br />

Karlsruhe GmbH.<br />

Dass S. E. Philippe Étienne, der Botschafter der Französischen<br />

Republik, und der Staatssekretär im Ministerium<br />

für Wissenschaft, Forschung und Kunst Jürgen Walter<br />

MdL die gemeinsame Schirmherrschaft für <strong>Degas</strong>. Klassik<br />

und Experiment übernommen haben und damit ihre Verbundenheit<br />

mit der Kunsthalle zum Ausdruck bringen,<br />

heben wir dankbar hervor.<br />

In <strong>Degas</strong>’ Kunst ist aufgrund ihrer doppelten Orientierung<br />

auf Vergangenheit und Zukunft vieles in Bewegung.<br />

Auf diese beziehungsreiche Bildwelt hat sich einzulassen,<br />

wer <strong>Degas</strong> nahekommen will. In Bezug auf das<br />

Nachleben seiner Kunst hat er einmal formuliert, er wolle<br />

»illustre et inconnu« – berühmt und unbekannt – sein.1<br />

Unsere Ausstellung zeigt einige bisher weniger bekannte<br />

Facetten dieses berühmten Künstlers, von dem zu Recht<br />

gesagt wurde, er habe »sein Jahrhundert gegen den Strich<br />

gebürstet«.2<br />

1 Lemoisne 1946, Bd. 1, S. 1.<br />

2 Hofmann 2007, S. 275.


16<br />

DEGAS. KLASSIK UND EXPERIMENT<br />

Klassik und<br />

Experiment im Werk<br />

von Edgar <strong>Degas</strong><br />

ALEXANDER EILING<br />

Als sich <strong>Degas</strong> in seinem letzten Schaffensjahrzehnt<br />

noch einmal Mantegnas Gemälde Minerva vertreibt<br />

die Laster aus dem Garten der Tugend in Form einer außergewöhnlichen,<br />

nahezu monochromen Pastellkopie (Abb. 1,<br />

Kat. 79) zuwandte, tat er dies sowohl als Hommage an<br />

einen von ihm zeitlebens bewunderten Künstler als auch<br />

in einer Form von Dialog, um die Vorbildhaftigkeit der<br />

Alten Meister für sein eigenes Schaffen von Neuem auszuloten.<br />

<strong>Degas</strong> war zu diesem Zeitpunkt längst zum Maler des<br />

modernen Lebens geworden, dessen Darstellungen aus<br />

der Pariser Oper (Abb. 2) und dem Ballett, aus dem bürgerlichen<br />

Café-Concert oder von der mondänen Rennbahn<br />

ihn bis heute als vermeintlichen Chronisten der<br />

Belle Epoque erscheinen lassen. Seine Bildlösungen vermögen<br />

selbst den heutigen Betrachter noch zu überraschen,<br />

ihre kompositorische Umsetzung gewagt und kühn<br />

erscheinen, doch wäre eine rein auf seine Modernität abstellende<br />

Lesart − als mögliche Vaterfigur einer kommenden<br />

Avantgarde − überaus verfehlt. Seine vielzitierte Äußerung<br />

über den Kern seines Werkes, das frei von jeglicher<br />

Spontaneität sei und aus dem mühsamen Wiederholen<br />

der immergleichen Motive bestehe, wird meist unterschätzt<br />

und scheint vom Nimbus seiner fälschlichen Etikettierung<br />

als Impressionist überstrahlt zu werden.1<br />

Tatsächlich hat <strong>Degas</strong>’ Kunst mit dem Impressionismus<br />

eines Claude Monet, der auf die flüchtige Wiedergabe<br />

des unmittelbaren Augeneindrucks ausgerichtet ist, so<br />

gut wie nichts gemein. Seine Themen waren nicht die<br />

Bootspartien auf der Seine oder die Spaziergänger im<br />

Park, keine Picknicks, Gärten, Seerosenteiche oder Mohn-<br />

felder, die in freier Natur mit pastosem Pinselstrich auf<br />

die Leinwand gebracht wurden. Dagegen setzte er eine<br />

planvolle und hochgradig konstruierte Art des Bildermachens,<br />

deren scheinbare Momenthaftigkeit und Zufälligkeit<br />

das Ergebnis strenger kompositorischer Berechnung<br />

sind. Trotz seiner Funktion als Organisator der Impressionisten-Ausstellungen<br />

ab Mitte der 1870er Jahre erklärt<br />

sich <strong>Degas</strong>’ Kunst viel eher aus der Differenz zwischen<br />

ihm und dieser Strömung, der er zeitlebens nah und fern<br />

zugleich stand.<br />

Die Ausstellung möchte der pauschalen Einordnung<br />

des Künstlers als Impressionist entgegenwirken, indem sie<br />

immer wieder auf die Bedeutung der klassischen Tradition<br />

für sein Werk verweist, Vorbilder und Referenzpunkte<br />

offenlegt, dabei aber zugleich Einblick in das breite Spektrum<br />

seiner zum Teil hochexperimentellen Herstellungsverfahren<br />

gibt. <strong>Degas</strong>’ Kunst entwickelte sich in einem<br />

kreativen Spannungsverhältnis aus »Klassik und Experiment«,<br />

das die Vorbildhaftigkeit der Alten Meister zum<br />

Leitmotiv macht, ohne sich dabei Neuerungen und Einflüssen<br />

wie der Fotografie oder den japanischen Farbholzschnitten<br />

zu verschließen, die gewohnte Sehweisen auf<br />

bisher ungeahnte Art und Weise aufbrachen. In dieser<br />

Hinsicht ist er vielleicht nur mit Edouard Manet<br />

(1832 – 1883) zu vergleichen, dem er sich in freundschaftlicher<br />

Rivalität verbunden fühlte und deren besonderes<br />

– für das Verständnis von <strong>Degas</strong>’ Werk äußerst erhellende<br />

– Verhältnis Gegenstand eines eigenen Essays ist.2<br />

Alle Exponate der Ausstellung werden im zweiten Teil des<br />

<strong>Katalog</strong>es einzeln besprochen und in Kapiteln zusammengefasst,<br />

die die Entwicklung zentraler Motivgruppen


KLASSIK UND EXPERIMENT IM WERK VON EDGAR DEGAS<br />

17<br />

1 Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend<br />

(Kopie nach Andrea Mantegna), 1897, Pastell auf Leinwand,<br />

66 × 81 cm, Paris, Musée d’Orsay<br />

2 Das Ballett »Robert der Teufel«, 1876, Öl auf Leinwand,<br />

76,6 × 81,3 cm, London, Victoria and Albert Museum<br />

vom Früh- bis ins Spätwerk nachzeichnen. Die auf diese<br />

Weise entstehenden Nachbarschaften mögen bisweilen<br />

überraschen, veranschaulichen aber <strong>Degas</strong>’ gattungsübergreifende<br />

Bildkonzeption, die Kopie, Porträt, Historie<br />

und Genre miteinander verbindet. Die vorgegebene Gliederung<br />

ist lediglich eine Lesart, ein Angebot an die<br />

Betrachter, um einen Künstler zu verstehen, dessen vielschichtiges<br />

Werk nicht allein durch eine verengte Wahrnehmung<br />

einzelner Themenkomplexe wie Ballett und<br />

Boudoir greifbar wird. Erst das Wissen um das polyfokale<br />

Zusammenspiel und die gegenseitige Abhängigkeit seiner<br />

Motive führt <strong>Degas</strong>’ vernetztes Denken in seiner ganzen<br />

Komplexität vor Augen. Erst das Wissen um seine<br />

permanente Suche nach zeitgemäßen Darstellungsformen<br />

des erzählerischen Mehrfigurenbildes verdeutlicht, warum<br />

ihn sein Weg vom antiken Griechenland in den Proberaum<br />

der Pariser Oper, vom Parthenon-Fries auf die<br />

Rennbahn von Longchamp, von der klassischen Aktdarstellung<br />

ins Bordell führte.<br />

<strong>Degas</strong> und die Alten Meister<br />

Als sektionsübergreifende Elemente erscheinen in Ausstellung<br />

und <strong>Katalog</strong> immer wieder Beispiele für <strong>Degas</strong>’<br />

umfangreiche Kopiertätigkeit, die sich nicht nur auf zahlreichen<br />

Skizzenbuchseiten niederschlug, sondern von der<br />

Druckgraphik über die bildmäßige Zeichnung bis hin zur<br />

großformatigen Leinwand reichte. Das Spektrum seiner<br />

Kopien ist dabei außerordentlich breit und beinhaltet sowohl<br />

von der Akademie sanktionierte Meister wie Raffael,<br />

Leonardo, Bronzino, Poussin und den von ihm obsessiv<br />

verehrten Ingres als auch einige eher untypische Vorbilder<br />

wie Botticelli, Tizian, Rembrandt, Rubens, van Dyck und<br />

vor allem Delacroix, die von der vorurteilsfreien Aufnahme-<br />

und Verarbeitungsfähigkeit des jungen Künstlers<br />

zeugen. Wie Margret Stuffmann in ihrem Beitrag ausführlich<br />

darlegt, war die Kopie für <strong>Degas</strong> kein kanonisch<br />

abzuarbeitendes Kurrikulum auf dem Weg zur freien<br />

künstlerischen Arbeit, sondern ist eine conditio sine qua<br />

non für das tiefere Verständnis seines Schaffens.3 Die in<br />

Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch außerordentlich<br />

hoch angesehene Kopie bildete das Fundament<br />

seines Gesamtwerks, war Inspiration und zugleich<br />

Rückversicherung für seine eigenständigen Bilderfindungen,<br />

denen, aller Orientierung zum Trotz, nichts Epigonales<br />

anhaftet.4<br />

Die Ausstellung fußt in diesem Bereich vor allem auf<br />

den grundlegenden Forschungen von Theodore Reff, der<br />

sich über viele Jahre hinweg wie kein Zweiter systematisch<br />

mit den Kopien im Werk von <strong>Degas</strong> beschäftigt hat.5 Darüber<br />

hinaus wurde sie angeregt durch Projekte wie die<br />

Ausstellung Copier Créer, die die herausragende Bedeutung<br />

der Sammlungen des Louvre für das Schaffen zahlreicher<br />

französischer Künstler des 19. Jahrhunderts zum<br />

Thema machte.6 Auch sind es die äußerst erhellenden<br />

Querverbindungen zwischen <strong>Degas</strong>’ Kopien und seinem<br />

Gesamtwerk, die Richard Thomson in The Private <strong>Degas</strong><br />

aufgezeigt hat.7 Und nicht zuletzt lieferte das der Kunst<br />

der Wiederholung gewidmete Karlsruher Ausstellungsprojekt<br />

Déjà-vu? wesentliche Impulse für die vertiefte Beschäftigung<br />

mit der umfangreichen Kopiertätigkeit des<br />

Künstlers.8

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