AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
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wenn du nicht bald kommst, friere<br />
ich zum Eiszapfen.“<br />
Er wusste nicht, wie die Fische zur<br />
Winterzeit im Weiher lebten, wie sie<br />
Weihnachten verbrachten. Vielleicht<br />
kauerten sie auf dem Grund, träumten<br />
von dicken Regenwürmern, oder sie<br />
schliefen, oder sie lagen starr im Eis<br />
und warteten auf den Frühling. Es begann<br />
zu schneien, vereinzelt taumelten<br />
Flocken ins Schilf. Wenn sie das<br />
Wasser erreichten, lösten sie sich auf,<br />
als wären sie nie dagewesen.<br />
„Fisch, komm raus! Du sollst sehen,<br />
wie der Schnee fällt.“<br />
Wenn er die Flocken sieht, wird er aus<br />
dem Wasser springen und danach<br />
schnappen, dachte der Junge. Dann<br />
wollte er ihm gut zureden, ihm den<br />
Regenwurm zeigen, ihn mit den Händen<br />
greifen und nach Hause tragen.<br />
Eine Stunde saß er am Weiher und<br />
fror. Wenn ich mit leeren Händen<br />
komme, wird sie wieder traurig sein,<br />
dachte er. Es wird kein Weihnachtsessen<br />
geben, sie wird von früheren<br />
Zeiten reden, von kross gebratenen<br />
Gänsen und Steinadlern, die von Felsen<br />
stürzen.<br />
„Lass mich nicht im Stich!“ rief der<br />
Junge über den Teich.<br />
Da war es ihm, als sei Leben in dem<br />
Bindfaden. Er bewegte sich, es raschelte<br />
im Gras, und als der Junge<br />
zugriff, spannte sich das Band. Es<br />
plätscherte heftig, die stille Wasserfläche<br />
zerbrach, und als das Ende<br />
der Schnur aus der Tiefe auftauchte,<br />
lag ein Fisch vor seinen Füßen, groß<br />
wie ein Männerarm. Mit einem Ruck<br />
beförderte er ihn ins Gras. Dann warf<br />
er sich über ihn. Ruhig lag der Fisch<br />
in seinen Armen, er blickte den Jungen<br />
an, seine Schuppen leuchteten<br />
wie Silber. Er zappelte nicht, er hielt<br />
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das Maul weit geöffnet, seine Kiemen<br />
zuckten, und durch die Flossen lief<br />
ein leichtes Zittern.<br />
„Du bist ein schöner Fisch“, sagte<br />
der Junge, legte seinen Arm neben<br />
ihn ins Gras, um ihn zu messen. Er<br />
wog ihn in den Händen und fand, er<br />
sei schwer wie ein Ziegelstein. Von<br />
so einem Fisch könnten zwei satt<br />
werden, und es bliebe noch etwas<br />
übrig für den nächsten Tag.<br />
„Bist du ein Karpfen?“ fragte der<br />
Junge, während er behutsam den<br />
Haken aus dem Fischmaul entfernte.<br />
Ein Tropfen Blut fiel ins Gras, der<br />
Fisch hielt still und zuckte nicht.<br />
„Der Wurm hat dir wohl geschmeckt,<br />
Fisch. Du dachtest, das wäre ein<br />
Weihnachtsbraten, nun bist du mein<br />
Weihnachtsbraten.“<br />
Der Fisch blieb stumm. Sicher fror er<br />
in der kalten Luft. Der Junge zog seinen<br />
Pullover aus, wickelte den Fisch<br />
hinein, knotete die Ärmel zusammen<br />
und warf das Bündel auf den Rücken.<br />
„Warte nur, bald kommst du in<br />
die Stube. Ich werde dir eine Schüssel<br />
mit warmem Wasser geben. Du<br />
sollst es gut haben.“<br />
In froher Stimmung eilte er nach Hause,<br />
freute sich über die dichter fallenden<br />
Flocken, blieb an erleuchteten<br />
Fenstern stehen, um zu hören, wie sie<br />
Weihnachtslieder sangen.<br />
„Welch ein schöner Weihnachtsbraten!“<br />
rief die Mutter, als er den Fisch<br />
auswickelte und auf den Küchentisch<br />
platschen ließ. Der Fisch lag wie tot,<br />
hielt das Maul weit geöffnet, die kalten<br />
Augen starrten zu der Glühbirne,<br />
die über dem Tisch baumelte.<br />
„So einen herrlichen Fisch hab’ ich<br />
mein Lebtag nicht gesehen“, sagte<br />
sie und faltete die Hände vor dem<br />
Leib.