AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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St. Martin und das Russlandkind Von Rotraut Ullrich-Hoeppel 22 Dies ist die Geschichte einer wundersamen Begegnung einer Ostpreußin mit dem alten niederrheinischen Martinsbrauch. Am Martinstag ziehen die Kinder der niederrheinischen Dörfer und Städte mit bunten Lampions über die Straßen und singen zu den Klängen einer Blaskapelle das Martinslied. Es erzählt die Legende von St. Martin, dessen Pferd in eiskalter Nacht vor dem Bettler am Wege scheute. „Ach, helft mir doch in meiner Not, sonst ist der böse Frost mein Tod!“ so flehte der arme Mann, und der Ritter erbarmte sich, indem er seinen pelzverbrämten Mantel mit seinem Schwert in zwei gleiche Teile schnitt und den einen dem Armen reichte. Seitdem ich als Heimatvertriebene am Niederrhein wohne, habe ich jahrelang den vorweihnachtlichen Zauber meiner masurischen Heimatlandschaft vermisst. Hier taut der Schnee gleich wieder fort, und der Nadelwald ist eine kostbare Seltenheit. Doch in dem Martinszug der Kinder, deren bunte Lampions sanft über die dunkle, neblige Ebene schaukeln, sehe ich einen tröstenden Ersatz. Ihr friedliches Bild und ihr versöhnendes Ziel des christlichen Teilens ist auch von vorweihnachtlicher Stimmung getragen. Das Schicksal der Anna Lusat aber erfüllte den Sinn dieser Mantelteilung für unsere Gegenwart. Und ich möchte es all den Landsleuten erzählen, die das eigene Geschick immer noch in herber Abwehr gegen ihre neue, fremde Umwelt leben lässt. Aber auch den anderen, für die wir Vertriebenen die lästigen Eindringlinge geblieben sind. Denn bald kommt die Zeit der vier sanften Kerzen am Adventskranz, die uns allen gemeinsam leuchten sollten. Am Martinstag des Jahres 1950 kam die Anna Lusat aus sibirischer Gefangenschaft zurück. Sie stand mit ihrem kleinen Mädchen an der rechten Hand und zwei Pappschachteln in der linken auf dem nebligen Bahnhof einer niederrheinischen Kleinstadt. Ihr Weg sollte zu einer ehemaligen Mitgefangenen führen, die ein Jahr früher entlassen worden war und in dieser fremden Stadt ihre Heimat hatte. Heimat! Welch ein ferner und schmerzvoller Begriff für Anna. Auch sie wurde in einer Kleinstadt geboren. Doch diese lag zwischen den Seen und Hügeln des südlichsten Ostpreußen, und sie war heute so arm und verlassen wie Anna selbst. Dieser hatte der Krieg das härteste Frauenlos gebracht. Er überrollte sie auf dem großen Gut, auf dem sie jahrelang als Sekretärin gearbeitet hatte. Man tat ihr Gewalt an und schleppte sie in die Zwangsarbeit. Ihre Seele wehrte sich verzweifelt gegen das wachsende Leben unter ihrem erstarrten Herzen. Aber sie musste es austragen, und trotz Hunger und schwerster Arbeit wurde es unter der innigen Anteilnahme aller Lagerinsassinnen geboren. Als man ihr das Kind in den Arm legte, so blond und blauäugig wie sie selbst es war, konnte sie über der Hilflosigkeit des kleinen Wesens die schräge Augenstellung

vergessen, die das Zeichen des fremden Volkes der Steppe war. Anna begann das verwünschte Kind zu lieben und hätte es um keinen Preis der Welt mehr hergegeben. Heute, auf diesem dunklen Bahnhof mit den vielen hastenden Menschen, die alle ein Zuhause hatten, kam sie sich selbst so hilflos vor, dass sie sich an das zarte Händchen des Kindes klammerte. „Hat Tante Maria wirklich ein weißes Bett und immer soviel Brot, wie sie nur essen will?“ fragte die Dreijährige mit leiser Stimme. „Im Lager hat sie mir versprochen, soviel Kerzen anzuzünden, wie ich Finger habe, wenn ich sie zu Hause besuchen würde!“ Anna schluckte an den Antworten auf diese armseligen Fragen und Wünsche. „Tante Maria wird ihre Versprechen halten!“ Sie zog Angelika durch die Sperre. Da blieben ihre Augen an einem gänzlich ungewohnten Anblick hängen. Zwischen den kahlen Bäumen einer Allee schwebten viele bunte Laternen, die von Kindern getragen wurden, deren helle Stimmen ein unbekanntes Lied sangen. „Was ist das?“ fragte Angelika. „Ich weiß es nicht! antwortete Anna und verstand einige Liedfetzen, die das Wort Sankt Martin wiederholten. Jetzt marschierten die Kinder dicht an ihnen vorbei. Vorneweg ritt ein weißhaariger, schön gewandeter Mann mit einer Bischofsmütze. Angelikas Augen hingen wie verzaubert an den leuchtenden Lampions und der hellen Erscheinung. „So viele Kerzen, Mutter!“ flüsterte sie heiser vor Erregung. „Und vorn der liebe Gott! Reitet er mit den Kindern in den Himmel?“ „Ich weiß es nicht!“ antwortete Anna wieder, die sich als Protestantin die Martinsgestalt nicht erklären konnte. Doch ihr Herz war angerührt worden von den wenigen Worten, die sie deutlich verstanden hatte. „Ach, helft mir doch in meiner Not, sonst ist der böse Frost mein Tod!“ Sie dachte an ein Stück sibirischen Urwaldes, in dem schattenhafte Gestalten bei klirrender Kälte Bäume fällen mussten. Und angesprochen von dem fremden Liede packte sie Angelika und ihre letzten Habseligkeiten und reihte sich in den Zug ein. Zu gleicher Zeit mit dem Martinszug hatte auf dem Marktplatz der schwere Wagen des Dr. van Ackern gehalten, der von einer erfolgreichen Geschäftsbesprechung aus den Webereien vor den Toren der Stadt kam. Das alt vertraute Martinslied hing ihm im Ohr, und er summte es unwillkürlich mit. Langsam schlenderte er der Menschenansammlung zu, um sich die Szene der Mantelteilung anzusehen. Er kam neben Anna zu stehen. Angelika stellte sich gerade auf die Zehenspitzen und flehte: „Mutter, ich kann den lieben Gott nicht mehr sehen!“ Er drehte sich belustigt um und sagte lachend zu dem kleinen Ding tief unter sich: „Na, komm, du gläubiges Vögelchen, ich zeige ihn dir wieder.“ Er hob sie auf seinen Arm. Anna ließ die kleine Hand nicht los, und da erst merkte er, dass die zwei zusammengehörten. „Ich nehme sie Ihnen nicht weg!“ Er schob Angelika noch ein wenig höher, und dabei streifte seine Nase ihren grauen Mantel. Diesem entstieg der unangenehme Desinfektionsgeruch des Durchgangslagers. 23

vergessen, die das Zeichen des<br />

fremden Volkes der Steppe war. Anna<br />

begann das verwünschte Kind zu<br />

lieben und hätte es um keinen Preis<br />

der Welt mehr hergegeben.<br />

Heute, auf diesem dunklen Bahnhof<br />

mit den vielen hastenden Menschen,<br />

die alle ein Zuhause hatten, kam sie<br />

sich selbst so hilflos vor, dass sie<br />

sich an das zarte Händchen des Kindes<br />

klammerte.<br />

„Hat Tante Maria wirklich ein weißes<br />

Bett und immer soviel Brot, wie sie<br />

nur essen will?“ fragte die Dreijährige<br />

mit leiser Stimme. „Im Lager hat sie<br />

mir versprochen, soviel Kerzen anzuzünden,<br />

wie ich Finger habe, wenn<br />

ich sie zu Hause besuchen würde!“<br />

Anna schluckte an den Antworten auf<br />

diese armseligen Fragen und Wünsche.<br />

„Tante Maria wird ihre Versprechen<br />

halten!“ Sie zog Angelika durch<br />

die Sperre.<br />

Da blieben ihre Augen an einem<br />

gänzlich ungewohnten Anblick hängen.<br />

Zwischen den kahlen Bäumen<br />

einer Allee schwebten viele bunte Laternen,<br />

die von Kindern getragen<br />

wurden, deren helle Stimmen ein unbekanntes<br />

Lied sangen.<br />

„Was ist das?“ fragte Angelika.<br />

„Ich weiß es nicht! antwortete Anna<br />

und verstand einige Liedfetzen, die<br />

das Wort Sankt Martin wiederholten.<br />

Jetzt marschierten die Kinder dicht<br />

an ihnen vorbei. Vorneweg ritt ein<br />

weißhaariger, schön gewandeter<br />

Mann mit einer Bischofsmütze. Angelikas<br />

Augen hingen wie verzaubert an<br />

den leuchtenden Lampions und der<br />

hellen Erscheinung. „So viele Kerzen,<br />

Mutter!“ flüsterte sie heiser vor Erregung.<br />

„Und vorn der liebe Gott! Reitet<br />

er mit den Kindern in den Himmel?“<br />

„Ich weiß es nicht!“ antwortete Anna<br />

wieder, die sich als Protestantin die<br />

Martinsgestalt nicht erklären konnte.<br />

Doch ihr Herz war angerührt worden<br />

von den wenigen Worten, die sie<br />

deutlich verstanden hatte. „Ach, helft<br />

mir doch in meiner Not, sonst ist der<br />

böse Frost mein Tod!“ Sie dachte an<br />

ein Stück sibirischen Urwaldes, in<br />

dem schattenhafte Gestalten bei klirrender<br />

Kälte Bäume fällen mussten.<br />

Und angesprochen von dem fremden<br />

Liede packte sie Angelika und ihre<br />

letzten Habseligkeiten und reihte sich<br />

in den Zug ein.<br />

Zu gleicher Zeit mit dem Martinszug<br />

hatte auf dem Marktplatz der schwere<br />

Wagen des Dr. van Ackern gehalten,<br />

der von einer erfolgreichen Geschäftsbesprechung<br />

aus den<br />

Webereien vor den Toren der Stadt<br />

kam. Das alt vertraute Martinslied<br />

hing ihm im Ohr, und er summte es<br />

unwillkürlich mit. Langsam schlenderte<br />

er der Menschenansammlung zu,<br />

um sich die Szene der Mantelteilung<br />

anzusehen. Er kam neben Anna zu<br />

stehen. Angelika stellte sich gerade<br />

auf die Zehenspitzen und flehte:<br />

„Mutter, ich kann den lieben Gott<br />

nicht mehr sehen!“ Er drehte sich belustigt<br />

um und sagte lachend zu dem<br />

kleinen Ding tief unter sich: „Na,<br />

komm, du gläubiges Vögelchen, ich<br />

zeige ihn dir wieder.“<br />

Er hob sie auf seinen Arm. Anna ließ<br />

die kleine Hand nicht los, und da erst<br />

merkte er, dass die zwei zusammengehörten.<br />

„Ich nehme sie Ihnen nicht<br />

weg!“ Er schob Angelika noch ein<br />

wenig höher, und dabei streifte seine<br />

Nase ihren grauen Mantel. Diesem<br />

entstieg der unangenehme Desinfektionsgeruch<br />

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