12/01 - Evangelische Kirchen in Erfurt
12/01 - Evangelische Kirchen in Erfurt
12/01 - Evangelische Kirchen in Erfurt
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
19 THEATERGOTTESDIENST<br />
Warten auf die Barbaren<br />
Dr. Michael Haspel<br />
Theatergottesdienst 5 anlässlich der Premiere<br />
„Warten auf die Barbaren“ am Theater <strong>Erfurt</strong><br />
am Sonntag, dem 11. September 2005 <strong>in</strong> der<br />
Kaufmannskirche am Anger. Nach der Weltpremiere<br />
am Samstagabend br<strong>in</strong>gt der Prediger Dr.<br />
Michael Haspel am Sonntagmorgen im Theatergottesdienst,<br />
vier Jahre nach dem Anschlag<br />
auf das New Yorker World Trade Center, die<br />
Opern<strong>in</strong>szenierung vor Augen das Erzählen der<br />
Bibel zur Sprache.<br />
Der Theologe und Privatdozent für Sozialethik<br />
an der Philipps-Universität Marburg und designierte<br />
Direktor der <strong>Evangelische</strong>n Akademie<br />
Thür<strong>in</strong>gen folgt den Spuren der Religion <strong>in</strong> der<br />
Lebenswelt der Moderne und setzt e<strong>in</strong> Nachdenken<br />
über den Menschen zwischen den verschw<strong>in</strong>denden<br />
Lebenswelten und den mit Zivilisationsgegenständen<br />
markierten Lebenswelten,<br />
zwischen zivilisierter Gesellschaft und<br />
Ängste auslösendem Naturvolk, zwischen Anpassung<br />
an extreme Lebensbed<strong>in</strong>gungen und<br />
Abgrenzung von der als fe<strong>in</strong>dselig erlebten<br />
Umwelt.<br />
Liebe Theatergottesdienstgeme<strong>in</strong>de,<br />
liebe Schwestern und Brüder!<br />
I.<br />
E<strong>in</strong> verschlafenes Grenzstädtchen. E<strong>in</strong>e letzte<br />
karge Oase vor der Wüste. Am Rande e<strong>in</strong>es Imperiums.<br />
Die Menschen leben von Ackerbau,<br />
Viehzucht, der Jagd und etwas Handel mit den<br />
Barbaren, die jenseits dieser Grenze leben. Die<br />
Grenze ist dicht genug, daß das Imperium von<br />
außen nicht bedroht wird. Und sie ist offen<br />
genug, daß der kle<strong>in</strong>e Grenzverkehr funktioniert.<br />
Sie ist e<strong>in</strong>e Schwelle zwischen der Zivilisation<br />
des Imperiums und jener der Barbaren.<br />
Der Zustand ist schon über Generationen so.<br />
Deshalb ist weitgehend vergessen, welche Gewaltakte<br />
nötig waren, um die Barbaren von ihrem<br />
ursprünglichen Land weiter <strong>in</strong> die Ödnis<br />
h<strong>in</strong>aus zu vertreiben. Hüben und Drüben hat<br />
man sich daran gewöhnt; außer kle<strong>in</strong>eren Viehdiebstählen<br />
und gelegentlichen Grenzscharmützeln<br />
kann man von e<strong>in</strong>er friedlichen Koexistenz<br />
sprechen. Die Präsenz e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en<br />
Garnison reicht aus, um die strukturelle Gewalt<br />
des Reichsfriedens, der pax imperii, nicht nur<br />
aufrechtzuerhalten, sondern auch vergessen zu<br />
machen. Es ersche<strong>in</strong>t als selbstverständlich, daß<br />
die Siedler das fruchtbare Land haben und die<br />
Barbaren als Nomaden <strong>in</strong> der Wüste leben.<br />
Nicht diese Ordnung selbst, sondern nur ihre<br />
Störung wird als Gewalt wahrgenommen.<br />
Die Szene wird dramatisch, als e<strong>in</strong> sonnenbebrillter<br />
Oberst der Geheimpolizei auftaucht. Er<br />
wittert e<strong>in</strong>e Verschwörung der Nomaden; macht<br />
Gefangene und foltert aus ihnen die Informationen<br />
heraus, die se<strong>in</strong> Bedrohungsszenario bestätigen.<br />
Der Magistrat, Repräsentant des faulen<br />
riedens an der Grenzstadt, unideologischer<br />
Meister des pragmatischen Grenzmanagments,<br />
wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ablehnung des urors der Sonderpolizei<br />
selbst verdächtig und schließlich<br />
Opfer der entwürdigenden olter.<br />
Es gibt e<strong>in</strong>e Entsprechung der Verletzung der<br />
Grenzen der e<strong>in</strong>zelnen Menschen, ihrer Würde,<br />
und der Nichtrespektierung der territorialen<br />
Grenzen. Zunächst werden die körperlichen<br />
und seelischen Grenzen der e<strong>in</strong>zelnen<br />
mißachtet, dann zum großen präventiven Militärschlag<br />
ausgeholt.<br />
Wenn e<strong>in</strong> solcher Plott am Abend vor dem 11.<br />
September aufgeführt wird und im Libretto noch<br />
H<strong>in</strong>weise auf den Siedlungsbau gegeben werden,<br />
liegen aktuelle Inanspruchnahmen dieses<br />
25 Jahre alten Stoffes nahe, allzu nahe.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong> Happy End. Das geht nicht, denn<br />
die olter und der Krieg h<strong>in</strong>terlassen immer Spuren,<br />
manchmal über Generationen h<strong>in</strong>weg, die<br />
sich nicht e<strong>in</strong>fach so übergehen lassen. Auch<br />
nicht von Versöhnungskommittees und Überprüfungskommissionen.<br />
Und doch bleibt Hoffnung: Der Militärschlag<br />
wird zum Debakel. Die Armee wird von den<br />
Barbaren <strong>in</strong> die Wüste geschickt und geht dort<br />
an ihrer eigenen Grenzenlosigkeit zu Grunde.<br />
Die wenigen Überlebenden verlassen den<br />
Grenzort überstürzt. Der Zorn der Bevölkerung,<br />
der sich noch vor kurzer Zeit <strong>in</strong> nationalistischer<br />
Verblendung gegen die Barbaren und ihre<br />
verme<strong>in</strong>tlichen reunde gerichtet hat, entlädt<br />
sich jetzt gegen die Sicherheitspolizei. Die Un-