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Download Heimatdesign Nr.6 als PDF - Bande - Für Gestaltung!

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<strong>Heimatdesign</strong><br />

1 <strong>Nr.6</strong> • Winter 2009 /2010 2<br />

Raul Mandru im Interview<br />

Kulturhauptstädte im Vergleich<br />

Galerien im Ruhrgebiet<br />

Mode: LudvÍk » SiSie » JotJot » Frisur Clothing


Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt.<br />

Wir machen den Weg frei.<br />

www.dovoba.de


E d i t o r i a l<br />

Irgendwas ist ja immer. Wenn es gar zu turbulent wird,<br />

wünschen wir uns zwar, dass wir die Rädchen der Höllenmaschine<br />

anhalten könnten – wissen aber: Stillstand<br />

bedeutet Tod. Und hoffen darauf, dass uns alle Turbulenzen<br />

wenigstens voranbringen. Für <strong>Heimatdesign</strong><br />

stimmt das auf viele Weise.<br />

Im Frühjahr sollte der Laden umziehen, was mehr Aufwand<br />

bedeutete, <strong>als</strong> ursprünglich gedacht. Doch dann,<br />

<strong>als</strong> die Möbel aufgearbeitet, die Telefone aufgestellt,<br />

zwei von drei Räumen gestrichen waren, der Termin für<br />

die Eröffnungsfeier rausposaunt war, kam der Anruf:<br />

Bei euch fließt ein Wasserfall das Schaufenster herunter.<br />

Kein Beinbruch, aber ein Rohrbruch von Format,<br />

nur ein Raum blieb trocken – selbstverständlich der, der<br />

noch nicht renoviert war. Immerhin konnte so zum geplanten<br />

Termin wenigstens eine Ausstellung anlaufen,<br />

während nebenan im Büroraum noch Ventilatoren statt<br />

Computern brummten. Im Mai war es dann geschafft:<br />

<strong>Heimatdesign</strong> hat sein Konzept mit Laden, Ausstellungsfläche<br />

und Agenturbüro ab sofort räumlich auseinanderklamüsert.<br />

Der Umzug bedeutete auch: <strong>Heimatdesign</strong> rückt näher<br />

ans Dortmunder U, mit dem so viele Hoffnungen verbunden<br />

sind, was die so genannte Kreativwirtschaft angeht.<br />

Und je näher das Kulturhauptstadtjahr 2010 rückt,<br />

desto deutlicher häufen sich die Anfragen der Kreativen:<br />

Ob <strong>Heimatdesign</strong> denn nicht hier kooperieren möchte.<br />

Oder da beraten. Oder dort ein Konzept schreiben. Irgendwas<br />

ist ja immer.<br />

Zum Beispiel Concrete Playground, eine Streetart- und<br />

Streetculture-Veranstaltung, die sich von Mai bis Oktober<br />

2010 in Bochum, Dortmund und Essen abspielen<br />

wird. Dafür arbeitet <strong>Heimatdesign</strong> mit Jiri Katter und<br />

Martin Magielka zusammen. Vorher aber kommt noch<br />

die Designers Fair: Die Messe in Kooperation mit den<br />

Kölner Passagen war im letzten Januar so erfolgreich,<br />

dass die Kölner ebenso wie die Aussteller nach einer Zugabe<br />

verlangten.<br />

Noch früher, nämlich jetzt, kommt die neue Ausgabe<br />

von <strong>Heimatdesign</strong>. Und da komme nun ich ins Spiel.<br />

Ich war gar nicht hier, <strong>als</strong> sie entstand, sondern in New<br />

York. Das kommt davon, wenn sich wegen der oben<br />

erzählten Malessen Produktionstermine verschieben.<br />

Nach ein paar Investitionen (Zigaretten kosten in New<br />

York 9,50 Dollar, Antibiotika 54,99 Dollar, die Klimaanlage<br />

beutelt das Ökogewissen und erzeugt eine beachtliche<br />

Stromrechnung, dafür sind graue Haare gratis) weiß<br />

ich: Chefredaktion funktioniert auch aus der Ferne.<br />

Pünktlich zu den Schlusskorrekturen kam ich nach<br />

Dortmund, alles andere war internationale Kommunikation.<br />

Ich führte unter anderem ein Interview mit<br />

einem Griechen und sprach mit einem Rumänen, der<br />

in Düsseldorf wohnt. Über Texte verhandelte ich mit<br />

Autoren, die in Eindhoven beziehungsweise London<br />

über der Tastatur hockten, für Recherchen telefonierte<br />

ich mit Menschen in Edinburgh und, natürlich: Dortmund.<br />

Das passt zu dieser Ausgabe: <strong>Heimatdesign</strong> hat seine<br />

geografischen Grenzen überschritten. Es war an der<br />

Zeit, Design aus dem Ruhrgebiet selbstbewusst mit den<br />

Werken aus anderen Großstädten zu vergleichen. Erstm<strong>als</strong><br />

haben wir etwa mit Frisur Clothing eine Modestrecke<br />

mit einer Kollektion, die nicht aus Bochum, Essen<br />

oder Köln kommt. Wir präsentieren den Dortmunder<br />

Designer Pierre Kracht, der auf der Mailänder Designwoche<br />

vertreten war – unsere Autorin war dort auch.<br />

Und ein Autoren-Fotografen-Team besuchte gleich vier<br />

europäische Kulturhauptstädte: Die perfekte Grundlage,<br />

um sich über Sinn und Unsinn dessen Gedanken zu<br />

machen, was uns hier nächstes Jahr erwartet.<br />

Uns. Streng genommen: euch. Ich bin die Pendelei leid<br />

und werde nächstes Jahr nach New York gehen. Irgendwas<br />

ist eben immer.<br />

Viel Spaß beim Lesen!<br />

Petra Engelke, Chefredakteurin<br />

<strong>Heimatdesign</strong> – Laden, Ausstellungsraum und Agentur<br />

Hoher Wall 15<br />

44137 Dortmund<br />

www.heimatdesign.de<br />

Öffnungszeiten:<br />

Laden: dienstags bis samstags von 11 bis 18 Uhr<br />

Ausstellungsfläche: mittwochs bis samstags von 14 bis 18 Uhr<br />

kommende Ausstellungen:<br />

01. bis 31.10.2009: Pierre Kracht und Robert Matzke<br />

05.11. bis 05.12.2009: Jiri M.R. Katter und Mathias Schmitt<br />

Designers Fair<br />

18. bis 24.01.2010, RheinTriadem, Köln<br />

www.designersfair.de<br />

Concrete Playground<br />

Streetart Festival im Rahmen der Kulturhauptstadt<br />

Europas RUHR.2010<br />

Mai bis Oktober 2010, Essen, Bochum, Dortmund


www.macht–mich–schlau.de


<strong>Heimatdesign</strong> <strong>Nr.6</strong><br />

04 Editorial<br />

06 Inhalt<br />

98 Impressum<br />

10 heimatkunde<br />

10 Neues aus der Heimat<br />

14 Da schau her!<br />

16 heimatobjekt<br />

16 Betreten erlaubt<br />

Bei Jan Kath auf den Teppich geklopft<br />

20 „Während der Designwoche wird Mailand<br />

zu einem Spielplatz.“<br />

Wie ein Dortmunder nach Mailand<br />

kommt: Interview mit Pierre Kracht<br />

22 heimatbild<br />

22 Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind<br />

aus Papier<br />

Im Vergleich: Wie Theater ihre Plakate<br />

gestalten<br />

24 Der Überflieger<br />

Warum Talent allein nicht reicht:<br />

Raul Mandru im Porträt und Interview<br />

28 Typo-Typen<br />

Leihschriften für <strong>Heimatdesign</strong>:<br />

Guido Schneider und Daniel Angermann<br />

30 Designer illustrieren Heimat<br />

36 heimatkultur<br />

36 Der dritte Weg<br />

Was sich hinter Soundsketching verbirgt<br />

38 Ultras im Tonnengewölbe<br />

Wie das Theater Rottstr5 Geld<br />

heranschafft<br />

40 Das Fest des Wandels<br />

Eingeordnet: 2010 aus der Perspektive<br />

anderer Kulturhauptstädte


44 heimatkleid<br />

44 Multiple Persönlichkeitsmode<br />

Wie Michaela Glasstetter und<br />

Julia Weinstock drei Labels bändigen<br />

46 Farben, Dreck und Leidenschaft<br />

Fanbekleidung aus ästhetischer Sicht<br />

48 „Wir schauen, wie Statements gestrickt<br />

sind.“<br />

Interview mit Schalalala-Gründer Rüdiger<br />

Schlömer<br />

50 jungehelden<br />

die Modestrecken<br />

50 Ludvík<br />

58 Frisur Clothing<br />

66 SiSie<br />

74 Jotjot<br />

82 heimatlust<br />

82 Für eine Handvoll Cent<br />

Kioske im Ruhrgebiet:<br />

Nostalgie- oder Designobjekt?<br />

86 Gallery Hopping<br />

Eine Karte für das Ruhrgebiet<br />

88 Ortsbegehung<br />

diesmal: La Gondola<br />

90 heimatgedanke<br />

90 Nashville – Bochum - Bangkok<br />

Schriftsteller Hartmuth Malorny im<br />

Porträt – plus Originaltext<br />

92 Eigentlich …<br />

Betrachtungen über krumme Lebensläufe<br />

94 Design versus Kunst<br />

Starke Worte von Experten<br />

96 Kolumne: Heimgeleuchtet<br />

diesmal: Alle wollen Bottrop-Urlaub<br />

(aber keiner kann’s sich leisten)


<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 6<br />

Winter 2009/2010<br />

Sascha Abel, Daniel Angermann,<br />

Thomas Armborst, <strong>Bande</strong> – Für<br />

<strong>Gestaltung</strong>!, Volker K. Belghaus,<br />

Alexandra Brandt, Svenja Brüggemann,<br />

Petra Engelke, Anna-Ruth Fakner, Jana<br />

Gerberding, Sandra<br />

Greiling, Annika Janssen,<br />

Wolfgang Kienast, Reinhild<br />

Kuhn, Matylda Krzykowski,<br />

Vanessa Leissring, Michael<br />

Lippoldt, Hartmuth Malorny,<br />

Grobilyn Marlowe, Marc Röbbecke,<br />

Guido Schneider, Jörg Schuster, Marzena<br />

Skubatz, Tom Thelen, Michael Thieme,<br />

Stephanie<br />

Julia Wagner,<br />

Philipp Wente,<br />

Jan Wilms, Tanja<br />

Wißing, Hannes<br />

Woidich, Ivonne<br />

Woltersdorf


Kult[ur]getränk<br />

www.bionade.com


Aufsässig<br />

Gleich zwei „if communication design awards“<br />

holte Peymaneh Luckow im Mai 2009 nach<br />

Schwerte. Für zwei Bücher, mit denen sie im<br />

Oktober 2008 ihr Diplom an der Ruhrakademie<br />

bestanden hatte. Beide beschäftigen sich<br />

mit Frauen im Iran. Die leben in einer Männergesellschaft,<br />

unter einem Mullah-Regime,<br />

furchtbar muss das sein, denkt man hier, und<br />

geht dann dem deutschen Alltag nach. Peymaneh<br />

Luckow wollte es genauer wissen und reiste<br />

in das Land, aus dem ihre Familie stammt. Sie<br />

fragte Frauen nach ihren Wünschen, Hoffnungen<br />

und Interessen, begleitete sie – und stieß<br />

dabei auf ein harmonisches und buntes Leben,<br />

oft im Kontrast zu Repressalien und wirtschaftlicher<br />

Not. Luckow entdeckte viele Formen der<br />

Subversion, mit denen die Iranerinnen sich<br />

Freiräume schaffen oder schlicht ihren Alltag<br />

bewältigen. Eine einzige <strong>Gestaltung</strong>sform reichte<br />

ihr danach nicht, um ihre Beobachtungen zu<br />

verarbeiten. In „Zan – die Frau“ führt sie ihre<br />

Gedanken mit Illustrationen, Collagen und freien<br />

Arbeiten aus. „Schleierhaft“ ist ein Bilderbuch<br />

mit rund 3.000 Fotos. Viele davon musste<br />

Luckow heimlich schießen.<br />

w w w . p e y m a n e h . d e<br />

Kreativkurbel<br />

Bereits im letzten Jahr hat Essen seine „Kreative<br />

Klasse“ ausgerufen: vom Modedesigner bis zum<br />

Musiker, vom Romanautor bis zum Comiczeichner,<br />

vom Schauspieler bis zum Videospiel-<br />

Programmierer. All jene lockte das Team mit<br />

allerlei Veranstaltungen aus dem Dunkel. Jetzt<br />

weitet sich das Konzept auf das gesamte Ruhrgebiet<br />

aus: Am 26. September findet das erste Festival<br />

der Kreativen Klasse Ruhr statt. In mehreren<br />

Städten gibt es da erstens ordentlich was zu<br />

sehen: Ausstellungen, Themen-Walks, Konzerte,<br />

Performances, Happenings oder Mitmach-<br />

Aktionen sollen zeigen, was die Szene so drauf<br />

hat. Zweitens steht Bildung auf dem Programm:<br />

Workshops und Vorträge stellen den Begriff<br />

Kreative Klasse in schulischen Zusammenhang<br />

und unterstützen all jene, die dazulernen möchten.<br />

Drittens soll das Ganze Spaß machen –<br />

und den Beteiligten vielleicht auch ein bisschen<br />

Geld einbringen: Shopping-Events und Popup-Stores<br />

bedienen Konsumsehnsüchte, Partys<br />

und Gaming-Events den Spieltrieb. Und alles<br />

ruhrgebietsweit verteilt. Vorher, bereits ab dem<br />

11. September, macht Essens Kreative Klasse vor,<br />

wie das geht. Den Begriff „Kreative Klasse“ hat<br />

der Wirtschaftsprofessor Richard Florida geprägt.<br />

Er ist der Ansicht, dass die kreativen Köpfe<br />

einer Gesellschaft mit ihren Ideen letztlich<br />

die Wirtschaft ankurbeln. Mal schauen, ob das<br />

funktioniert.<br />

w w w . k r e a t i v e k l a s s e r u h r . d e<br />

Underdogma<br />

Christian Ebert und Michael Weber machen<br />

Filme. Ohne Fördergelder, ohne Sponsoren,<br />

ohne Vertrieb. Sie wollen im geschäftlichen<br />

Niemandsland stattfinden, sagen sie. So könnte<br />

man im Nachhinein etwas rechtfertigen,<br />

das zu schlecht ist, um Geldgeber zu finden.<br />

Doch nicht hier: Ebert und Weber machen es<br />

zum Konzept, sich Marktfragen zu verweigern<br />

– rotznasig nennen sie sich „Black Trash Productions“.<br />

In ihrem neuesten Werk „Cowboy<br />

Canoe Coma“ paddelt ein Hamburger Freizeitcowboy<br />

zusammen mit einem Straßenmusiker,<br />

den er <strong>als</strong> lebenden Kassettenrekorder engagiert,<br />

durch die Wildnis. Nach einem Streit zieht er allein<br />

weiter, gerät unter einen Ausflugsdampfer,<br />

fällt ins Koma – und da endet der Film beileibe<br />

nicht. Geld verdienen die Macher damit nicht;<br />

trotzdem ist Anerkennung die Konsequenz. Zumindest<br />

auf der Künstlerseite: Kino- und TV-<br />

Schauspieler wie Annette Uhlen, Catrin Striebeck<br />

und Walter Sittler spielen in diesem Film.<br />

Man kann ihn <strong>als</strong> Gratis-DVD bestellten, <strong>als</strong><br />

iPod- bzw. iPhone-Version von ihrer Website laden,<br />

und wer eine Film-Party veranstalten will,<br />

darf die Bochumer einladen – dann kommen sie<br />

samt Videobeamer ins Haus.<br />

w w w . b l a c k t r a s h . o r g<br />

heimatkunde | nr. 6


Polizeifest<br />

Loseblattsammlung<br />

Der rote Punkt ist begehrt. Würde er buchstäblich<br />

auf „Moonjelly“ geklebt, verschandelte er<br />

sie zwar. Im übertragenen Sinne aber freuen<br />

sich die Macher von Limpalux, dass eine Red<br />

Dot Product Design-Auszeichnung an ihr Werk<br />

gepappt wurde. Die Pendelleuchte aus Papier<br />

brachte Anja Eder und Michael Römer ordentlich<br />

Lorbeeren ein. Das Ganze begann für Eder<br />

und Römer mit Kunstobjekten – für Ausstellungen<br />

experimentierten sie mit Objekten, für<br />

deren filigrane Struktur sie Seiten aus Büchern<br />

lösten. Inzwischen haben sie eine Manufaktur<br />

in einer denkmalgeschützten Wuppertaler Fabrik<br />

eingerichtet. Dort stellen sie in Handarbeit<br />

Raumobjekte her. Organisch und skulptural<br />

wirken ihre Leuchten: Die kreisförmig angeordneten<br />

Papierlamellen lassen das Licht diffus<br />

nach unten abstrahlen. Hängt das zarte Material<br />

am offenen Fenster, greift der Wind danach,<br />

seine Form verändert sich sanft im Laufe des<br />

Tages. Offenbar finden manche dieses Design<br />

futuristisch: Eine Filmproduktionsfirma möchte<br />

„Moonjelly“ bei der Ausstattung von „Die<br />

kommenden Tage“ verwenden – der Film soll<br />

2023 spielen.<br />

w w w . l i m p a l u x . d e<br />

Am 02.10. erscheint ein neues Album von Too<br />

Strong – „Rap Music Is Life Music“. Damit<br />

schenkt sich die HipHop-Formation zum 20. Geburtstag<br />

eine Bestätigung ihrer Hartnäckigkeit.<br />

Die Geschichte von Too Strong beginnt schließlich<br />

bereits 1989 in Dortmund. Hochöfen plus<br />

Arbeiterklasse nehmen sie <strong>als</strong> Basis für glaubwürdigen<br />

HipHop, den sie in den dreckigsten<br />

Kaschemmen und kleinsten Städtchen auf die<br />

Bühne bringen. Stolz nennen sie sich „Inbegriff<br />

des Ruhrpott-HipHops“. Pure Doze, Der Lange<br />

(aka Atom One) und bald auch Funky Chris<br />

arbeiten hart an ihrem Ruf. 1993 kommt eine<br />

erste EP, die schon im Titel sagt, worum es geht:<br />

„Rabenschwarze Nacht“ erzählt vom Alltag der<br />

Graffiti-Gemeinde zwischen Bahngleisen und<br />

Polizeischeinwerfern. 2001 schocken sie plötzlich<br />

nicht mehr das Establishment, sondern ihre<br />

Fans: Der Lange verlässt während neuer Aufnahmen<br />

die Gruppe. Das war’s. Zumindest für<br />

ein paar Jahre. 2005 raufen die Drei sich wieder<br />

zusammen, veröffentlichen ihr fünftes Album<br />

und entscheiden sich, nebenher Soloprojekten<br />

nachzujagen. Dass Funky Chris 2007 seinen<br />

Hut nimmt, führt aber nicht zur neuerlichen<br />

Auflösung. Unter anderem feiert das Jubiläumsalbum<br />

einen Song der Hagener NDW-Kapelle<br />

Extrabreit: „Polizisten“. Die Beamten sind eben<br />

ein zeitloses Thema.<br />

w w w . t o o s t r o n g . d e


Tagesgeschäft<br />

Innovation, Marktfähigkeit, Wachstumspotenzial<br />

– dulle Wortblasen aus dem Marketingsprech,<br />

nichtsdestotrotz Stichworte, die man<br />

draufhaben muss, will man Kredite oder Fördergelder<br />

angeln. Man geht ja nicht mit Schwimmflügeln<br />

ins Haifischbecken. Und es gibt passende<br />

Unterstützung: Unternehmer-Qualitäten<br />

für Kreative vermittelt die Gründungswerkstatt<br />

Kreativwirtschaft, ins Leben gerufen von der<br />

Dortmunder Wirtschaftsförderung und der<br />

VHS. Ob man nun Mode, Produktdesign, Film<br />

oder Tanz im Sinne hat: Zunächst stellt man<br />

seine Idee in wenigen Minuten einer Jury vor,<br />

dann folgen Vorträge, Workshops und Einzelgespräche,<br />

mit deren Hilfe man binnen eines<br />

Tages ein handfestes Geschäftskonzept entwickelt.<br />

Obendrein kürt die Jury drei Gewinner:<br />

Sie bekommen Geldpreise zwischen 500 und<br />

1.500 Euro. Design lag beim ersten Wettbewerb<br />

im Februar weit vorne: Den Hauptpreis gewann<br />

Anika Beller-Kraft mit ihrem Label Zechenkind<br />

(Accessoires aus recycelter Bergmannkleidung).<br />

Die Jury entschied sich außerdem für Arzo-<br />

Carina Renz, eine weitere Diplomdesignerin,<br />

die sich allerdings mit einem Tanz-Konzept beworben<br />

hatte. Dritte wurden Mirjam Gille und<br />

Aylin Yavuz mit dem Kinderbuchverlag Gillvuz.<br />

Ab November 2009 kann man sich zur dritten<br />

Runde bewerben.<br />

www.kultur-unternehmen-dor tmund.de<br />

Vinylmonster<br />

Trifft man Wolfgang Antonius Kienast alias<br />

Martini persönlich, empfindet man ihn <strong>als</strong><br />

freundlichen, entspannten und ruhigen Zeitgenossen.<br />

Scheinbar im Widerspruch dazu steht<br />

das Tempo, in dem er neue Ideen raushaut und<br />

oft auch veröffentlicht. In der vergangenen Ausgabe<br />

präsentierte <strong>Heimatdesign</strong> eine Auswahl<br />

seiner „Fabelhaften Monstergeschichten”, zu<br />

denen kurz zuvor auch ein Hörbuch erschien.<br />

Inzwischen ist unter dem Titel „Das Monster im<br />

Gewitter” bereits ein weiteres Hörbuch erschienen.<br />

Obendrein lässt Martini neue Elemente<br />

einfließen: Er tat sich für die Aufnahmen mit<br />

dem Musiker und Performance-Künstler Ilias<br />

Ntais (siehe auch Seite 36 in dieser Ausgabe) zusammen.<br />

Akustische Reize tröpfeln nun auf die<br />

Gefühlspalette, mit der Martini seine Monstergeschichten<br />

ins Notizbuch tupft. Die Geschichten<br />

liest Martini selbst ein; seine Stimme folgt<br />

den Figuren, die sich um ein Monster bewegen,<br />

das alle Waldbewohner in Angst und Schrecken<br />

versetzt und sich nicht immer so verhält, wie<br />

man es erwartet. Als alter Schallplattenfan sorgte<br />

Martini außerdem dafür, dass „Das Monster<br />

im Gewitter” nicht nur <strong>als</strong> CD, sondern auch <strong>als</strong><br />

10”-Vinyl erhältlich ist.<br />

w w w . m o n s t e r g e s c h i c h t e n . d e<br />

Schlafstoff<br />

Schon seit einer Weile macht Annika Rinke Accessoires<br />

unter dem Label Gute Luise: Taschen<br />

für Schminkzeug, Laptop, Krimskrams dominieren<br />

ihr Programm. Immer wieder kommt<br />

Neues hinzu: Im Moment feilt die Bochumer<br />

Designerin an den Schnitten für Sporttaschen<br />

sowie Gürteltaschen, die ab Oktober erhältlich<br />

sein werden. Passend zu den Neuheiten gestaltet<br />

sie auch ihre Website um – viele Arbeitsproben<br />

sollen zeigen, welche Bandbreite ihr Angebot inzwischen<br />

hat. Doch neben den kundenfreundlichen<br />

Überlegungen gibt es diesmal auch einen<br />

ganz persönlichen Grund für neue Ideen: Im<br />

Dezember wird Annikas erstes Kind zur Welt<br />

kommen. Diesen Sommer schon stellte sie fest:<br />

Es gibt nicht genug schöne Sachen für diesen<br />

Anlass. Nicht, dass sie jetzt Windelbeutel genäht<br />

hätte. Neu im Programm sind Spieluhren<br />

in Tierform. Die Biester haben im Prinzip den<br />

gleichen Körperbau, aber unterschiedliche Ohren,<br />

Haare, Füße – und verwandeln sich so in<br />

Eule, Katze oder Hase. Ihr Innenleben dudelt<br />

Wiegenlieder, zum Beispiel von Mozart oder<br />

Beethoven, außen sind sie nach demselben<br />

Muster gestaltet wie alles andere bei Gute Luise:<br />

Immer sind ausgefallene Stoffe im Spiel, mit<br />

denen man sich wohlfühlen kann. Egal, wie alt<br />

man ist.<br />

w w w . g u t e - l u i s e . c o m<br />

heimatkunde | nr. 6


Zeitraffer<br />

Das Präsentationsspiel beginnt aufs Neue: In<br />

sechs Minuten und 40 Sekunden zeigen allerlei<br />

kreative Menschen, was sie drauf haben.<br />

Ihr Vortrag ist auf 20 Folien á 20 Sekunden<br />

beschränkt, führt <strong>als</strong>o langweilige Sessions mit<br />

bekannten Computerprogrammen aufs richtige<br />

Gleis zurück – der Begriff „Pecha Kucha“<br />

kommt aus dem Japanischen und bedeutet so<br />

viel wie „wirres Geplapper“. In Dortmund gab<br />

es bereits drei Pecha Kucha-Nächte, bei denen<br />

Architekten, Filmemacher, Grafikbüros und<br />

freie Künstler vorstellten, was sie aktuell machen,<br />

wer sie sind, was sie zu bieten haben. Am<br />

31. Oktober um 20.10 Uhr darf man sich im<br />

DEW21 Kundenzentrum (Ostwall 51) einfinden,<br />

um sich inspirieren und unterhalten zu lassen<br />

– oder gar Kreative zu finden, die man buchen<br />

möchte. Mit dabei sein werden unter anderem<br />

das Deutsche Fußballmuseum, das Mitte 2012<br />

in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs<br />

eröffnet werden soll, und ISEA, eine internationale<br />

Medienkunstkonferenz im Rahmen des<br />

Kulturhauptstadtjahres, bei der es unter anderem<br />

eine E-Culture Fair geben soll. Wer auch<br />

ein paar Folien auflegen möchte, kann sich bis<br />

Mitte Oktober über die Website bewerben.<br />

Was macht<br />

eigentlich … 667?<br />

In der allerersten <strong>Heimatdesign</strong>-Ausgabe war<br />

das Team 667 mit einer Modestrecke vertreten.<br />

„One Step ahead of the Devil“ ist ihr Claim, und<br />

den nehmen sie ernst. Gerade gehen sie wieder<br />

einen Schritt nach vorne: Zunächst war ihr Stil<br />

stark vom Motorsport inspiriert, inzwischen bewegen<br />

sie sich zu Crooner-Outfits – jede coole<br />

Socke findet hier ein Lieblingsteil. Besonders<br />

bei den Kollektionen für die weiblichen Anhänger<br />

ziehen 667 Siebenmeilenstiefel an: Vom<br />

Schal über Cardigan bis zu Daunen- und Lederjacke<br />

stimmt hier eigentlich alles. Prompt wagen<br />

sie einen weiteren Schritt: Nachdem das kleine<br />

Team zunächst nur ein kleines Ladenlokal hatte<br />

und seine Kleider auf einem Dachboden fertigte,<br />

ist es in den letzten Monaten umgezogen. Tim<br />

Brückmann, Christian Kühne, Tobias Schulte<br />

und Anna Eindorf präsentieren sich jetzt in einem<br />

großen Showroom mit angegliederten Büros<br />

in bester Lage in Düsseldorf, wo die nächsten<br />

Ordertermine bereits eingebucht sind. Dort<br />

hat das Team 667 außerdem genug Freiraum für<br />

neue Ideen.<br />

www.kultur-unternehmen-dortmund.de<br />

für Unternehmensgründungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft<br />

w w w . p e c h a k u c h a - d o r t m u n d . d e<br />

w w w . t e a m 6 6 7 . c o m<br />

technische universität<br />

dortmund<br />

gefördert durch


N<br />

Der Herbst ist grau. Wie schön!<br />

ignis<br />

aer<br />

№ 09<br />

6<br />

terra<br />

aqua<br />

W<br />

Da schau her!<br />

№ 4<br />

2Süße Beschwerde 1<br />

Ein Schokokuss ist schlecht für die<br />

Zähne. Dieser hier führt das knallhart<br />

vor. Da muss man eben kreativ<br />

werden, um ein Einsatzgebiet<br />

zu finden: Als Briefbeschwerer<br />

taugt er beispielsweise hervorragend.<br />

Und er schmilzt nicht.<br />

Von Vorstellungskraft, ca. 23 Euro<br />

www.vorstellungskraft.com<br />

№ 6<br />

2 Matt 1<br />

Man spricht gern von<br />

warmem Licht. Aber<br />

was wärmt die Leuchte<br />

selbst? Die Berliner<br />

Designer llot llov haben<br />

eine bestrickende Lösung<br />

gefunden, die man sich<br />

beim Lesen auch um<br />

den kratzenden H<strong>als</strong><br />

schlingen kann.<br />

Von llot llov, ca. 280 Euro<br />

www.llotllov.de<br />

№ 5<br />

2Ted 1<br />

Vier Fächer für Kreditkarten, großes Münzfach,<br />

Geldscheinfach – alles unauffällig untergebracht<br />

in der Brieftasche im Used-Look. Wer nicht so<br />

viele Penunzen hat, kann auch Zettel, Jetons und<br />

Fotos drin verwahren.<br />

Von Feuerwear, ca. 39 Euro<br />

www.feuerwear.de


S<br />

O<br />

№ 2<br />

2Tremonia 1<br />

Da hilft kein Bleichmittel mehr: Das Grau durch ollen Zechenstaub<br />

bleibt in Bergmannskleidung hängen. Der Stoff<br />

hat jede Menge Kohle geatmet, Schweiß gesaugt – und gibt<br />

in gewaschener, recycelter Form eine robuste Tasche her.<br />

Von Zechenkind, ca. 129 Euro<br />

www.zechenkind.de<br />

№ 1<br />

2 Bill 1<br />

Hüftgold macht Ringe, einen Schlauch wickelt sich niemand<br />

freiwillig um den Bauch. Ausnahme: diesen gebrauchten Feuerwehrschlauch.<br />

Durch die flexibel verstellbare Schnalle passt er<br />

auch noch, wenn man einen Schwabbelring losgeworden ist.<br />

Von Feuerwear, ca. 39 Euro<br />

www.feuerwear.de<br />

№ 3<br />

2 Frühstück im Bett 1<br />

Zugegeben, Beton ist hart. Doch er muss<br />

ganz und gar nicht ungemütlich sein. Julia<br />

Lodes macht ein Kissen draus, auf dem sich<br />

ein Ei niederlassen kann – es muss dazu<br />

nicht einmal hartgekocht sein.<br />

Von Betoniu, ca. 22 Euro<br />

www.betoniu.de


Betreten erlaubt<br />

Omas Perser war gestern: Der Bochumer Jan Kath rockt mit seinen<br />

Teppichentwürfen die internationale Bodenbelagszene.<br />

text Volker K. Belghaus | illustration Michael Lippoldt<br />

„Noch fünf Minuten!“ Jan Kath läuft zwischen Teppichrollen,<br />

Paletten und Speditionsleuten umher, weist auf<br />

eine Couch – „Bin gleich da!“, ist kurz hinter seinen Teppichstapeln<br />

verschwunden, kommt wieder, „Kaffee oder<br />

Wasser?“, „Wasser, danke!“, unterschreibt Formulare und<br />

passt auf, dass auch alle Teppiche im LKW verschwinden.<br />

Auf den Rollen prangen Zettel mit vier Herzen und der<br />

Aufschrift „Handle with Love“. Nette Geste. Ein letzter<br />

Blick hinterher, <strong>als</strong> der Wagen aus der Einfahrt rollt und<br />

die Ware ihren Weg in ein Kairoer Penthouse nimmt.<br />

Etwas abgekämpft lässt sich Kath auf die Couch in jener<br />

ehemaligen Bochumer Fabrikhalle fallen, die ihm<br />

<strong>als</strong> Büro, Lager und Repräsentanz dient. Ein lichter<br />

Raum; auf dem Boden und an den Wänden Teppiche.<br />

Klassische Perser, wie sie weiland von Kaths Eltern im<br />

hiesigen Fachgeschäft verkauft wurden, sucht man aber<br />

vergeblich. Es sind Kaths eigene Interpretationen des<br />

Mediums Teppich; „Erased Classic“ nennt er seine neue<br />

Kollektion – abstrakt, monochrom und teils seltsam gebraucht<br />

aussehend. Sie ist das Ergebnis einer längeren<br />

Erfolgsgeschichte, die vor gut 15 Jahren begann.<br />

„Dam<strong>als</strong> bin ich hippiemäßig durch die Welt gereist,<br />

nach Indien und Goa, einfach drauflos.“ Irgendwann<br />

ist er dann in Nepal gelandet, wo er einen Deutschen<br />

traf, der dort eine Teppichmanufaktur leitete – „Mainstreamware<br />

für den Massenmarkt, aber immerhin!“ Als<br />

dieser einen Nachfolger suchte, hob Kath leicht größenwahnsinnig<br />

die Hand. Seitdem lässt er dort von einheimischen<br />

Facharbeitern seine Teppiche produzieren.<br />

Dass diese leistungsgerecht bezahlt werden, hat ihm das<br />

„Fair Trade“-Siegel eingebracht, außerdem profitiert er<br />

vom Fachwissen der Menschen. Anders <strong>als</strong> die Konkurrenz<br />

besteht Kath darauf, keine billige Import-Wolle aus<br />

Australien zu verarbeiten. „Das ist die Holland-Tomate<br />

unter den Wollen; sieht zwar schön aus, hat aber keine<br />

Qualität.“ Ganz im Gegenteil zu seinen Teppichen, welche<br />

aus Himalaya-Wolle, Seide oder marokkanischer<br />

Wolle hergestellt werden und international ihre Abnehmer<br />

finden. Ob Privatleute oder Unternehmen wie „das<br />

erfolgreichste französische Modelabel“, das weltweit<br />

seine Geschäfte mit Kath’scher Ware ausstatten ließ –<br />

Grönemeyer irrte: Bochum ist doch eine Weltstadt.<br />

Jedenfalls, was den Bereich Teppichdesign angeht.<br />

Dem Einwand, dass seine Teppiche doch nur für Menschen<br />

mit dem nötigen Kleingeld in Frage kommen,<br />

begegnet Kath lässig: „Natürlich produzieren wir hauptsächlich<br />

für das Luxussegment. Im Grunde braucht das<br />

kein Mensch.“ Schiebt aber schnell hinterher, dass es in<br />

der Schweiz eine Möbelhauskette gibt, die preiswerte,<br />

„ich sage bewusst nicht billig!“, Kath-Produkte im Sortiment<br />

hat. Also nicht nur Laufstegmodelle, sondern<br />

auch Teppiche für den Alltagsgebrauch.<br />

In Kaths Fabrikhalle hängen die meisten seiner Werke<br />

an den Wänden – ist das jetzt noch Handwerk oder bereits<br />

Kunst? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem,<br />

schließlich lautet der Slogan zum Teppich „Contemporary<br />

Rug Art“. Und gerade bei den konstruktivistischen<br />

Entwürfen liegt der Vergleich zur Kunst nahe. Die<br />

Neuinterpretationen der klassischen Berberteppiche,<br />

„Le Maroc Blanc“, erinnern in ihren schrundigen Erd-<br />

nr. 6 | heimatobjekt


farben stark an Werke von Anselm Kiefer. Und Kaths<br />

Internetseite kommt <strong>als</strong> virtuelles 3D-Museum daher,<br />

nur dass hier keine Kunstwerke, sondern Teppiche an<br />

den Wänden hängen.<br />

Das wirkt gewagt und könnte von einem übergroßen<br />

Ego zeugen, hat aber auf den zweiten Blick durchaus<br />

Sinn. Hier wirken die Teppiche zwar überhöht, „und<br />

das ist durchaus auch so gewollt!“, durch die schlichte<br />

Präsentation auf weißen Wänden kommen sie zudem<br />

besser zur Geltung. Auch die Kataloge, die wie die Internetseite<br />

von der Bochumer Agentur Oktober gestaltet<br />

werden, setzen ganz auf die visuelle Kraft der Produkte.<br />

Zwischendurch werden die Teppiche auch mal inszeniert.<br />

Allerdings verzichtet Kath mittlerweile darauf,<br />

seine Werke mit Designermöbeln zu dekorieren, wie er<br />

es noch in seinem ersten Katalog getan hat. Fotografiert<br />

wurde dieser auf der Zeche Zollverein vor verrußten<br />

Wänden, was erstens einen schönen Kontrast erzeugt<br />

und zweitens in Kath die Inspiriation für „Erased Classic“<br />

weckte, da ihn die Strukturen und monochromen<br />

Schattierungen der Wände faszinierten.<br />

Als der neue Katalog anstand, wählte Kath die Waschbetonumgebung<br />

an der Bochumer Ruhr-Uni <strong>als</strong> Ambiente.<br />

Das passt zu morbiden Entwürfen wie „Ferrara<br />

Rocked“, ein vermeintlich ausgeblichener, abgetretener<br />

Teppich, dessen Muster sich aufzulösen scheinen. Oder<br />

„Roma Vendetta“, hier mischt sich rote Wolle mit dem<br />

dunklen Hintergrund, <strong>als</strong> ob der Teppich blutgetränkt<br />

wäre. Wer Kath aber in die abstrakte Designecke stellen<br />

will, sollte vorsichtig sein. „Design ist Prozess, da muss<br />

man auch mal etwas ausprobieren“, sagt Kath und verweist<br />

auf seine Kollektion „Gamba, Mauro & Spice“, mit<br />

Mut zu knalligen Farben und gegenständlichen Motiven:<br />

Blumen, Schmetterlinge und ein pinker Hirsch vor<br />

hellgrünen Lianen. „Where is Bambi?“<br />

Gute Frage, es bleibt aber noch eine andere und letzte:<br />

Warum Bochum und nicht Berlin oder New York? Kath<br />

lächelt wie jemand, der diese Frage schon oft gehört hat:<br />

„Ich fühle mich hier wohl, bin im Pott aufgewachsen,<br />

und meine Kinder gehen hier zur Schule.“ Wie zum<br />

Beweis zeigt Kath die Baustelle um die Ecke, wo eine<br />

Galerie und sein Privathaus entstehen. Einer, der bleibt.<br />

Und der, um dieses Wortspiel dann doch noch unterzubringen,<br />

auf dem Teppich geblieben ist.<br />

w w w . j a n - k a t h . d e<br />

heimatobjekt | nr. 6


Interior Design Week Köln<br />

18. bis 24. Januar 2010<br />

Zum 21. Mal bieten die PASSAGEN <strong>als</strong> größte deutsche<br />

Designveranstaltung eine Plattform für die aktuellen<br />

Strömungen und Trends des Designs, des Wohnens und<br />

des Lifestyles. Über 190 Shows internationaler Designer<br />

und Hersteller im gesamten Kölner Stadtgebiet und zahlreiche<br />

Happenings machen während der Design-Woche<br />

im Januar Köln wieder zum „Mekka“ des Designs.<br />

For the 21st time, PASSAGEN – as Germany’s biggest design<br />

event – is offering a forum for current trends and developments<br />

in design, living and lifestyle. Over 190 shows throughout<br />

downtown Cologne, featuring international designers<br />

and manufacturers, and numerous happenings once again<br />

make Cologne a design “Mecca” during this design week in<br />

January.<br />

PASSAGEN . Büro Sabine Voggenreiter . Köln<br />

www.voggenreiter.com<br />

Foto: photocase / stm


„Während der Designwoche wird<br />

Mailand zu einem Spielplatz.“<br />

Jedes Frühjahr konzentrieren sich Fachwelt und Medien nur auf das, was in Mailand gezeigt wird.<br />

Designer nutzen die Messe <strong>als</strong> Plattform zur Selbstdarstellung: Wer zur Designwoche zugelassen<br />

wird, der bekommt Anerkennung. Das ist Pierre Kracht dieses Jahr gelungen: Er hat dort ausgestellt.<br />

Dortmund hat nun einen Designer vorzuweisen, den die Stadt hoffentlich halten kann.<br />

In seiner gemütlichen Küche am Dortmunder Hafen spricht er von seinen Erfahrungen.<br />

text Matylda Krzykowski | fotografie Michael Thieme | produktfotografie Katrin Füser<br />

heimatobjekt | nr. 6


Wer bist du, was machst du?<br />

Diese Frage stelle ich mir jeden Tag aufs<br />

Neue. Ich bin Pierre Kracht, Objektdesigner.<br />

Ich habe eine Ausbildung <strong>als</strong> Raumausstatter<br />

abgeschlossen und bin dann noch einige Zeit<br />

in dem Beruf hängen geblieben.<br />

Eigentlich wäre der Schritt vom Designer zurück<br />

zum Raumausstatter nicht groß.<br />

Das große Ding ist die Selbstverwirklichung,<br />

die einem dann fehlt. Weil du auf Kundenwünsche<br />

reagierst und nur machst, was der<br />

Kunde will. Als Designer kann ich freier entscheiden,<br />

bin mündiger.<br />

Und dann kam die Idee mit dem Objektdesign?<br />

Genau. Ich bin nach Dortmund gegangen,<br />

weil ich den Studiengang Objekt- und Raumdesign<br />

spannend fand. Räume zu inszenieren,<br />

die künstlerische Schiene eben. Das klassische<br />

Industriedesign dagegen hat mich nie<br />

so interessiert.<br />

Wie viele Objekte hast du für deine<br />

„Wrapped“-Serie gemacht?<br />

Mit dem Garn habe ich Stuhl, Lampe, Kronleuchter<br />

und eine kleine Leuchte gemacht.<br />

Jetzt sind die Karbon-Geschichten entstanden.<br />

Die haben mehr Funktion. Man<br />

kann nicht darauf sitzen, aber man<br />

könnte etwas ablegen.<br />

Kann man die Serie so stabil machen,<br />

dass sie richtig belastbar ist?<br />

Ich denke schon. Nur darunter<br />

leidet die Ästhetik. Im Endeffekt<br />

finde ich es spannend, dass man<br />

nicht darauf sitzen kann. Gerade<br />

weil man darauf sitzen<br />

will.<br />

Wie kam es dazu, dass du<br />

in Mailand ausgestellt<br />

hast?<br />

Ich habe beim „d3<br />

Contest“ auf der IMM<br />

in Köln ausgestellt. Das hat gute Resonanz gegeben.<br />

Die haben eine gute Auswahl, streuen<br />

das alles gut mit industriellen Sachen und mit<br />

künstlerischen Arbeiten. Danach war es ein<br />

Selbstläufer. Und dann kam auch die Anfrage<br />

vom Damn Magazine.<br />

Wie hat es sich angefühlt, zwischen großen Namen<br />

wie Konstantin Grcic und Maarten Baas zu<br />

stehen?<br />

Großartig. Ich war zum ersten Mal da, das war<br />

ein großes Erlebnis. Es ist ein großer Spielplatz.<br />

Ich hab das gerne aus einer Beobachterperspektive<br />

wahrgenommen.<br />

Was hat dir bei den anderen Ausstellern gut gefallen?<br />

Ich fand die Sache vom Damn Magazin sehr<br />

spannend, weil sie mit Prototypen gearbeitet<br />

haben. Ich finde es gut, wenn man diese Sachen<br />

in ihren Vorstadien sieht und die Herangehensweise<br />

der anderen Designer entdeckt.<br />

Hast du schon mal darüber nachgedacht, in<br />

Mailand groß auszustellen, oder fühlst du dich<br />

dafür noch zu jung <strong>als</strong> Designer?<br />

Ja, wenn die Kollektion passt. Aber ich rödele<br />

da noch lieber vor mich hin.<br />

Auf deinen Pressefotos hältst du zwei große<br />

Stricknadeln. Sind es die Stricknadeln, mit<br />

denen du arbeitest? Und wieso eigentlich Stricken?<br />

Ja, mit denen arbeite ich. (grinst) Eigentlich<br />

ging es im Grundstudium los. Da habe ich<br />

mich mit der Linie im Raum beschäftigt.<br />

Bin dann auf das Kabel gekommen, weil es<br />

die Funktion <strong>als</strong> Versorgungsleitung hat, die<br />

überall in der Wohnung vorhanden ist. Es<br />

ist ein Ansatz vom Jugendstil, dass Leitungen<br />

offengelegt werden müssen. Ich habe ein<br />

poetisches Objekt daraus gemacht. Ich hatte<br />

einen schönen Spruch von meinem Meister<br />

im Kopf aus meiner Zeit <strong>als</strong> Raumausstatter.<br />

Wenn wir in eine Wohnung gekommen sind<br />

und da einfach ein Kabel mit der Glühbirne<br />

hing, sagte er immer: der russische<br />

Kronleuchter. Dieses Bild fand<br />

ich so schön. Diese nackte Lampe,<br />

die mehr ist <strong>als</strong> sie ist. Dem wollte<br />

ich ein Bild setzen. Daraus ist<br />

dann „Käte“ entstanden, der<br />

russische Kronleuchter. (lacht)<br />

Siehst du Dortmund <strong>als</strong> dauerhaften<br />

Standort für dich?<br />

Ist Dortmund die Destination?<br />

The place to be? Im<br />

Moment gefällt es mir<br />

gut. Mit dem Hafen vor<br />

der Haustür. Wenn ich<br />

ein Atelier bekommen<br />

sollte, wäre es ideal. Ich habe mitbekommen,<br />

dass sich das Hafenamt bisher querstellt. Die<br />

wollen keine Künstler oder Designer hier, und<br />

wenn das so weiter läuft, dann ist irgendwann<br />

der Punkt gekommen zu sagen: So nich.<br />

Findest du, dass zu wenig gefördert wird?<br />

Die Stadt steckt Gelder in oberflächliche Sachen,<br />

mehr Künstler zu fördern wäre doch mal ein<br />

Anfang. Ich glaube an die Stadt. Ich habe meine<br />

Netzwerke hier. Nicht nur Designer, auch Leute<br />

aus anderen Bereichen. Das ist wichtig, und mit<br />

denen lässt sich schon einiges reißen.<br />

w w w . p i e r r e k r a c h t . d e<br />

liebe<br />

kann dein<br />

herz<br />

zerbrechen<br />

bei<br />

Tako-Tsubo-Syndrom<br />

organischen<br />

Herzerkrankungen<br />

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KDJPlakat_GAP.QXD 15.12.2008 16:49 Uhr Seite 1<br />

Die<br />

Bretter,<br />

die die<br />

Welt<br />

bedeuten,<br />

sind aus<br />

Papier<br />

Ein Blick auf die Plakatwände des Ruhrpotts zeigt, dass<br />

Theaterplakate mehr sein können <strong>als</strong> pure Inhaltsangaben.<br />

Alles andere wäre ja auch langweilig.<br />

text Volker K. Belghaus<br />

„Krankheit der Jugend“<br />

Schauspiel Essen<br />

Schick! So könnte sie aussehen, die offizielle Kleidung<br />

für die nächste SM-Sause im Berliner Club „Berghain“!<br />

Der diamantene Weltkriegs-Blingbling ist ein weiterer<br />

Höhepunkt kreativ-kruder Theaterplakate von Designer<br />

Thomas Rindermann, die während der Intendanz von<br />

Anselm Weber entstanden. Eigentlich bestimmt die<br />

Farbe Rosa den öffentlichen Auftritt des Theaters, was<br />

sich auch in der Papierfarbe der Programmzeitung niederschlägt,<br />

die dadurch an mediterrane Sportgazetten<br />

erinnert. Das Rosa wurde hier auf zwei kleine Balken<br />

reduziert, alles andere wäre auch zu niedlich geraten,<br />

denn eine pastellfarbene Lillifee-Version dieser Gasmaske<br />

braucht nun wirklich kein Mensch. Auch das „Logo“,<br />

die Outline-Illustration eines jungen, interessiert-nachdenklichen<br />

Mannes, findet eher einen dezenten Platz.<br />

Ein starker Auftritt, kein „Motto zum Fotto“, sondern<br />

eine Aufforderung zum Selberdenken. Dann assoziieren<br />

sie mal schön, liebe Theaterbesucher!<br />

„A Tribute to Quentin Tarantino“<br />

Schauspielhaus Bochum<br />

KRANKHEIT DER JUGEND<br />

IN EINER FASSUNG VON NURAN DAVID CALIS<br />

FREI NACH FERDINAND BRUCKNER<br />

URAUFFÜHRUNG AM 7. FEBRUAR ’09<br />

Seht her, Ihr Nachgeborenen, das waren sie, die Posen<br />

der 90er! Coole Typen, schwarze Anzüge, dicke Wummen.<br />

War mal der absolut heißeste Scheiß, den man<br />

sich denken konnte. Und Quentin Tarantino galt <strong>als</strong> die<br />

coolste Sau im Filmgeschäft. Seine frühen Werke sind<br />

längst Klassiker, und, wie es scheint, reif für die Bühne<br />

des Bochumer Schauspielhauses. Zum Glück kein Musical,<br />

sondern ein „Tribute“ für Tarantino. Das Plakat ist<br />

dann auch gepflegt angeranzt, die Ränder wirken verblichen,<br />

der Hintergrund ist blutrot – das passt. Das Logo<br />

geht fast ein wenig unter, und auch sonst erinnert das<br />

Ganze eher an ein Kinoplakat. Aber die Schauspieler, die<br />

sich in die gefährlichen Tarantino-Posen werfen, wirken<br />

dann doch ein wenig zu angestrengt bei dem Bemühen,<br />

einen auf dicke Hose zu machen. Eine hochgestrubbelte<br />

Gelfrisur, wie sie Fünfjährige tragen, passt irgendwie<br />

nicht zum 70er-Pornobalken. (Bitte mal bei dem King of<br />

Oberlippenbart Burt Reynolds nachfragen!)<br />

SCHAUSPIEL ESSEN<br />

KARTEN 0201 / 8122-200<br />

Atrwork Diddo Velema <strong>Gestaltung</strong> Markus Rindermann Studio<br />

heimatbild | nr. 6


Plakat_A0_Burkhard.indd 1 30.07.09 15:14<br />

Plakate_Der_Vater_1/2_A1 18.03.2008 15:19 Uhr Seite 1<br />

Theater a.d. Ruhr<br />

innert – alles bewusst unaufgeregt. Dazu, <strong>als</strong> Hauptelement<br />

neben dem Logo, die Abbildung bildender Kunst;<br />

meist Gemälde oder, wie in diesem Fall, ein verrätseltes<br />

Foto. Dieses In-Kontext-Stellen von Kunst zum Inhalt<br />

der Stücke hat Tradition und wird schon viele Jahre auf<br />

den Plakaten des Theaters praktiziert. Tradition? Das<br />

wäre ja mal ganz was Neues.<br />

August Strindberg<br />

DER VATER<br />

„ Attraktive Sie<br />

sucht Dich für<br />

aufregende<br />

Stunden.“<br />

Bunt ist besser. Die neue Spielzeit.<br />

Infos und Abos unter www.theater-oberhausen.de oder 0208/8578184<br />

© copyright 1970 by Arthur Tress; photograph courtesy of Contemporary Works/Vintage Works, www.vintageworks.net<br />

PREMIERE<br />

4. und 5. April 2008, 19.30 Uhr<br />

Weitere Vorstellungen:<br />

12. April 2008, 19.30 Uhr<br />

2. Mai 2008, 19.30 Uhr<br />

9. Mai 2008, 20.30 Uhr<br />

24. Mai 2008, 19.30 Uhr<br />

Theater an der Ruhr im Raffelbergpark · Akazienallee 61<br />

45478 Mülheim an der Ruhr · Kartenvorbestellung: (02 08) 5 99 01 88<br />

„Der Vater“<br />

Theater an der Ruhr, Mülheim<br />

Zum Theater an der Ruhr geht’s nach links, wohin auch<br />

sonst. Die „linke“ Ausrichtung der Mülheimer ist bekannt<br />

und findet sich auch im Autobahnschild-Logo<br />

wieder, das selbstbewusst den oberen Teil der Plakate<br />

ausfüllt. Ansonsten fällt ein Hang zur Verweigerung<br />

und zur reduzierten <strong>Gestaltung</strong> auf. Aber weil man, frei<br />

nach Watzlawicks „Man kann nicht nicht kommunizieren“,<br />

auch nicht nicht gestalten kann, gehört das Beiläufige<br />

zum Konzept. Die Typo: wahrscheinlich Helvetica,<br />

eher Arial, brav-ordentlich zentriert auf Mittelachse<br />

gesetzt; dazu ein Kästchen mit schwarzem Trauerrand,<br />

das an die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln er-<br />

Spielzeitplakat „Attraktive Sie sucht...“<br />

Theater Oberhausen<br />

Entschuldigung, aber hat Brecht nicht während seines<br />

New Yorker Exils folgende Zeilen in sein Tagebuch<br />

geschrieben: „Den Tigern entrann ich / Die Wanzen<br />

nährte ich / Aufgefressen wurde ich / Von den Mittelmäßigkeiten“?<br />

Und dann so was: ein Theaterplakat,<br />

getarnt <strong>als</strong> übergroße Kontaktanzeige mit „Ruf-michan!“-Attitüde;<br />

der Text in Anführungszeichen gesetzt,<br />

was immerhin auf ein Zitat oder eine versteckte Selbstdistanzierung<br />

schließen lässt. Der Theaterbezug kommt<br />

leider zu kurz; man könnte mit dem Motiv auch für die<br />

neuen Stromtarife der Stadtwerke werben, so austauschbar<br />

und gewollt originell kommt es daher. Das Logo indes<br />

ist angenehm lässig-reduziert, kleingeschrieben und<br />

hat einen Punkt, der da zwar nicht hingehört, aber zeigt,<br />

dass weniger oft mehr sein kann. Der Grund, warum<br />

es statt einzelner Premierenplakate nur dieses Spielzeitplakat<br />

gibt, ist die städtische Haushaltssperre. Wobei –<br />

Geldmangel sollte eigentlich kein Grund für mangelnde<br />

Kreativität sein.<br />

nr. 6 | heimatbild


Der Überflieger<br />

Mit seiner Diplomarbeit „Weltkarte der<br />

Überwachung“ hat Raul Mandru 2008<br />

direkt einen Red Dot Design Award abgestaubt.<br />

Nicht einmal ein Jahr später eilt der<br />

inzwischen 26-Jährige nach Cannes, um<br />

einen Goldenen Löwen für sein nächstes<br />

Projekt „Donate-a-Meal“ einzustecken.<br />

Solch ein Erfolg scheint aus dem Nichts<br />

zu kommen, <strong>als</strong> sei Talent eine Form von<br />

Magie. Ist es aber gar nicht.<br />

text Petra Engelke<br />

Raul Mandru arbeitet derzeit <strong>als</strong> Art Director bei der<br />

Werbeagentur Ogilvy in Düsseldorf. Die wollte den Rumänen<br />

mit dem Einser-Abschluss und der preisgekrönten<br />

Diplomarbeit so sehr, dass sie eine Arbeitserlaubnis<br />

für ihn beantragte. Wenige Monate später leitet er ein<br />

Projekt mit über 40 Mitarbeitern. Eine solche Karriere<br />

möchten viele hinlegen.<br />

Raul, was würdest du dem Grafiker-Jahrgang der FH<br />

Dortmund raten, der jetzt nach dir kommt?<br />

Es gibt keinen allgemeinen Tipp, denn jeder spezialisiert sich<br />

auf etwas anderes. Der eine macht Magazine, ein anderer<br />

Illustration, wieder ein anderer will Konzepte machen. Ich<br />

denke, es ist wichtig, so offen wie möglich zu bleiben. Und<br />

viele Leute kennen zu lernen, die einen weiterbringen. Und<br />

etwas zu können, gut zu können. Was, ist egal. Wenn man<br />

nach dem FH-Abschluss am besten Kirchenbilder machen<br />

kann, fein, dann macht man eben das – aber auf höchstem<br />

Niveau. Es ist wichtig, eine Sache gut zu können, die mit diesem<br />

Business zu tun hat. Dann werden die richtigen Leute<br />

mit dir ins Gespräch kommen.<br />

Zum Beispiel die Leute von Ogilvy. Aber wie kam es, dass<br />

du <strong>als</strong> Neuling das komplette Projekt „Donate-a-Meal“<br />

verantwortet hast?<br />

Voriges Jahr im August gab es bei Ogilvy ein Briefing von<br />

der Düsseldorfer Tafel: Wir sollten etwas für deren Kindertafel<br />

machen. Daraus entstand ein interner Pitch. Wir sind<br />

in Schulen in den dunklen Ecken von Düsseldorf gegangen,<br />

haben uns die Situation dieser Kinder angeschaut, und<br />

gegen Ende habe ich mir gedacht: Kann man mit einem<br />

Plakat, mit einer Serie von Anzeigen oder einer Guerilla-<br />

Aktion wirklich dieses Problem lösen? So etwas hat überhaupt<br />

nicht zu der Welt dort gepasst. Da kam mir die Idee<br />

mit einer Website, auf der echte Kinder Schlange stehen, die<br />

man mit Tellern voller Essen versorgen kann – und zwar<br />

von überall auf der Welt. Ich habe dafür ein Layout entworfen<br />

und Bilder zusammengestellt. Das sah genauso aus wie<br />

jetzt. Dazu diesen Counter, mit dem man sieht, bei welchem<br />

Spendenbetrag man ist. Damit habe ich den internen Pitch<br />

gewonnen. Ogilvy mag gute Ideen, es ist egal, ob du von der<br />

Uni kommst, Praktikant bist oder Kreativdirektor.<br />

heimatbild | nr. 6


Gute Ideen kommen freilich nicht aus dem Nichts. Raul<br />

Mandru hat sich tausende Stunden mit Design beschäftigt<br />

– auch wenn er zunächst einmal gar nicht wusste,<br />

was das ist. Mit 14 beginnt er mit Graffiti. Dam<strong>als</strong> malen<br />

in Rumänien kaum ein Dutzend Leute auf Wände.<br />

Mandru experimentiert mit Farbe, Form und Schrift,<br />

ahmt nach, was er in Magazinen und später im Internet<br />

gesehen hat, versucht sich an eigenen Entwürfen. Die<br />

geschäftliche Seite lernt er kennen, <strong>als</strong> die eine oder andere<br />

Disco ihn mit Wandmalerei beauftragt. Noch bevor<br />

er dem Teenageralter entwächst, quillt sein Praxiskonto<br />

über. Das alles, so sagt er dann auch heute, sei im<br />

Grunde genommen nichts anderes gewesen <strong>als</strong> das, was<br />

er jetzt <strong>als</strong> Designer erlebe.<br />

Die Initialzündung für seine Karriere geben zwei Vorbilder.<br />

Zufällig stößt Mandru in einer Bibliothek auf ein<br />

Buch von David Carson, laut Surfer Magazine auch im<br />

August 2009 noch „the most influential graphic designer<br />

of modern times“. Ein Jahr lang leiht er es aus, bringt es<br />

zurück, leiht es sofort wieder aus. Zwischendrin übt er<br />

sich an der Typo, die ihn fasziniert. Schriften sind sein<br />

Leben. Kurz darauf zeigt ein Kanadier ihm das Buch<br />

„Designershock DSOS1“ – und Mandru gibt ein kleines<br />

Vermögen für Farbkopien aus. Plötzlich eröffnet sich für<br />

ihn eine Welt jenseits des Graffiti; die Flamme, die in<br />

ihm brennt, will auf neue Felder überspringen.<br />

Nebenbei schuftet Mandru in einer Druckerei. Anhand<br />

von verhältnismäßig anspruchslosen Broschüren lernt<br />

er, mit Programmen wie Photoshop und Corel Draw<br />

umzugehen. Das wiederum kommt ihm zupass, <strong>als</strong><br />

2002 der Hollywoodfilm „Cold Mountain“ in Rosenau,<br />

wenige Kilometer von Mandrus Zuhause, gedreht wird.<br />

Die Crew sucht billige Arbeitskräfte, die sich mit Scannern,<br />

Photoshop und so weiter auskennen. Raul Mandru<br />

bewirbt sich und kommt in die Abteilung von Stelios<br />

Polychronakis, der unter anderem für Ausstattung<br />

oder Grafik von „The Hours“, „Jede Sekunde zählt“ und<br />

„Billy Elliot“ verantwortlich war. Der beobachtet heute<br />

noch Mandrus Werdegang. „Ich habe ‚Donate-a-Meal’<br />

gesehen und mag die Arbeit sehr“, sagt er. „Sie ist sehr<br />

effektiv. Und zwar deshalb, weil sie eine emotionale<br />

Wirkung hat – diese Eigenschaft findet man heutzutage<br />

nicht sehr oft im Grafikdesign.“<br />

Polychronakis wundert sich nicht darüber, dass Raul<br />

Mandru so etwas erreicht. „Raul hatte die richtige Arbeitsmoral<br />

für eine große Karriere.“ Er sei begierig darauf<br />

gewesen, zu lernen, außerdem hilfsbereit – und<br />

cool. „In einer so stressigen Umgebung wie einem Filmset<br />

produzierte Raul gute Arbeit und ließ sich nicht aus<br />

der Ruhe bringen“, erinnert sich Polychronakis. „Das ist<br />

sehr wichtig, denn das letzte, was man dort gebrauchen<br />

kann, sind Leute, die unter Druck in Panik verfallen.“<br />

Inzwischen ist das Hobby zur Obsession geworden.<br />

Nun fehlt noch eine anständige Ausbildung. Raul Mandru<br />

will zum Studieren unbedingt nach Deutschland.<br />

Schnell. Die FH Dortmund hat einen guten Ruf; vor<br />

allem aber den frühesten Termin für das Aufnahmeverfahren<br />

– und akzeptiert Mandru direkt aufgrund seiner<br />

Mappe.<br />

Was unterscheidet rumänisches von deutschem Design?<br />

Rumänien hat keine Tradition für Design, Werbung, Typografie<br />

und so weiter. In Deutschland wird dagegen seit<br />

Jahrhunderten Design gemacht. Rumänien hatte nur diese<br />

Propaganda-Designer, es gab den russischen Stil, wo<br />

man den Fürsten oder später den Arbeiterchef in einer bestimmten<br />

Weise darzustellen hatte. Bevor das Internet kam,<br />

<strong>als</strong>o bis ungefähr 1998, waren die Leute auch nicht so richtig<br />

über das informiert, was an Design in der Welt passiert.<br />

Meine Eltern wussten nicht mal, was Grafikdesign ist, <strong>als</strong><br />

ich das studieren wollte.<br />

Was haben die denn gedacht?<br />

Sie dachten, Design bedeutet Modedesign. Davon war mein<br />

Vater nicht so begeistert (lacht). Sie kannten wohl Industriedesign,<br />

dafür gibt es auch Schulen, mittlerweile auch für<br />

Grafikdesign. Früher wurde viel kopiert. Jetzt passiert dort<br />

aber ganz viel. Erst im Mai habe ich einen Grafikdesigner<br />

aus Rumänien bei den European Design Awards in Zürich<br />

kennen gelernt – der hat dort Vorträge gehalten.<br />

Raul Mandrus Abschlussarbeit heißt „Weltkarte der<br />

Überwachung“. Streng genommen gab es die schon.<br />

Die Bürgerrechtsinitiative „Privacy International“ hatte<br />

2007 genug Daten erhoben über Videokameras, biometrische<br />

Pässe, Lauschangriffe, Vorratsdatenspeicherung<br />

und ähnliche Maßnahmen in aller Welt, um daraus<br />

eine Übersicht zu basteln. Sie sollte eine entscheidende<br />

Rolle für Mandru spielen.<br />

Auf der Kunstbiennale in Venedig sieht er 2007, dass<br />

viele künstlerische Arbeiten sich mit aktuellen sozial-<br />

nr. 6 | heimatbild


politischen Themen beschäftigen – fasziniert vom Jetzt<br />

möchte er in eine ähnliche Richtung gehen. Statt <strong>als</strong>o in<br />

Designbüchern nach Inspiration für ein Diplomthema<br />

zu suchen, blickt er aberm<strong>als</strong> über den Tellerrand. In<br />

diesem Falle steckt er seine Nase in Tageszeitungen. Vorratsdatenspeicherung<br />

ist Ende 2007 ein großes Thema<br />

in den Medien, und schließlich entdeckt Mandru eine<br />

Meldung über die Karte von Privacy International. Er<br />

wühlt sich durch hunderte von Seiten mit deren Daten<br />

und Hintergrundinformationen, um daraus eine aussagekräftige,<br />

interaktive Installation zum Thema Überwachung<br />

zu entwickeln. Die hat er bereits mehrfach ausgestellt.<br />

„Wir haben seine Arbeit vor über einem Jahr gesehen“,<br />

sagt Gus, einer der Mitarbeiter von Privacy International.<br />

Die Aktivisten haben sich schon lange danach gesehnt,<br />

dass jemand die Bedrohung durch Überwachung<br />

visualisiert, und Mandrus Arbeit sei die beste, die sie<br />

bisher gesehen hätten. „Ich würde nichts daran ändern<br />

wollen.“<br />

Wie sah die formale Entwicklung aus, nachdem du dir<br />

über den Inhalt klar warst?<br />

In dieser Zeit habe ich viel Corporate Design gemacht, wollte<br />

mich darauf spezialisieren, sah aber dann, dass das in<br />

diesem Fall nichts bringt. Doch ich kam nicht sofort auf eine<br />

interaktive Installation. Am Anfang wollte ich einen riesengroßen,<br />

acht mal acht Meter großen Teppich machen mit<br />

den Symbolen, so dass man sich draufstellen kann. Später<br />

habe ich recherchiert, wie das über das Handy funktionieren<br />

könnte, und eine Installation gemacht.<br />

Und, wie funktioniert’s?<br />

Du rufst eine Telefonnummer an, bist damit direkt mit der<br />

Überwachungs-Karte verbunden und kannst darauf mit<br />

deinem Handy navigieren. Wenn ein Teil der Überwachung<br />

über die Telekommunikation funktioniert, warum sollte<br />

man dasselbe Medium nicht benutzen, um auszudrücken,<br />

dass jetzt genau diese Sache mit jedem passiert? Die Besucher<br />

der Ausstellung können das in visualisierter, verständlicher<br />

Form wahrnehmen.<br />

Kannst du <strong>als</strong> Experte denn jetzt in drei oder vier Sätzen<br />

zusammenfassen, was Überwachung heute heißt?<br />

Ich kann nicht sagen, dass ich Überwachungsexperte geworden<br />

bin. Ich kann nur sagen, dass heute wirklich alles<br />

möglich ist. Hundertprozentige Privatsphäre ist heute ausgeschlossen.<br />

Man darf nicht die Illusion haben, dass keiner<br />

erfährt, welche Internetseiten ich besuche oder mit wem ich<br />

telefoniere. Das ist alles möglich. Und sogar legal.<br />

Was bedeutet Daten sammeln heute für Identität?<br />

Sagen wir mal so: Bei unserer Installation besitzt jeder Benutzer<br />

alle Daten, die auf unserem Server gespeichert wurden.<br />

Er hat die Kontrolle. Aber das ist nicht immer so. Und<br />

mancher stellt ja selbst Daten nach draußen, zum Beispiel<br />

Bilder von sich, Blogeinträge oder Tweets über das, was er<br />

gerade macht. Für das Gedächtnis ist es vielleicht wichtig,<br />

dass man nachschauen kann, was man vor zwei Jahren<br />

gemacht hat. Wie in einem Tagebuch, das allerdings jeder<br />

abrufen kann. Für die Identität kann das bedeuten, dass<br />

man bemerkt, man ist viel weitergekommen. Aber dass ein<br />

Dritter vielleicht mehr über einen weiß <strong>als</strong> man selbst, das<br />

heimatbild | nr. 6


ist schon ein Schreck. Und ich denke, es hat Einfluss auf die<br />

Identität einer Person, wenn andere so viel über sie wissen.<br />

Raul Mandrus Identität ist gleichzeitig klar wie Glas<br />

und unfassbar wie eine Amöbe. So fasziniert er von Typografie<br />

war, er würde sich darauf nicht festlegen. Er ist<br />

nicht einmal traurig, dass er nicht mit einer außergewöhnlichen<br />

Schrift bekannt wurde. Design ist für ihn<br />

ein Kanal, die Ausführung einer Idee. Bekannt geworden<br />

ist er mit zwei interaktiven Projekten, die auf soziale<br />

und politische Missstände hinweisen. Darauf spezialisieren<br />

will er sich nicht. Eine kommerzielle Arbeit fände<br />

er genauso verlockend.<br />

Er bewirkt etwas. Was genau das ist, lässt sich nicht<br />

recht fassen. Die Weltkarte der Überwachung etwa hatte<br />

den Red Dot Design Award und die Silbermedaille bei<br />

den European Design Awards zur Folge. Doch ob diese<br />

Auszeichungen mehr Aufmerksamkeit auf das Thema<br />

Überwachung und auf die Website von Privacy International<br />

lenken, vermag die Organisation nicht zu sagen.<br />

Sie hält solche Daten nicht nach.<br />

Nächste Ausstellung:<br />

11.09. bis 18.10.2009 Herbstsalon Magdeburg<br />

www.herbstsalon-magdeburg.de<br />

w w w . m a n d r u . d e<br />

ruhr akademie<br />

privates Lehrinstitut für<br />

Medien, Design und Kunst<br />

www.ruhrakademie.de<br />

Mediendesign<br />

Film/Regie<br />

Computeranimation<br />

Fotodesign<br />

Freie Kunst<br />

ein Campus?!<br />

Praxisorientiertes Studium bei erfahrenen Profis


Ty<br />

po<br />

S<br />

S<br />

S<br />

S<br />

-<br />

Für Guido Schneider war es ganz schön beschwerlich, sich für<br />

einen Buchstaben zu entscheiden, der ihn hier repräsentieren<br />

soll. Dieses „g“ sieht er daher <strong>als</strong> eine Momentaufnahme, da<br />

sich seine Sichtweisen und Bedenken nahezu täglich ändern.<br />

Neulich traf Daniel Angermann das Versale S der Helvetica<br />

16 mal. Es traf ihn auch: 16 mal. Diese selbstbewusste kleine<br />

Schlange, offen, ehrlich und nicht aufdringlich. Charmant<br />

zurückhaltend präsent, auch mit ein paar Kilos mehr.<br />

Ty<br />

pe<br />

Für diese Ausgabe hatten wir dazu aufgerufen, uns eine Schrift zu leihen.<br />

Unter den Beiträgen sprang uns nicht nur Guido Schneiders „Girando“<br />

ins Auge, die wir für die Fließtexte eingesetzt haben – sondern auch eine<br />

Überschriften-Typo namens „Cinga“ von Daniel Angermann. Zum<br />

Entwerfen von Fonts kamen beide auf ganz unterschiedlichen Wegen.<br />

n<br />

Guido Schneider – Girando<br />

Dafür, dass Guido Schneider nach Selbstaussage eigentlich<br />

ein langweiliger Mensch ist, hat er viele interessante<br />

Dinge zu berichten. Über Schriften kann er wunderbar<br />

erzählen. Das tiefe Wissen ums Wesen der Alphabete<br />

entspringt dabei keiner lang gehegten Leidenschaft.<br />

Ein Dozent an der privaten Akademie RSKA, an der er<br />

Kommunikationsdesign studierte, weckte das Interesse<br />

dadurch, dass er Experimente forderte und so in einem<br />

eigentlich theoretisch streng beschränkten Bereich Freiheiten<br />

zuließ. Der 1973 geborene Überzeugungskölner<br />

schuf zunächst einige wilde, dekonstruierende Schriften,<br />

das Kriterium „leichte Lesbarkeit“ durfte da schon<br />

mal zurückstehen. Auf dieser Grundlage näherte er sich<br />

dem an, was ihn heute <strong>als</strong> freischaffenden Art Director<br />

und Designer umtreibt: die Beschäftigung mit thematischer<br />

Typographie. Seine heutige Firma Brass Fonts<br />

gründete er bereits ein Jahr vor seinem Diplom 1996 zusammen<br />

mit zwei Freunden und einem Dozenten. Inzwischen<br />

ist er der einzige Mann hinter diesem Namen,<br />

der übrigens nichts mit Blechblasmusik zu tun hat,<br />

sondern schlicht aus der regionalen Mundart kommt.<br />

„Brass haben“, meint nicht viel anderes <strong>als</strong> das gute alte<br />

„Stress“. Buchstaben mit innewohnender Energie <strong>als</strong>o.<br />

text Tom Thelen<br />

Daniel Angermann – Cinga<br />

Bereits <strong>als</strong> junger Hochleistungssportler malte er Figuren<br />

– mit den Kufen ins Eis und mit dem Körper in die Luft.<br />

Nach dem Eiskunstlauf kam die Ausbildung <strong>als</strong> Maler<br />

und Lackierer, außerdem die Flucht vor dem öden Job<br />

hinein in die Graffiti-Szene. Von Kufen befreit, tanzte<br />

Angermann Breakdance; Fotografie und Grafik wurden<br />

Ausdrucksmittel dieses Alltagslebens, Musik kam dazu.<br />

Dynamisch mit Buchstaben etwas zu transportieren,<br />

lernte Angermann von und an den Wänden, er wollte<br />

aber mehr. Und so führte der Weg des 1981 in Soest Geborenen<br />

nach Köln, wo er seit 2006 an der ecosign Akademie<br />

für <strong>Gestaltung</strong> Kommunikationsdesign studiert.<br />

Er ist in der Mitte des Hauptstudiums, hat bereits einige<br />

Kunden und steckt somit im bekannten Dreiecksdilemma<br />

Arbeit/Studium/Zeit. Die akademische Beschäftigung<br />

mit Typografie ist für ihn kein einzwängendes<br />

Korsett. Vielmehr erfreut er sich daran, dass vieles von<br />

dem, was jetzt <strong>als</strong> Proportionslehre zum Studium gehört,<br />

intuitiv bei ihm längst angelegt sei. Die kulturelle<br />

Praxis, die er zunächst unbedarft auslebte, unterfüttert<br />

er nun <strong>als</strong>o mit Theorie. Das tut seinen Alphabeten keinen<br />

Abbruch: Sie sind offenkundig lebendig.<br />

heimatbild | nr. 6


- Lederwerkstatt, Stuttgart<br />

WWW.HAEUTE.INFO


Essen<br />

Duisburg<br />

Dortmund<br />

diversity<br />

silence<br />

16. Internationales<br />

Symposium für<br />

Elektronische Kunst<br />

ecologies<br />

sensory overload<br />

expanded sounds<br />

resources<br />

performance<br />

open hardware<br />

Ausstellungen und E-Culture Fair im U-Turm<br />

Performances bei PACT Zollverein<br />

Konzerte und Vorträge im Konzerthaus Dortmund<br />

Audio-visuelle Performances im FZW<br />

›Day of Sound‹ am ICEM der Folkwang Hochschule<br />

Kunst im öffentlichen Raum in Duisburg<br />

20–29 August 2010<br />

sustainability<br />

intimacy<br />

immersion<br />

immersion<br />

knowledge commons<br />

trash<br />

access<br />

immersion<br />

spam<br />

conversation<br />

media ecology<br />

free software<br />

low tech<br />

periphery<br />

www.isea 2010 ruhr.org<br />

urbanity<br />

passages<br />

irreversibility<br />

recycling<br />

consumption<br />

body<br />

space/time experience<br />

sensory deprivation<br />

sound pollution<br />

live-ness<br />

language<br />

electronic sounds<br />

image&sound<br />

hybrids<br />

Weitere Projekte in Kooperation mit u. a.<br />

Kunsthochschule für Medien, Köln<br />

Stiftung imai, Düsseldorf<br />

Deutscher Klangkunstpreis, Marl<br />

expanded acoustics<br />

synaesthesia<br />

<strong>Gestaltung</strong>: www.labor b.de<br />

ISEA 2010 RUHR, c/o HMKV, Güntherstraße 65, 44143 Dortmund, Tel. +49.231.55 75 21 21<br />

ISEA 2010 RUHR ist ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 und wird vom<br />

Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, im Auftrag des Medienwerks NRW durchgeführt.<br />

Gefördert von der RUHR.2010 GmbH, der Staatskanzlei NRW und der Stadt Dortmund.<br />

In Kooperation mit Goethe-Institut, Bundeszentrale für politische Bildung, u. a.


Designer illustrieren<br />

Heimat<br />

text Tanja Wissing<br />

V2A<br />

Ganz schön aufgemotzt ist die Angeberkarre, die Karsten<br />

Blaschke, Theis Müller und Lars Wöning für „Designer<br />

illustrieren Heimat“ durch das Ruhrgebiet „rollen“ lassen.<br />

Tiefer gelegt, sportlich verkleidet und mit großem<br />

Heckspoiler steht das ältere BWM-Modell aus Essen für<br />

ein ambivalentes, liebevoll-ironisches Heimatgefühl,<br />

das die drei Akteure mit der Stadt und Region ihrer<br />

Designagentur für Kommunikation V2A verbinden.<br />

Denn: Das Auto besitzt nur drei dicke Reifen und ein<br />

Ersatzrad. Es ist die „einfache, pragmatisch denkende<br />

und liebevolle Nachbarschaft mit einem enormen Missverständnis<br />

über ihre eigene Potenz“, von der sich die<br />

zwei Kommunikationsdesigner und der Pädagoge bei ihrem<br />

Heimatentwurf leiten ließen. Das mehrfach preisgekrönte<br />

Trio weiß, was es hier ins Bild rückt: Für V2A<br />

beginnt Heimat postalisch in 45127 und endet in 45359.<br />

Nur an dem Tag, <strong>als</strong> die Agentur dachte, nach Berlin<br />

zu ziehen, war das kurz, ganz kurz einmal anders. Ihr<br />

Name steht übrigens für nichtrostenden Edelstahl –<br />

„den Grundstoff für tragfähige Ideen“.<br />

w w w . v 2 a . n e t<br />

a nice idea every day<br />

Heimat? Das ist für Fabian Röttger nicht zwingend eine<br />

Frage der Geografie. Er fühlt sich heimisch, wenn er an<br />

einem Kiosk mehr <strong>als</strong> 15 verschiedene Tageszeitungen<br />

kaufen kann. Doch auch Freunde, Arbeit und ein schönes<br />

Heim vermitteln ihm dieses Gefühl. Das verfliege<br />

schlagartig, sobald sich alles gleich anfühle. Für Vivien<br />

Weyrauch, seinen Kompagnon bei a nice idea every day,<br />

ist Heimat dagegen grenzenlos: „Sie kann überall sein.“<br />

So flüchtig und zugleich grenzenlos ist auch das Motiv,<br />

das die beiden für „Designer illustrieren Heimat“ gewählt<br />

haben: Die verwilderte Haustaube ist irgendwie<br />

überall und nirgends im Ruhrgebiet zu Hause. „Und<br />

auch ein ganz gutes Symbol für unser ambivalentes<br />

Heimatgefühl das Ruhrgebiet betreffend“, finden die<br />

Wahl-Dortmunder. Die Auftragsarbeit für <strong>Heimatdesign</strong><br />

haben die beiden fast schon mit einem letzten<br />

Blick über die Schulter entworfen, denn Fabian Röttger<br />

und Vivien Weyrauch haben unlängst eine neue Heimat<br />

gefunden: in Los Angeles. Vivien Weyrauch nimmt<br />

jedoch ein Stück Heimat mit: ihr Notizbuch.<br />

Dirk Rudolph<br />

Was, bitte schön, hat ein blaues Alt-Herren-Jackett mit<br />

dem Ruhrgebiet zu tun? Zumal wenn sich dessen Träger<br />

im Sauerland, genauer in Nachrodt-Wiblingwerde mit<br />

Gleichgesinnten zum Singen trifft? Das Gemeindewappen<br />

auf dem Sakko schmückt die Brust der Mitglieder<br />

des dortigen Männergesangvereins Frohsinn. „Dort ist<br />

mein Vater seit 55 Jahren Vereinsmitglied“, erzählt Dirk<br />

Rudolph. Seit er denken kann, ist seine Kindheit mit<br />

dem MGV verbunden. „Wenn ich zum Beispiel meinen<br />

Vater sonntags nach der Probe vom Frühschoppen<br />

abgeholt und an den leeren Schnapsgläschen geleckt<br />

habe“, erinnert sich der 45-Jährige. Mit seiner Kindheit<br />

verbindet er die glückliche Zeit mit seinen Eltern, den<br />

fünf Freunden und dem kleinen Erlebnishorizont, der<br />

<strong>als</strong> Kind gut mit dem Rad erreichbar war. Seine Heimat<br />

liegt für ihn daher nach wie vor im Sauerland. Daran<br />

haben 18 Jahre Leben und Arbeiten in Hagen und Bochum<br />

nichts geändert. Heimisch bleiben will der freischaffende<br />

Künstler im Ruhrgebiet aber nicht: „Ich zieh<br />

mal weg – Richtung Rheinland. So eine kleine Veränderung<br />

tut gut.“<br />

w w w . d i r k r u d o l p h . d e<br />

Jens Buss<br />

Das erste, was Jens Buss spontan zu Heimat einfällt?<br />

„Ein Teppichboden“, sagt er. Klingt sonderbar, ist aber<br />

einleuchtend. Als kleines Kind besuchte der gebürtige<br />

Düsseldorfer nämlich häufiger seine Großeltern in<br />

Duisburg. Die Zeit dort vertrieb er sich gerne mit seinem<br />

Spielzeug auf dem Fußboden. „Aus Vasen, Teppichen<br />

und anderen Gegenständen habe ich eine Landschaft<br />

zum Spielen gebaut“, erzählt der Kommunikationsdesigner<br />

und erklärt so sein Heimatbild: die digitale<br />

Illustration eines Spielfeldes. Beim Ruhrgebiet denkt er<br />

sonst eher „an eine industrielle Arbeitszone mit Untertagebau,<br />

Wasserstraßen und Metallöfen“. Es ist ein Ort<br />

seiner Kindheit, doch heimisch fühlt er sich dort nicht.<br />

Das gilt auch für Orte seiner Jugend, an denen er lange<br />

nicht mehr war. „Heimat“, findet er, „ist ein Umfeld,<br />

in dem man sich auskennt, nicht nur rein geografisch.“<br />

Es ist für ihn etwas, das er in sich trägt. Als berufliche<br />

Heimat und aktuelles Spielfeld beschreibt er „ein Viertel<br />

von paristokyopempelfort“, einem Grafik-Kollektiv<br />

aus Düsseldorf mit den Schwerpunkten Mode, Grafik,<br />

Web und Siebdruck.<br />

w w w . j e n s b u s s . c o m<br />

w w w . a n i c e i d e a e v e r y d a y . c o m<br />

nr. 6 | heimatbild


heimatbild | nr. 6


heimatbild | nr. 6


nr. 6 | heimatbild


Der dritte Weg<br />

Der Mensch kann auf den Mond fliegen, meditieren, bewusstseinserweiternde Drogen<br />

nehmen – oder seinen Horizont mittels künstlerischer Arbeit zu erweitern suchen.<br />

Via Soundsketching, einer audiovisuellen Performance, bewegen sich<br />

Jorgos Katsimitsoulias und Ilias Ntais im Neuland.<br />

text Martini | bilder Soundsketching<br />

Am 05. Dezember 2008 ist der Veranstaltungsraum<br />

im Sissikingkong in der Dortmunder Nordstadt nahezu<br />

ausverkauft. Auf der Bühne steht Ilias Ntais hinter<br />

einem elektromechanischen Klavier, eine elektrische<br />

Gitarre in der Hand, in einem unübersichtlichen Wust<br />

aus Kabeln und Effektgeräten. Neben ihm hockt Jorgos<br />

Katsimitsoulias an einem Lichttisch, ein Beamer hat<br />

bis soeben bewegte Bilder an die Leinwand am hinteren<br />

Bühnenrand geworfen. Sie haben den ersten Take ihrer<br />

gemeinsamen Performance ausgeführt. Keine Hand<br />

rührt sich zum Applaus. Das, was das Publikum gerade<br />

erlebt hat, kam unerwartet. Um so stürmischer ist der<br />

Beifall bei den folgenden Stücken.<br />

Analog zu den Sounds, die Ilias kreiert, macht Katsimitsoulias<br />

einen Film. Dabei arbeitet er nicht mit weitgehend<br />

vorgefertigtem Material, woraus etwa VJs neue,<br />

optische Ereignisse mixen. Stattdessen kombiniert er<br />

Malerei an einem Lichttisch mit Film- und Kameratechniken,<br />

bearbeitet die Signale in Echtzeit am Rechner<br />

und erzeugt auf diese Weise Live-Videos von einem<br />

ebenso flüchtigem Wesen, wie es der Musik eigen ist.<br />

Katsimitsoulias hat Grafikdesign an der FH Dortmund<br />

studiert, im Rahmen seiner Abschlussarbeit „live-drawing”<br />

bewegte er sich für drei Monate im öffentlichen<br />

Raum und porträtierte Menschen und Architektur – auf<br />

der Straße, in Bussen und Bahnen, bei Veranstaltungen,<br />

in Bars und in Kneipen. Ntais ist Musiker, gleichzeitig<br />

macht er an der FH seinen Master im Fach Projektmanagement<br />

mit den Schwerpunkten Kreativität und<br />

Visuelles Denken.<br />

Kennengelernt haben sich die beiden Künstler im Jahr<br />

2007 während eines Konzerts im Bahnhof Langendreer.<br />

Sympathie auf den ersten Blick. Ganz ohne Hintergedanken<br />

brachte Katsimitsoulias zu ersten Verabredungen<br />

seine Utensilien mit und zeichnete zu den Sounds,<br />

die Ntais seinen Instrumenten entlockte. Soundsketching<br />

war geboren. Von diesen Anfängen bis zur<br />

heutigen Form, die sich nach dem genannten Auftritt<br />

wiederum weiterentwickelt hat, liegt mindestens ein<br />

Quantensprung.<br />

Inzwischen zeichnet Katsimitsoulias während der Performance<br />

nicht mehr auf Papier oder Leinwand; keines<br />

heimatkultur | nr. 6


seiner Bilder könnte hinterher gerahmt und an eine<br />

Wand gehängt werden. Soundsketching hat sich zu einer<br />

Fusion aus Musik, Malerei und choreografierten<br />

Lichtspielen entwickelt. Eine Fusion, die es ermöglicht,<br />

während der Improvisation neue Ausdrucksformen zu<br />

entdecken.<br />

„Unsere Kunst sehen wir nicht <strong>als</strong> Produkt”, sagt Ntais.<br />

„Der Prozess, der während der Aktion durchlaufen wird,<br />

ist uns viel wichtiger. Diesen Prozess für uns und das<br />

Publikum erlebbar und nachvollziehbar zu machen, ist<br />

unser primäres Ziel.” Ein nahezu blindes Verständnis<br />

zwischen den Partnern ist dabei unverzichtbar; agieren<br />

die beiden Künstler doch improvisierend ohne Netz und<br />

doppelten Boden vor einem Publikum, das einerseits<br />

unterhalten werden will, andererseits in seiner Emotionalität<br />

selbst das Geschehen auf der Bühne beeinflussen<br />

kann. Da es keine konkreten Stücke gibt, die einstudiert<br />

werden könnten, diskutieren die beiden bei den Proben<br />

vor einem Auftritt, mit welchen akustischen und optischen<br />

Mitteln sie welche Stimmungen darstellen oder<br />

erzeugen können – und welche sie im Repertoire haben<br />

wollen und welche nicht.<br />

Ntais übernimmt dabei den technischen Part und analysiert<br />

unter anderem die Zusammenhänge zwischen<br />

Farben und Frequenzen. Seine Konzepte passieren dann<br />

Katsimitsoulias’ emotionalen Filter. Und umgekehrt.<br />

Das Ergebnis soll später nicht nur technische, sondern<br />

auch intuitive Aspekte transportieren. Das zeigt sich<br />

bereits in kleinen Details: Mit einer Zeichnung des gewünschten<br />

Bühnenaufbaus etwa geben sie dem jeweiligen<br />

Veranstalter nicht nur Informationen darüber,<br />

wo bei dem Auftritt welches Gerät platziert sein wird,<br />

sondern vermitteln bereits im Vorfeld einige ästhetische<br />

Qualitäten der Performance.<br />

„Wir suchen nicht den Kompromiss, mit dem wir leben<br />

könnten, wir suchen einen dritten Weg, der nicht<br />

zwangsläufig ein Mittelweg sein muss; einen Weg, den<br />

wir beide vorher nicht gesehen haben, der uns aber in<br />

eine Richtung führt, die wir beide zu hundert Prozent<br />

akzeptieren können. Zwei Richtungen definieren etwas<br />

bislang unbekanntes Drittes”, beschreibt Katsimitsoulias<br />

ihre Vorgehensweise. „Ich habe während des Projekts<br />

sehr viel über Zusammenarbeit gelernt”, so Ntais. „Ich<br />

sehe in Soundsketching inzwischen eine Entität, die<br />

durch sich selbst lebt. Und wir sind nur ein Teil davon.”<br />

Anzeige<br />

27.11. Consol Theater, Gelsenkirchen<br />

28.11. Kulturzentrum Pelmke, Hagen<br />

05.12. domicil, Dortmund<br />

w w w . s o u n d s k e t c h i n g . c o m


Ultras im Tonnengewölbe<br />

Freie Theater gibt es zuhauf, gute freie Theater sind selten. In Bochum ist<br />

das Rottstr5-Theater angetreten, um hochwertiges, professionelles Theater zu<br />

machen – Szene-Stars inklusive. Wie soll das nur funktionieren?<br />

text Tom Thelen | fotografie Hannes Woidich<br />

Theater kostet Geld. Menschen müssen Texte lernen<br />

und proben. Kostüme wollen gemacht sein, Licht, Kasse,<br />

Getränke, Werbung und so weiter. Der Apparat ist<br />

aufwändig. Freie Theater müssen heutzutage von Herzblut<br />

leben. Die Kassen der Städte sind leer; nur wenigen<br />

gelingt es, die Fördertöpfe anzuzapfen. Doch in einem<br />

Theater in einem Lagerraum unter der Bahntrasse an<br />

der Rottstraße soll es jetzt anders gehen. Arne Nobel und<br />

Martin Fendrich (unterstützt von Gunnar Leyendecker)<br />

haben beschlossen, die dritte Halle auf dieser Straße zu<br />

einem urbanen Off-Theater mit professionellem Anspruch<br />

zu machen. Mit viel handwerklicher Eigenleistung<br />

und mit der Hilfe einiger Freunde verwandeln sie<br />

die Halle bis zum Spielzeitbeginn am 11. September in<br />

ein richtiges Theater mit Bühne und Tribüne.<br />

In der quasi nullten Spielzeit haben sie schon gezeigt,<br />

was sich abspielen soll auf den Brettern unterm<br />

Tonnengewölbe, über die in regelmäßigen Abständen<br />

die Bahn donnert. Schauspieler vom städtischen<br />

Theater an der Königsallee spielten hier Tschechow<br />

und Burroughs, Karsten Riedel gab ein umjubeltes<br />

Konzert, Lesungen sorgten für eine volle Hütte.<br />

Funktionieren konnte das nur, weil die Schauspieler<br />

heimatkultur | nr. 6


ohne Gage spielten. „Wir haben kein Geld, keinen Apparat,<br />

keine Abteilungen, keinen Etat“, schrieben die<br />

Macher. Und auch: „Wir glauben an das Scheitern von<br />

Kunst und dass genau dieses Scheitern die magischen<br />

Momente erzeugen kann.“ Bevor es aber dazu kam, fragten<br />

sie bei der Stadt nach Geld. Haushaltssperre, nichts<br />

gibt’s. Da verfielen sie auf eine andere Idee.<br />

Unter dem Stichwort „Ultras“ verlautbaren sie auf ihrer<br />

Website: „Wir haben uns erinnert, wie die Theater in<br />

Deutschland entstanden sind: Bürgertum und Adel haben<br />

sie finanziert. Deshalb rufen wir Ihnen zu: Freunde!<br />

Bochumer! Mitbürger! Rottstr5-Theater soll Euer Theater<br />

werden. Wir suchen 100 Ultras, die uns 100 Euro (pro<br />

Jahr) spenden. Kein Fußballverein kann auf seine Ultras<br />

verzichten, und wir wollen auch Ultras haben: Fans,<br />

Förderer, Freunde, Supporter.“ Freundlich rechnen sie<br />

vor, dass der Betrag etwa drei Bier pro Monat entspricht.<br />

Zweifel lassen die Herren nicht zu. „Wir sind überzeugt,<br />

dass das funktioniert, wir geben so sogar der Stadt die<br />

Möglichkeit einzusteigen. Kulturdezernent Townsend<br />

wird bestimmt mitmachen.“ Die Aktion liefe bereits gut<br />

an, vermeldet man.<br />

Und so startet das Team in die erste richtige Saison. Zu<br />

sehen sind eine Odyssee-Bearbeitung nach John Jesurun<br />

(laut Vorankündigung einer, „der in Deutschland<br />

kaum bekannt ist, ohne den René Pollesch aber nicht<br />

René Pollesch wäre“), eine Jeanne D’Arc-Bearbeitung<br />

nach Thea Dorn, eine Koproduktion „Emilia Galotti“<br />

mit dem Ringlokschuppen in Mülheim und dazu Konzerte,<br />

Lesungen und Party.<br />

„Theater pur“ versprechen Nobel und Fendrich, sinnlich<br />

wollen sie spielen lassen, „geile Geschichten“ erzählen<br />

und die Atmosphäre des Raumes nutzen. Und Musik<br />

soll immer dabeisein. So wie es Bochumer Theatergängern<br />

aus der Ära von Leander Haußmann (1995-2000)<br />

und seinem ebenfalls trinkfestem Primus inter Pares,<br />

Jürgen Kruse, bestens bekannt ist. Die Quasi-Familienbande<br />

aus dieser Zeit soll hier auch wieder spielen.<br />

Fendrich war dam<strong>als</strong> Dramaturg am Schauspielhaus<br />

und meint: „Bochum hat ein Recht auf diese Schauspieler.“<br />

Gemeint sind etwa Lucas Gregorowicz, Alexander<br />

Scheer, Jost Grix oder die aus den Tatorten des NDR bekannte<br />

Maren Eggert. Geplant sind allgemein Stücke von<br />

Tennessee Williams, Heiner Müller, Harold Pinter, John<br />

Cassavetes oder Maxim Gorki, und Arne Nobel, der für<br />

den Hit „Tribute to Johnny Cash“ am Schauspielhaus<br />

verantwortlich ist, denkt auch an eine Inszenierung von<br />

Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“. Weiterhin kann<br />

es gut sein, dass sie an Sylvester „Dinner for One“ mit<br />

Maja Beckmann in der Hosenrolle zeigen. Mit diesen<br />

Leuten und Inszenierungen könnten die Theatermacher<br />

ruhrgebietsweit ins Gespräch kommen. Dann dürfte es<br />

kein Problem geben, die ersten 100 Theaterultras der Bochumer<br />

Theatergeschichte zu rekrutieren – die hiesigen<br />

Kneipen könnten den kleinen Umsatzeinbruch beim<br />

Bier wohl verkraften.<br />

w w w . r o t t s t r 5 - t h e a t e r . d e<br />

nr. 6 | heimatkultur


Das Fest des<br />

Wandels<br />

Europäische Kulturhauptstadt – das klingt nach<br />

großem Kino. Nach Akropolis, Uffizien, Kolosseum,<br />

Louvre und Tower Bridge. Doch den Titel tragen<br />

ehemalige Industriestädte wie Liverpool, Stavanger,<br />

Linz, Vilnius – und 2010 Essen für das Ruhrgebiet.<br />

Eine Erklärung, warum das so sein muss.<br />

text Jan Wilms | fotografie Philipp Wente<br />

heimatkultur | nr. 6


Ganz links: Linzer Dom; links: Liverpool<br />

Innenstadt; links unten: Blick aufs neue<br />

Viertel von Vilnius; rechts: Innenstadtatmosphäre<br />

Linz; ganz rechts: Markt<br />

in Vilnius<br />

Liverpool: eine marode Arbeitslosenstadt mit hoher Jugendkriminalität.<br />

Linz: graue Stahlschmiede und Lieblingsstadt<br />

des Führers. Das Ruhrgebiet: Heimat von<br />

Proleten und Diaspora der künstlerischen Boheme. Die<br />

nationalen Images der Europäischen Kulturhauptstädte<br />

besitzen meist ein deprimierendes Profil. Sie sind die<br />

Köter, die jedes Land braucht, um sie zu treten. Wenn es<br />

sie nicht ohnehin bereits ignoriert.<br />

Ihr Problem: Sie degenerierten zur f<strong>als</strong>chen Zeit am f<strong>als</strong>chen<br />

Ort. Ihre Stärken waren Kohle, Stahl und Transport,<br />

aber diese wurden in den vergangenen 50 Jahren<br />

immer weniger nachgefragt. Und dann steht man da, mit<br />

hunderttausend (Gast-)Arbeitern und Stadtteilen voller<br />

nutzloser Kolonien, Zechen, Hochöfen und Docks. No<br />

Future ist angesagt, es sei denn, die Stadt erfindet sich<br />

neu. Dazu braucht es einen gewaltigen Akt aus Kraft<br />

und Phantasie. Manchmal steigt aus der Asche dann ein<br />

Phönix, nur sieht man ihn kaum, weil er noch staubig<br />

ist und ungelenk zum Flug ansetzt. Die gesellschaftliche<br />

Transformation der Nachindustrialisierung ist hier<br />

zur Lebenskultur, zur Lebenskunst geworden. Begleitet<br />

von großen Hoffnungen, gebremst durch Ängste, gefördert,<br />

verspottet und mit Klischees überfrachtet. Niem<strong>als</strong><br />

werden diese Orte mit der Eleganz der Metropolen mithalten<br />

können. Stattdessen sind sie ein Testboden für<br />

die Zukunft. Ein Labor für eine andere Kreativität, die<br />

lebenserhaltend ist. Soziologen beschreiben den Wandel<br />

im Ruhrgebiet <strong>als</strong> beispiellos radikal. Deshalb muss<br />

seine Bewältigung auch beispiellos gut sein.<br />

Liverpool trug 2008 den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt.<br />

Noch im Herbst 2007 wurde der Intendant<br />

gewechselt, Chaos bestimmte die öffentliche Wahrnehmung<br />

und die Liverpudlians interessierten sich immer<br />

noch nur für die Reds von Anfield und die Pubs in der<br />

Bold Street. Und dann lief es plötzlich so gut, dass man<br />

sich sogar fragte, ob man nicht auf Paul und Ringo hätte<br />

verzichten können. In Liverpool grassierte 2008 eine<br />

neue Freude am kulturellen Fortschritt, die sogar die<br />

Gigs der beiden letzten Beatles in Frage stellte. Beatmusik<br />

galt plötzlich <strong>als</strong> zu retrospektiv für eine Arbeiterstadt,<br />

die sich nun modern fühlt, eine Dependance der<br />

Tate Gallery besitzt und ein Straßentheater mit französischer<br />

Tech-Kunst bestreitet.<br />

„Die Bürger sahen sich aber nicht entfremdet, sondern<br />

machten mit, auch wenn sie erst allmählich verstanden,<br />

was ihnen dort präsentiert wurde“, sagt Ceri Hand,<br />

die Inhaberin der einzigen Galerie für zeitgenössische<br />

Kunst in Liverpool. Denn dem neuen Intendanten,<br />

Seifenopernproduzent Phil Redmont, gelang es professionell,<br />

Inhalte der Avantgarde für die Working Class<br />

Heroes aufzubereiten. Kurzum: In der Zeit, <strong>als</strong> die Stadt<br />

am Mersey Europäische Kulturhauptstadt war, wurde<br />

den Menschen der Kopf gewaschen. Selbst die Taxifahrer<br />

erhielten einen Crashkurs in Sachen moderner<br />

Kunst. Und fanden das allmählich super.<br />

Im Ruhrgebiet, wenige Monate vor dem Beginn des<br />

Jahres 2010, fragt sich das geneigte Publikum, wie die<br />

Bezüge zum eigenen Leben geknüpft werden. Die Projekte<br />

erscheinen noch unkonkret: Schachtzeichen (gelbe<br />

Heliumballons an den Eingängen von 400 Bergwerken),<br />

Landmarken, Still-Leben (die A40 <strong>als</strong> Picknickstreifen),<br />

Zollverein unter Tage, der Day of Song, die Odyssee<br />

Europa, Emscher-Kunst, Local Heroes (jede Revierstadt<br />

wird an einem Tag des Jahres zur Kulturhauptstadt).<br />

Noch ist es schwierig, hier ein Profil zu schmieden,<br />

das kommuniziert werden kann. Selbst Ruhr.2010-Geschäftsführer<br />

Fritz Pleitgen sagt: „Es ist doch komplizierter,<br />

<strong>als</strong> ich gedacht habe.“ Vor allem weil man „nicht<br />

nur auf massenwirksame Events, sondern auf Projekte<br />

mit Wirkung auch über das Jahr hinaus“ setze. Deshalb<br />

müssen die Bewertungen noch zurückgestellt werden.<br />

Für das Verständnis-Dilemma ist auch der Titelbegriff<br />

verantwortlich: „Europäische Kulturhauptstadt“, ein<br />

Konzept, das ursprünglich von der EU für Athen, Florenz,<br />

Paris und ähnliche Juwelen entwickelt wurde, um<br />

deren Kulturschätze zu promoten und die europäische<br />

Integration zu fördern. 2004 dann der Paradigmenwechsel:<br />

Der Begriff Kultur wurde neu definiert. Die ohnehin<br />

weltberühmten Exponate und Bauwerke aus Antike<br />

und Mittelalter rückten aus dem Rampenlicht, dafür be-<br />

nr. 6 | heimatkultur


Oben links: Blick auf den alten Hafen<br />

von Stavanger; oben rechts: Passanten in<br />

Linz; unten: Volksfest in Vilnius<br />

trachtete man die aktuelle Lebensrealität der Menschen.<br />

Gefeiert wurde Alltagskultur statt Museumsbestand.<br />

Und am spannendsten zeigt sich Kultur eben dort, wo<br />

sich das Leben neuen Realitäten anpassen muss: an den<br />

Stätten des Strukturwandels. Deshalb sollte der Titel<br />

eigentlich heißen: Europas kulturförderungswürdigste<br />

Stadt. Denn er ist ein Award für ein Milieu im Wandel;<br />

oder ein Anschub dort, wo der Motor der Veränderung<br />

stottert.<br />

Es entstehen dort oft interessantere Projekte <strong>als</strong> in den<br />

alten Kunstkapitalen. Wie der Linzer Ansatz „Hörstadt“,<br />

eine Initiative gegen Lärmbelästigung in der Innenstadt<br />

und ein Führer zu akustischen Besonderheiten<br />

in der Stadt. Oder in Vilnius, wo ein Band mit von Bürgern<br />

über die Stadt gedichteten Dreizeilern herausgegeben<br />

wurde. Er ist besser <strong>als</strong> jeder Reiseführer. Und in<br />

Liverpool förderte das Projekt „Creative Communities“<br />

die künstlerische Erziehung in Problemstadtteilen. Ceri<br />

Hand, die 2008 einen baufälligen Vorstadtbahnhof in<br />

ein Kulturzentrum umwandelte, resümiert: „Liverpool<br />

hat das gut hinbekommen: Hohe Besucherzahlen, eine<br />

gute Qualität in den Veranstaltungen und eine Integration<br />

der Menschen – dieser Erfolg war nicht abzusehen“.<br />

Dort, wo gemeinsam mit den Einwohnern versucht<br />

wird, das Leben ein bisschen bunter zu machen, erwacht<br />

eine Kulturhauptstadt. Eine Ausrichtung, die für Touristen<br />

weniger interessant ist. Wer eine Totalberieselung<br />

oder wie im Titel suggerierte Sensationen erwartet, wird<br />

meist enttäuscht. Auch, weil die Budgets so unterschiedlich<br />

sind: Die Europäische Union gibt nur rund 1,5 Millionen<br />

Euro. Land, Bund und große Unternehmen <strong>als</strong><br />

Sponsoren finanzieren das Gros der Veranstaltungen.<br />

2010 werden gleich drei Europäische Kulturhauptstädte<br />

eröffnet: Pecs in Ungarn, Istanbul und Essen für das<br />

Ruhrgebiet. Die türkische Hauptstadt erhält 200 Millionen<br />

Euro vom Staat, in Essen zog sich Großsponsor<br />

Evonik teilweise aus der Verantwortung.<br />

Im Ruhrgebiet zerrinnen derzeit den Verantwortlichen<br />

die zugesagten 65 Millionen Euro zwischen den Fingern.<br />

Die große Eröffnung in der Schalker Arena musste abgesagt<br />

werden, um viele weitere Events wird gerungen.<br />

Dazu jammert ein Chor der Enttäuschten, deren Projekte<br />

nicht realisiert werden konnten. Im norwegischen<br />

Stavanger überschatteten die Kritiker schon im Vorfeld<br />

den Start des Jahrs 2008: „Presse und zu kurz gekommene<br />

Kulturschaffende bauten solch eine starke Anti-<br />

Stimmung auf – da dauerte es lange, bis die guten Projekte<br />

gerecht bewertet wurden“, sagt Martyn Reed, der<br />

Organisator des elektronischen Musikfestiv<strong>als</strong> Numusic<br />

aus Stavanger. Er hofft, dass dem Ruhrgebiet eine solche<br />

Selbstzerfleischung erspart bleibt.<br />

Die Kulturhauptstädte sind Beispielprojekte dafür, wie<br />

eine Organisation sich einer neuen Herausforderung<br />

anpasst. Genau wie die Gesellschaft dem Strukturwandel.<br />

Sehr gut funktioniert hat das im französischen Lille.<br />

Der Titel im Jahr 2004 machte aus dem gebeutelten<br />

Industriestädtchen einen mittlerweile renommierten<br />

Kulturspielplatz. „Und die in der Stadt erzielten Umsätze<br />

betrugen das Zehnfache der Investitionen“, ergänzt<br />

Jan Figel, der für die Vergabe des Titels zuständige EU-<br />

Kommissar.<br />

Die Kulturhauptstädte der letzten Jahre deckten mit ihren<br />

Programmen ein breites Spektrum ab: Hoch-, Mas-<br />

heimatkultur | nr. 6


links: Baumaßnahmen in Vilnius;<br />

rechts: Kathedrale in Liverpool<br />

sen- und Subkultur, Niveau und Populismus, Weltstars<br />

und Folklore. Und trotz der Freude über hohe Touristenzahlen<br />

und ein verbessertes Image der Stadt maß<br />

sich der Erfolg immer daran, dass die Leute vor Ort<br />

mitmachten. Nur wenn jeder sich auf die Suche nach<br />

seiner persönlichen Kulturhauptstadt begibt, wird das<br />

funktionieren.<br />

Das offizielle Programm, all die Kunstkanäle, Ruhr-<br />

Atolle, Museen, Schauspiel-Reihen und Landmarken<br />

sind dabei nur Leitfäden. Der Vorteil am Ruhrgebiet:<br />

Die Angebote müssen gar nicht teuer sein, um zu begeistern.<br />

Sie sollten nur etwas mit den Leuten zu tun<br />

haben.<br />

nr. 6 | heimatkultur


heimatkleid | nr. 6


Multiple Persönlichkeitsmode<br />

Wunschgestöber, Tolllkirsche, Pimpshrimp. Drei Label, drei Geschäftsideen,<br />

drei Identitäten. Dahinter jedoch nur zwei Designerinnen. Julia<br />

Weinstock und Michaela Glasstetter leiden nicht an multipler Persönlichkeitsstörung,<br />

sondern arbeiten einfach auf drei Baustellen.<br />

text Tom Thelen | fotografie <strong>Bande</strong><br />

Fett gebaut wurde jahrelang vor dem Fenster des Ateliers<br />

von Julia Weinstock und Michaela Glasstetter<br />

im Essener Kreativtempel Unperfekthaus. Jetzt ist das<br />

gigantische Ufo am Limbecker Platz fast fertig, wo viele<br />

dem Konsum von der Stange frönen. Ganz andere<br />

Kundenkreise betreuen die beiden Diplomdesignerinnen,<br />

die sich beim Studium in Trier kennen gelernt<br />

haben. Seit 2004 machen sie besondere Kleidung für<br />

besondere Anlässe. Angefangen hat es mit den beiden<br />

Labels Wunschgestöber und Tolllkirsche. Ersteres wird<br />

vorrangig von Weinstock betrieben und ist auf professionelle<br />

Kostüme fokussiert. Für Auftritte und Promotion<br />

entstehen futuristische, zuweilen durchgeknallte<br />

Outfits. Riesige Insekten, Aliens, Medusen, auf Stelzen<br />

oder mit Nebeleinsatz etwa; aber auch das wechselfarbige<br />

Bühnen-Outfit des Elektroacts Näd Mika entstammt<br />

dieser Linie.<br />

Parallel dazu entstand Tolllkirsche unter der Federführung<br />

von Glasstetter. Begonnen haben sie mit szenigen<br />

Entwürfen zwischen Goa-Techno, Rock’n’Roll und Gothic<br />

nach asiatischem Streetfashion-Vorbild, doch bald<br />

merkten die beiden, dass dieses Geschäftsmodell nicht<br />

richtig funktionierte. Um billige Artikel für junge Szene-<br />

Einsteiger zu produzieren, hätte man zu Massenproduktion<br />

übergehen müssen; das ist nicht das Ding der<br />

beiden. Sie legen viel Wert auf Handarbeit und halten<br />

die Maßanfertigung immer noch für die Königsdisziplin.<br />

So konzentriert sich Tolllkirsche letztlich auf elegante<br />

Teile für den liquiden und engagierten Fetisch-Markt<br />

und die Gothic-Szene. Lack und Plastik, Korsetts und<br />

Uniform-Teile, von der wuchtigen Abendrobe bis zu<br />

Dessous. 300-400 Euro dürfen aufwändige Outfits schon<br />

mal kosten, allerdings werden einfache Teile durchaus<br />

günstig und auch online verkauft. Die Entwürfe sind<br />

aber nicht nur Partykostüme: Die beiden Designerinnen<br />

legen auch Wert darauf, dass ihre Klamotten durchaus<br />

mal alltagstauglich sein dürfen. Vertrieben werden die<br />

Teile vorrangig auf Messen wie der „Fetish-Evolution“,<br />

daneben aber auch in entsprechenden anspruchsvollen<br />

Shops in ganz Deutschland und Europa. Im Ruhrgebiet<br />

haben die beiden etwa seit Oktober 2008 eine eigene Abteilung<br />

bei Demask in Dortmund.<br />

Warum sind die beiden überhaupt im Ruhrgebiet? Das<br />

gehöre einfach zum Businessplan, erzählen Glasstetter<br />

und Weinstock. Man habe sich nach dem Studium zusammengesetzt,<br />

wollte unbedingt in die Selbstständigkeit<br />

und habe ganz konkret geschaut, wo die Infrastruktur<br />

gut ist. Heraus kam bei der Markt- und Kundenanalyse<br />

das Ruhrgebiet <strong>als</strong> Ballungsraum mit vielfältigen, ausdifferenzierten<br />

Szenen.<br />

Und weil die beiden offenbar mit einer großen Kollektion<br />

mit über 30 Teilen pro Jahr noch nicht ausgelastet<br />

waren, kam 2008 auch noch das Label Pimpshrimp ins<br />

Boot. Wenn es nicht klappt mit dem wilden Mix unter<br />

Tolllkirsche, dann müssen die sprudelnden Ideen halt<br />

anders kanalisiert werden. Den ungewöhnlichen Namen<br />

„Pimpshrimp“ testeten sie unter anderem persönlich<br />

per Passantenbefragung in der Essener Fußgängerzone –<br />

diese Designerinnen überlassen geschäftlich offenbar<br />

nichts dem Zufall.<br />

Unter Pimpshrimp sind manchmal maritime, meistens<br />

von der Fauna assoziierte Accessoires zusammengefasst.<br />

Beliebt sind Anhänger wie die Kuschelhummel,<br />

diverse hypnotische Quallen, Fliegenpilze, Schlüsselmiezen<br />

oder die echt komisch guckende Albinomieze.<br />

Niedliche bunte Viecher eben aus Leder, Fleece, Jersey,<br />

Plüsch, Lackstoffen und Folien, Tüll und Spitze und<br />

zu erschwinglichen Preisen. Zu haben sind sie etwa bei<br />

Ideenreich, Wohngemeinschaft in Essen, im <strong>Heimatdesign</strong>-Shop<br />

in Dortmund oder im Bochumer Stückgut.<br />

Natürlich auch in Berlin oder online. Wie es weitergehen<br />

wird mit den beiden hyperaktiven Damen, die sich<br />

offenbar glänzend ergänzen, ist noch nicht spruchreif.<br />

Basics wären noch so eine Baustelle, die interessant<br />

wäre, sagen sie. Dann wäre wohl noch ein weiteres Label<br />

fällig.<br />

w w w . w u n s c h g e s t o e b e r . d e<br />

w w w . t o l l l k i r s c h e . d e<br />

w w w . p i m p s h r i m p . d e<br />

nr. 6 | heimatkleid


Farben, Dreck und Leidenschaft<br />

„Unsere Heimat, unsere Liebe, in den Farben Blau und Weiß,<br />

18hundert48, nur damit es jeder weiß.“ Eine Zeile aus einem<br />

Fangesang vom VfL Bochum 1848 e.V. sagt viel über ästhetische<br />

Aspekte des aktuellen Fandesigns.<br />

text Ivonne Woltersdorf | fotografie <strong>Bande</strong><br />

Was wäre ein Fußballspiel ohne eine lautstarke Fankulisse?<br />

Im Ruhrgebiet reihen sich erst-, zweit- und<br />

drittklassige Fußballvereine wie an einer Perlenkette.<br />

Fanschaftsbekundung sind hier nicht stadtgebunden,<br />

sondern grenzüberschreitend. So sind Bochumer Autos<br />

mit einem Aufkleber des FC Schalke 04 an der Kofferklappe<br />

keine Seltenheit. Nun ja. Aber egal für wen das<br />

Herz wo schlägt, was einen Großteil der Fans eint, ist ihr<br />

modisches Auftreten an Spieltagen.<br />

Gekleidet mit Fan-Shirt, Vereinstrikot, Mütze oder –<br />

die häufigste Insignie – einem Schal, heben sich Fans,<br />

junge wie alte, Männer wie Frauen, Stunden vor einer<br />

anstehenden Fußballbegegnung vom Rest der Stadtbummler<br />

ab. Die Farben der Fantextilien zeigen ihnen<br />

auch, wer auf dem Weg ins Stadion finstere Blicke verdient<br />

hat – und wer hoffnungsvolle. Im Stadion findet<br />

sich ein Großteil der Schal-, Trikot- und Mützenträger<br />

auf den Stehplätzen hinter einem der Tore zusammen<br />

und formiert sich zur singenden, rhythmisch klatschenden<br />

Fankulisse, die <strong>als</strong> Ganzes betrachtet den jeweiligen<br />

blauen, blau-weißen, gelb-schwarzen, roten oder grünen<br />

Vereinsfarben entspricht.<br />

Seit der Saison 08/09 rüstet der Hamburger Ausstatter<br />

Do You Football die Mannschaft des VfL Bochum aus<br />

und trägt maßgeblich zur <strong>Gestaltung</strong> der Fantextilien<br />

bei. Mit der Verpflichtung des 2004 in Hamburg gegründeten<br />

Underdogs unter den Ausstattern erhielt die<br />

Kluft der Spieler ebenso wie die Fankleidung ein neues<br />

Image: Markantestes <strong>Gestaltung</strong>smerkmal ist seitdem<br />

die Einbindung des Claims „Wir sind unbeugsam“, ein<br />

heimatkleid | nr. 6


MÖLLERSTRASSE<br />

Wert, der dem Leitbild des Vereins entnommen ist. Die<br />

derzeitige Elf der Bochumer hat die Message zwar anscheinend<br />

nicht verinnerlicht, aber deren Motivierung<br />

bleibt ohnehin dem Trainer vorbehalten.<br />

Im Mittelpunkt der Firmenphilosophie von Do You<br />

Football steht hingegen die Leidenschaft der Fans und<br />

deren Verbundenheit zum Verein. Kamen die Trikots<br />

der vergangenen Saison noch im Retrolook daher, mit<br />

angedeuteten Nadelstreifen, geformt aus den fortlaufenden<br />

Worten „Wir sind unbeugsam“, V-Ausschnitt und<br />

weißen Bündchen, gibt sich die Ästhetik der aktuellen<br />

Kollektion abgewetzt, unangepasst und grobgestaltet.<br />

Sie greift die Emotionen auf, die ein gutes Derby ausmachen<br />

und nach denen eingefleischte Fußballfans süchtig<br />

sind: voller Körpereinsatz, Kampfgeist, Blut, Schweiß<br />

und echte Tränen.<br />

Do You Football stattet ausgesuchte Vereine wie z. B.<br />

auch den 1. FC St. Pauli mit einer individuellen Kollektion<br />

aus. Getreu dem Motto „Wir wollen nicht all euer<br />

Geld“, sind die Fanartikel denn auch günstiger <strong>als</strong> die<br />

der Nachbarvereine BVB 09 oder FC Schalke 04, die von<br />

den namhaften Herstellern Adidas und Kappa beliefert<br />

werden. Hier bezahlen die Fans auch die Marke. Und<br />

sie müssen in Kauf nehmen, dass die Linienführung<br />

der Trikots weltweit verbreitet ist. Preisfragen spielen<br />

bei den Fans mancher anderer Sportarten eine geringe-<br />

re Rolle. Beim Pferderennen etwa geht es weniger um<br />

die Liebe zum Rennstall <strong>als</strong> ums Sehen und Gesehen<br />

werden. Farben aber sind etwa beim Tennis ein Thema;<br />

Ende der 80er Jahre verursachte Andre Agassi einen Eklat,<br />

<strong>als</strong> er in buntem Ensemble auf dem Platz erschien;<br />

der Paradiesvogel boykottierte Wimbledon einige Jahre,<br />

weil dort nur weiß zugelassen ist. Auch das Publikum<br />

erscheint uniformiert: Adrette Polohemden und gebügelte<br />

Hosen sollen die Zugehörigkeit zum Sport ebenso<br />

wie zur sozialen Klasse signalisieren – auch wenn Tennis<br />

den Glanz des „weißen Sports“ eingebüßt hat, seit Boris<br />

Becker es so populär machte. Dennoch ist es undenkbar,<br />

dass ein Fan im weißen Röckchen auf der Tribüne Platz<br />

nimmt.<br />

Ist beim Tennis die Kleiderordnung bis auf die Einführung<br />

farblicher Akzente über Jahrzehnte hinweg konstant<br />

geblieben, lässt sich beim Fußball beobachten,<br />

dass der Anteil der Trikotträger unter den Fans wächst.<br />

Trotzdem gibt es hier noch Anhänger, die sich vom Merchandising<br />

eines Vereins gänzlich unbeeindruckt zeigen<br />

und grundsätzlich unmarkiert, meist schwarz gekleidet,<br />

ins Stadion gehen. Gerade bei diesen Gruppen bricht<br />

die Bedeutung des Wortes „Fan“, der englischen Kurzform<br />

von „fanatic“, hin und wieder hart auf. In solchen<br />

Momenten scheinen sie zu vergessen, dass Fußball trotz<br />

aller Leidenschaft sportlich zu sehen ist.<br />

HBF. DORTMUND<br />

UNIONSTRASSE<br />

ÜBELGÖNNE<br />

RITTERSTRASSE<br />

RHEINISCHE STRASSE<br />

LANGE STRASSE<br />

DO<br />

HOHE STRASSE<br />

RUHRALLEE<br />

MÄRKISCHE STRASSE<br />

24.09.2009 WHO MADE WHO >> 02.10.2009 PERE UBU >> 06.10.2009 HJALTAIN & IKARIA >> 07.10.2009 POMPEII &<br />

VOLCANO THE BEAR >> 09.10.2009 ANTIDISCO: DANIEL HAAKSMAN >> 10.10.2009 FUNNY VAN DANNEN >> 21.10.2009<br />

LAUSCHER: JENS RASCHKE >> 24.10.2009 THE DECLINING WINTER, THE PATTERN THEORY, JEAN MICHEL >><br />

29.10 – 01.11.2009 20TH ANNIVERSARY OF VISIONS >> 03.11.2009 LAUSCHER: LINUS VOLKMANN & DOMINGO >><br />

04.11.2009 SUPER 700 >> 05.11.2009 JOCHEN DISTELMEYER >> 13.11.2009 ANTIDISCO: BUGATI FORCE >><br />

15.11.2009 MAX HERRE >> 19.11.2009 10 JAHRE ELDORADIO*: PHOENIX, RISKA VILJOR & VIDEOCLUB >> 10.12.2009<br />

THE NOTWIST & ANDROMEDA MEGA EXPRESS ORCHESTRA >> 12.12.2009 ANTIDISCO: RADIOCLIT >> 19.12.2009 BOHREN<br />

UND DER CLUB OF GORE >> 17.12.2009 FRANK DELLÉ<br />

RITTERSTRASSE 20 // DORTMUND-CITY >><br />

TICKETS AN ALLEN BEKANNTEN VORVERKAUFSTELLEN >><br />

WWW.FZW.DE<br />

nr. 6 | heimatkleid


„Wir schauen,<br />

wie Statements<br />

gestrickt sind.“<br />

Mit seinem Projekt schalalala.de stellt<br />

der Kommunikationsdesigner Rüdiger<br />

Schlömer (*1978) ein Web-Interface zur<br />

Verfügung, das es kinderleicht macht, aus<br />

vorhandenen Fansch<strong>als</strong> neue Botschaften<br />

zu kombinieren und <strong>als</strong> Strickmuster<br />

herunterzuladen. Was steckt dahinter?<br />

interview Ivonne Woltersdorf<br />

fotografie Christoph Balzar/Rüdiger Schlömer<br />

Ins Leben gerufen wurde Schalalala 2006, <strong>als</strong> die Fußball-WM<br />

in Deutschland stattfand. Hast du auf diesen<br />

Augenblick gewartet?<br />

Schalalala ist im Vorfeld der WM 2006 entstanden,<br />

angestoßen durch die aufgeladene Stimmung, die sich<br />

in ganz Deutschland beobachten ließ. Da schien es<br />

gar nicht mehr um Fußball zu gehen, sondern um die<br />

Verhandlung von Nationalidentität, so etwas wie die<br />

Hoffnung auf ein zweites Wunder von Bern und seine<br />

gesellschaftlichen Folgen. Den Gastgebern wurde die<br />

Hurra-Kampagne „Du bist Deutschland“ aufs Auge gedrückt,<br />

um sie aus ihrer Selbstkritik herauszulocken –<br />

sicherlich in guter Absicht, aber größtenteils mit gegenteiligem<br />

Effekt. Auch die FIFA-Lizenzauflagen nahmen<br />

groteske Züge an, man wollte etwa den Bäckern das<br />

Wort „WM-Brötchen“ verbieten. Da war es verlockend,<br />

spielerisch mit dieser Situation umzugehen. Und da der<br />

Fanschal so etwas wie das Wort des Zuschauers ist, bot<br />

er sich <strong>als</strong> Medium an.<br />

Welche Botschaften werden über die Schalalala-Sch<strong>als</strong><br />

transportiert?<br />

Das ist dem User überlassen. Schalalala ist ein offenes<br />

Format, das nur gewisse strukturelle Regeln definiert.<br />

Wie ein Kochrezept mit variablen Zutaten.<br />

Welche Gründe sprechen für einen ureigenen Schal?<br />

Dieselben Gründe wie für einen ureigenen Bildschirmschoner,<br />

Klingelton, Schrebergarten oder Facebook-<br />

Account. Das alles sind Kommunikations- und Individualisierungsformate,<br />

mit denen man sich äußern<br />

kann. Es muss aber gar nicht um die vorrangige Aussage<br />

gehen. Zum Beispiel sagt so ein Schal auch aus: „Ich<br />

kann Stricken!“ Das Selbermachen selbst ist interessant.<br />

Entweder, weil man selber stricken lernt, oder weil man<br />

mit seiner Oma, die es dann doch machen muss, ins<br />

Gespräch kommt.<br />

Gibt es unter jungen Leuten die typische Strickerin, den<br />

typischen Stricker?<br />

Eher umgekehrt, die Strickerinnen und Stricker wirken<br />

alle irgendwie jung.<br />

Melden sich bei euch mehr Leute, die einen Schal selber<br />

stricken wollen oder mehr, die stricken lassen?<br />

Das hält sich bisher die Waage. Das Projekt wird weder<br />

<strong>als</strong> reines Selbermach- noch <strong>als</strong> Kaufprojekt vermittelt,<br />

sondern <strong>als</strong> konzeptionelles Format. Ob die Fanschal-<br />

Remixe selbst- oder fremd-, hand- oder maschinell gestrickt<br />

werden, macht nur für den persönlichen Bezug<br />

des Schalträgers etwas aus. Für die praktisch Veranlagten<br />

ist aber übrigens auch ein Strickbuch in Planung.<br />

Soll man „Schalalala“ auch <strong>als</strong> Statement gegen Massenproduktion<br />

verstehen?<br />

Falls Schalalala überhaupt ein Statement ist, dann eines<br />

über Statements an sich. Eher aber ist es der Versuch,<br />

diese strukturell zu reflektieren. Zu schauen, wie diese<br />

„gestrickt“ sind. Ein Hauptaspekt des Projekts ist der<br />

konstruktive Umgang mit Referenzen. Durch die Verwendung<br />

von existierenden Fansch<strong>als</strong> <strong>als</strong> Rohmaterial<br />

gibt es gleich von Anfang an einen Bezug zu Vereinen,<br />

Orten, Ländern. Jeder Buchstabe hat eine Vorgeschichte,<br />

einen Kontext, noch bevor das Wort überhaupt entsteht.<br />

Woher bekommt ihr diese Vorlagen?<br />

Wir arbeiten hauptsächlich mit Schalbildern aus dem<br />

Internet, die jemand abfotografiert, digitalisiert, und<br />

meist in schlechter Qualität auf irgendeiner Seite gepostet<br />

hat. Beim Prozess des Samplings, Remixens,<br />

Strickmuster-Reinzeichnens und Strickens fließen noch<br />

viele weitere Faktoren in das Ergebnis ein. Letztendlich<br />

ist die Reproduktion durch seine Entstehungsgeschichte<br />

fast mehr Original <strong>als</strong> ihre Vorlagen.<br />

Bist du Fußballfan? Und wenn ja, von welchem Verein?<br />

Tückische Frage. Wenn ich das hier erzähle, wäre das<br />

Zerschnipseln aller anderen Mannschaftssch<strong>als</strong> doch<br />

ganz klar <strong>als</strong> Sabotage entlarvt, oder? Da bleibe ich lieber<br />

neutral.<br />

w w w . s c h a l a l a l a . d e<br />

heimatkleid | nr. 6


vida.<br />

Möbel der eigenen Art<br />

3form GmbH Tischlerei, Raum-/ Objektdesign. Auf dem Hövellande 5, 44269 Dortmund, Tel. 0231/700 555 0, info@3form.de, www.3form.de


Ludvík<br />

Der Tauben nicht müde<br />

Was nicht tragbar ist bringt nichts, findet Fenja Ludwig.<br />

Mode ist für die in Köln ansässige Designerin ganz klar eine angewandte Kunst.<br />

text Alexandra Brandt<br />

Wie weit man Mode ins Urban-Sportive dehnen kann,<br />

ohne dabei die klassische Note der Pariser Couture<br />

aus den Augen zu verlieren, beweist Fenja Ludwig seit<br />

2003. In diesem Jahr machte die Rheinländerin sich<br />

selbstständig – weil sie es ohnehin schon seit geraumer<br />

Zeit wollte und ihr streng genommen auch kaum eine<br />

andere Wahl blieb. Nach Schneiderlehre, Modedesign-<br />

Studium, Kostümbild-Volontariat und Meisterprüfung<br />

war sie „so überqualifiziert, dass ich eigentlich nur noch<br />

ein eigenes Label gründen konnte.“<br />

Das Credo der Modeschulen, dass man nie für sich<br />

selbst schneidern dürfe, hat sie längst hinter sich gelassen.<br />

„Eigentlich ist es doch ein schöner Ansatz, Sachen<br />

zu entwerfen, die man selber tragen möchte“, meint<br />

Fenja Ludwig. An Motivation fehlt es ihr jedenfalls<br />

nicht: Zweimal pro Jahr werden neue Kollektionen prêt<br />

à porter entworfen und <strong>als</strong> Atelierserien angeboten. Bestimmte<br />

Themen liegen nicht zugrunde, trotzdem verfolgt<br />

die Designerin eine Linie: Die Liebe zur Eleganz<br />

der traditionellen Schneiderkunst der 70er Jahre – im<br />

Besonderen zu Yves Saint Laurent – schlägt sich in ihrer<br />

Mode ebenso nieder wie sportliche, popkulturelle<br />

Elemente. Klassische Silhouetten in Kombination mit<br />

prägnanten Volants, Faltenwürfen und Applikationen<br />

ergeben den Ludvík-Stil.<br />

Der wirkt mal streng und androgyn wie bei den geradlinigen<br />

Hosen mit weitem Bein und passenden Westen,<br />

mal feminin-weich bei Kleidern aus fließendem Jersey<br />

und zuweilen dank verspielter Details geradezu niedlich.<br />

So finden zum Beispiel immer wieder aufgenähte<br />

Tauben ihren Weg in die Kollektionen. Als die Federviecher<br />

im Zuge des beginnenden Irak-Kriegs eine Renaissance<br />

erlebten, fing auch Fenja Ludwig an, das Motiv<br />

auf Pullis zu applizieren. Das funktionierte – wobei<br />

sich die Designerin bis heute nicht sicher ist, ob die Vögel<br />

<strong>als</strong> politische Botschaft aufgefasst oder einfach nur<br />

süß gefunden wurden. Wie auch immer: Hier und da<br />

tauchen die Tauben weiterhin auf und werden manchmal<br />

sogar für das Logo des Labels gehalten – fälschlicherweise.<br />

In ihrem Showroom mit angeschlossenem Atelier<br />

empfängt Fenja Ludwig viele Kundinnen, die selber in<br />

kreativen Berufen tätig sind und eine Offenheit für das<br />

Besondere mitbringen – denn eine kleine Extravaganz<br />

oder Raffinesse steckt nahezu in jedem Stück. Bei aller<br />

Tragbarkeit.<br />

Fenja Ludwig wurde in Siegburg geboren und betreibt seit<br />

2003 das Label Ludvík mit Showroom und Atelier in Köln.<br />

Zweimal jährlich präsentiert sie neue Kollektionen, außerdem<br />

entwirft sie Auftragsarbeiten wie Abend- und Red<br />

Carpet-Kleider, außergewöhnliche Brautmode und Damen-Anzüge.<br />

w w w . l u d v i k - c o l o g n e . d e<br />

Fotografie Vanessa Leissring<br />

Assistenz Katja Burlyga Styling Fenja Ludwig<br />

Make Up Natalia Lipert (Artistry) Model Viktoria 3 (fashion4art)<br />

heimatkleid | nr. 6


Frisur Clothing<br />

Too Cool For School<br />

Blauäugig beginnen zwei Landeier, Mode zu machen.<br />

Und finden dabei einen Dreh, den sie den Großstädtern voraus haben.<br />

text Petra Engelke<br />

Happy End ist toll. Zu einer Erfolgsgeschichte will man<br />

aber auch einen grandiosen Anfang hören. So erzählen<br />

große Designer dann davon, wie sie auf einer Motorradreise<br />

um die Welt die Idee bekamen, mit Farben zu<br />

arbeiten. Oder so. Hinter dem Label Frisur Clothing<br />

steckt eine weniger großspurige Geschichte. Stephan<br />

Sunder-Plassmann und Thies Meyer sitzen im Erdkundeunterricht<br />

und langweilen sich. Aus einer Kritzelei<br />

wird ein gesichtsloser Kopf mit Zöpfen, sie nennen ihn<br />

„Frisur“ und experimentieren mit diesem Logo. Kurz<br />

darauf machen sie erste Shirts, zunächst für Freunde.<br />

Da sind sie gerade einmal in der neunten Klasse. „Wir<br />

begannen, die Grafiken, die sonst nur irgendwie auf Textil<br />

gebracht wurden, mit der Form des Kleidungsstückes<br />

zu verbinden“, so Thies. Dieser Ansatz unterscheidet sie<br />

von etablierten Labels; er findet sich auch heute noch<br />

in originellen Details. Etwa die Schlaufe, durch die Kapuzenbänder<br />

zur Seite und damit aus dem Weg gezogen<br />

werden. Asymmetrie ist ein wiederkehrendes Element<br />

ihrer Linie: Hier verschmelzen Grafik und Schnitt. Das<br />

Logo etwa soll niem<strong>als</strong> mittig platziert sein. Zu langweilig.<br />

Am Anfang entwerfen Stephan und Thies nicht alles<br />

selbst. Die ersten Teile folgen vorgegebenen Schnitten,<br />

die beiden bedrucken sie in Handarbeit zu Hause,<br />

versuchen sich eine Weile lang in Siebdruck mit<br />

handgeschnittenen Schablonen und selbstgebastelten<br />

Sieben. Im Rückblick war es nach Thies’ Ansicht gar<br />

nicht einmal schlecht, so jung begonnen zu haben: „Für<br />

die Durchführung braucht man dicke Eier und einen<br />

Schuss Blauäugigkeit“, sagt er. „Und für die <strong>Gestaltung</strong><br />

zählt Liebe zum Detail und der Wille, die Welt mit<br />

schönen Klamotten zu bereichern.“ Kurz vor dem Abitur<br />

2007 präsentieren sie ihre erste „echte“ Kollektion:<br />

Schnitt, Grafik und Details sind von den beiden entworfen,<br />

die ollen Siebe aber lassen sie jetzt links liegen. Statt<br />

selbst Hand anzulegen, lassen sie ihre Kleider in Portugal<br />

produzieren. „Shapes“ nennen sie das Bündel voller<br />

Basisteile: Streetwear mit jeweils drei Styles für Männer<br />

und Frauen. „Am Anfang war es nicht sinnvoll, saisonbezogen<br />

zu arbeiten, da wir schnell mit einer zeitlosen<br />

Basislinie Fuß fassen wollten“, sagt Thies. Das klingt abgeklärt<br />

und geschäftstüchtig. Und ehrlich: „Außerdem<br />

hatten wir keine Ahnung, wie das eigentlich alles funktioniert.“<br />

Inzwischen haben sie die Bandbreite erweitert:<br />

Sakko, Kleid, Schal, alles dabei. Mehrere Läden planen<br />

Frisur Clothing fest ein, wollen Jahreszeitenrhythmen.<br />

Von diesem Herbst an werden deshalb zweimal jährlich<br />

neue Kollektionen erscheinen – die Basislinie führen<br />

Stephan und Thies trotzdem weiter. Und noch etwas<br />

bleibt: Die Zeit zwischen Semestern und Kollektionen<br />

verbringen beide im sonnigen Süden – auf dem Surfbrett.<br />

Klingt nach Happy End.<br />

In Kappeln an der Schlei wuchsen Thies Meyer (1988) und<br />

Stephan Sunder-Plassmann (1987) auf. 2007 gingen sie gemeinsam<br />

zum Zivildienst nach Hamburg, inzwischen studiert<br />

Stephan an der Bauhaus Universität Weimar Visuelle<br />

Kommunikation, während Thies in Berlin Mode- und Produktdesign<br />

an der UdK paukt.<br />

w w w . f r i s u r l o u n g e . c o m<br />

Fotografie Marzena Skubatz<br />

Assistenz Matthias Wolf, Martin Lange<br />

Models Desiree, Martin, Simon<br />

heimatkleid | nr. 6


www.kreativwirtschaft-dortmund.de<br />

DORTMUND. KREATIVITÄT FINDET STADT.<br />

Dortmund ist gut sortiert. Gehen Sie online:<br />

Informieren Sie sich über aktuelle News und Termine<br />

Erweitern Sie Ihr persönliches Kreativnetzwerk<br />

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Kaufen Sie kreative Dienstleistungen in Dortmund


SiSie<br />

Blumenkind<br />

Simone Schäfer liebt die 60er und 70er Jahre. Das sieht man.<br />

text Petra Engelke<br />

Der Dackel. Vergessenes Relikt des Ruhrgebiets, zum<br />

belächelten Accessoire von „Hausmeister Krause“ im<br />

Fernsehen verkommen – und jetzt aus 70er-Jahre-Stoffen<br />

gefertigt eine prima Nacken- und Gedächtnisstütze.<br />

Er ist ein Ausgangspunkt für die neue Kollektion von<br />

SiSie. Hell- und dunkelgrüne Äpfel reihen sich tapetenartig<br />

auf weißer Baumwolle, Blumen übersäen einen<br />

Rock, der zudem mit Lochstickerei verziert ist. Keine<br />

Frage: Simone Schäfer arbeitet mit dem Design der 60er<br />

und 70er Jahre. „Erstens bin ich in dieser Zeit großgeworden“,<br />

sagt die 44-Jährige. „Außerdem stammen die<br />

besten Designer aus dieser Zeit.“ So bewundert sie etwa<br />

die Stoffe und Möbel von Werner Panton. Drittens ist<br />

dieser Zeitraum mit all seinen Umbrüchen für sie inhaltlich<br />

wie formal spannend: Revolutionär und unkonventionell<br />

stellt sie sich vor, wie es war, <strong>als</strong> Audrey<br />

Hepburn plötzlich in Hosen über das Filmset huschte,<br />

die Ausstatter des Music<strong>als</strong> „Hair“ Kleidung wild kombinierten<br />

und mit Ethno-Details experimentierten.<br />

Ständig stöbert Schäfer auf Flohmärkten und auf Reisen<br />

nach Originalen: Stoffe, Knöpfe, Bordüren, Stickereien,<br />

all das schleift sie in ihr Atelier, um die Fundstücke<br />

mit neuen Stoffen zu kombinieren. Bei ihr kommt der<br />

Stoff zuerst; erst wenn sie ihn in der Hand hält, überlegt<br />

sie, welche Idee, welcher Schnitt am besten dazu passen<br />

würde.<br />

„Genäht habe ich schon mit zwölf“, sagt Simone Schäfer.<br />

Ihre Oma war Schneiderin und brachte es ihr bei.<br />

Die Familie hatte nicht viel Geld, und so ging Schäfer<br />

<strong>als</strong> 16-Jährige auf besondere Art einkaufen: In Designerläden<br />

nahm sie, was ihr gefiel, verschwand damit<br />

in der Umkleidekabine, schaute genau, wie die Sachen<br />

gearbeitet waren. Sie zeichnete Gedankenstützen<br />

auf ihren Notizblock, um sie zu Hause nachzunähen.<br />

Schäfer wuchs in Essen-Bergerhausen auf, ging später<br />

nach Berlin, wollte dort aber nicht bleiben. „Ich mag<br />

das Ruhrgebiet mit seinen Zechenstädten sehr, <strong>als</strong>o bin<br />

ich zurückgekehrt, zumal die Berliner Modeszene sehr<br />

arrogant und mit wenig Herz agiert. Dort findet man<br />

eher Konkurrenten <strong>als</strong> Freunde.“ Manche finden die<br />

bunten Entwürfe von Simone Schäfer kindisch, aber darüber<br />

schüttelt sie nur wie ein Wackeldackel den Kopf.<br />

Sie findet, gerade in Krisenzeiten wie im Moment brauche<br />

man nicht auch noch Schwarz und Grau zu tragen.<br />

„Im Gegensatz zum derzeitigen Trend liebe ich Farben,<br />

Muster und verspielte Details. Und man kann nicht alt<br />

genug sein, um meine ‚Kindermode’ für Erwachsene zu<br />

tragen“, sagt sie. Immerhin ist ihr Label gerade 18 geworden.<br />

Simone Schäfer (44) wuchs in Essen auf. Sie studierte<br />

Modetheorie, Kunstgeschichte und Geschichte in Dortmund,<br />

danach Modedesign an der Berliner Hochschule der<br />

Künste. Für SiSie näht sie selbst, manchmal hilft ihre Mutter<br />

aus. Ihre Kollektion gibt es u.a. bei Soma (Berlin), Damenwahl<br />

(Düsseldorf) und Jungle (Bochum) sowie online.<br />

Hausmesse:<br />

01. bis 04.10., Dinnendahlstr. 8, 45136 Essen<br />

w w w . s i s i e . d e<br />

Fotografie & Illustration Annika Janssen und Sandra Greiling<br />

heimatkleid | nr. 6


2010<br />

EINE VERANSTALTUNG IM RAHMEN DER PASSAGEN<br />

MESSE FÜR JUNGES<br />

MÖBEL‐ UND INTERIORDESIGN<br />

18. ‐ 24. JANUAR 2010 // KÖLN<br />

JETZT<br />

BEWERBEN!<br />

WWW.DESIGNERSFAIR.DE // INFO@DESIGNERSFAIR.DE


JotJot<br />

Mehr <strong>als</strong> Jeans und T-Shirt<br />

Streetwear. Das kann Jeans und T-Shirt bedeuten. Todlangweilig. JotJot ist Streetwear.<br />

So bequem wie Jeans und T-Shirt. Aber alles andere <strong>als</strong> langweilig.<br />

text Sascha Abel<br />

Morgens zum Meeting mit dem Chef, mittags mit der<br />

Freundin ins Cafe und abends auf ein paar Cocktails<br />

in die Lieblingsbar: besonders für Frauen eine modische<br />

Herausforderung. Verschiedene Anlässe erfordern<br />

schließlich ein jeweils passendes Outfit. Für all diejenigen,<br />

die in jeder Lebenslage gut aussehen, sich aber nicht<br />

ständig umziehen wollen, hat sich Jana Januschewski<br />

etwas einfallen lassen. „Die meisten meiner Kollektionsstücke<br />

sind variabel und lassen sich auf unterschiedliche<br />

Art und Weise tragen“, sagt sie. So zum Beispiel<br />

eine petrolfarbene Jacke mit Puffärmeln. Für gediegene<br />

Anlässe lässt sich deren Schalkragen elegant hochklappen.<br />

Abends in lockerer Runde legt man ihn um und<br />

präsentiert das knallige Innenfutter mit Erdbeermuster.<br />

Und wer es besonders bunt mag, trägt die Jacke auf links<br />

und macht sein Outfit damit zum Hingucker auf jeder<br />

Party.<br />

JotJot, das ist der lautsprachliche Name für Janas Initialen.<br />

Das Kürzel steht zudem für avantgardistische<br />

Streetwear: farbenfrohe Styles in knallrot, butterblumengelb<br />

oder kräftigem Cyan. Ausgefallene Schnitte<br />

und Detaillösungen. Und dabei immer bequem und<br />

tragbar. Schlichte Bolerojäckchen oder Slimfit-Jeans mit<br />

langem Bein sind ebenso Teil von Janas Kollektionen<br />

wie Erdbeermuster und bunte Karos. „Einige meiner<br />

Kollektionsteile sind von Afrika inspiriert. Ich mag die<br />

Farbenfrohheit und die Lebensart der Menschen dort“,<br />

erklärt Jana.<br />

Ihre Ideen setzt sie zum Beispiel in einer Bluse mit übergroßem,<br />

exotischem Blumenmuster um. Dabei handelt<br />

es sich nicht um eine gewöhnliche Bluse – sondern um<br />

ein Designstück mit extravagantem Stehkragen. Zart<br />

gekräuselte Rüschen verdecken den H<strong>als</strong> bis zum Kinn<br />

und sind dem goldenen H<strong>als</strong>schmuck der asiatischen<br />

Padaung (Giraffenh<strong>als</strong>frauen) nachempfunden. Ein Detail,<br />

das hier in Europa auf raffinierte Weise hochgeschlossene<br />

Extravaganz mit mädchenhafter Verspieltheit<br />

verbindet.<br />

Bis heute hat Jana um die 600 Einzelstücke gefertigt:<br />

vom Schlüpfer über den Badeanzug bis hin zum Cocktailkleid<br />

ist ihr keine Herausforderung zu groß. Mäntel,<br />

die Taille und Busen betonen und ab der Hüfte a-förmig<br />

aufspringen, übergroße Kapuzen und Puffärmel – JotJot<br />

ist Streetwear mit dem gewissen Twist. Viele Teile entstehen<br />

aus einer Mischung aus Schnitt und Drapage.<br />

Sich an immer gleichen Schnittmustern zu bedienen, ist<br />

Jana zu langweilig. Stattdessen wandelt sie geometrische<br />

Grundformen ab. Macht aus einem Dreieck ein Trapez,<br />

baut in geradlinige Verläufe einen Bogen ein und verleiht<br />

ihrer Kleidung so eine einzigartige Note. All das<br />

setzt sie mit Naturfasern wie Baumwolle und Seide zu<br />

hautschmeichelnden Jerseys um. Gut so. Mit Polyester<br />

am Leib würde frau ganz schön ins Schwitzen kommen,<br />

wenn sie vom Meeting mit dem Chef erst zur Freundin<br />

und dann zum Cocktailabend hetzt.<br />

Jana Januschewski, 29, kommt in Moldawien zur Welt und<br />

wächst in Frankfurt a.d. Oder und in Mülheim a.d. Ruhr<br />

auf. Nach dem Fachabitur studiert sie zunächst in Arnheim,<br />

später in Düsseldorf Modedesign. 2004 gründet sie in<br />

Essen ihr eigenes Label. Jana wohnt in Moers und teilt sich<br />

ihr Atelier in der Essener Südstadt mit einer Schmuckdesignerin<br />

und einer Stylistin.<br />

w w w . j o t j o t - m o d e . d e<br />

Fotografie Jana Gerberding Assistenz Olga Kessler<br />

Styling Bernadette Burow Make Up/Haare alcox makeup art<br />

Model Maria Rauch von Model Pool<br />

heimatkleid | nr. 6


26. SEPTEMBER 2009<br />

FESTIVAL DER KREATIVEN IN<br />

DER METROPOLE RUHR<br />

Architekten, Werbeagenturen,<br />

Designer, Künstler, Musiker,<br />

Gamer, Filmer, Fotografen und<br />

viele Kreative mehr laden ein.<br />

Spannende Veranstaltungen,<br />

außergewöhnliche Kreativ.Quartiere<br />

hautnah erleben.<br />

Programm unter:<br />

WWW.KREATIVEKLASSERUHR.DE<br />

gefördert von:


Für eine Handvoll Cent<br />

Budenzauber: Der Kiosk ist nicht nur im Ruhrgebiet allgegenwärtig. Als sozialer Kitt und ästhetisches Ereignis<br />

ist er unverzichtbar und hat sich, langsam aber sicher, zum Kulturphänomen entwickelt. Sein Bier kriegt man dort<br />

aber trotzdem noch.<br />

text Volker K. Belghaus | illustration <strong>Bande</strong><br />

Ach ja, die Bude. Das Thema sollte<br />

durch<br />

sein. In unzähligen Publikationen<br />

ü b e r<br />

das Ruhrgebiet eingereiht in die<br />

Lieblingsklischees<br />

zwischen Currywurst und<br />

Taubenvatters<br />

Jupp, in durchschnittlichen Co-<br />

medynummern<br />

zu Tode gelacht – aber dennoch lebt der Mythos Bude;<br />

da, wo Vorurteil und Realität zusammentreffen: im Alltag der Menschen.<br />

Ohne Bude geht gar nicht, die kurzen Wege zur Flasche Bier und<br />

zur Schachtel Zigaretten haben sich bewährt, und auch optisch würde<br />

etwas fehlen in den Straßen des Ruhrpotts. Die sympathische Unaufgeräumtheit,<br />

das grelle Nebeneinander von Eis-, Kippen- und Zeitungswerbung<br />

und die Schaufenster, in denen alles präsentiert wird, was<br />

der Laden hergibt – ohne die Bude wären manche Ecken noch trister.<br />

Überhaupt die „Schaufenster“ – wen es einmal gepackt hat, der kann sich<br />

gar nicht sattsehen an den Etiketten der Flachmänner (die neben einer ausgeblichenen<br />

Schachtel Tampons aufgereiht sind) oder an den Plastikboxen<br />

mit dem Süßkram. Was dort für ein paar Cent für die „Gemischte Tüte“ angeboten<br />

wird, kann man durchaus <strong>als</strong> ungewollte Kunst durchgehen lassen.<br />

A u c h<br />

wenn die Lebensmittelfarben in den letzten<br />

J a h r e n<br />

anscheinend immer schriller geworden<br />

sind; hier findet man noch die Klassiker der Kindheit:<br />

Colakra-<br />

cher, Saure Pommes und Leckmuscheln<br />

(wobei man auch<br />

gern mal wüsste, wer sich solche Namen<br />

ausdenkt) und na- türlich die schlichte Lakritzschnecke.<br />

Letztere ist das Erkennungszeichen des 1. Kioskclub aus Dortmund, der<br />

sich „die Erforschung und Pflege der Kioskkultur weltweit“ zur Aufgabe<br />

gemacht hat. Die Mitglieder tragen die Schnecke stolz in gestickter Form<br />

<strong>als</strong> Aufnäher und Bekenntnis zur Bude nebenan. Gegründet hat sich der<br />

Verein von Künstlern und Privatleuten im Fußball-WM-Jahr 2006 in<br />

Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Museum am Ostwall im Rahmen<br />

der Ausstellung „Erfrischungspavillon – zu Gast bei Freunden“.<br />

Von außen sah es so aus, <strong>als</strong> wäre in der Studio-Galerie des Museums ein<br />

Kiosk eröffnet worden, samt Verkaufsfenster, Zeitungsständer und Langnese-Fähnchen.<br />

Im Inneren wurde das Kulturphänomen Kiosk musealisiert<br />

und diente <strong>als</strong> Kulisse für Veranstaltungen und Symposien zum selben<br />

Thema. Auch wenn sich die Erforschung der Büdchenhistorie ein wenig<br />

nr. 6 | heimatlust


sperrig anhört,<br />

und die Vereins-Schatzmeisterin<br />

Ruth<br />

Langen von Hause aus Kunsthistorikerin<br />

ist – der KCMO (1. Kioskclub<br />

Museum am Ostwall 06) sucht<br />

die Öffentlichkeit. So bietet er Kiosk-Ralleys<br />

an; Stadtführungen per Fahrrad, auf denen<br />

Maler und Vereinsmitglied Willi Otremba dem<br />

Thema zugewandte Zeitgenossen die wichtigsten<br />

und interessantesten Buden im Stadtgebiet zeigt.<br />

Der Kiosk scheint die Kreativität zu fördern, auch wenn<br />

sie zuweilen künstlich von außen aufgedrückt wirkt. Auch<br />

die Kulturhauptstadt RUHR.2010 will um das Thema nicht<br />

herumkommen und plant gemeinsam mit den Ausstellungsmachern<br />

vom Verein BochumDesign e.V. ein Projekt<br />

mit dem Titel „DESIGNKIOSK RUHR.2010 – Arts and Crafts<br />

im Ruhrgebiet“. Kunst und Handwerk klingt ja auch weniger<br />

cool, denn schließlich sollen das die umgestalteten Kioske<br />

dann ja auch sein. Schaufenster für die junge, kreative Szene<br />

des Ruhrpotts, verbunden mit einer Route von Duisburg bis<br />

Dortmund. 30 Teilnehmer wählt eine Jury des Bochumer Designpreises<br />

aus; sie können sich und ihre Arbeiten im nostalgischen<br />

und heimeligen Büdchenambiente präsentieren.<br />

Eine stillere Perspektive auf die Kioskkultur hat indes<br />

die Herner Fotografin Brigitte Kraemer mit ihrem Bildband<br />

„Die Bude“ gewählt. In klassischem Schwarz-<br />

Weiß dokumentiert sie das ganz normale Leben an<br />

der Bude, zeigt freistehende, pavillonartige Kioske<br />

und solche, die in Baulücken gequetscht wurden;<br />

Kunden aller Generationen und die Inhaber,<br />

die, auf ihre Ellenbogen gestützt,<br />

auf die nächste Bestellung warten.<br />

Auch leere, aufgegebene Buden haben<br />

ihren Platz und Kurioses, wie eine<br />

Trinkhalle für Mensch und<br />

Hund in Duisburg-<br />

Wedau, samt<br />

der kreidigen<br />

Angebotstafel für „Leuchties“,<br />

mit denen man seinen<br />

Hund im Dunkeln finden könne.<br />

Oder jenen Kiosk, an dessen Eistruhe ein<br />

Aushang Infos über „Beerdigungen zu Hartz<br />

IV-Preisen“ anbietet, illustriert mit christlichem<br />

Kreuz und türkischem Halbmond. Teilweise muss<br />

man schon sehr genau hinschauen und auf kleine Details<br />

wie aktuelle Logos achten, um zu erkennen, dass<br />

hier nicht die 70er Jahre abgebildet werden. Dieser Umstand<br />

beweist einmal mehr die Zeitlosigkeit und Beständigkeit<br />

der Kioske.<br />

Auch weiter östlich forscht man den Buden unter sozialen<br />

und ästhetischen Gesichtspunkten hinterher. Die Architekten<br />

vom Raumlabor Berlin beschäftigen sich auf ihrer<br />

Internetseite mit dem Phänomen der „Kioskisierung“<br />

Osteuropas und untersuchen die Veränderungen des Straßenhandels<br />

durch die Ansiedlung von Kiosken in den ehem<strong>als</strong><br />

sozialistischen Städten Halle, Lódz, Moskau und Bratislava.<br />

Seit der Wende hat sich in den Plattenbausiedlungen eine Budenkultur<br />

entwickelt, die ganze Supermärkte ersetzt. Neben den<br />

Forschungsergebnissen, die <strong>als</strong> Film und Buch vorliegen, bietet<br />

das Team, zu dem auch ein Stadtsoziologe zählt, auch die kleine<br />

„My Kiosk Einkaufstasche“ von Designerin Charlotte Erkrath<br />

an, in die ein kompletter Kioskeinkauf passt: ein Bier,<br />

eine Zeitung, ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten.<br />

Das reicht zum Glücklichsein. Ob in Bratislava oder Wattenscheid.<br />

„Die Bude“, Fotografien von Brigitte Kraemer,<br />

Klartext-Verlag<br />

w w w . k c m o . d e<br />

w w w . k i o s k i s i e r u n g . n e t<br />

heimatlust | nr. 6


nr. 6 | heimatlust


3<br />

Gallery Hopping<br />

Von Ausstellung zu Ausstellung im Ruhrgebiet?<br />

Hier geht’s lang.<br />

7<br />

10<br />

6<br />

5<br />

1 BOCHUM: galerie januar – Verein zur Förderung junger Kunst e.V.,<br />

Eislebener Str. 9, 44892 Bochum, 0234-3600578, www.galerie-januar-ev.<br />

gmxhome.de, do 17-19 Uhr • Galerie m Bochum, Schlossstr. 1a, 44795 Bochum,<br />

0234-43997, www.m-bochum.de, mi & fr 14-18, sa 12-18 Uhr • Situation<br />

Kunst - für Max Imdahl, Nevelstr. 29c (im Parkgelände von Haus<br />

Weitmar), 44795 Bochum, 0234-2988901, www.situation-kunst.de, mi & fr<br />

14-18, sa & so 12-18 Uhr • Kunstverein Bochum Haus Kemnade, An der<br />

Kemnade 10, 45527 Hattingen, 02324-30268, www.kunstverein-bochum.de,<br />

di-so 11-17 (1. November – 30. April), di-so 12-18 (1. Mai – 31. Oktober) •<br />

Bochumer Kulturrat e.V., Lothringer Str. 36 c, 44805 Bochum, 0234-86<br />

2012, www.kulturrat-bochum.de, do & fr 18-20, so 15-17 Uhr • Rottstr.<br />

5, Rottstr. 5, 44793 Bochum, 0234-9128121, www.rottstr5.de, di-fr 16-20, sa<br />

11-16 Uhr<br />

2 CASTROP-RAUXEL: Galerie Schwenk, Dortmunder Str. 436, 44577<br />

Castrop-Rauxel, 02305-580672, www.galerie-schwenk.de, di-fr 15-20, Sa 10-<br />

14 Uhr<br />

3 DORSTEN: Virtuell-Visuell e.V., Wiesenstr. 4, 46282 Dorsten, 02362-<br />

3343, www.virtuellvisuell.de, mi & do 15-18, sa 10-15 Uhr<br />

4 DORTMUND: da entlang – Galerie für aktuelle Kunst, Kaiserstr.<br />

69, 44135 Dortmund, 0231-5860536, mi 16-20, do & fr 16-19, sa 11-14, so 11-13<br />

Uhr • Künstlerhaus Dortmund, Sunderweg 1, 44147 Dortmund, 0231-<br />

820304, www.kuenstlerhaus-dortmund.de, do-so 16-19 Uhr • Hartware<br />

MedienKunstVerein (HMKV), Phoenix Halle, Hochofenstr., Ecke Rombergstr.,<br />

44263 Dortmund, 0231-4080279, www.hmkv.de, do & fr 16-20,<br />

sa & so 11-20 Uhr • Dortmunder Kunstverein e.V., Hansastr. 2-4, 44137<br />

Dortmund, 0231-578736, www.dortmunder-kunstverein.de, di-fr 15-18, so<br />

11-16 Uhr, an Feiertagen geschlossen • ART-isotope (Galerie Schöber),<br />

Basisstation: Arneckestr. 42, 44139 Dortmund, www.art-isotope.de, so,<br />

mo, di, fr 14.30-19.30 Uhr • Andrea Schmidt – Galerie für zeitgenössischen<br />

Schmuck, Kleppingstr. 28, 44135 Dortmund, 0231-4776363, www.<br />

gold-schmidt.de, di-fr 11-18.30, sa 11-16 Uhr • Galerie Utermann, Silberstr.<br />

22, 44137 Dortmund, 0231-47643737, www.galerieutermann.de, di-fr 10-13<br />

& 14-18, sa 10-14 Uhr • Galerie Anne Voss, Gerberstr., 44125 Dortmund,<br />

www.galerie-annevoss.de, fr & sa 15-18 Uhr • Galerie PR, Schillingstr. 21,<br />

44139 Dotmund, www. galerie-pr.de<br />

5 DUISBURG: Kunstverein Duisburg e.V., Weidenweg 10, 47059 Duisburg,<br />

0203-7187841, www.kunstverein-duisburg.de, do, fr, sa 17.30-20 Uhr<br />

• Stiftung DKM – Museum DKM, Güntherstr. 13–15, 47051 Duisburg-<br />

heimatlust | nr. 6


11<br />

2<br />

13<br />

9<br />

4<br />

1<br />

12<br />

8<br />

Dellviertel, 0203-93555470, www.stiftung-dkm.de, mo, fr, sa, so 12-18 Uhr •<br />

cubus kunsthalle e.V., Friedrich-Wilhelm-Str. 64, 47051 Duisburg, 0203-<br />

26236, www.cubus-kunsthalle.de, mi-so 14-18 Uhr<br />

6 ESSEN: kunstwerden e.V., Ruhrt<strong>als</strong>tr. 19a, 45239 Essen-Werden, 0201-<br />

3203205, www.kunstwerden.de, fr 19-24 Uhr • Baustelle Schaustelle,<br />

Brigittastr. 9, 45130 Essen, www.baustelle-schaustelle.de, fr 16-18 Uhr •<br />

Galerie Schütte, Hauptstr. 4, 45219 Essen, 02054-871753, www.galerieschuette.de,<br />

di-fr 14-19, sa 11-14 Uhr • Kunsthaus Essen e.V., Rübezahlstr.<br />

33, 45134 Essen, 0201-443313, www.kunsthaus-essen.de, do-so 15-18 Uhr •<br />

Best Kunstraum, Ruhrt<strong>als</strong>tr. 415, 45219 Essen, 02054-86428, www.bestkunstraum.de,<br />

mi & do 16-19 Uhr • Kunstverein Ruhr e.V., Kopstadtplatz<br />

12, 45127 Essen, 0201-226538, www.kunstvereinruhr.de, di-fr 10-19, sa & so<br />

12-17 Uhr<br />

7 GELSENKIRCHEN: Künstlersiedlung Halfmannshof Gelsenkirchen,<br />

Halfmannsweg 50, 45886 Gelsenkirchen, 0209-28742, www.kuenstlersiedlung.de,<br />

mo-so 10-18 Uhr • Galerie Kabuth, Wanner Str. 4, 45879<br />

Gelsenkirchen, 0209-1487461, www.galerie-kabuth.de, di-fr 9-12 & 13-15<br />

Uhr • Kunstverein Gelsenkirchen, www.kunstverein-gelsenkirchen.de,<br />

di-so 11-18 Uhr<br />

8 HATTINGEN: Kunstverein Hattingen, Meisenweg 4, 45527 Hattingen,<br />

02324-84021, www.kunstverein-hattingen.de, do & fr 15-18, sa & so<br />

13-18 Uhr<br />

9 HERNE: Künstlerzeche Unser Fritz 2-3, Alleestr. 50, 44653 Herne,<br />

02325-3934, www.kuenstlerzeche.de, mi & sa 15-18, so 14-17 Uhr<br />

10 OBERHAUSEN: Verein für aktuelle Kunst, Ruhrgebiet e.V., Zentrum<br />

Altenberg, Hansastr. 20, 46049 Oberhausen, 02381-3053879, www.<br />

vfak-ruhrgebiet.de, fr & sa 16-18, so 11-13 Uhr • Kunstverein Oberhausen<br />

e.V., Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46, 46049 Oberhausen<br />

und Galerie Tedden – Garage, Mühlenstr. 125, 46047 Oberhausen-Dümpten,<br />

0208-208410, www.kunstverein-oberhausen.de<br />

11 RECKLINGHAUSEN: Kunstverein Recklinghausen – Kunst im<br />

Kutscherhaus, Willy-Brandt-Park 5, 45657 Recklinghausen, 02361-15436,<br />

www.kunstverein-recklinghausen.de, do & fr 15-18, sa & so 13-17 Uhr<br />

12 SCHWERTE: Kunstverein Schwerte, Im Wuckenhof – Kötterbachstr.<br />

2, 58239 Schwerte, 02304-22175, www.kunstverein-schwerte.de, mi-fr<br />

16-19, so 15-18 Uhr<br />

13 UNNA: Kunstverein Unna e.V, Mühlenstr. 4c, 59423 Unna, 02303-<br />

21828, www.kunstverein-unna.de, fr 17-19, sa & so 11-13 Uhr<br />

nr. 6 | heimatlust


Ortsbegehung:<br />

La Gondola<br />

Wozu in die Ferne<br />

schweifen? Von außen<br />

unscheinbar, führt die<br />

italienische Gelateria<br />

„La Gondola“ in<br />

Bochum in eine Hinterhofoase<br />

der sommerlichen<br />

Leichtigkeit.<br />

Ist das Wetter auch<br />

noch so mies.<br />

text und bild<br />

Ivonne Woltersdorf<br />

Mein Lieblingsort in Bochum ist die Gelateria „La<br />

Gondola“ an der unteren Kortumstraße unweit des<br />

Museums. Eisdielen gibt es viele in Bochum, aber die<br />

Gelateria Gondola, wie ich sie einfach nenne, habe<br />

ich ins Herz geschlossen. Dort hinzugehen ist für<br />

mich wie ein kleiner Urlaub.<br />

Am liebsten sitze ich mit einem Freund oder einer<br />

Freundin auf der kleinen Terrasse, die sich – von all jenen<br />

unbemerkt, die sich jahrelang vorne ein Eis auf die<br />

Hand bestellen – an der Rückseite der Eisdiele befindet.<br />

Im Hochsommer ist sie von dichtem Weinlaub überdacht,<br />

das Schatten spendet und den Blick auf eine graue<br />

Häuserrückfront verhängt. Aber die ist auch egal. In der<br />

Gelateria Gondola lasse ich die Welt sowieso immer ein<br />

Stück hinter mir; meine Aufmerksamkeit gehört meinem<br />

Gegenüber, dem Eis und dem Gondola-Publikum.<br />

Zu den Gästen gehören Familien mit Kind und Kegel,<br />

junge Paare und Freunde jeden Alters, und jeder von<br />

ihnen trägt für gewöhnlich ein Lächeln im Gesicht. Aus<br />

dem Radio ertönt Schlagermusik. Man fällt aus der Zeit.<br />

Obwohl ich mittlerweile seit 10 Jahren mein Eis in Bochum<br />

am liebsten hier esse, brauche ich immer etwas<br />

Zeit, um mir neben meinem Standardgetränk Cappuccino<br />

einen Eisbecher aus der umfangreichen Karte<br />

auszusuchen. Schließlich ist es langweilig, immer meinen<br />

Liebling zu vernaschen. Schokoeisbecher heißt<br />

der Süße. Das Angebot der Gelateria Gondola ist nicht<br />

extravagant, der Geschmack des Eises unterscheidet<br />

sie aber dafür um so mehr von anderen Eiscafés. Hier<br />

schmeckt man das Wesen jeder Sorte, cremig und nicht<br />

zu süß entfaltet sich Schokolade, Vanille, Nuss und<br />

Erdbeere im Mund. Obendrauf kommt die Dekoration,<br />

für mich die liebevollste. Sie lässt jeden Eisbecher<br />

wie einen gut gebundenen Blumenstrauß erscheinen:<br />

Sie schmeichelt dem Hauptakteur, ohne dessen Eigenheit<br />

zu übertünchen.<br />

Diese Eisbecher zu zaubern liegt in den Händen der<br />

Familie De Filippo, die ursprünglich aus Norditalien<br />

kommt und mit der Gelateria Gondola nicht nur ein<br />

Stück italienische Eiskunst in Bochum etabliert hat,<br />

sondern auch einen Ort der Gelassenheit. Und das<br />

ist er nicht nur, wenn man bei Sonnenschein unter<br />

Weinlaub auf der Terrasse sitzen kann, sondern auch –<br />

und vielleicht gerade dann – vor dem grauen, kalten<br />

Wetter im Innenraum des Eiscafés Schutz sucht.<br />

Zu jeder Jahreszeit, außer in der kurzen Winterpause,<br />

wird man vom Gelatiere Gino De Filippo freundlich und<br />

unaufdringlich, ja fast schon zurückhaltend umsorgt.<br />

Er hat mir erzählt, dass er in den Wintermonaten nie<br />

richtig Pause macht, sondern sich oft fortbildet. Denn<br />

auch im hohen Alter (er ist jetzt 64) könne man noch<br />

viel lernen, etwa wie sich die Verarbeitung von Obst verbessern<br />

lässt. Bei meinem nächsten Besuch dort werde<br />

ich trotzdem kein Fruchteis, sondern mal ein Gläschen<br />

Prosecco bestellen, das hier wie in Italien nicht viel kostet<br />

(1,80 Euro), und mit meiner Begleitung auf das Leben<br />

und die Gelateria Gondola anstoßen. Auf dass sie mich<br />

und ihre anderen Gäste noch lange glücklich macht.<br />

heimatlust | nr. 6


CREATIVE STAGE<br />

...........................................................................................<br />

Ein Format der Wirtschaftsförderung Bochum und der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Duisburg mbH<br />

...........................................................................................<br />

www.creativestageruhr.de


NASHVILLE DORTMUND BANGKOK<br />

Wahrscheinlich ist Hartmuth Malorny der einzige Dichter im<br />

Ruhrgebiet, dem Johnny Cashs Ehefrau mal einen Tee<br />

gebraut hat. Dabei ist Tee gewiss nicht das Lieblingsgetränk<br />

des Dortmunder „U-Bahn-Bukowski“ (ZDF).<br />

U-Bahn fährt er zwar nicht mehr. Doch im Untergrund<br />

tummelt er sich immer noch.<br />

text Grobilyn Marlowe | bildvorlage Rae Grimm<br />

Lakonisch ist der Begriff, der immer wieder auftaucht, wenn es um Texte<br />

Malornys geht. Dabei bedeutet lakonisch wortkarg, und Wortkargheit<br />

kann man einem Mann, der drei Gedichtbände, vier Romane sowie unzählige<br />

Kolumnen und Kurzgeschichten in diversen Zeitschriften veröffentlicht<br />

hat, bestimmt nicht vorwerfen. Es ist vielmehr Malornys eigener<br />

Lebensstil, den man lakonisch nennen könnte. Schon die Titel seiner<br />

Gedichtbände „Kronkorken für den Nachlass“ (1994), „Bewegungen im<br />

Untergrund“ (1996) und „Was übrig bleibt“ (2001) zeugen von einem gewissen<br />

Außenseitertum und unverschnörkelter Wortwahl. Die Gedichte<br />

selbst sind meist ungereimte Ich-Erzählungen, die sich <strong>als</strong> messerscharf<br />

pointierte Beobachtungen zwischenmenschlicher Natur entpuppen.<br />

Der 50-Jährige mit den melancholischen, blassblauen Augen ist keiner,<br />

der viel redet, geschweige denn ein Grillfest mit seinen Nachbarn<br />

starten würde. Er mag den Alkohol, die Frauen und die gestrandeten,<br />

skurrilen Typen, die er bei seinen Streifzügen durch Absteigen<br />

und Kaschemmen trifft – aber eine typische Ruhrgebiets-Stammkneipe<br />

hat er nicht, obwohl zwei davon direkt vor seiner Tür liegen.<br />

„Saufen kann ich auch zu Hause“, sagt er, und der alte Kneipen-Spielautomat<br />

an seiner Küchenwand scheint das zu bestätigen. Schreiben sei<br />

für Malorny Medizin, „um nicht 24 Stunden vor der Glotze zu versumpfen“.<br />

Die „Recherche“ in den Pinten sei wie Urlaub von seinem Job <strong>als</strong><br />

Sonderreiniger bei den Stadtwerken, seit der ehemalige Straßenbahnfahrer<br />

wegen „Fahruntauglichkeit“ zum Graffitientfernen abkommandiert<br />

wurde. Der Wegfall des zermürbenden Schichtdienstes kommt ihm da<br />

zupass. Aber <strong>als</strong> disziplinierten Schreiber sieht sich der Dortmunder<br />

nicht: „Es ist eigentlich egal, wann ich schreibe. Nach der Arbeit, am Wo-<br />

chenende, im Urlaub. Im Anfangen bin ich zumindest sehr gut.“ Seinen<br />

ersten Roman „Die schwarze Ledertasche“ (2003), der autobiografisch von<br />

seinem Leben <strong>als</strong> Straßenbahner berichtet, hat er in fünf Wochen rausgehauen.<br />

Die Fortsetzung „Noch ein Bier, Harry?“ im Folgejahr nachgelegt.<br />

Und auch seinen Sex-Roman „Wendekreis der U-Bahn“ (2006) hat er „einfach<br />

so drauflos geschrieben“. Dessen Titel erinnert nicht zufällig an Henry<br />

Miller, den er genauso wie Charles Bukowski, Ernest Hemingway, Jack London<br />

oder den Countrysänger Johnny Cash verehrt. Letzterer ist in der Altbauwohnung<br />

allgegenwärtig: Cash <strong>als</strong> Postergalerie im Flur, <strong>als</strong> Porträt<br />

auf dem Klo oder in dreifacher Ausführung handsigniert neben dem<br />

Spielautomaten in der Küche. „Ich habe über 50 Livekonzerte in ganz<br />

Europa gesehen und Cash sogar einmal auf seiner Heimatranch in Nashville<br />

besucht.“ Dort stellte sich der Sänger allerdings <strong>als</strong> ebenso lakonisch<br />

wie der Autor selbst dar. „Er sagte nur kurz Hello und verschwand wieder.<br />

Dafür hat mir die nette June Carter eigenhändig einen Tee gemacht.“<br />

Malornys Traum ist es, seine Zeit besser heute <strong>als</strong> morgen irgendwo in Laos,<br />

Kambodscha oder Thailand zu verbringen. Orte, die er in den Jahren 2006<br />

bis 2008 erkundet und bereits literarisch verarbeitet hat. Sein aktueller Krimi<br />

„Tod in Thailand“ spielt zur einen Hälfte eben dort, zur anderen in der<br />

Dortmunder Unterwelt. Und vielleicht ist es fast wieder autobiografisch,<br />

wenn die Hauptfigur, ein Rum süffelnder Privatschnüffler der untersten<br />

Klasse, am Ende zurück in Dortmund zu sich selber sagt: „Erstaunlich,<br />

dich hier zu sehen.“ Wird er das Schreiben irgendwann an den südostasischen<br />

Nagel hängen? „Nur wenn mein Arzt meint: Schreib keinen Fortsetzungsroman<br />

mehr. Doch wie gesagt, ich bin sehr gut im Anfangen – aber<br />

sehr schlecht im Beenden.“<br />

heimatlust | nr. 6


Er sah sie an der Bar wieder.<br />

Der Lichterglanz der schäbigen<br />

Beleuchtung spiegelte sich in<br />

ihrem langen braunen Haar so,<br />

<strong>als</strong> hätte sie kleine Streifen von<br />

Lametta eingeflochten. Sie lächelte<br />

ihm zu. Zuerst wusste er<br />

nicht, ob sie ihn oder die warme<br />

Luft meinte. Diese Bar war<br />

eigentlich nur eine Strandhütte,<br />

wo ein paar Typen den Abend<br />

ausklingen ließen, weil es sonst<br />

nichts zu tun gab, man genoss<br />

Ruhe und Beschaulichkeit und<br />

stieg zu Mittag aus den Betten,<br />

und kroch Mitternacht wieder<br />

rein. Wenige Meter vom Tresen<br />

entfernt kräuselten sich die Wellen<br />

des Meeres, überschlugen sich und wischten über den Strand<br />

und glätteten den weißen Sand, bevor sie wieder abflossen. Die<br />

Natur war sich dank der Kontinuität im Reinen. Der Drink half<br />

ihm, für einen Augenblick mit sich selbst im Reinen zu sein.<br />

Der Mann hatte einen guten Grund, auf dieser Insel der Kontemplation<br />

zu stranden. Zuerst wollte er das Lächeln der Frau<br />

nicht erwidern, wie oft hatte ihn ein Lächeln in die Bredouille<br />

gebracht, nur halbherzig nickte er ihr zu. Ein kühlender Wind<br />

strich durch die Bar, wurde heftiger und blies die Aschenbecher<br />

leer und fuhr dann übers Dach, zupfte an der Plane und<br />

verschwand. Der hochgewachsene, muskulöse Barkeeper entblößte<br />

sein Gebiss und lächelte: „Heute Nacht gibt‘s Regen.”<br />

Reggae-Musik mischte sich unter das Plätschern der Wellen und<br />

des aufziehenden Windes, nicht weit entfernt kläfften zwei spielende<br />

Hunde, man konnte ihre Silhouetten im Mondlicht erkennen<br />

und ihre Schatten schienen zu tanzen. Der Keeper hatte den<br />

Drink „Dirty Love“ getauft, an dem sie nippte. Sie registrierte<br />

sein halbherziges Kopfnicken und lächelte ihm weiter zu, man<br />

kannte sich sozusagen und war sich mehrm<strong>als</strong> über den Weg gelaufen,<br />

was hier auch unumgänglich war. Jedenfalls nippten sie<br />

beide an ihrem „Dirty-Love-Drink“, mit einem lustigen Schirmchen<br />

obendrauf, ihr Lächeln gegen seins, unterbrochen von den<br />

prüfenden Blicken zum Himmel.<br />

Der Barkeeper polierte gewissenhaft die gespülten Gläser und<br />

summte im Takt zur Musik. Langsam zogen dunklere Wolken heran<br />

und deckten sich wie ein Vorhang über die Sterne. Sie schlenderte<br />

lächelnd zu ihm rüber und hielt das Glas in beiden Händen,<br />

stellte es so nahe neben sein Glas, dass sich die Schirmchen berührten,<br />

und sagte: „Kennen Sie den? Kommt ein Patient zum Arzt...“<br />

Er musste lachen. Und weil es das erste Mal seit langer Zeit gewesen<br />

war, lachte er wie eine Ziege, die unterm Bett meckert. Seine eigene<br />

Stimme erschreckte ihn, aber der Keeper mixte Drinks, die es in<br />

sich hatten, bald redete er flüssig, witzig, und antwortete souverän.<br />

Sie erzählte noch gut ein Dutzend Witze und Anekdoten, sie<br />

lachte und nippte am „Dirty-Love-Drink”, er lachte einfach<br />

mit, dann wurde der Wind stärker, weiter draußen wuchsen die<br />

Wellen, gewannen an Kraft, man konnte den Sturm bereits hören,<br />

und der freundliche Barkeeper zog eine Augenbraue hoch<br />

und räumte die Flaschen und Gläser weg, schloss sorgfältig alle<br />

Eine Bar<br />

Hartmuth Malorny<br />

Schränke und Schubladen ab,<br />

nahm das Trinkgeld in Empfang<br />

und wünschte den beiden<br />

letzten Gästen eine gute Nacht.<br />

Sie schaute kurz zum dunklen<br />

Himmel, hielt inne und drehte<br />

sich abrupt um. „Morgen wird es<br />

sicherlich wieder den ganzen Tag<br />

regnen”, sagte sie leise. „Sicherlich”,<br />

antwortete er. „Was kann<br />

man schon alleine im Zimmer<br />

machen?” Statt etwas zu sagen,<br />

schwieg er. Sie gingen gemeinsam<br />

die Stufen zum Hotel hoch. Das<br />

hölzerne Reklameschild schaukelte<br />

und machte ein knarrendes<br />

Geräusch. Dann kam der Regen,<br />

dicke Tropfen klatschten in den<br />

Sand und schäumten das Meer, sie fegten schräg über die Bar und<br />

durchnässten die beiden so schnell, dass es längst unnötig war, <strong>als</strong><br />

er ihre Hand nahm und sie zum Laufen aufforderte. Unter dem<br />

Vordach ließ er die Hand wieder los. Sie schauten sich atemlos<br />

an. Der Regen schmeckte salzig. Die Frau strich sich eine lange<br />

Strähne aus dem Gesicht.<br />

„Gute Nacht”, sagte er.<br />

„Gute Nacht.” Sie drehte sich eilig um und ging.<br />

Am nächsten Morgen war der Himmel klar, das Meer lag ruhig<br />

und die Blätter der Palmen bewegten sich nicht. Er schaute lange<br />

aus dem Fenster, und plötzlich sah er sie unten am Strand.<br />

Sie trug einen knappen Bikini und hielt ihre Hand schützend<br />

gegen die blendende Sonne und spähte zum Meer hinaus. Er<br />

stand nackt vor dem Fenster und überlegte, was sie wohl dort<br />

draußen suchte. Alles war wie immer, nur mit dem Unterschied,<br />

dass es mal nicht regnete. Je nach Wetter begegnete man sich am<br />

Strand oder im Hotel, niemand schien interessiert, jeder hatte<br />

seine eigene Geschichte, keiner wollte jemand kennenlernen und<br />

das fand er wirklich O.K., und weil alle so dachten, war es ziemlich<br />

ruhig. Bis diese Frau mit dem letzten Schiff gekommen war.<br />

Man ging rüber zum Anlegeplatz und nahm seine Post entgegen,<br />

in der Regel alle zwei Wochen, manchmal fuhr einer ab,<br />

selten kam jemand an. Ein paar einheimische Familien versorgten<br />

die wenige Touristen, die eigentlich keine waren. Wegen<br />

der ungünstigen geographischen Lage war das Wetter so<br />

unbeständig, dass man es selten für den nächsten Tag vorhersagen<br />

konnte. Die meisten lebten seit Monaten hier, das Hotel<br />

ersetzte das Zuhause. Nun wohnte eine Frau unter ihnen. Sie<br />

lachte und scherzte mit dem Hotelbesitzer, Punkt sieben Uhr<br />

erschien sie an der Bar und bestellte einen “Dirty-Love-Drink”,<br />

und bereits zum Sonnenaufgang sah man sie am Strand, wie sie<br />

das Meer beobachtete. Das ging jetzt schon seit drei Tagen so.<br />

„Die hat mir gerade noch gefehlt”, dachte er.<br />

Es gab keine Möglichkeit das Hotel zu wechseln, es gab kein anderes.<br />

Man würde sich allabendlich an der Bar treffen, und über<br />

kurz oder lang unweigerlich näher kommen.<br />

Er schaute ihr weiter nach, da drehte sie sich schlagartig um und<br />

blickte zu ihm hoch. Er ging langsam vom Fenster weg, mixte<br />

Rum und Ananassaft und trank.<br />

nr. 6 | heimatlust


Uni fertig, Praktika gemacht, kein passender Job in Aussicht – schon<br />

kommt das schlechte Gewissen, dass der eigene Lebensweg doch nicht gerade verläuft.<br />

Und plötzlich sind die Worte „eigentlich“ und „irgendwie“ allgegenwärtig.<br />

text Volker K. Belghaus<br />

Veras Bier wird warm. Ein Teil des Etiketts klebt klamm<br />

an ihrem Handrücken. Ein Geburtstag anderer Leute,<br />

ein paar kleine Gespräche. Mit Nils beispielsweise, bevor<br />

er in Richtung Küche verschwunden, und wie die<br />

meisten anderen, direkt dageblieben ist. Der auf die<br />

Gesprächsverlängerungsfrage „Und was machst du so?“<br />

eine Pause gemacht und durchgeatmet hat. Diese Reaktion<br />

kennt sie, diesen Moment inneren Sammelns, wenn<br />

man immer die gleichen Fragen immer gleich beantworten<br />

muss.<br />

sei er ja Architekt, war an der<br />

Uni einer der Besten, mit Auslandsaufenthalten und so.<br />

Und jetzt? Momentan arbeite er <strong>als</strong> Bauzeichner in einem<br />

kleinen Büro, so „projektmäßig“. Fiese Wörter hat<br />

er <strong>als</strong>o auch drauf. Und abends kellnert er in einer Kneipe.<br />

Aber wie sie denn<br />

die aktuelle CD von<br />

„Coldplay“ finden würde, lenkt er ab; da sei ja dieses<br />

berühmte Gemälde der französischen Revolution vorne<br />

drauf. Irgendwie nervt der dann doch, und Vera fragt<br />

zurück, warum denn ausgerechnet auf einem Coldplay-<br />

Cover von Revolution die Rede sei. Und in Gedanken<br />

empfiehlt sie ihm, mal wieder „Gehen“ von Thomas<br />

Bernhard zu lesen.<br />

Ist man vielleicht von manchen Menschen deshalb<br />

genervt, weil sie einem selbst zu nahe sind mit ihren<br />

Lebensgeschichten? Und man sich erschrocken selber<br />

sieht? Shakespeare: „Und gäbe es euch zweimal, es wäre<br />

nicht von langer Dauer, denn ihr brächtet euch gegenseitig<br />

um“? Unscharf, aber sinngemäß zitiert? Zwei<br />

Leute weiter verschluckt sich gerade ein Mädchen vor<br />

Lachen an ihrer Bionade. Sabine, die hat doch früher<br />

Design studiert, dann ein, zwei Praktika in<br />

fragwürdigen Agenturen gemacht, in die sie eh nicht<br />

reinpasste, und studiert jetzt Kunst auf Lehramt. Wirkt<br />

seitdem aber fröhlicher und hat seltener diese steile<br />

Falte zwischen den Augen. Sabine guckt kurz rüber, sie<br />

hat Tränen in den Augen, aber ein Lächeln im Gesicht.<br />

Vera lächelt zurück und denkt, dass das die<br />

passende Gefühlslage für eine Generation wie die ihrige<br />

ist. Diese Generation, die keine ist, aber<br />

in zweifelhaften Büchern wechselweise <strong>als</strong> Generation<br />

„Golf“, „Umhängetasche“ oder „Doof“ betitelt wird. Dabei<br />

ist das, was diese Menschen, <strong>als</strong>o uns, verbindet, die<br />

unterschiedliche Art der Biografien; der gewollten oder<br />

ungewollten Brüche in der Lebensplanung.<br />

in einer Hamburger Agentur, und seitdem ist es vorbei<br />

mit Mädelsabend. Stattdessen Karriere und Kinder, aufgeteilt<br />

auf zwei Personen. Es ist ja nicht so, dass sie Mascha<br />

ihr Glück nicht gönne, denkt Vera und angelt sich<br />

ein Stück Baguette vom Büffet, aber irgendwie stimmt<br />

da was nicht. Das ist nicht mehr die Mascha, die sie im<br />

Studium kennengelernt hat – sie hat sich verändert.<br />

Wir, deren Leben aus ständigen Veränderungen<br />

besteht, fürchten uns vor diesen Veränderungen.<br />

Warum kriegt man so ein blödes Gefühl in<br />

der Magengegend, wenn andere Menschen sich und ihr<br />

Leben verändern und man denkt, man bleibt irgendwie<br />

übrig?<br />

Später am Abend steht Vera an der Straßenbahnhaltestelle,<br />

den Kopf voller Stimmen, denkt an Mascha und<br />

all die anderen, erinnert sich beim Anblick der Gegen-<br />

Straßenbahn an den schönen Satz von Reich-Ranicki,<br />

den sie kürzlich irgendwo gelesen hatte; demzufolge<br />

Geld nicht alles ist, aber es schöner sei, im Taxi zu weinen<br />

<strong>als</strong> in der Straßenbahn. Ist es denn wirklich so, dass<br />

nur unsere Generation diese Erfahrungen macht? War<br />

es nicht auch schon zu anderen Zeiten so, dass Lebenswege<br />

anders verliefen <strong>als</strong> vorher gedacht? Ist das überhaupt<br />

ein Problem oder eher eine Chance, Normalität,<br />

etwas, womit man sich abzufinden hat, Scheitern inbegriffen?<br />

Aus den sich öffnenden Türen der Straßenbahn<br />

entweicht warme, verbrauchte Luft. Die Bahn ist fast<br />

leer, eine Maschinenstimme sagt die Stationen an. Vera<br />

fällt Erika ein, Fotolaborantin, dunkler Typ, Mandoline<br />

konnte sie spielen. Berlin in den 30er Jahren, ihre große<br />

Zeit, immer rein ins Gewühl. Am Wochenende Potsdamer<br />

Platz, Haus Vaterland, bis sie eines Tages einen<br />

jungen Soldaten und Stuckateur aus dem Ruhrgebiet<br />

kennenlernt. Nach Krieg und Flucht war sie Hausfrau<br />

und Mutter in Essen, am Ende lange krank, doch wenn<br />

man sie auf Berlin ansprach, begannen ihre Augen zu<br />

leuchten. Und mit 90 Jahren konnte sie immer noch die<br />

alten Schlager singen. Auswendig. Vera lächelt ihr Spiegelbild<br />

in der Scheibe an. sollte sie sich nicht<br />

so viele Gedanken machen.<br />

Die Neige in ihrer Bierflasche ist jetzt endgültig schal,<br />

die Nudelsalatreste trocknen auf dem Buffet vor sich<br />

hin, ein bisschen Small Talk hier und da, nichts tieferes,<br />

aber man ist in Gesellschaft, immerhin. Wenn Mascha<br />

hier wäre, könnten sie sich über den Typen in dem<br />

rosafarbenen Polohemd lustig machen, aber Mascha<br />

ist ja in Hamburg.<br />

sollte sie hier sein, und<br />

sollte sie eine halbwegs erfolgreiche Fotografin<br />

sein, wenn da nicht vor zwei Jahren Axel vor ihr auf<br />

der Straße gestanden hätte. Ein gutes Jahr später war sie<br />

schwanger, seit ein paar Monaten hat Axel eine Stelle<br />

heimatgedanke | nr. 6


nr. 6 | heimatgedanke


Carbonlenker „Next SL“ von Raceface, www.bikeaction.de | Sattel „SLR XP“ von selle Italia, www.paul-lange.de<br />

Kunst vs Design<br />

Die Grenze zwischen Kunst und Design scheint immer mehr zu verschwimmen.<br />

Wir haben Experten gebeten, über den Zaun zu schauen, den man heute so gern übersehen<br />

will. Die Blickwinkel variieren.<br />

<br />

heimatgedanke | nr. 6


„Das Kommunikationsdesign, von Natur aus extrovertiert und zur Geselligkeit<br />

neigend, kann durch den zur Einmaligkeit bestimmten Eigensinn<br />

der künstlerischen Form- und Inhaltsfindung sich selbst befragen und in<br />

Frage stellen, und umgekehrt kann das Design der Kunst den Weg in den<br />

gesellschaftlichen Gebrauch öffnen.“ *5<br />

„Design hat eher eine dienende Funktion. Es geht darum,<br />

den Dingen, mit denen wir umgehen, eine angemessene<br />

Form zu verleihen. Kunst ist Grundlagenforschung. Es geht<br />

um allgemeinen Erkenntnisgewinn. Aber es gibt natürlich<br />

auch ein Niemandsland zwischen den beiden Bereichen.<br />

Und nur Krämerseelen verschwenden zuviel Energie darauf,<br />

die Grenzpolizei zu spielen. Wichtig für meine Entwicklung<br />

war z. B. das von Christian Borngräber herausgegebene<br />

Berliner Design-Handbuch, das im Sinne eines erweiterten<br />

Design-Begriffs solche Bastard-Fälle versammelt.“ *1<br />

fotografie <strong>Bande</strong><br />

„Die Grenze zwischen Kunst und Design ist<br />

heute sicherlich fließender geworden, aber die Überschneidungen<br />

an den Randzonen sind es auch,<br />

an denen die interessanten Fragen entstehen. Wir haben in<br />

diesem Jahr im MARTa Herford erst wieder erlebt, wie viele Funken sich daraus schlagen lassen, Design unter<br />

künstlerischer Perspektive in einen argumentativen Ausstellungszusammenhang zu bringen. Dennoch ist es für<br />

die Diskussion über Kunst und Design immens wichtig, sich über den entsprechenden Kontext im Klaren zu sein, in<br />

dem sich eine Arbeit jeweils bewegt.“ *2<br />

„Design ist Form und Funktion – ästhetisch und smart. Kunst ist individueller<br />

Ausdruck – schön und hässlich. Mehrdeutig und verstörend. Politisch<br />

und unpolitisch. Kunst erfüllt keine funktionale Aufgabe. Beides ist forschend<br />

und lebt vom Neuen, der Idee und der Umsetzung.“ *3<br />

„Kunst ist das Medium für Museen und Sammler geworden, <strong>Gestaltung</strong><br />

ist das Medium für Jedermann. Doch gute <strong>Gestaltung</strong> hat eine<br />

künstlerische Haltung nötig, Gestalter wie auch Künstler müssen<br />

besonders kritisch sein und an das glauben, was sie tun.“ *6<br />

„Was Kunst ist oder was Design ist,<br />

bestimmen die Macher, die Betrachter und<br />

der Markt. Es gibt natürlich Unterschiede,<br />

es sollte aber keine Grenzen geben. Das<br />

Entscheidende ist und bleibt für<br />

mich deshalb die<br />

Inspiration.“ *4<br />

*1 Matthias Schamp, Konzeptkünstler und Ampelperformer, Bochum<br />

*2 Roland Nachtigäller, Künstlerischer Direktor des MARTa Herford<br />

*3 Felix Dobbert, Fotograf und Dozent an der TU Dortmund<br />

*4 Guido Röcken, Veranstalter (u. a. Bochumer Designpreis und FormArt), Herten<br />

*5 Jörg Eberhard, Professor für Experimentelle <strong>Gestaltung</strong>, Folkwang Hochschule Essen<br />

* 6 Anke Bernotat, Professorin für Industriedesign, Folkwang Hochschule Essen<br />

nr. 6 | heimatgedanke


Alle wollen<br />

Bottrop-Urlaub<br />

(aber keiner kann’s sich leisten)<br />

text Grobilyn Marlowe<br />

illustration Thomas Armborst<br />

Aus pekuniären Gründen mache ich Heimaturlaub und<br />

liege rauchend im sommerlichen Westpark auf einer<br />

Decke. Meine Lektüre verrät mir, dass ernsthafte Wissenschaftler<br />

dem gemeinen Grünzeug ein erstaunliches<br />

Ausmaß an Intelligenz und Problemlösungsfähigkeit<br />

zusprechen. Was ich sehr interessant finde, da in diesem<br />

Moment der „Blumenmann“ an mir vorbeisaust. Dieses<br />

wundersame Wesen ist ein stadtbekannter Hybrid<br />

aus bärtigem Mensch, altem Rennrad und unzähligen<br />

Plastikblumengirlanden, mit denen er sich und seinen<br />

fahrbaren Untersatz dekoriert hat. Wie ein auf Trash gebürsteter<br />

antiker Fruchtbarkeitsgott braust er im Fahrtwind<br />

knatternd dahin und eröffnet damit für heute und<br />

mich einen fantastischen Reigen exzentrischer, einheimischer<br />

Folkloredarbietungen. Denn während im Hintergrund<br />

erster Grilldunst aufzieht und studentische<br />

Aufständische die Bongotrommeln rühren, nähert sich<br />

jetzt der „Scheich“.<br />

Lila Kaftan, rot blinkende Stirnlampe, Spiegelsonnenbrille<br />

sowie ein paar klobige Gothic-Rock-Stiefel sind<br />

sein Outfit für den gepflegten Soloumtrunk auf der<br />

Parkbank nebenan. Vor die hat jemand rätselhafterweise<br />

einen Zebrastreifen auf den Weg gepinselt. Nachdem<br />

ich den lila Scheich dabei beobacht habe, wie er<br />

eine Batterie Fusel in Nullkommanix weg lunkt, weiß<br />

ich auch warum. Der Zebrastreifen dient dem leicht<br />

desorientiert wirkenden Lila-Laune-Mann offensichtlich<br />

<strong>als</strong> Wegweiser zu dem Gebüsch gegenüber. Und <strong>als</strong><br />

ich mich noch frage, ob so ein Kaftan eher nützlich oder<br />

hinderlich beim öffentlichen Urinieren ist, passiert es:<br />

Ein kurzer Aufschrei, es kracht und knackt, hier ein wedelnder<br />

Arm, dort ein bestiefeltes Bein und schon ist<br />

der Scheich von dem Gebüsch verschlungen. Für einen<br />

Augenblick meine ich noch das hektische rote Blinken<br />

seiner Stirnlampe aus den Blättertiefen wahrzunehmen,<br />

doch auch das erstirbt, so dass ich nach einer Minute beschließe,<br />

besser einen Platzwechsel vorzunehmen. Immerhin<br />

sind die öffentlichen Toiletten hier anscheinend<br />

total verwohnt.<br />

Am Biergarten bei den Boulespielern steht ein anderer<br />

Freak, nämlich der Verkünder, und verkündet jedem,<br />

der es nicht hören will, mit mahnender Stimme seine<br />

persönliche Apokalypse. Phil Collins sei besser <strong>als</strong> Peter<br />

Gabriel, denn der habe heute Morgen eine Kloschüssel<br />

umarmt und überhaupt, er selbst liebe alle hier Anwesenden.<br />

Ja, LIEBE, L-I-E-B-E! „Ich liebe euch alle!“<br />

ruft er. Doch niemand erwidert seine Liebe. Die Boulespieler<br />

auf beiden Plätzen, durch Wind, Wetter und<br />

Hansapils gestählt, ignorieren ihn. Die Biergartengäste<br />

sind beschäftigt mit ihren Dates und den Milchkaffees,<br />

oder, wenn es letztes Jahr schon mit den Dates geklappt<br />

hat, ihren auslaufenden Kindern und den einlaufenden<br />

Weizen.<br />

So setzt der einsame Verkünder zu einem seiner großen<br />

Isolationsmonologe an: „Ich zieh mir gleich meine Unterhose<br />

über den Kopf!“ warnt er mehrfach, und dann,<br />

schon ein wenig hysterischer: „Ich hasse Tangas! Tangas<br />

sind ekelhaft! Ja, sogar menetekelhaft!“ Unglücklicherweise<br />

kommt jetzt eine sehr alte Dame des Weges,<br />

die einfach nur ihre Einkäufe nach Hause schaukeln<br />

möchte. „Du“, deutet der Verkünder auf das Ömchen,<br />

„du trägst bestimmt Tanga, oder? Ich hasse Tangas! Und<br />

Phil Collins hasst auch Tangas! PHIL COLLINS!!!“<br />

Die Oma sieht nicht aus, <strong>als</strong> hätte sie jem<strong>als</strong> von Phil<br />

Collins gehört, geschweige denn von menetekelhaften<br />

Tangas. Anscheinend hat sie aber auch ihr CS-Gas zu<br />

Hause vergessen und gibt deshalb Gummi über die Wiese.<br />

„Ha“, triumphiert da der Verkünder, „alle wollen<br />

Bottrop-Urlaub machen! Alle! Aber keiner kann’s sich<br />

leisten.“<br />

Was mich dann doch ernsthaft zum Grübeln bringt.<br />

Um Viertel nach zehn kommt die Polizei und erteilt<br />

dem Krakeeler ein 60-Meter-Biergarten-Umkreis-Aufenthaltsverbot.<br />

Da geht er in den Park hinein und<br />

schreit für den Rest der Nacht einen Baum an. Wenn es<br />

stimmt, dass Pflanzen intelligente Lebewesen sind, befürchte<br />

ich für die kommende Saison das Schlimmste.<br />

heimgeleuchtet | nr. 6


eine Veranstaltung für die KreatiVwirt schaft mit freundlicher unterstützung durch:<br />

gefördert durch:


I m p r e s s u m<br />

<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 6 – Winter 2009/2010<br />

Verlag<br />

<strong>Heimatdesign</strong>, Hoher Wall 15, 44137 Dortmund<br />

Fon: 0231 - 950 03 28<br />

Fax: 0231 - 950 03 58<br />

i n f o @ h e i m a t d e s i g n . d e<br />

w w w . h e i m a t d e s i g n . d e<br />

Herausgeberin Reinhild Kuhn<br />

Chefredaktion Petra Engelke (V.i.S.d.P.)<br />

Assistenz Stephanie Julia Wagner<br />

Konzept, Marketing, Anzeigen, Vertrieb Marc Röbbecke<br />

Schlussredaktion Svenja Brüggemann, Anna-Ruth Fakner<br />

Art Direktion <strong>Bande</strong> – Für <strong>Gestaltung</strong>!<br />

(bandefuergestaltung.de)<br />

gesetzt aus „Girando“ von Guido Schneider (brass-fonts.de)<br />

sowie auf Seite 08 „Cinga“ von Daniel Angermann<br />

(daniel-angermann.de)<br />

Titelbild Marzena Skubatz<br />

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe<br />

Sascha Abel, Volker K. Belghaus, Alexandra Brandt, Petra<br />

Engelke (p-eng.de), Wolfgang Kienast (Martini), Matylda<br />

Krzykowski (matandme.net), Hartmuth Malorny, Grobilyn<br />

Marlowe, Tom Thelen, Jan Wilms, Tanja Wißing, Ivonne<br />

Woltersdorf<br />

Fotografinnen und Fotografen dieser Ausgabe<br />

<strong>Bande</strong> – Für <strong>Gestaltung</strong>! (bandefuergestaltung.de), Katrin<br />

Füser, Jana Gerberding (janagerberding.de), Vanessa<br />

Leissring (vanessaleissring.com), Marzena Skubatz<br />

(marzenamika.com), Michael Thieme, Philipp Wente<br />

(wenteindustries.com), Hannes Woidich (hanneswoidich.de)<br />

Illustratorinnen und Illustratoren dieser Ausgabe<br />

Thomas Armborst (thomasarmborst.com), <strong>Bande</strong> – Für<br />

<strong>Gestaltung</strong>! (bandefuergestaltung.de), Annika Janssen &<br />

Sandra Greiling (weareyawn.com), Michael Lippoldt<br />

Mood Swing Management Armand Albaret<br />

Druck Druckverlag Kettler, Bönen<br />

gedruckt auf Tauro Offset 120g/m2 im FM-Raster<br />

Auflage 15.000, Erscheinungsweise halbjährlich<br />

Ein Nachdruck der Texte oder Fotos in <strong>Heimatdesign</strong> – auch<br />

im Internet – ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages<br />

gestattet. Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial<br />

wird keine Haftung übernommen.


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