Download Heimatdesign Nr.6 als PDF - Bande - Für Gestaltung!
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<strong>Heimatdesign</strong><br />
1 <strong>Nr.6</strong> • Winter 2009 /2010 2<br />
Raul Mandru im Interview<br />
Kulturhauptstädte im Vergleich<br />
Galerien im Ruhrgebiet<br />
Mode: LudvÍk » SiSie » JotJot » Frisur Clothing
Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt.<br />
Wir machen den Weg frei.<br />
www.dovoba.de
E d i t o r i a l<br />
Irgendwas ist ja immer. Wenn es gar zu turbulent wird,<br />
wünschen wir uns zwar, dass wir die Rädchen der Höllenmaschine<br />
anhalten könnten – wissen aber: Stillstand<br />
bedeutet Tod. Und hoffen darauf, dass uns alle Turbulenzen<br />
wenigstens voranbringen. Für <strong>Heimatdesign</strong><br />
stimmt das auf viele Weise.<br />
Im Frühjahr sollte der Laden umziehen, was mehr Aufwand<br />
bedeutete, <strong>als</strong> ursprünglich gedacht. Doch dann,<br />
<strong>als</strong> die Möbel aufgearbeitet, die Telefone aufgestellt,<br />
zwei von drei Räumen gestrichen waren, der Termin für<br />
die Eröffnungsfeier rausposaunt war, kam der Anruf:<br />
Bei euch fließt ein Wasserfall das Schaufenster herunter.<br />
Kein Beinbruch, aber ein Rohrbruch von Format,<br />
nur ein Raum blieb trocken – selbstverständlich der, der<br />
noch nicht renoviert war. Immerhin konnte so zum geplanten<br />
Termin wenigstens eine Ausstellung anlaufen,<br />
während nebenan im Büroraum noch Ventilatoren statt<br />
Computern brummten. Im Mai war es dann geschafft:<br />
<strong>Heimatdesign</strong> hat sein Konzept mit Laden, Ausstellungsfläche<br />
und Agenturbüro ab sofort räumlich auseinanderklamüsert.<br />
Der Umzug bedeutete auch: <strong>Heimatdesign</strong> rückt näher<br />
ans Dortmunder U, mit dem so viele Hoffnungen verbunden<br />
sind, was die so genannte Kreativwirtschaft angeht.<br />
Und je näher das Kulturhauptstadtjahr 2010 rückt,<br />
desto deutlicher häufen sich die Anfragen der Kreativen:<br />
Ob <strong>Heimatdesign</strong> denn nicht hier kooperieren möchte.<br />
Oder da beraten. Oder dort ein Konzept schreiben. Irgendwas<br />
ist ja immer.<br />
Zum Beispiel Concrete Playground, eine Streetart- und<br />
Streetculture-Veranstaltung, die sich von Mai bis Oktober<br />
2010 in Bochum, Dortmund und Essen abspielen<br />
wird. Dafür arbeitet <strong>Heimatdesign</strong> mit Jiri Katter und<br />
Martin Magielka zusammen. Vorher aber kommt noch<br />
die Designers Fair: Die Messe in Kooperation mit den<br />
Kölner Passagen war im letzten Januar so erfolgreich,<br />
dass die Kölner ebenso wie die Aussteller nach einer Zugabe<br />
verlangten.<br />
Noch früher, nämlich jetzt, kommt die neue Ausgabe<br />
von <strong>Heimatdesign</strong>. Und da komme nun ich ins Spiel.<br />
Ich war gar nicht hier, <strong>als</strong> sie entstand, sondern in New<br />
York. Das kommt davon, wenn sich wegen der oben<br />
erzählten Malessen Produktionstermine verschieben.<br />
Nach ein paar Investitionen (Zigaretten kosten in New<br />
York 9,50 Dollar, Antibiotika 54,99 Dollar, die Klimaanlage<br />
beutelt das Ökogewissen und erzeugt eine beachtliche<br />
Stromrechnung, dafür sind graue Haare gratis) weiß<br />
ich: Chefredaktion funktioniert auch aus der Ferne.<br />
Pünktlich zu den Schlusskorrekturen kam ich nach<br />
Dortmund, alles andere war internationale Kommunikation.<br />
Ich führte unter anderem ein Interview mit<br />
einem Griechen und sprach mit einem Rumänen, der<br />
in Düsseldorf wohnt. Über Texte verhandelte ich mit<br />
Autoren, die in Eindhoven beziehungsweise London<br />
über der Tastatur hockten, für Recherchen telefonierte<br />
ich mit Menschen in Edinburgh und, natürlich: Dortmund.<br />
Das passt zu dieser Ausgabe: <strong>Heimatdesign</strong> hat seine<br />
geografischen Grenzen überschritten. Es war an der<br />
Zeit, Design aus dem Ruhrgebiet selbstbewusst mit den<br />
Werken aus anderen Großstädten zu vergleichen. Erstm<strong>als</strong><br />
haben wir etwa mit Frisur Clothing eine Modestrecke<br />
mit einer Kollektion, die nicht aus Bochum, Essen<br />
oder Köln kommt. Wir präsentieren den Dortmunder<br />
Designer Pierre Kracht, der auf der Mailänder Designwoche<br />
vertreten war – unsere Autorin war dort auch.<br />
Und ein Autoren-Fotografen-Team besuchte gleich vier<br />
europäische Kulturhauptstädte: Die perfekte Grundlage,<br />
um sich über Sinn und Unsinn dessen Gedanken zu<br />
machen, was uns hier nächstes Jahr erwartet.<br />
Uns. Streng genommen: euch. Ich bin die Pendelei leid<br />
und werde nächstes Jahr nach New York gehen. Irgendwas<br />
ist eben immer.<br />
Viel Spaß beim Lesen!<br />
Petra Engelke, Chefredakteurin<br />
<strong>Heimatdesign</strong> – Laden, Ausstellungsraum und Agentur<br />
Hoher Wall 15<br />
44137 Dortmund<br />
www.heimatdesign.de<br />
Öffnungszeiten:<br />
Laden: dienstags bis samstags von 11 bis 18 Uhr<br />
Ausstellungsfläche: mittwochs bis samstags von 14 bis 18 Uhr<br />
kommende Ausstellungen:<br />
01. bis 31.10.2009: Pierre Kracht und Robert Matzke<br />
05.11. bis 05.12.2009: Jiri M.R. Katter und Mathias Schmitt<br />
Designers Fair<br />
18. bis 24.01.2010, RheinTriadem, Köln<br />
www.designersfair.de<br />
Concrete Playground<br />
Streetart Festival im Rahmen der Kulturhauptstadt<br />
Europas RUHR.2010<br />
Mai bis Oktober 2010, Essen, Bochum, Dortmund
www.macht–mich–schlau.de
<strong>Heimatdesign</strong> <strong>Nr.6</strong><br />
04 Editorial<br />
06 Inhalt<br />
98 Impressum<br />
10 heimatkunde<br />
10 Neues aus der Heimat<br />
14 Da schau her!<br />
16 heimatobjekt<br />
16 Betreten erlaubt<br />
Bei Jan Kath auf den Teppich geklopft<br />
20 „Während der Designwoche wird Mailand<br />
zu einem Spielplatz.“<br />
Wie ein Dortmunder nach Mailand<br />
kommt: Interview mit Pierre Kracht<br />
22 heimatbild<br />
22 Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind<br />
aus Papier<br />
Im Vergleich: Wie Theater ihre Plakate<br />
gestalten<br />
24 Der Überflieger<br />
Warum Talent allein nicht reicht:<br />
Raul Mandru im Porträt und Interview<br />
28 Typo-Typen<br />
Leihschriften für <strong>Heimatdesign</strong>:<br />
Guido Schneider und Daniel Angermann<br />
30 Designer illustrieren Heimat<br />
36 heimatkultur<br />
36 Der dritte Weg<br />
Was sich hinter Soundsketching verbirgt<br />
38 Ultras im Tonnengewölbe<br />
Wie das Theater Rottstr5 Geld<br />
heranschafft<br />
40 Das Fest des Wandels<br />
Eingeordnet: 2010 aus der Perspektive<br />
anderer Kulturhauptstädte
44 heimatkleid<br />
44 Multiple Persönlichkeitsmode<br />
Wie Michaela Glasstetter und<br />
Julia Weinstock drei Labels bändigen<br />
46 Farben, Dreck und Leidenschaft<br />
Fanbekleidung aus ästhetischer Sicht<br />
48 „Wir schauen, wie Statements gestrickt<br />
sind.“<br />
Interview mit Schalalala-Gründer Rüdiger<br />
Schlömer<br />
50 jungehelden<br />
die Modestrecken<br />
50 Ludvík<br />
58 Frisur Clothing<br />
66 SiSie<br />
74 Jotjot<br />
82 heimatlust<br />
82 Für eine Handvoll Cent<br />
Kioske im Ruhrgebiet:<br />
Nostalgie- oder Designobjekt?<br />
86 Gallery Hopping<br />
Eine Karte für das Ruhrgebiet<br />
88 Ortsbegehung<br />
diesmal: La Gondola<br />
90 heimatgedanke<br />
90 Nashville – Bochum - Bangkok<br />
Schriftsteller Hartmuth Malorny im<br />
Porträt – plus Originaltext<br />
92 Eigentlich …<br />
Betrachtungen über krumme Lebensläufe<br />
94 Design versus Kunst<br />
Starke Worte von Experten<br />
96 Kolumne: Heimgeleuchtet<br />
diesmal: Alle wollen Bottrop-Urlaub<br />
(aber keiner kann’s sich leisten)
<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 6<br />
Winter 2009/2010<br />
Sascha Abel, Daniel Angermann,<br />
Thomas Armborst, <strong>Bande</strong> – Für<br />
<strong>Gestaltung</strong>!, Volker K. Belghaus,<br />
Alexandra Brandt, Svenja Brüggemann,<br />
Petra Engelke, Anna-Ruth Fakner, Jana<br />
Gerberding, Sandra<br />
Greiling, Annika Janssen,<br />
Wolfgang Kienast, Reinhild<br />
Kuhn, Matylda Krzykowski,<br />
Vanessa Leissring, Michael<br />
Lippoldt, Hartmuth Malorny,<br />
Grobilyn Marlowe, Marc Röbbecke,<br />
Guido Schneider, Jörg Schuster, Marzena<br />
Skubatz, Tom Thelen, Michael Thieme,<br />
Stephanie<br />
Julia Wagner,<br />
Philipp Wente,<br />
Jan Wilms, Tanja<br />
Wißing, Hannes<br />
Woidich, Ivonne<br />
Woltersdorf
Kult[ur]getränk<br />
www.bionade.com
Aufsässig<br />
Gleich zwei „if communication design awards“<br />
holte Peymaneh Luckow im Mai 2009 nach<br />
Schwerte. Für zwei Bücher, mit denen sie im<br />
Oktober 2008 ihr Diplom an der Ruhrakademie<br />
bestanden hatte. Beide beschäftigen sich<br />
mit Frauen im Iran. Die leben in einer Männergesellschaft,<br />
unter einem Mullah-Regime,<br />
furchtbar muss das sein, denkt man hier, und<br />
geht dann dem deutschen Alltag nach. Peymaneh<br />
Luckow wollte es genauer wissen und reiste<br />
in das Land, aus dem ihre Familie stammt. Sie<br />
fragte Frauen nach ihren Wünschen, Hoffnungen<br />
und Interessen, begleitete sie – und stieß<br />
dabei auf ein harmonisches und buntes Leben,<br />
oft im Kontrast zu Repressalien und wirtschaftlicher<br />
Not. Luckow entdeckte viele Formen der<br />
Subversion, mit denen die Iranerinnen sich<br />
Freiräume schaffen oder schlicht ihren Alltag<br />
bewältigen. Eine einzige <strong>Gestaltung</strong>sform reichte<br />
ihr danach nicht, um ihre Beobachtungen zu<br />
verarbeiten. In „Zan – die Frau“ führt sie ihre<br />
Gedanken mit Illustrationen, Collagen und freien<br />
Arbeiten aus. „Schleierhaft“ ist ein Bilderbuch<br />
mit rund 3.000 Fotos. Viele davon musste<br />
Luckow heimlich schießen.<br />
w w w . p e y m a n e h . d e<br />
Kreativkurbel<br />
Bereits im letzten Jahr hat Essen seine „Kreative<br />
Klasse“ ausgerufen: vom Modedesigner bis zum<br />
Musiker, vom Romanautor bis zum Comiczeichner,<br />
vom Schauspieler bis zum Videospiel-<br />
Programmierer. All jene lockte das Team mit<br />
allerlei Veranstaltungen aus dem Dunkel. Jetzt<br />
weitet sich das Konzept auf das gesamte Ruhrgebiet<br />
aus: Am 26. September findet das erste Festival<br />
der Kreativen Klasse Ruhr statt. In mehreren<br />
Städten gibt es da erstens ordentlich was zu<br />
sehen: Ausstellungen, Themen-Walks, Konzerte,<br />
Performances, Happenings oder Mitmach-<br />
Aktionen sollen zeigen, was die Szene so drauf<br />
hat. Zweitens steht Bildung auf dem Programm:<br />
Workshops und Vorträge stellen den Begriff<br />
Kreative Klasse in schulischen Zusammenhang<br />
und unterstützen all jene, die dazulernen möchten.<br />
Drittens soll das Ganze Spaß machen –<br />
und den Beteiligten vielleicht auch ein bisschen<br />
Geld einbringen: Shopping-Events und Popup-Stores<br />
bedienen Konsumsehnsüchte, Partys<br />
und Gaming-Events den Spieltrieb. Und alles<br />
ruhrgebietsweit verteilt. Vorher, bereits ab dem<br />
11. September, macht Essens Kreative Klasse vor,<br />
wie das geht. Den Begriff „Kreative Klasse“ hat<br />
der Wirtschaftsprofessor Richard Florida geprägt.<br />
Er ist der Ansicht, dass die kreativen Köpfe<br />
einer Gesellschaft mit ihren Ideen letztlich<br />
die Wirtschaft ankurbeln. Mal schauen, ob das<br />
funktioniert.<br />
w w w . k r e a t i v e k l a s s e r u h r . d e<br />
Underdogma<br />
Christian Ebert und Michael Weber machen<br />
Filme. Ohne Fördergelder, ohne Sponsoren,<br />
ohne Vertrieb. Sie wollen im geschäftlichen<br />
Niemandsland stattfinden, sagen sie. So könnte<br />
man im Nachhinein etwas rechtfertigen,<br />
das zu schlecht ist, um Geldgeber zu finden.<br />
Doch nicht hier: Ebert und Weber machen es<br />
zum Konzept, sich Marktfragen zu verweigern<br />
– rotznasig nennen sie sich „Black Trash Productions“.<br />
In ihrem neuesten Werk „Cowboy<br />
Canoe Coma“ paddelt ein Hamburger Freizeitcowboy<br />
zusammen mit einem Straßenmusiker,<br />
den er <strong>als</strong> lebenden Kassettenrekorder engagiert,<br />
durch die Wildnis. Nach einem Streit zieht er allein<br />
weiter, gerät unter einen Ausflugsdampfer,<br />
fällt ins Koma – und da endet der Film beileibe<br />
nicht. Geld verdienen die Macher damit nicht;<br />
trotzdem ist Anerkennung die Konsequenz. Zumindest<br />
auf der Künstlerseite: Kino- und TV-<br />
Schauspieler wie Annette Uhlen, Catrin Striebeck<br />
und Walter Sittler spielen in diesem Film.<br />
Man kann ihn <strong>als</strong> Gratis-DVD bestellten, <strong>als</strong><br />
iPod- bzw. iPhone-Version von ihrer Website laden,<br />
und wer eine Film-Party veranstalten will,<br />
darf die Bochumer einladen – dann kommen sie<br />
samt Videobeamer ins Haus.<br />
w w w . b l a c k t r a s h . o r g<br />
heimatkunde | nr. 6
Polizeifest<br />
Loseblattsammlung<br />
Der rote Punkt ist begehrt. Würde er buchstäblich<br />
auf „Moonjelly“ geklebt, verschandelte er<br />
sie zwar. Im übertragenen Sinne aber freuen<br />
sich die Macher von Limpalux, dass eine Red<br />
Dot Product Design-Auszeichnung an ihr Werk<br />
gepappt wurde. Die Pendelleuchte aus Papier<br />
brachte Anja Eder und Michael Römer ordentlich<br />
Lorbeeren ein. Das Ganze begann für Eder<br />
und Römer mit Kunstobjekten – für Ausstellungen<br />
experimentierten sie mit Objekten, für<br />
deren filigrane Struktur sie Seiten aus Büchern<br />
lösten. Inzwischen haben sie eine Manufaktur<br />
in einer denkmalgeschützten Wuppertaler Fabrik<br />
eingerichtet. Dort stellen sie in Handarbeit<br />
Raumobjekte her. Organisch und skulptural<br />
wirken ihre Leuchten: Die kreisförmig angeordneten<br />
Papierlamellen lassen das Licht diffus<br />
nach unten abstrahlen. Hängt das zarte Material<br />
am offenen Fenster, greift der Wind danach,<br />
seine Form verändert sich sanft im Laufe des<br />
Tages. Offenbar finden manche dieses Design<br />
futuristisch: Eine Filmproduktionsfirma möchte<br />
„Moonjelly“ bei der Ausstattung von „Die<br />
kommenden Tage“ verwenden – der Film soll<br />
2023 spielen.<br />
w w w . l i m p a l u x . d e<br />
Am 02.10. erscheint ein neues Album von Too<br />
Strong – „Rap Music Is Life Music“. Damit<br />
schenkt sich die HipHop-Formation zum 20. Geburtstag<br />
eine Bestätigung ihrer Hartnäckigkeit.<br />
Die Geschichte von Too Strong beginnt schließlich<br />
bereits 1989 in Dortmund. Hochöfen plus<br />
Arbeiterklasse nehmen sie <strong>als</strong> Basis für glaubwürdigen<br />
HipHop, den sie in den dreckigsten<br />
Kaschemmen und kleinsten Städtchen auf die<br />
Bühne bringen. Stolz nennen sie sich „Inbegriff<br />
des Ruhrpott-HipHops“. Pure Doze, Der Lange<br />
(aka Atom One) und bald auch Funky Chris<br />
arbeiten hart an ihrem Ruf. 1993 kommt eine<br />
erste EP, die schon im Titel sagt, worum es geht:<br />
„Rabenschwarze Nacht“ erzählt vom Alltag der<br />
Graffiti-Gemeinde zwischen Bahngleisen und<br />
Polizeischeinwerfern. 2001 schocken sie plötzlich<br />
nicht mehr das Establishment, sondern ihre<br />
Fans: Der Lange verlässt während neuer Aufnahmen<br />
die Gruppe. Das war’s. Zumindest für<br />
ein paar Jahre. 2005 raufen die Drei sich wieder<br />
zusammen, veröffentlichen ihr fünftes Album<br />
und entscheiden sich, nebenher Soloprojekten<br />
nachzujagen. Dass Funky Chris 2007 seinen<br />
Hut nimmt, führt aber nicht zur neuerlichen<br />
Auflösung. Unter anderem feiert das Jubiläumsalbum<br />
einen Song der Hagener NDW-Kapelle<br />
Extrabreit: „Polizisten“. Die Beamten sind eben<br />
ein zeitloses Thema.<br />
w w w . t o o s t r o n g . d e
Tagesgeschäft<br />
Innovation, Marktfähigkeit, Wachstumspotenzial<br />
– dulle Wortblasen aus dem Marketingsprech,<br />
nichtsdestotrotz Stichworte, die man<br />
draufhaben muss, will man Kredite oder Fördergelder<br />
angeln. Man geht ja nicht mit Schwimmflügeln<br />
ins Haifischbecken. Und es gibt passende<br />
Unterstützung: Unternehmer-Qualitäten<br />
für Kreative vermittelt die Gründungswerkstatt<br />
Kreativwirtschaft, ins Leben gerufen von der<br />
Dortmunder Wirtschaftsförderung und der<br />
VHS. Ob man nun Mode, Produktdesign, Film<br />
oder Tanz im Sinne hat: Zunächst stellt man<br />
seine Idee in wenigen Minuten einer Jury vor,<br />
dann folgen Vorträge, Workshops und Einzelgespräche,<br />
mit deren Hilfe man binnen eines<br />
Tages ein handfestes Geschäftskonzept entwickelt.<br />
Obendrein kürt die Jury drei Gewinner:<br />
Sie bekommen Geldpreise zwischen 500 und<br />
1.500 Euro. Design lag beim ersten Wettbewerb<br />
im Februar weit vorne: Den Hauptpreis gewann<br />
Anika Beller-Kraft mit ihrem Label Zechenkind<br />
(Accessoires aus recycelter Bergmannkleidung).<br />
Die Jury entschied sich außerdem für Arzo-<br />
Carina Renz, eine weitere Diplomdesignerin,<br />
die sich allerdings mit einem Tanz-Konzept beworben<br />
hatte. Dritte wurden Mirjam Gille und<br />
Aylin Yavuz mit dem Kinderbuchverlag Gillvuz.<br />
Ab November 2009 kann man sich zur dritten<br />
Runde bewerben.<br />
www.kultur-unternehmen-dor tmund.de<br />
Vinylmonster<br />
Trifft man Wolfgang Antonius Kienast alias<br />
Martini persönlich, empfindet man ihn <strong>als</strong><br />
freundlichen, entspannten und ruhigen Zeitgenossen.<br />
Scheinbar im Widerspruch dazu steht<br />
das Tempo, in dem er neue Ideen raushaut und<br />
oft auch veröffentlicht. In der vergangenen Ausgabe<br />
präsentierte <strong>Heimatdesign</strong> eine Auswahl<br />
seiner „Fabelhaften Monstergeschichten”, zu<br />
denen kurz zuvor auch ein Hörbuch erschien.<br />
Inzwischen ist unter dem Titel „Das Monster im<br />
Gewitter” bereits ein weiteres Hörbuch erschienen.<br />
Obendrein lässt Martini neue Elemente<br />
einfließen: Er tat sich für die Aufnahmen mit<br />
dem Musiker und Performance-Künstler Ilias<br />
Ntais (siehe auch Seite 36 in dieser Ausgabe) zusammen.<br />
Akustische Reize tröpfeln nun auf die<br />
Gefühlspalette, mit der Martini seine Monstergeschichten<br />
ins Notizbuch tupft. Die Geschichten<br />
liest Martini selbst ein; seine Stimme folgt<br />
den Figuren, die sich um ein Monster bewegen,<br />
das alle Waldbewohner in Angst und Schrecken<br />
versetzt und sich nicht immer so verhält, wie<br />
man es erwartet. Als alter Schallplattenfan sorgte<br />
Martini außerdem dafür, dass „Das Monster<br />
im Gewitter” nicht nur <strong>als</strong> CD, sondern auch <strong>als</strong><br />
10”-Vinyl erhältlich ist.<br />
w w w . m o n s t e r g e s c h i c h t e n . d e<br />
Schlafstoff<br />
Schon seit einer Weile macht Annika Rinke Accessoires<br />
unter dem Label Gute Luise: Taschen<br />
für Schminkzeug, Laptop, Krimskrams dominieren<br />
ihr Programm. Immer wieder kommt<br />
Neues hinzu: Im Moment feilt die Bochumer<br />
Designerin an den Schnitten für Sporttaschen<br />
sowie Gürteltaschen, die ab Oktober erhältlich<br />
sein werden. Passend zu den Neuheiten gestaltet<br />
sie auch ihre Website um – viele Arbeitsproben<br />
sollen zeigen, welche Bandbreite ihr Angebot inzwischen<br />
hat. Doch neben den kundenfreundlichen<br />
Überlegungen gibt es diesmal auch einen<br />
ganz persönlichen Grund für neue Ideen: Im<br />
Dezember wird Annikas erstes Kind zur Welt<br />
kommen. Diesen Sommer schon stellte sie fest:<br />
Es gibt nicht genug schöne Sachen für diesen<br />
Anlass. Nicht, dass sie jetzt Windelbeutel genäht<br />
hätte. Neu im Programm sind Spieluhren<br />
in Tierform. Die Biester haben im Prinzip den<br />
gleichen Körperbau, aber unterschiedliche Ohren,<br />
Haare, Füße – und verwandeln sich so in<br />
Eule, Katze oder Hase. Ihr Innenleben dudelt<br />
Wiegenlieder, zum Beispiel von Mozart oder<br />
Beethoven, außen sind sie nach demselben<br />
Muster gestaltet wie alles andere bei Gute Luise:<br />
Immer sind ausgefallene Stoffe im Spiel, mit<br />
denen man sich wohlfühlen kann. Egal, wie alt<br />
man ist.<br />
w w w . g u t e - l u i s e . c o m<br />
heimatkunde | nr. 6
Zeitraffer<br />
Das Präsentationsspiel beginnt aufs Neue: In<br />
sechs Minuten und 40 Sekunden zeigen allerlei<br />
kreative Menschen, was sie drauf haben.<br />
Ihr Vortrag ist auf 20 Folien á 20 Sekunden<br />
beschränkt, führt <strong>als</strong>o langweilige Sessions mit<br />
bekannten Computerprogrammen aufs richtige<br />
Gleis zurück – der Begriff „Pecha Kucha“<br />
kommt aus dem Japanischen und bedeutet so<br />
viel wie „wirres Geplapper“. In Dortmund gab<br />
es bereits drei Pecha Kucha-Nächte, bei denen<br />
Architekten, Filmemacher, Grafikbüros und<br />
freie Künstler vorstellten, was sie aktuell machen,<br />
wer sie sind, was sie zu bieten haben. Am<br />
31. Oktober um 20.10 Uhr darf man sich im<br />
DEW21 Kundenzentrum (Ostwall 51) einfinden,<br />
um sich inspirieren und unterhalten zu lassen<br />
– oder gar Kreative zu finden, die man buchen<br />
möchte. Mit dabei sein werden unter anderem<br />
das Deutsche Fußballmuseum, das Mitte 2012<br />
in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs<br />
eröffnet werden soll, und ISEA, eine internationale<br />
Medienkunstkonferenz im Rahmen des<br />
Kulturhauptstadtjahres, bei der es unter anderem<br />
eine E-Culture Fair geben soll. Wer auch<br />
ein paar Folien auflegen möchte, kann sich bis<br />
Mitte Oktober über die Website bewerben.<br />
Was macht<br />
eigentlich … 667?<br />
In der allerersten <strong>Heimatdesign</strong>-Ausgabe war<br />
das Team 667 mit einer Modestrecke vertreten.<br />
„One Step ahead of the Devil“ ist ihr Claim, und<br />
den nehmen sie ernst. Gerade gehen sie wieder<br />
einen Schritt nach vorne: Zunächst war ihr Stil<br />
stark vom Motorsport inspiriert, inzwischen bewegen<br />
sie sich zu Crooner-Outfits – jede coole<br />
Socke findet hier ein Lieblingsteil. Besonders<br />
bei den Kollektionen für die weiblichen Anhänger<br />
ziehen 667 Siebenmeilenstiefel an: Vom<br />
Schal über Cardigan bis zu Daunen- und Lederjacke<br />
stimmt hier eigentlich alles. Prompt wagen<br />
sie einen weiteren Schritt: Nachdem das kleine<br />
Team zunächst nur ein kleines Ladenlokal hatte<br />
und seine Kleider auf einem Dachboden fertigte,<br />
ist es in den letzten Monaten umgezogen. Tim<br />
Brückmann, Christian Kühne, Tobias Schulte<br />
und Anna Eindorf präsentieren sich jetzt in einem<br />
großen Showroom mit angegliederten Büros<br />
in bester Lage in Düsseldorf, wo die nächsten<br />
Ordertermine bereits eingebucht sind. Dort<br />
hat das Team 667 außerdem genug Freiraum für<br />
neue Ideen.<br />
www.kultur-unternehmen-dortmund.de<br />
für Unternehmensgründungen in der Kultur- und Kreativwirtschaft<br />
w w w . p e c h a k u c h a - d o r t m u n d . d e<br />
w w w . t e a m 6 6 7 . c o m<br />
technische universität<br />
dortmund<br />
gefördert durch
N<br />
Der Herbst ist grau. Wie schön!<br />
ignis<br />
aer<br />
№ 09<br />
6<br />
terra<br />
aqua<br />
W<br />
Da schau her!<br />
№ 4<br />
2Süße Beschwerde 1<br />
Ein Schokokuss ist schlecht für die<br />
Zähne. Dieser hier führt das knallhart<br />
vor. Da muss man eben kreativ<br />
werden, um ein Einsatzgebiet<br />
zu finden: Als Briefbeschwerer<br />
taugt er beispielsweise hervorragend.<br />
Und er schmilzt nicht.<br />
Von Vorstellungskraft, ca. 23 Euro<br />
www.vorstellungskraft.com<br />
№ 6<br />
2 Matt 1<br />
Man spricht gern von<br />
warmem Licht. Aber<br />
was wärmt die Leuchte<br />
selbst? Die Berliner<br />
Designer llot llov haben<br />
eine bestrickende Lösung<br />
gefunden, die man sich<br />
beim Lesen auch um<br />
den kratzenden H<strong>als</strong><br />
schlingen kann.<br />
Von llot llov, ca. 280 Euro<br />
www.llotllov.de<br />
№ 5<br />
2Ted 1<br />
Vier Fächer für Kreditkarten, großes Münzfach,<br />
Geldscheinfach – alles unauffällig untergebracht<br />
in der Brieftasche im Used-Look. Wer nicht so<br />
viele Penunzen hat, kann auch Zettel, Jetons und<br />
Fotos drin verwahren.<br />
Von Feuerwear, ca. 39 Euro<br />
www.feuerwear.de
S<br />
O<br />
№ 2<br />
2Tremonia 1<br />
Da hilft kein Bleichmittel mehr: Das Grau durch ollen Zechenstaub<br />
bleibt in Bergmannskleidung hängen. Der Stoff<br />
hat jede Menge Kohle geatmet, Schweiß gesaugt – und gibt<br />
in gewaschener, recycelter Form eine robuste Tasche her.<br />
Von Zechenkind, ca. 129 Euro<br />
www.zechenkind.de<br />
№ 1<br />
2 Bill 1<br />
Hüftgold macht Ringe, einen Schlauch wickelt sich niemand<br />
freiwillig um den Bauch. Ausnahme: diesen gebrauchten Feuerwehrschlauch.<br />
Durch die flexibel verstellbare Schnalle passt er<br />
auch noch, wenn man einen Schwabbelring losgeworden ist.<br />
Von Feuerwear, ca. 39 Euro<br />
www.feuerwear.de<br />
№ 3<br />
2 Frühstück im Bett 1<br />
Zugegeben, Beton ist hart. Doch er muss<br />
ganz und gar nicht ungemütlich sein. Julia<br />
Lodes macht ein Kissen draus, auf dem sich<br />
ein Ei niederlassen kann – es muss dazu<br />
nicht einmal hartgekocht sein.<br />
Von Betoniu, ca. 22 Euro<br />
www.betoniu.de
Betreten erlaubt<br />
Omas Perser war gestern: Der Bochumer Jan Kath rockt mit seinen<br />
Teppichentwürfen die internationale Bodenbelagszene.<br />
text Volker K. Belghaus | illustration Michael Lippoldt<br />
„Noch fünf Minuten!“ Jan Kath läuft zwischen Teppichrollen,<br />
Paletten und Speditionsleuten umher, weist auf<br />
eine Couch – „Bin gleich da!“, ist kurz hinter seinen Teppichstapeln<br />
verschwunden, kommt wieder, „Kaffee oder<br />
Wasser?“, „Wasser, danke!“, unterschreibt Formulare und<br />
passt auf, dass auch alle Teppiche im LKW verschwinden.<br />
Auf den Rollen prangen Zettel mit vier Herzen und der<br />
Aufschrift „Handle with Love“. Nette Geste. Ein letzter<br />
Blick hinterher, <strong>als</strong> der Wagen aus der Einfahrt rollt und<br />
die Ware ihren Weg in ein Kairoer Penthouse nimmt.<br />
Etwas abgekämpft lässt sich Kath auf die Couch in jener<br />
ehemaligen Bochumer Fabrikhalle fallen, die ihm<br />
<strong>als</strong> Büro, Lager und Repräsentanz dient. Ein lichter<br />
Raum; auf dem Boden und an den Wänden Teppiche.<br />
Klassische Perser, wie sie weiland von Kaths Eltern im<br />
hiesigen Fachgeschäft verkauft wurden, sucht man aber<br />
vergeblich. Es sind Kaths eigene Interpretationen des<br />
Mediums Teppich; „Erased Classic“ nennt er seine neue<br />
Kollektion – abstrakt, monochrom und teils seltsam gebraucht<br />
aussehend. Sie ist das Ergebnis einer längeren<br />
Erfolgsgeschichte, die vor gut 15 Jahren begann.<br />
„Dam<strong>als</strong> bin ich hippiemäßig durch die Welt gereist,<br />
nach Indien und Goa, einfach drauflos.“ Irgendwann<br />
ist er dann in Nepal gelandet, wo er einen Deutschen<br />
traf, der dort eine Teppichmanufaktur leitete – „Mainstreamware<br />
für den Massenmarkt, aber immerhin!“ Als<br />
dieser einen Nachfolger suchte, hob Kath leicht größenwahnsinnig<br />
die Hand. Seitdem lässt er dort von einheimischen<br />
Facharbeitern seine Teppiche produzieren.<br />
Dass diese leistungsgerecht bezahlt werden, hat ihm das<br />
„Fair Trade“-Siegel eingebracht, außerdem profitiert er<br />
vom Fachwissen der Menschen. Anders <strong>als</strong> die Konkurrenz<br />
besteht Kath darauf, keine billige Import-Wolle aus<br />
Australien zu verarbeiten. „Das ist die Holland-Tomate<br />
unter den Wollen; sieht zwar schön aus, hat aber keine<br />
Qualität.“ Ganz im Gegenteil zu seinen Teppichen, welche<br />
aus Himalaya-Wolle, Seide oder marokkanischer<br />
Wolle hergestellt werden und international ihre Abnehmer<br />
finden. Ob Privatleute oder Unternehmen wie „das<br />
erfolgreichste französische Modelabel“, das weltweit<br />
seine Geschäfte mit Kath’scher Ware ausstatten ließ –<br />
Grönemeyer irrte: Bochum ist doch eine Weltstadt.<br />
Jedenfalls, was den Bereich Teppichdesign angeht.<br />
Dem Einwand, dass seine Teppiche doch nur für Menschen<br />
mit dem nötigen Kleingeld in Frage kommen,<br />
begegnet Kath lässig: „Natürlich produzieren wir hauptsächlich<br />
für das Luxussegment. Im Grunde braucht das<br />
kein Mensch.“ Schiebt aber schnell hinterher, dass es in<br />
der Schweiz eine Möbelhauskette gibt, die preiswerte,<br />
„ich sage bewusst nicht billig!“, Kath-Produkte im Sortiment<br />
hat. Also nicht nur Laufstegmodelle, sondern<br />
auch Teppiche für den Alltagsgebrauch.<br />
In Kaths Fabrikhalle hängen die meisten seiner Werke<br />
an den Wänden – ist das jetzt noch Handwerk oder bereits<br />
Kunst? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem,<br />
schließlich lautet der Slogan zum Teppich „Contemporary<br />
Rug Art“. Und gerade bei den konstruktivistischen<br />
Entwürfen liegt der Vergleich zur Kunst nahe. Die<br />
Neuinterpretationen der klassischen Berberteppiche,<br />
„Le Maroc Blanc“, erinnern in ihren schrundigen Erd-<br />
nr. 6 | heimatobjekt
farben stark an Werke von Anselm Kiefer. Und Kaths<br />
Internetseite kommt <strong>als</strong> virtuelles 3D-Museum daher,<br />
nur dass hier keine Kunstwerke, sondern Teppiche an<br />
den Wänden hängen.<br />
Das wirkt gewagt und könnte von einem übergroßen<br />
Ego zeugen, hat aber auf den zweiten Blick durchaus<br />
Sinn. Hier wirken die Teppiche zwar überhöht, „und<br />
das ist durchaus auch so gewollt!“, durch die schlichte<br />
Präsentation auf weißen Wänden kommen sie zudem<br />
besser zur Geltung. Auch die Kataloge, die wie die Internetseite<br />
von der Bochumer Agentur Oktober gestaltet<br />
werden, setzen ganz auf die visuelle Kraft der Produkte.<br />
Zwischendurch werden die Teppiche auch mal inszeniert.<br />
Allerdings verzichtet Kath mittlerweile darauf,<br />
seine Werke mit Designermöbeln zu dekorieren, wie er<br />
es noch in seinem ersten Katalog getan hat. Fotografiert<br />
wurde dieser auf der Zeche Zollverein vor verrußten<br />
Wänden, was erstens einen schönen Kontrast erzeugt<br />
und zweitens in Kath die Inspiriation für „Erased Classic“<br />
weckte, da ihn die Strukturen und monochromen<br />
Schattierungen der Wände faszinierten.<br />
Als der neue Katalog anstand, wählte Kath die Waschbetonumgebung<br />
an der Bochumer Ruhr-Uni <strong>als</strong> Ambiente.<br />
Das passt zu morbiden Entwürfen wie „Ferrara<br />
Rocked“, ein vermeintlich ausgeblichener, abgetretener<br />
Teppich, dessen Muster sich aufzulösen scheinen. Oder<br />
„Roma Vendetta“, hier mischt sich rote Wolle mit dem<br />
dunklen Hintergrund, <strong>als</strong> ob der Teppich blutgetränkt<br />
wäre. Wer Kath aber in die abstrakte Designecke stellen<br />
will, sollte vorsichtig sein. „Design ist Prozess, da muss<br />
man auch mal etwas ausprobieren“, sagt Kath und verweist<br />
auf seine Kollektion „Gamba, Mauro & Spice“, mit<br />
Mut zu knalligen Farben und gegenständlichen Motiven:<br />
Blumen, Schmetterlinge und ein pinker Hirsch vor<br />
hellgrünen Lianen. „Where is Bambi?“<br />
Gute Frage, es bleibt aber noch eine andere und letzte:<br />
Warum Bochum und nicht Berlin oder New York? Kath<br />
lächelt wie jemand, der diese Frage schon oft gehört hat:<br />
„Ich fühle mich hier wohl, bin im Pott aufgewachsen,<br />
und meine Kinder gehen hier zur Schule.“ Wie zum<br />
Beweis zeigt Kath die Baustelle um die Ecke, wo eine<br />
Galerie und sein Privathaus entstehen. Einer, der bleibt.<br />
Und der, um dieses Wortspiel dann doch noch unterzubringen,<br />
auf dem Teppich geblieben ist.<br />
w w w . j a n - k a t h . d e<br />
heimatobjekt | nr. 6
Interior Design Week Köln<br />
18. bis 24. Januar 2010<br />
Zum 21. Mal bieten die PASSAGEN <strong>als</strong> größte deutsche<br />
Designveranstaltung eine Plattform für die aktuellen<br />
Strömungen und Trends des Designs, des Wohnens und<br />
des Lifestyles. Über 190 Shows internationaler Designer<br />
und Hersteller im gesamten Kölner Stadtgebiet und zahlreiche<br />
Happenings machen während der Design-Woche<br />
im Januar Köln wieder zum „Mekka“ des Designs.<br />
For the 21st time, PASSAGEN – as Germany’s biggest design<br />
event – is offering a forum for current trends and developments<br />
in design, living and lifestyle. Over 190 shows throughout<br />
downtown Cologne, featuring international designers<br />
and manufacturers, and numerous happenings once again<br />
make Cologne a design “Mecca” during this design week in<br />
January.<br />
PASSAGEN . Büro Sabine Voggenreiter . Köln<br />
www.voggenreiter.com<br />
Foto: photocase / stm
„Während der Designwoche wird<br />
Mailand zu einem Spielplatz.“<br />
Jedes Frühjahr konzentrieren sich Fachwelt und Medien nur auf das, was in Mailand gezeigt wird.<br />
Designer nutzen die Messe <strong>als</strong> Plattform zur Selbstdarstellung: Wer zur Designwoche zugelassen<br />
wird, der bekommt Anerkennung. Das ist Pierre Kracht dieses Jahr gelungen: Er hat dort ausgestellt.<br />
Dortmund hat nun einen Designer vorzuweisen, den die Stadt hoffentlich halten kann.<br />
In seiner gemütlichen Küche am Dortmunder Hafen spricht er von seinen Erfahrungen.<br />
text Matylda Krzykowski | fotografie Michael Thieme | produktfotografie Katrin Füser<br />
heimatobjekt | nr. 6
Wer bist du, was machst du?<br />
Diese Frage stelle ich mir jeden Tag aufs<br />
Neue. Ich bin Pierre Kracht, Objektdesigner.<br />
Ich habe eine Ausbildung <strong>als</strong> Raumausstatter<br />
abgeschlossen und bin dann noch einige Zeit<br />
in dem Beruf hängen geblieben.<br />
Eigentlich wäre der Schritt vom Designer zurück<br />
zum Raumausstatter nicht groß.<br />
Das große Ding ist die Selbstverwirklichung,<br />
die einem dann fehlt. Weil du auf Kundenwünsche<br />
reagierst und nur machst, was der<br />
Kunde will. Als Designer kann ich freier entscheiden,<br />
bin mündiger.<br />
Und dann kam die Idee mit dem Objektdesign?<br />
Genau. Ich bin nach Dortmund gegangen,<br />
weil ich den Studiengang Objekt- und Raumdesign<br />
spannend fand. Räume zu inszenieren,<br />
die künstlerische Schiene eben. Das klassische<br />
Industriedesign dagegen hat mich nie<br />
so interessiert.<br />
Wie viele Objekte hast du für deine<br />
„Wrapped“-Serie gemacht?<br />
Mit dem Garn habe ich Stuhl, Lampe, Kronleuchter<br />
und eine kleine Leuchte gemacht.<br />
Jetzt sind die Karbon-Geschichten entstanden.<br />
Die haben mehr Funktion. Man<br />
kann nicht darauf sitzen, aber man<br />
könnte etwas ablegen.<br />
Kann man die Serie so stabil machen,<br />
dass sie richtig belastbar ist?<br />
Ich denke schon. Nur darunter<br />
leidet die Ästhetik. Im Endeffekt<br />
finde ich es spannend, dass man<br />
nicht darauf sitzen kann. Gerade<br />
weil man darauf sitzen<br />
will.<br />
Wie kam es dazu, dass du<br />
in Mailand ausgestellt<br />
hast?<br />
Ich habe beim „d3<br />
Contest“ auf der IMM<br />
in Köln ausgestellt. Das hat gute Resonanz gegeben.<br />
Die haben eine gute Auswahl, streuen<br />
das alles gut mit industriellen Sachen und mit<br />
künstlerischen Arbeiten. Danach war es ein<br />
Selbstläufer. Und dann kam auch die Anfrage<br />
vom Damn Magazine.<br />
Wie hat es sich angefühlt, zwischen großen Namen<br />
wie Konstantin Grcic und Maarten Baas zu<br />
stehen?<br />
Großartig. Ich war zum ersten Mal da, das war<br />
ein großes Erlebnis. Es ist ein großer Spielplatz.<br />
Ich hab das gerne aus einer Beobachterperspektive<br />
wahrgenommen.<br />
Was hat dir bei den anderen Ausstellern gut gefallen?<br />
Ich fand die Sache vom Damn Magazin sehr<br />
spannend, weil sie mit Prototypen gearbeitet<br />
haben. Ich finde es gut, wenn man diese Sachen<br />
in ihren Vorstadien sieht und die Herangehensweise<br />
der anderen Designer entdeckt.<br />
Hast du schon mal darüber nachgedacht, in<br />
Mailand groß auszustellen, oder fühlst du dich<br />
dafür noch zu jung <strong>als</strong> Designer?<br />
Ja, wenn die Kollektion passt. Aber ich rödele<br />
da noch lieber vor mich hin.<br />
Auf deinen Pressefotos hältst du zwei große<br />
Stricknadeln. Sind es die Stricknadeln, mit<br />
denen du arbeitest? Und wieso eigentlich Stricken?<br />
Ja, mit denen arbeite ich. (grinst) Eigentlich<br />
ging es im Grundstudium los. Da habe ich<br />
mich mit der Linie im Raum beschäftigt.<br />
Bin dann auf das Kabel gekommen, weil es<br />
die Funktion <strong>als</strong> Versorgungsleitung hat, die<br />
überall in der Wohnung vorhanden ist. Es<br />
ist ein Ansatz vom Jugendstil, dass Leitungen<br />
offengelegt werden müssen. Ich habe ein<br />
poetisches Objekt daraus gemacht. Ich hatte<br />
einen schönen Spruch von meinem Meister<br />
im Kopf aus meiner Zeit <strong>als</strong> Raumausstatter.<br />
Wenn wir in eine Wohnung gekommen sind<br />
und da einfach ein Kabel mit der Glühbirne<br />
hing, sagte er immer: der russische<br />
Kronleuchter. Dieses Bild fand<br />
ich so schön. Diese nackte Lampe,<br />
die mehr ist <strong>als</strong> sie ist. Dem wollte<br />
ich ein Bild setzen. Daraus ist<br />
dann „Käte“ entstanden, der<br />
russische Kronleuchter. (lacht)<br />
Siehst du Dortmund <strong>als</strong> dauerhaften<br />
Standort für dich?<br />
Ist Dortmund die Destination?<br />
The place to be? Im<br />
Moment gefällt es mir<br />
gut. Mit dem Hafen vor<br />
der Haustür. Wenn ich<br />
ein Atelier bekommen<br />
sollte, wäre es ideal. Ich habe mitbekommen,<br />
dass sich das Hafenamt bisher querstellt. Die<br />
wollen keine Künstler oder Designer hier, und<br />
wenn das so weiter läuft, dann ist irgendwann<br />
der Punkt gekommen zu sagen: So nich.<br />
Findest du, dass zu wenig gefördert wird?<br />
Die Stadt steckt Gelder in oberflächliche Sachen,<br />
mehr Künstler zu fördern wäre doch mal ein<br />
Anfang. Ich glaube an die Stadt. Ich habe meine<br />
Netzwerke hier. Nicht nur Designer, auch Leute<br />
aus anderen Bereichen. Das ist wichtig, und mit<br />
denen lässt sich schon einiges reißen.<br />
w w w . p i e r r e k r a c h t . d e<br />
liebe<br />
kann dein<br />
herz<br />
zerbrechen<br />
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Tako-Tsubo-Syndrom<br />
organischen<br />
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KDJPlakat_GAP.QXD 15.12.2008 16:49 Uhr Seite 1<br />
Die<br />
Bretter,<br />
die die<br />
Welt<br />
bedeuten,<br />
sind aus<br />
Papier<br />
Ein Blick auf die Plakatwände des Ruhrpotts zeigt, dass<br />
Theaterplakate mehr sein können <strong>als</strong> pure Inhaltsangaben.<br />
Alles andere wäre ja auch langweilig.<br />
text Volker K. Belghaus<br />
„Krankheit der Jugend“<br />
Schauspiel Essen<br />
Schick! So könnte sie aussehen, die offizielle Kleidung<br />
für die nächste SM-Sause im Berliner Club „Berghain“!<br />
Der diamantene Weltkriegs-Blingbling ist ein weiterer<br />
Höhepunkt kreativ-kruder Theaterplakate von Designer<br />
Thomas Rindermann, die während der Intendanz von<br />
Anselm Weber entstanden. Eigentlich bestimmt die<br />
Farbe Rosa den öffentlichen Auftritt des Theaters, was<br />
sich auch in der Papierfarbe der Programmzeitung niederschlägt,<br />
die dadurch an mediterrane Sportgazetten<br />
erinnert. Das Rosa wurde hier auf zwei kleine Balken<br />
reduziert, alles andere wäre auch zu niedlich geraten,<br />
denn eine pastellfarbene Lillifee-Version dieser Gasmaske<br />
braucht nun wirklich kein Mensch. Auch das „Logo“,<br />
die Outline-Illustration eines jungen, interessiert-nachdenklichen<br />
Mannes, findet eher einen dezenten Platz.<br />
Ein starker Auftritt, kein „Motto zum Fotto“, sondern<br />
eine Aufforderung zum Selberdenken. Dann assoziieren<br />
sie mal schön, liebe Theaterbesucher!<br />
„A Tribute to Quentin Tarantino“<br />
Schauspielhaus Bochum<br />
KRANKHEIT DER JUGEND<br />
IN EINER FASSUNG VON NURAN DAVID CALIS<br />
FREI NACH FERDINAND BRUCKNER<br />
URAUFFÜHRUNG AM 7. FEBRUAR ’09<br />
Seht her, Ihr Nachgeborenen, das waren sie, die Posen<br />
der 90er! Coole Typen, schwarze Anzüge, dicke Wummen.<br />
War mal der absolut heißeste Scheiß, den man<br />
sich denken konnte. Und Quentin Tarantino galt <strong>als</strong> die<br />
coolste Sau im Filmgeschäft. Seine frühen Werke sind<br />
längst Klassiker, und, wie es scheint, reif für die Bühne<br />
des Bochumer Schauspielhauses. Zum Glück kein Musical,<br />
sondern ein „Tribute“ für Tarantino. Das Plakat ist<br />
dann auch gepflegt angeranzt, die Ränder wirken verblichen,<br />
der Hintergrund ist blutrot – das passt. Das Logo<br />
geht fast ein wenig unter, und auch sonst erinnert das<br />
Ganze eher an ein Kinoplakat. Aber die Schauspieler, die<br />
sich in die gefährlichen Tarantino-Posen werfen, wirken<br />
dann doch ein wenig zu angestrengt bei dem Bemühen,<br />
einen auf dicke Hose zu machen. Eine hochgestrubbelte<br />
Gelfrisur, wie sie Fünfjährige tragen, passt irgendwie<br />
nicht zum 70er-Pornobalken. (Bitte mal bei dem King of<br />
Oberlippenbart Burt Reynolds nachfragen!)<br />
SCHAUSPIEL ESSEN<br />
KARTEN 0201 / 8122-200<br />
Atrwork Diddo Velema <strong>Gestaltung</strong> Markus Rindermann Studio<br />
heimatbild | nr. 6
Plakat_A0_Burkhard.indd 1 30.07.09 15:14<br />
Plakate_Der_Vater_1/2_A1 18.03.2008 15:19 Uhr Seite 1<br />
Theater a.d. Ruhr<br />
innert – alles bewusst unaufgeregt. Dazu, <strong>als</strong> Hauptelement<br />
neben dem Logo, die Abbildung bildender Kunst;<br />
meist Gemälde oder, wie in diesem Fall, ein verrätseltes<br />
Foto. Dieses In-Kontext-Stellen von Kunst zum Inhalt<br />
der Stücke hat Tradition und wird schon viele Jahre auf<br />
den Plakaten des Theaters praktiziert. Tradition? Das<br />
wäre ja mal ganz was Neues.<br />
August Strindberg<br />
DER VATER<br />
„ Attraktive Sie<br />
sucht Dich für<br />
aufregende<br />
Stunden.“<br />
Bunt ist besser. Die neue Spielzeit.<br />
Infos und Abos unter www.theater-oberhausen.de oder 0208/8578184<br />
© copyright 1970 by Arthur Tress; photograph courtesy of Contemporary Works/Vintage Works, www.vintageworks.net<br />
PREMIERE<br />
4. und 5. April 2008, 19.30 Uhr<br />
Weitere Vorstellungen:<br />
12. April 2008, 19.30 Uhr<br />
2. Mai 2008, 19.30 Uhr<br />
9. Mai 2008, 20.30 Uhr<br />
24. Mai 2008, 19.30 Uhr<br />
Theater an der Ruhr im Raffelbergpark · Akazienallee 61<br />
45478 Mülheim an der Ruhr · Kartenvorbestellung: (02 08) 5 99 01 88<br />
„Der Vater“<br />
Theater an der Ruhr, Mülheim<br />
Zum Theater an der Ruhr geht’s nach links, wohin auch<br />
sonst. Die „linke“ Ausrichtung der Mülheimer ist bekannt<br />
und findet sich auch im Autobahnschild-Logo<br />
wieder, das selbstbewusst den oberen Teil der Plakate<br />
ausfüllt. Ansonsten fällt ein Hang zur Verweigerung<br />
und zur reduzierten <strong>Gestaltung</strong> auf. Aber weil man, frei<br />
nach Watzlawicks „Man kann nicht nicht kommunizieren“,<br />
auch nicht nicht gestalten kann, gehört das Beiläufige<br />
zum Konzept. Die Typo: wahrscheinlich Helvetica,<br />
eher Arial, brav-ordentlich zentriert auf Mittelachse<br />
gesetzt; dazu ein Kästchen mit schwarzem Trauerrand,<br />
das an die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln er-<br />
Spielzeitplakat „Attraktive Sie sucht...“<br />
Theater Oberhausen<br />
Entschuldigung, aber hat Brecht nicht während seines<br />
New Yorker Exils folgende Zeilen in sein Tagebuch<br />
geschrieben: „Den Tigern entrann ich / Die Wanzen<br />
nährte ich / Aufgefressen wurde ich / Von den Mittelmäßigkeiten“?<br />
Und dann so was: ein Theaterplakat,<br />
getarnt <strong>als</strong> übergroße Kontaktanzeige mit „Ruf-michan!“-Attitüde;<br />
der Text in Anführungszeichen gesetzt,<br />
was immerhin auf ein Zitat oder eine versteckte Selbstdistanzierung<br />
schließen lässt. Der Theaterbezug kommt<br />
leider zu kurz; man könnte mit dem Motiv auch für die<br />
neuen Stromtarife der Stadtwerke werben, so austauschbar<br />
und gewollt originell kommt es daher. Das Logo indes<br />
ist angenehm lässig-reduziert, kleingeschrieben und<br />
hat einen Punkt, der da zwar nicht hingehört, aber zeigt,<br />
dass weniger oft mehr sein kann. Der Grund, warum<br />
es statt einzelner Premierenplakate nur dieses Spielzeitplakat<br />
gibt, ist die städtische Haushaltssperre. Wobei –<br />
Geldmangel sollte eigentlich kein Grund für mangelnde<br />
Kreativität sein.<br />
nr. 6 | heimatbild
Der Überflieger<br />
Mit seiner Diplomarbeit „Weltkarte der<br />
Überwachung“ hat Raul Mandru 2008<br />
direkt einen Red Dot Design Award abgestaubt.<br />
Nicht einmal ein Jahr später eilt der<br />
inzwischen 26-Jährige nach Cannes, um<br />
einen Goldenen Löwen für sein nächstes<br />
Projekt „Donate-a-Meal“ einzustecken.<br />
Solch ein Erfolg scheint aus dem Nichts<br />
zu kommen, <strong>als</strong> sei Talent eine Form von<br />
Magie. Ist es aber gar nicht.<br />
text Petra Engelke<br />
Raul Mandru arbeitet derzeit <strong>als</strong> Art Director bei der<br />
Werbeagentur Ogilvy in Düsseldorf. Die wollte den Rumänen<br />
mit dem Einser-Abschluss und der preisgekrönten<br />
Diplomarbeit so sehr, dass sie eine Arbeitserlaubnis<br />
für ihn beantragte. Wenige Monate später leitet er ein<br />
Projekt mit über 40 Mitarbeitern. Eine solche Karriere<br />
möchten viele hinlegen.<br />
Raul, was würdest du dem Grafiker-Jahrgang der FH<br />
Dortmund raten, der jetzt nach dir kommt?<br />
Es gibt keinen allgemeinen Tipp, denn jeder spezialisiert sich<br />
auf etwas anderes. Der eine macht Magazine, ein anderer<br />
Illustration, wieder ein anderer will Konzepte machen. Ich<br />
denke, es ist wichtig, so offen wie möglich zu bleiben. Und<br />
viele Leute kennen zu lernen, die einen weiterbringen. Und<br />
etwas zu können, gut zu können. Was, ist egal. Wenn man<br />
nach dem FH-Abschluss am besten Kirchenbilder machen<br />
kann, fein, dann macht man eben das – aber auf höchstem<br />
Niveau. Es ist wichtig, eine Sache gut zu können, die mit diesem<br />
Business zu tun hat. Dann werden die richtigen Leute<br />
mit dir ins Gespräch kommen.<br />
Zum Beispiel die Leute von Ogilvy. Aber wie kam es, dass<br />
du <strong>als</strong> Neuling das komplette Projekt „Donate-a-Meal“<br />
verantwortet hast?<br />
Voriges Jahr im August gab es bei Ogilvy ein Briefing von<br />
der Düsseldorfer Tafel: Wir sollten etwas für deren Kindertafel<br />
machen. Daraus entstand ein interner Pitch. Wir sind<br />
in Schulen in den dunklen Ecken von Düsseldorf gegangen,<br />
haben uns die Situation dieser Kinder angeschaut, und<br />
gegen Ende habe ich mir gedacht: Kann man mit einem<br />
Plakat, mit einer Serie von Anzeigen oder einer Guerilla-<br />
Aktion wirklich dieses Problem lösen? So etwas hat überhaupt<br />
nicht zu der Welt dort gepasst. Da kam mir die Idee<br />
mit einer Website, auf der echte Kinder Schlange stehen, die<br />
man mit Tellern voller Essen versorgen kann – und zwar<br />
von überall auf der Welt. Ich habe dafür ein Layout entworfen<br />
und Bilder zusammengestellt. Das sah genauso aus wie<br />
jetzt. Dazu diesen Counter, mit dem man sieht, bei welchem<br />
Spendenbetrag man ist. Damit habe ich den internen Pitch<br />
gewonnen. Ogilvy mag gute Ideen, es ist egal, ob du von der<br />
Uni kommst, Praktikant bist oder Kreativdirektor.<br />
heimatbild | nr. 6
Gute Ideen kommen freilich nicht aus dem Nichts. Raul<br />
Mandru hat sich tausende Stunden mit Design beschäftigt<br />
– auch wenn er zunächst einmal gar nicht wusste,<br />
was das ist. Mit 14 beginnt er mit Graffiti. Dam<strong>als</strong> malen<br />
in Rumänien kaum ein Dutzend Leute auf Wände.<br />
Mandru experimentiert mit Farbe, Form und Schrift,<br />
ahmt nach, was er in Magazinen und später im Internet<br />
gesehen hat, versucht sich an eigenen Entwürfen. Die<br />
geschäftliche Seite lernt er kennen, <strong>als</strong> die eine oder andere<br />
Disco ihn mit Wandmalerei beauftragt. Noch bevor<br />
er dem Teenageralter entwächst, quillt sein Praxiskonto<br />
über. Das alles, so sagt er dann auch heute, sei im<br />
Grunde genommen nichts anderes gewesen <strong>als</strong> das, was<br />
er jetzt <strong>als</strong> Designer erlebe.<br />
Die Initialzündung für seine Karriere geben zwei Vorbilder.<br />
Zufällig stößt Mandru in einer Bibliothek auf ein<br />
Buch von David Carson, laut Surfer Magazine auch im<br />
August 2009 noch „the most influential graphic designer<br />
of modern times“. Ein Jahr lang leiht er es aus, bringt es<br />
zurück, leiht es sofort wieder aus. Zwischendrin übt er<br />
sich an der Typo, die ihn fasziniert. Schriften sind sein<br />
Leben. Kurz darauf zeigt ein Kanadier ihm das Buch<br />
„Designershock DSOS1“ – und Mandru gibt ein kleines<br />
Vermögen für Farbkopien aus. Plötzlich eröffnet sich für<br />
ihn eine Welt jenseits des Graffiti; die Flamme, die in<br />
ihm brennt, will auf neue Felder überspringen.<br />
Nebenbei schuftet Mandru in einer Druckerei. Anhand<br />
von verhältnismäßig anspruchslosen Broschüren lernt<br />
er, mit Programmen wie Photoshop und Corel Draw<br />
umzugehen. Das wiederum kommt ihm zupass, <strong>als</strong><br />
2002 der Hollywoodfilm „Cold Mountain“ in Rosenau,<br />
wenige Kilometer von Mandrus Zuhause, gedreht wird.<br />
Die Crew sucht billige Arbeitskräfte, die sich mit Scannern,<br />
Photoshop und so weiter auskennen. Raul Mandru<br />
bewirbt sich und kommt in die Abteilung von Stelios<br />
Polychronakis, der unter anderem für Ausstattung<br />
oder Grafik von „The Hours“, „Jede Sekunde zählt“ und<br />
„Billy Elliot“ verantwortlich war. Der beobachtet heute<br />
noch Mandrus Werdegang. „Ich habe ‚Donate-a-Meal’<br />
gesehen und mag die Arbeit sehr“, sagt er. „Sie ist sehr<br />
effektiv. Und zwar deshalb, weil sie eine emotionale<br />
Wirkung hat – diese Eigenschaft findet man heutzutage<br />
nicht sehr oft im Grafikdesign.“<br />
Polychronakis wundert sich nicht darüber, dass Raul<br />
Mandru so etwas erreicht. „Raul hatte die richtige Arbeitsmoral<br />
für eine große Karriere.“ Er sei begierig darauf<br />
gewesen, zu lernen, außerdem hilfsbereit – und<br />
cool. „In einer so stressigen Umgebung wie einem Filmset<br />
produzierte Raul gute Arbeit und ließ sich nicht aus<br />
der Ruhe bringen“, erinnert sich Polychronakis. „Das ist<br />
sehr wichtig, denn das letzte, was man dort gebrauchen<br />
kann, sind Leute, die unter Druck in Panik verfallen.“<br />
Inzwischen ist das Hobby zur Obsession geworden.<br />
Nun fehlt noch eine anständige Ausbildung. Raul Mandru<br />
will zum Studieren unbedingt nach Deutschland.<br />
Schnell. Die FH Dortmund hat einen guten Ruf; vor<br />
allem aber den frühesten Termin für das Aufnahmeverfahren<br />
– und akzeptiert Mandru direkt aufgrund seiner<br />
Mappe.<br />
Was unterscheidet rumänisches von deutschem Design?<br />
Rumänien hat keine Tradition für Design, Werbung, Typografie<br />
und so weiter. In Deutschland wird dagegen seit<br />
Jahrhunderten Design gemacht. Rumänien hatte nur diese<br />
Propaganda-Designer, es gab den russischen Stil, wo<br />
man den Fürsten oder später den Arbeiterchef in einer bestimmten<br />
Weise darzustellen hatte. Bevor das Internet kam,<br />
<strong>als</strong>o bis ungefähr 1998, waren die Leute auch nicht so richtig<br />
über das informiert, was an Design in der Welt passiert.<br />
Meine Eltern wussten nicht mal, was Grafikdesign ist, <strong>als</strong><br />
ich das studieren wollte.<br />
Was haben die denn gedacht?<br />
Sie dachten, Design bedeutet Modedesign. Davon war mein<br />
Vater nicht so begeistert (lacht). Sie kannten wohl Industriedesign,<br />
dafür gibt es auch Schulen, mittlerweile auch für<br />
Grafikdesign. Früher wurde viel kopiert. Jetzt passiert dort<br />
aber ganz viel. Erst im Mai habe ich einen Grafikdesigner<br />
aus Rumänien bei den European Design Awards in Zürich<br />
kennen gelernt – der hat dort Vorträge gehalten.<br />
Raul Mandrus Abschlussarbeit heißt „Weltkarte der<br />
Überwachung“. Streng genommen gab es die schon.<br />
Die Bürgerrechtsinitiative „Privacy International“ hatte<br />
2007 genug Daten erhoben über Videokameras, biometrische<br />
Pässe, Lauschangriffe, Vorratsdatenspeicherung<br />
und ähnliche Maßnahmen in aller Welt, um daraus<br />
eine Übersicht zu basteln. Sie sollte eine entscheidende<br />
Rolle für Mandru spielen.<br />
Auf der Kunstbiennale in Venedig sieht er 2007, dass<br />
viele künstlerische Arbeiten sich mit aktuellen sozial-<br />
nr. 6 | heimatbild
politischen Themen beschäftigen – fasziniert vom Jetzt<br />
möchte er in eine ähnliche Richtung gehen. Statt <strong>als</strong>o in<br />
Designbüchern nach Inspiration für ein Diplomthema<br />
zu suchen, blickt er aberm<strong>als</strong> über den Tellerrand. In<br />
diesem Falle steckt er seine Nase in Tageszeitungen. Vorratsdatenspeicherung<br />
ist Ende 2007 ein großes Thema<br />
in den Medien, und schließlich entdeckt Mandru eine<br />
Meldung über die Karte von Privacy International. Er<br />
wühlt sich durch hunderte von Seiten mit deren Daten<br />
und Hintergrundinformationen, um daraus eine aussagekräftige,<br />
interaktive Installation zum Thema Überwachung<br />
zu entwickeln. Die hat er bereits mehrfach ausgestellt.<br />
„Wir haben seine Arbeit vor über einem Jahr gesehen“,<br />
sagt Gus, einer der Mitarbeiter von Privacy International.<br />
Die Aktivisten haben sich schon lange danach gesehnt,<br />
dass jemand die Bedrohung durch Überwachung<br />
visualisiert, und Mandrus Arbeit sei die beste, die sie<br />
bisher gesehen hätten. „Ich würde nichts daran ändern<br />
wollen.“<br />
Wie sah die formale Entwicklung aus, nachdem du dir<br />
über den Inhalt klar warst?<br />
In dieser Zeit habe ich viel Corporate Design gemacht, wollte<br />
mich darauf spezialisieren, sah aber dann, dass das in<br />
diesem Fall nichts bringt. Doch ich kam nicht sofort auf eine<br />
interaktive Installation. Am Anfang wollte ich einen riesengroßen,<br />
acht mal acht Meter großen Teppich machen mit<br />
den Symbolen, so dass man sich draufstellen kann. Später<br />
habe ich recherchiert, wie das über das Handy funktionieren<br />
könnte, und eine Installation gemacht.<br />
Und, wie funktioniert’s?<br />
Du rufst eine Telefonnummer an, bist damit direkt mit der<br />
Überwachungs-Karte verbunden und kannst darauf mit<br />
deinem Handy navigieren. Wenn ein Teil der Überwachung<br />
über die Telekommunikation funktioniert, warum sollte<br />
man dasselbe Medium nicht benutzen, um auszudrücken,<br />
dass jetzt genau diese Sache mit jedem passiert? Die Besucher<br />
der Ausstellung können das in visualisierter, verständlicher<br />
Form wahrnehmen.<br />
Kannst du <strong>als</strong> Experte denn jetzt in drei oder vier Sätzen<br />
zusammenfassen, was Überwachung heute heißt?<br />
Ich kann nicht sagen, dass ich Überwachungsexperte geworden<br />
bin. Ich kann nur sagen, dass heute wirklich alles<br />
möglich ist. Hundertprozentige Privatsphäre ist heute ausgeschlossen.<br />
Man darf nicht die Illusion haben, dass keiner<br />
erfährt, welche Internetseiten ich besuche oder mit wem ich<br />
telefoniere. Das ist alles möglich. Und sogar legal.<br />
Was bedeutet Daten sammeln heute für Identität?<br />
Sagen wir mal so: Bei unserer Installation besitzt jeder Benutzer<br />
alle Daten, die auf unserem Server gespeichert wurden.<br />
Er hat die Kontrolle. Aber das ist nicht immer so. Und<br />
mancher stellt ja selbst Daten nach draußen, zum Beispiel<br />
Bilder von sich, Blogeinträge oder Tweets über das, was er<br />
gerade macht. Für das Gedächtnis ist es vielleicht wichtig,<br />
dass man nachschauen kann, was man vor zwei Jahren<br />
gemacht hat. Wie in einem Tagebuch, das allerdings jeder<br />
abrufen kann. Für die Identität kann das bedeuten, dass<br />
man bemerkt, man ist viel weitergekommen. Aber dass ein<br />
Dritter vielleicht mehr über einen weiß <strong>als</strong> man selbst, das<br />
heimatbild | nr. 6
ist schon ein Schreck. Und ich denke, es hat Einfluss auf die<br />
Identität einer Person, wenn andere so viel über sie wissen.<br />
Raul Mandrus Identität ist gleichzeitig klar wie Glas<br />
und unfassbar wie eine Amöbe. So fasziniert er von Typografie<br />
war, er würde sich darauf nicht festlegen. Er ist<br />
nicht einmal traurig, dass er nicht mit einer außergewöhnlichen<br />
Schrift bekannt wurde. Design ist für ihn<br />
ein Kanal, die Ausführung einer Idee. Bekannt geworden<br />
ist er mit zwei interaktiven Projekten, die auf soziale<br />
und politische Missstände hinweisen. Darauf spezialisieren<br />
will er sich nicht. Eine kommerzielle Arbeit fände<br />
er genauso verlockend.<br />
Er bewirkt etwas. Was genau das ist, lässt sich nicht<br />
recht fassen. Die Weltkarte der Überwachung etwa hatte<br />
den Red Dot Design Award und die Silbermedaille bei<br />
den European Design Awards zur Folge. Doch ob diese<br />
Auszeichungen mehr Aufmerksamkeit auf das Thema<br />
Überwachung und auf die Website von Privacy International<br />
lenken, vermag die Organisation nicht zu sagen.<br />
Sie hält solche Daten nicht nach.<br />
Nächste Ausstellung:<br />
11.09. bis 18.10.2009 Herbstsalon Magdeburg<br />
www.herbstsalon-magdeburg.de<br />
w w w . m a n d r u . d e<br />
ruhr akademie<br />
privates Lehrinstitut für<br />
Medien, Design und Kunst<br />
www.ruhrakademie.de<br />
Mediendesign<br />
Film/Regie<br />
Computeranimation<br />
Fotodesign<br />
Freie Kunst<br />
ein Campus?!<br />
Praxisorientiertes Studium bei erfahrenen Profis
Ty<br />
po<br />
S<br />
S<br />
S<br />
S<br />
-<br />
Für Guido Schneider war es ganz schön beschwerlich, sich für<br />
einen Buchstaben zu entscheiden, der ihn hier repräsentieren<br />
soll. Dieses „g“ sieht er daher <strong>als</strong> eine Momentaufnahme, da<br />
sich seine Sichtweisen und Bedenken nahezu täglich ändern.<br />
Neulich traf Daniel Angermann das Versale S der Helvetica<br />
16 mal. Es traf ihn auch: 16 mal. Diese selbstbewusste kleine<br />
Schlange, offen, ehrlich und nicht aufdringlich. Charmant<br />
zurückhaltend präsent, auch mit ein paar Kilos mehr.<br />
Ty<br />
pe<br />
Für diese Ausgabe hatten wir dazu aufgerufen, uns eine Schrift zu leihen.<br />
Unter den Beiträgen sprang uns nicht nur Guido Schneiders „Girando“<br />
ins Auge, die wir für die Fließtexte eingesetzt haben – sondern auch eine<br />
Überschriften-Typo namens „Cinga“ von Daniel Angermann. Zum<br />
Entwerfen von Fonts kamen beide auf ganz unterschiedlichen Wegen.<br />
n<br />
Guido Schneider – Girando<br />
Dafür, dass Guido Schneider nach Selbstaussage eigentlich<br />
ein langweiliger Mensch ist, hat er viele interessante<br />
Dinge zu berichten. Über Schriften kann er wunderbar<br />
erzählen. Das tiefe Wissen ums Wesen der Alphabete<br />
entspringt dabei keiner lang gehegten Leidenschaft.<br />
Ein Dozent an der privaten Akademie RSKA, an der er<br />
Kommunikationsdesign studierte, weckte das Interesse<br />
dadurch, dass er Experimente forderte und so in einem<br />
eigentlich theoretisch streng beschränkten Bereich Freiheiten<br />
zuließ. Der 1973 geborene Überzeugungskölner<br />
schuf zunächst einige wilde, dekonstruierende Schriften,<br />
das Kriterium „leichte Lesbarkeit“ durfte da schon<br />
mal zurückstehen. Auf dieser Grundlage näherte er sich<br />
dem an, was ihn heute <strong>als</strong> freischaffenden Art Director<br />
und Designer umtreibt: die Beschäftigung mit thematischer<br />
Typographie. Seine heutige Firma Brass Fonts<br />
gründete er bereits ein Jahr vor seinem Diplom 1996 zusammen<br />
mit zwei Freunden und einem Dozenten. Inzwischen<br />
ist er der einzige Mann hinter diesem Namen,<br />
der übrigens nichts mit Blechblasmusik zu tun hat,<br />
sondern schlicht aus der regionalen Mundart kommt.<br />
„Brass haben“, meint nicht viel anderes <strong>als</strong> das gute alte<br />
„Stress“. Buchstaben mit innewohnender Energie <strong>als</strong>o.<br />
text Tom Thelen<br />
Daniel Angermann – Cinga<br />
Bereits <strong>als</strong> junger Hochleistungssportler malte er Figuren<br />
– mit den Kufen ins Eis und mit dem Körper in die Luft.<br />
Nach dem Eiskunstlauf kam die Ausbildung <strong>als</strong> Maler<br />
und Lackierer, außerdem die Flucht vor dem öden Job<br />
hinein in die Graffiti-Szene. Von Kufen befreit, tanzte<br />
Angermann Breakdance; Fotografie und Grafik wurden<br />
Ausdrucksmittel dieses Alltagslebens, Musik kam dazu.<br />
Dynamisch mit Buchstaben etwas zu transportieren,<br />
lernte Angermann von und an den Wänden, er wollte<br />
aber mehr. Und so führte der Weg des 1981 in Soest Geborenen<br />
nach Köln, wo er seit 2006 an der ecosign Akademie<br />
für <strong>Gestaltung</strong> Kommunikationsdesign studiert.<br />
Er ist in der Mitte des Hauptstudiums, hat bereits einige<br />
Kunden und steckt somit im bekannten Dreiecksdilemma<br />
Arbeit/Studium/Zeit. Die akademische Beschäftigung<br />
mit Typografie ist für ihn kein einzwängendes<br />
Korsett. Vielmehr erfreut er sich daran, dass vieles von<br />
dem, was jetzt <strong>als</strong> Proportionslehre zum Studium gehört,<br />
intuitiv bei ihm längst angelegt sei. Die kulturelle<br />
Praxis, die er zunächst unbedarft auslebte, unterfüttert<br />
er nun <strong>als</strong>o mit Theorie. Das tut seinen Alphabeten keinen<br />
Abbruch: Sie sind offenkundig lebendig.<br />
heimatbild | nr. 6
- Lederwerkstatt, Stuttgart<br />
WWW.HAEUTE.INFO
Essen<br />
Duisburg<br />
Dortmund<br />
diversity<br />
silence<br />
16. Internationales<br />
Symposium für<br />
Elektronische Kunst<br />
ecologies<br />
sensory overload<br />
expanded sounds<br />
resources<br />
performance<br />
open hardware<br />
Ausstellungen und E-Culture Fair im U-Turm<br />
Performances bei PACT Zollverein<br />
Konzerte und Vorträge im Konzerthaus Dortmund<br />
Audio-visuelle Performances im FZW<br />
›Day of Sound‹ am ICEM der Folkwang Hochschule<br />
Kunst im öffentlichen Raum in Duisburg<br />
20–29 August 2010<br />
sustainability<br />
intimacy<br />
immersion<br />
immersion<br />
knowledge commons<br />
trash<br />
access<br />
immersion<br />
spam<br />
conversation<br />
media ecology<br />
free software<br />
low tech<br />
periphery<br />
www.isea 2010 ruhr.org<br />
urbanity<br />
passages<br />
irreversibility<br />
recycling<br />
consumption<br />
body<br />
space/time experience<br />
sensory deprivation<br />
sound pollution<br />
live-ness<br />
language<br />
electronic sounds<br />
image&sound<br />
hybrids<br />
Weitere Projekte in Kooperation mit u. a.<br />
Kunsthochschule für Medien, Köln<br />
Stiftung imai, Düsseldorf<br />
Deutscher Klangkunstpreis, Marl<br />
expanded acoustics<br />
synaesthesia<br />
<strong>Gestaltung</strong>: www.labor b.de<br />
ISEA 2010 RUHR, c/o HMKV, Güntherstraße 65, 44143 Dortmund, Tel. +49.231.55 75 21 21<br />
ISEA 2010 RUHR ist ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 und wird vom<br />
Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, im Auftrag des Medienwerks NRW durchgeführt.<br />
Gefördert von der RUHR.2010 GmbH, der Staatskanzlei NRW und der Stadt Dortmund.<br />
In Kooperation mit Goethe-Institut, Bundeszentrale für politische Bildung, u. a.
Designer illustrieren<br />
Heimat<br />
text Tanja Wissing<br />
V2A<br />
Ganz schön aufgemotzt ist die Angeberkarre, die Karsten<br />
Blaschke, Theis Müller und Lars Wöning für „Designer<br />
illustrieren Heimat“ durch das Ruhrgebiet „rollen“ lassen.<br />
Tiefer gelegt, sportlich verkleidet und mit großem<br />
Heckspoiler steht das ältere BWM-Modell aus Essen für<br />
ein ambivalentes, liebevoll-ironisches Heimatgefühl,<br />
das die drei Akteure mit der Stadt und Region ihrer<br />
Designagentur für Kommunikation V2A verbinden.<br />
Denn: Das Auto besitzt nur drei dicke Reifen und ein<br />
Ersatzrad. Es ist die „einfache, pragmatisch denkende<br />
und liebevolle Nachbarschaft mit einem enormen Missverständnis<br />
über ihre eigene Potenz“, von der sich die<br />
zwei Kommunikationsdesigner und der Pädagoge bei ihrem<br />
Heimatentwurf leiten ließen. Das mehrfach preisgekrönte<br />
Trio weiß, was es hier ins Bild rückt: Für V2A<br />
beginnt Heimat postalisch in 45127 und endet in 45359.<br />
Nur an dem Tag, <strong>als</strong> die Agentur dachte, nach Berlin<br />
zu ziehen, war das kurz, ganz kurz einmal anders. Ihr<br />
Name steht übrigens für nichtrostenden Edelstahl –<br />
„den Grundstoff für tragfähige Ideen“.<br />
w w w . v 2 a . n e t<br />
a nice idea every day<br />
Heimat? Das ist für Fabian Röttger nicht zwingend eine<br />
Frage der Geografie. Er fühlt sich heimisch, wenn er an<br />
einem Kiosk mehr <strong>als</strong> 15 verschiedene Tageszeitungen<br />
kaufen kann. Doch auch Freunde, Arbeit und ein schönes<br />
Heim vermitteln ihm dieses Gefühl. Das verfliege<br />
schlagartig, sobald sich alles gleich anfühle. Für Vivien<br />
Weyrauch, seinen Kompagnon bei a nice idea every day,<br />
ist Heimat dagegen grenzenlos: „Sie kann überall sein.“<br />
So flüchtig und zugleich grenzenlos ist auch das Motiv,<br />
das die beiden für „Designer illustrieren Heimat“ gewählt<br />
haben: Die verwilderte Haustaube ist irgendwie<br />
überall und nirgends im Ruhrgebiet zu Hause. „Und<br />
auch ein ganz gutes Symbol für unser ambivalentes<br />
Heimatgefühl das Ruhrgebiet betreffend“, finden die<br />
Wahl-Dortmunder. Die Auftragsarbeit für <strong>Heimatdesign</strong><br />
haben die beiden fast schon mit einem letzten<br />
Blick über die Schulter entworfen, denn Fabian Röttger<br />
und Vivien Weyrauch haben unlängst eine neue Heimat<br />
gefunden: in Los Angeles. Vivien Weyrauch nimmt<br />
jedoch ein Stück Heimat mit: ihr Notizbuch.<br />
Dirk Rudolph<br />
Was, bitte schön, hat ein blaues Alt-Herren-Jackett mit<br />
dem Ruhrgebiet zu tun? Zumal wenn sich dessen Träger<br />
im Sauerland, genauer in Nachrodt-Wiblingwerde mit<br />
Gleichgesinnten zum Singen trifft? Das Gemeindewappen<br />
auf dem Sakko schmückt die Brust der Mitglieder<br />
des dortigen Männergesangvereins Frohsinn. „Dort ist<br />
mein Vater seit 55 Jahren Vereinsmitglied“, erzählt Dirk<br />
Rudolph. Seit er denken kann, ist seine Kindheit mit<br />
dem MGV verbunden. „Wenn ich zum Beispiel meinen<br />
Vater sonntags nach der Probe vom Frühschoppen<br />
abgeholt und an den leeren Schnapsgläschen geleckt<br />
habe“, erinnert sich der 45-Jährige. Mit seiner Kindheit<br />
verbindet er die glückliche Zeit mit seinen Eltern, den<br />
fünf Freunden und dem kleinen Erlebnishorizont, der<br />
<strong>als</strong> Kind gut mit dem Rad erreichbar war. Seine Heimat<br />
liegt für ihn daher nach wie vor im Sauerland. Daran<br />
haben 18 Jahre Leben und Arbeiten in Hagen und Bochum<br />
nichts geändert. Heimisch bleiben will der freischaffende<br />
Künstler im Ruhrgebiet aber nicht: „Ich zieh<br />
mal weg – Richtung Rheinland. So eine kleine Veränderung<br />
tut gut.“<br />
w w w . d i r k r u d o l p h . d e<br />
Jens Buss<br />
Das erste, was Jens Buss spontan zu Heimat einfällt?<br />
„Ein Teppichboden“, sagt er. Klingt sonderbar, ist aber<br />
einleuchtend. Als kleines Kind besuchte der gebürtige<br />
Düsseldorfer nämlich häufiger seine Großeltern in<br />
Duisburg. Die Zeit dort vertrieb er sich gerne mit seinem<br />
Spielzeug auf dem Fußboden. „Aus Vasen, Teppichen<br />
und anderen Gegenständen habe ich eine Landschaft<br />
zum Spielen gebaut“, erzählt der Kommunikationsdesigner<br />
und erklärt so sein Heimatbild: die digitale<br />
Illustration eines Spielfeldes. Beim Ruhrgebiet denkt er<br />
sonst eher „an eine industrielle Arbeitszone mit Untertagebau,<br />
Wasserstraßen und Metallöfen“. Es ist ein Ort<br />
seiner Kindheit, doch heimisch fühlt er sich dort nicht.<br />
Das gilt auch für Orte seiner Jugend, an denen er lange<br />
nicht mehr war. „Heimat“, findet er, „ist ein Umfeld,<br />
in dem man sich auskennt, nicht nur rein geografisch.“<br />
Es ist für ihn etwas, das er in sich trägt. Als berufliche<br />
Heimat und aktuelles Spielfeld beschreibt er „ein Viertel<br />
von paristokyopempelfort“, einem Grafik-Kollektiv<br />
aus Düsseldorf mit den Schwerpunkten Mode, Grafik,<br />
Web und Siebdruck.<br />
w w w . j e n s b u s s . c o m<br />
w w w . a n i c e i d e a e v e r y d a y . c o m<br />
nr. 6 | heimatbild
heimatbild | nr. 6
heimatbild | nr. 6
nr. 6 | heimatbild
Der dritte Weg<br />
Der Mensch kann auf den Mond fliegen, meditieren, bewusstseinserweiternde Drogen<br />
nehmen – oder seinen Horizont mittels künstlerischer Arbeit zu erweitern suchen.<br />
Via Soundsketching, einer audiovisuellen Performance, bewegen sich<br />
Jorgos Katsimitsoulias und Ilias Ntais im Neuland.<br />
text Martini | bilder Soundsketching<br />
Am 05. Dezember 2008 ist der Veranstaltungsraum<br />
im Sissikingkong in der Dortmunder Nordstadt nahezu<br />
ausverkauft. Auf der Bühne steht Ilias Ntais hinter<br />
einem elektromechanischen Klavier, eine elektrische<br />
Gitarre in der Hand, in einem unübersichtlichen Wust<br />
aus Kabeln und Effektgeräten. Neben ihm hockt Jorgos<br />
Katsimitsoulias an einem Lichttisch, ein Beamer hat<br />
bis soeben bewegte Bilder an die Leinwand am hinteren<br />
Bühnenrand geworfen. Sie haben den ersten Take ihrer<br />
gemeinsamen Performance ausgeführt. Keine Hand<br />
rührt sich zum Applaus. Das, was das Publikum gerade<br />
erlebt hat, kam unerwartet. Um so stürmischer ist der<br />
Beifall bei den folgenden Stücken.<br />
Analog zu den Sounds, die Ilias kreiert, macht Katsimitsoulias<br />
einen Film. Dabei arbeitet er nicht mit weitgehend<br />
vorgefertigtem Material, woraus etwa VJs neue,<br />
optische Ereignisse mixen. Stattdessen kombiniert er<br />
Malerei an einem Lichttisch mit Film- und Kameratechniken,<br />
bearbeitet die Signale in Echtzeit am Rechner<br />
und erzeugt auf diese Weise Live-Videos von einem<br />
ebenso flüchtigem Wesen, wie es der Musik eigen ist.<br />
Katsimitsoulias hat Grafikdesign an der FH Dortmund<br />
studiert, im Rahmen seiner Abschlussarbeit „live-drawing”<br />
bewegte er sich für drei Monate im öffentlichen<br />
Raum und porträtierte Menschen und Architektur – auf<br />
der Straße, in Bussen und Bahnen, bei Veranstaltungen,<br />
in Bars und in Kneipen. Ntais ist Musiker, gleichzeitig<br />
macht er an der FH seinen Master im Fach Projektmanagement<br />
mit den Schwerpunkten Kreativität und<br />
Visuelles Denken.<br />
Kennengelernt haben sich die beiden Künstler im Jahr<br />
2007 während eines Konzerts im Bahnhof Langendreer.<br />
Sympathie auf den ersten Blick. Ganz ohne Hintergedanken<br />
brachte Katsimitsoulias zu ersten Verabredungen<br />
seine Utensilien mit und zeichnete zu den Sounds,<br />
die Ntais seinen Instrumenten entlockte. Soundsketching<br />
war geboren. Von diesen Anfängen bis zur<br />
heutigen Form, die sich nach dem genannten Auftritt<br />
wiederum weiterentwickelt hat, liegt mindestens ein<br />
Quantensprung.<br />
Inzwischen zeichnet Katsimitsoulias während der Performance<br />
nicht mehr auf Papier oder Leinwand; keines<br />
heimatkultur | nr. 6
seiner Bilder könnte hinterher gerahmt und an eine<br />
Wand gehängt werden. Soundsketching hat sich zu einer<br />
Fusion aus Musik, Malerei und choreografierten<br />
Lichtspielen entwickelt. Eine Fusion, die es ermöglicht,<br />
während der Improvisation neue Ausdrucksformen zu<br />
entdecken.<br />
„Unsere Kunst sehen wir nicht <strong>als</strong> Produkt”, sagt Ntais.<br />
„Der Prozess, der während der Aktion durchlaufen wird,<br />
ist uns viel wichtiger. Diesen Prozess für uns und das<br />
Publikum erlebbar und nachvollziehbar zu machen, ist<br />
unser primäres Ziel.” Ein nahezu blindes Verständnis<br />
zwischen den Partnern ist dabei unverzichtbar; agieren<br />
die beiden Künstler doch improvisierend ohne Netz und<br />
doppelten Boden vor einem Publikum, das einerseits<br />
unterhalten werden will, andererseits in seiner Emotionalität<br />
selbst das Geschehen auf der Bühne beeinflussen<br />
kann. Da es keine konkreten Stücke gibt, die einstudiert<br />
werden könnten, diskutieren die beiden bei den Proben<br />
vor einem Auftritt, mit welchen akustischen und optischen<br />
Mitteln sie welche Stimmungen darstellen oder<br />
erzeugen können – und welche sie im Repertoire haben<br />
wollen und welche nicht.<br />
Ntais übernimmt dabei den technischen Part und analysiert<br />
unter anderem die Zusammenhänge zwischen<br />
Farben und Frequenzen. Seine Konzepte passieren dann<br />
Katsimitsoulias’ emotionalen Filter. Und umgekehrt.<br />
Das Ergebnis soll später nicht nur technische, sondern<br />
auch intuitive Aspekte transportieren. Das zeigt sich<br />
bereits in kleinen Details: Mit einer Zeichnung des gewünschten<br />
Bühnenaufbaus etwa geben sie dem jeweiligen<br />
Veranstalter nicht nur Informationen darüber,<br />
wo bei dem Auftritt welches Gerät platziert sein wird,<br />
sondern vermitteln bereits im Vorfeld einige ästhetische<br />
Qualitäten der Performance.<br />
„Wir suchen nicht den Kompromiss, mit dem wir leben<br />
könnten, wir suchen einen dritten Weg, der nicht<br />
zwangsläufig ein Mittelweg sein muss; einen Weg, den<br />
wir beide vorher nicht gesehen haben, der uns aber in<br />
eine Richtung führt, die wir beide zu hundert Prozent<br />
akzeptieren können. Zwei Richtungen definieren etwas<br />
bislang unbekanntes Drittes”, beschreibt Katsimitsoulias<br />
ihre Vorgehensweise. „Ich habe während des Projekts<br />
sehr viel über Zusammenarbeit gelernt”, so Ntais. „Ich<br />
sehe in Soundsketching inzwischen eine Entität, die<br />
durch sich selbst lebt. Und wir sind nur ein Teil davon.”<br />
Anzeige<br />
27.11. Consol Theater, Gelsenkirchen<br />
28.11. Kulturzentrum Pelmke, Hagen<br />
05.12. domicil, Dortmund<br />
w w w . s o u n d s k e t c h i n g . c o m
Ultras im Tonnengewölbe<br />
Freie Theater gibt es zuhauf, gute freie Theater sind selten. In Bochum ist<br />
das Rottstr5-Theater angetreten, um hochwertiges, professionelles Theater zu<br />
machen – Szene-Stars inklusive. Wie soll das nur funktionieren?<br />
text Tom Thelen | fotografie Hannes Woidich<br />
Theater kostet Geld. Menschen müssen Texte lernen<br />
und proben. Kostüme wollen gemacht sein, Licht, Kasse,<br />
Getränke, Werbung und so weiter. Der Apparat ist<br />
aufwändig. Freie Theater müssen heutzutage von Herzblut<br />
leben. Die Kassen der Städte sind leer; nur wenigen<br />
gelingt es, die Fördertöpfe anzuzapfen. Doch in einem<br />
Theater in einem Lagerraum unter der Bahntrasse an<br />
der Rottstraße soll es jetzt anders gehen. Arne Nobel und<br />
Martin Fendrich (unterstützt von Gunnar Leyendecker)<br />
haben beschlossen, die dritte Halle auf dieser Straße zu<br />
einem urbanen Off-Theater mit professionellem Anspruch<br />
zu machen. Mit viel handwerklicher Eigenleistung<br />
und mit der Hilfe einiger Freunde verwandeln sie<br />
die Halle bis zum Spielzeitbeginn am 11. September in<br />
ein richtiges Theater mit Bühne und Tribüne.<br />
In der quasi nullten Spielzeit haben sie schon gezeigt,<br />
was sich abspielen soll auf den Brettern unterm<br />
Tonnengewölbe, über die in regelmäßigen Abständen<br />
die Bahn donnert. Schauspieler vom städtischen<br />
Theater an der Königsallee spielten hier Tschechow<br />
und Burroughs, Karsten Riedel gab ein umjubeltes<br />
Konzert, Lesungen sorgten für eine volle Hütte.<br />
Funktionieren konnte das nur, weil die Schauspieler<br />
heimatkultur | nr. 6
ohne Gage spielten. „Wir haben kein Geld, keinen Apparat,<br />
keine Abteilungen, keinen Etat“, schrieben die<br />
Macher. Und auch: „Wir glauben an das Scheitern von<br />
Kunst und dass genau dieses Scheitern die magischen<br />
Momente erzeugen kann.“ Bevor es aber dazu kam, fragten<br />
sie bei der Stadt nach Geld. Haushaltssperre, nichts<br />
gibt’s. Da verfielen sie auf eine andere Idee.<br />
Unter dem Stichwort „Ultras“ verlautbaren sie auf ihrer<br />
Website: „Wir haben uns erinnert, wie die Theater in<br />
Deutschland entstanden sind: Bürgertum und Adel haben<br />
sie finanziert. Deshalb rufen wir Ihnen zu: Freunde!<br />
Bochumer! Mitbürger! Rottstr5-Theater soll Euer Theater<br />
werden. Wir suchen 100 Ultras, die uns 100 Euro (pro<br />
Jahr) spenden. Kein Fußballverein kann auf seine Ultras<br />
verzichten, und wir wollen auch Ultras haben: Fans,<br />
Förderer, Freunde, Supporter.“ Freundlich rechnen sie<br />
vor, dass der Betrag etwa drei Bier pro Monat entspricht.<br />
Zweifel lassen die Herren nicht zu. „Wir sind überzeugt,<br />
dass das funktioniert, wir geben so sogar der Stadt die<br />
Möglichkeit einzusteigen. Kulturdezernent Townsend<br />
wird bestimmt mitmachen.“ Die Aktion liefe bereits gut<br />
an, vermeldet man.<br />
Und so startet das Team in die erste richtige Saison. Zu<br />
sehen sind eine Odyssee-Bearbeitung nach John Jesurun<br />
(laut Vorankündigung einer, „der in Deutschland<br />
kaum bekannt ist, ohne den René Pollesch aber nicht<br />
René Pollesch wäre“), eine Jeanne D’Arc-Bearbeitung<br />
nach Thea Dorn, eine Koproduktion „Emilia Galotti“<br />
mit dem Ringlokschuppen in Mülheim und dazu Konzerte,<br />
Lesungen und Party.<br />
„Theater pur“ versprechen Nobel und Fendrich, sinnlich<br />
wollen sie spielen lassen, „geile Geschichten“ erzählen<br />
und die Atmosphäre des Raumes nutzen. Und Musik<br />
soll immer dabeisein. So wie es Bochumer Theatergängern<br />
aus der Ära von Leander Haußmann (1995-2000)<br />
und seinem ebenfalls trinkfestem Primus inter Pares,<br />
Jürgen Kruse, bestens bekannt ist. Die Quasi-Familienbande<br />
aus dieser Zeit soll hier auch wieder spielen.<br />
Fendrich war dam<strong>als</strong> Dramaturg am Schauspielhaus<br />
und meint: „Bochum hat ein Recht auf diese Schauspieler.“<br />
Gemeint sind etwa Lucas Gregorowicz, Alexander<br />
Scheer, Jost Grix oder die aus den Tatorten des NDR bekannte<br />
Maren Eggert. Geplant sind allgemein Stücke von<br />
Tennessee Williams, Heiner Müller, Harold Pinter, John<br />
Cassavetes oder Maxim Gorki, und Arne Nobel, der für<br />
den Hit „Tribute to Johnny Cash“ am Schauspielhaus<br />
verantwortlich ist, denkt auch an eine Inszenierung von<br />
Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“. Weiterhin kann<br />
es gut sein, dass sie an Sylvester „Dinner for One“ mit<br />
Maja Beckmann in der Hosenrolle zeigen. Mit diesen<br />
Leuten und Inszenierungen könnten die Theatermacher<br />
ruhrgebietsweit ins Gespräch kommen. Dann dürfte es<br />
kein Problem geben, die ersten 100 Theaterultras der Bochumer<br />
Theatergeschichte zu rekrutieren – die hiesigen<br />
Kneipen könnten den kleinen Umsatzeinbruch beim<br />
Bier wohl verkraften.<br />
w w w . r o t t s t r 5 - t h e a t e r . d e<br />
nr. 6 | heimatkultur
Das Fest des<br />
Wandels<br />
Europäische Kulturhauptstadt – das klingt nach<br />
großem Kino. Nach Akropolis, Uffizien, Kolosseum,<br />
Louvre und Tower Bridge. Doch den Titel tragen<br />
ehemalige Industriestädte wie Liverpool, Stavanger,<br />
Linz, Vilnius – und 2010 Essen für das Ruhrgebiet.<br />
Eine Erklärung, warum das so sein muss.<br />
text Jan Wilms | fotografie Philipp Wente<br />
heimatkultur | nr. 6
Ganz links: Linzer Dom; links: Liverpool<br />
Innenstadt; links unten: Blick aufs neue<br />
Viertel von Vilnius; rechts: Innenstadtatmosphäre<br />
Linz; ganz rechts: Markt<br />
in Vilnius<br />
Liverpool: eine marode Arbeitslosenstadt mit hoher Jugendkriminalität.<br />
Linz: graue Stahlschmiede und Lieblingsstadt<br />
des Führers. Das Ruhrgebiet: Heimat von<br />
Proleten und Diaspora der künstlerischen Boheme. Die<br />
nationalen Images der Europäischen Kulturhauptstädte<br />
besitzen meist ein deprimierendes Profil. Sie sind die<br />
Köter, die jedes Land braucht, um sie zu treten. Wenn es<br />
sie nicht ohnehin bereits ignoriert.<br />
Ihr Problem: Sie degenerierten zur f<strong>als</strong>chen Zeit am f<strong>als</strong>chen<br />
Ort. Ihre Stärken waren Kohle, Stahl und Transport,<br />
aber diese wurden in den vergangenen 50 Jahren<br />
immer weniger nachgefragt. Und dann steht man da, mit<br />
hunderttausend (Gast-)Arbeitern und Stadtteilen voller<br />
nutzloser Kolonien, Zechen, Hochöfen und Docks. No<br />
Future ist angesagt, es sei denn, die Stadt erfindet sich<br />
neu. Dazu braucht es einen gewaltigen Akt aus Kraft<br />
und Phantasie. Manchmal steigt aus der Asche dann ein<br />
Phönix, nur sieht man ihn kaum, weil er noch staubig<br />
ist und ungelenk zum Flug ansetzt. Die gesellschaftliche<br />
Transformation der Nachindustrialisierung ist hier<br />
zur Lebenskultur, zur Lebenskunst geworden. Begleitet<br />
von großen Hoffnungen, gebremst durch Ängste, gefördert,<br />
verspottet und mit Klischees überfrachtet. Niem<strong>als</strong><br />
werden diese Orte mit der Eleganz der Metropolen mithalten<br />
können. Stattdessen sind sie ein Testboden für<br />
die Zukunft. Ein Labor für eine andere Kreativität, die<br />
lebenserhaltend ist. Soziologen beschreiben den Wandel<br />
im Ruhrgebiet <strong>als</strong> beispiellos radikal. Deshalb muss<br />
seine Bewältigung auch beispiellos gut sein.<br />
Liverpool trug 2008 den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt.<br />
Noch im Herbst 2007 wurde der Intendant<br />
gewechselt, Chaos bestimmte die öffentliche Wahrnehmung<br />
und die Liverpudlians interessierten sich immer<br />
noch nur für die Reds von Anfield und die Pubs in der<br />
Bold Street. Und dann lief es plötzlich so gut, dass man<br />
sich sogar fragte, ob man nicht auf Paul und Ringo hätte<br />
verzichten können. In Liverpool grassierte 2008 eine<br />
neue Freude am kulturellen Fortschritt, die sogar die<br />
Gigs der beiden letzten Beatles in Frage stellte. Beatmusik<br />
galt plötzlich <strong>als</strong> zu retrospektiv für eine Arbeiterstadt,<br />
die sich nun modern fühlt, eine Dependance der<br />
Tate Gallery besitzt und ein Straßentheater mit französischer<br />
Tech-Kunst bestreitet.<br />
„Die Bürger sahen sich aber nicht entfremdet, sondern<br />
machten mit, auch wenn sie erst allmählich verstanden,<br />
was ihnen dort präsentiert wurde“, sagt Ceri Hand,<br />
die Inhaberin der einzigen Galerie für zeitgenössische<br />
Kunst in Liverpool. Denn dem neuen Intendanten,<br />
Seifenopernproduzent Phil Redmont, gelang es professionell,<br />
Inhalte der Avantgarde für die Working Class<br />
Heroes aufzubereiten. Kurzum: In der Zeit, <strong>als</strong> die Stadt<br />
am Mersey Europäische Kulturhauptstadt war, wurde<br />
den Menschen der Kopf gewaschen. Selbst die Taxifahrer<br />
erhielten einen Crashkurs in Sachen moderner<br />
Kunst. Und fanden das allmählich super.<br />
Im Ruhrgebiet, wenige Monate vor dem Beginn des<br />
Jahres 2010, fragt sich das geneigte Publikum, wie die<br />
Bezüge zum eigenen Leben geknüpft werden. Die Projekte<br />
erscheinen noch unkonkret: Schachtzeichen (gelbe<br />
Heliumballons an den Eingängen von 400 Bergwerken),<br />
Landmarken, Still-Leben (die A40 <strong>als</strong> Picknickstreifen),<br />
Zollverein unter Tage, der Day of Song, die Odyssee<br />
Europa, Emscher-Kunst, Local Heroes (jede Revierstadt<br />
wird an einem Tag des Jahres zur Kulturhauptstadt).<br />
Noch ist es schwierig, hier ein Profil zu schmieden,<br />
das kommuniziert werden kann. Selbst Ruhr.2010-Geschäftsführer<br />
Fritz Pleitgen sagt: „Es ist doch komplizierter,<br />
<strong>als</strong> ich gedacht habe.“ Vor allem weil man „nicht<br />
nur auf massenwirksame Events, sondern auf Projekte<br />
mit Wirkung auch über das Jahr hinaus“ setze. Deshalb<br />
müssen die Bewertungen noch zurückgestellt werden.<br />
Für das Verständnis-Dilemma ist auch der Titelbegriff<br />
verantwortlich: „Europäische Kulturhauptstadt“, ein<br />
Konzept, das ursprünglich von der EU für Athen, Florenz,<br />
Paris und ähnliche Juwelen entwickelt wurde, um<br />
deren Kulturschätze zu promoten und die europäische<br />
Integration zu fördern. 2004 dann der Paradigmenwechsel:<br />
Der Begriff Kultur wurde neu definiert. Die ohnehin<br />
weltberühmten Exponate und Bauwerke aus Antike<br />
und Mittelalter rückten aus dem Rampenlicht, dafür be-<br />
nr. 6 | heimatkultur
Oben links: Blick auf den alten Hafen<br />
von Stavanger; oben rechts: Passanten in<br />
Linz; unten: Volksfest in Vilnius<br />
trachtete man die aktuelle Lebensrealität der Menschen.<br />
Gefeiert wurde Alltagskultur statt Museumsbestand.<br />
Und am spannendsten zeigt sich Kultur eben dort, wo<br />
sich das Leben neuen Realitäten anpassen muss: an den<br />
Stätten des Strukturwandels. Deshalb sollte der Titel<br />
eigentlich heißen: Europas kulturförderungswürdigste<br />
Stadt. Denn er ist ein Award für ein Milieu im Wandel;<br />
oder ein Anschub dort, wo der Motor der Veränderung<br />
stottert.<br />
Es entstehen dort oft interessantere Projekte <strong>als</strong> in den<br />
alten Kunstkapitalen. Wie der Linzer Ansatz „Hörstadt“,<br />
eine Initiative gegen Lärmbelästigung in der Innenstadt<br />
und ein Führer zu akustischen Besonderheiten<br />
in der Stadt. Oder in Vilnius, wo ein Band mit von Bürgern<br />
über die Stadt gedichteten Dreizeilern herausgegeben<br />
wurde. Er ist besser <strong>als</strong> jeder Reiseführer. Und in<br />
Liverpool förderte das Projekt „Creative Communities“<br />
die künstlerische Erziehung in Problemstadtteilen. Ceri<br />
Hand, die 2008 einen baufälligen Vorstadtbahnhof in<br />
ein Kulturzentrum umwandelte, resümiert: „Liverpool<br />
hat das gut hinbekommen: Hohe Besucherzahlen, eine<br />
gute Qualität in den Veranstaltungen und eine Integration<br />
der Menschen – dieser Erfolg war nicht abzusehen“.<br />
Dort, wo gemeinsam mit den Einwohnern versucht<br />
wird, das Leben ein bisschen bunter zu machen, erwacht<br />
eine Kulturhauptstadt. Eine Ausrichtung, die für Touristen<br />
weniger interessant ist. Wer eine Totalberieselung<br />
oder wie im Titel suggerierte Sensationen erwartet, wird<br />
meist enttäuscht. Auch, weil die Budgets so unterschiedlich<br />
sind: Die Europäische Union gibt nur rund 1,5 Millionen<br />
Euro. Land, Bund und große Unternehmen <strong>als</strong><br />
Sponsoren finanzieren das Gros der Veranstaltungen.<br />
2010 werden gleich drei Europäische Kulturhauptstädte<br />
eröffnet: Pecs in Ungarn, Istanbul und Essen für das<br />
Ruhrgebiet. Die türkische Hauptstadt erhält 200 Millionen<br />
Euro vom Staat, in Essen zog sich Großsponsor<br />
Evonik teilweise aus der Verantwortung.<br />
Im Ruhrgebiet zerrinnen derzeit den Verantwortlichen<br />
die zugesagten 65 Millionen Euro zwischen den Fingern.<br />
Die große Eröffnung in der Schalker Arena musste abgesagt<br />
werden, um viele weitere Events wird gerungen.<br />
Dazu jammert ein Chor der Enttäuschten, deren Projekte<br />
nicht realisiert werden konnten. Im norwegischen<br />
Stavanger überschatteten die Kritiker schon im Vorfeld<br />
den Start des Jahrs 2008: „Presse und zu kurz gekommene<br />
Kulturschaffende bauten solch eine starke Anti-<br />
Stimmung auf – da dauerte es lange, bis die guten Projekte<br />
gerecht bewertet wurden“, sagt Martyn Reed, der<br />
Organisator des elektronischen Musikfestiv<strong>als</strong> Numusic<br />
aus Stavanger. Er hofft, dass dem Ruhrgebiet eine solche<br />
Selbstzerfleischung erspart bleibt.<br />
Die Kulturhauptstädte sind Beispielprojekte dafür, wie<br />
eine Organisation sich einer neuen Herausforderung<br />
anpasst. Genau wie die Gesellschaft dem Strukturwandel.<br />
Sehr gut funktioniert hat das im französischen Lille.<br />
Der Titel im Jahr 2004 machte aus dem gebeutelten<br />
Industriestädtchen einen mittlerweile renommierten<br />
Kulturspielplatz. „Und die in der Stadt erzielten Umsätze<br />
betrugen das Zehnfache der Investitionen“, ergänzt<br />
Jan Figel, der für die Vergabe des Titels zuständige EU-<br />
Kommissar.<br />
Die Kulturhauptstädte der letzten Jahre deckten mit ihren<br />
Programmen ein breites Spektrum ab: Hoch-, Mas-<br />
heimatkultur | nr. 6
links: Baumaßnahmen in Vilnius;<br />
rechts: Kathedrale in Liverpool<br />
sen- und Subkultur, Niveau und Populismus, Weltstars<br />
und Folklore. Und trotz der Freude über hohe Touristenzahlen<br />
und ein verbessertes Image der Stadt maß<br />
sich der Erfolg immer daran, dass die Leute vor Ort<br />
mitmachten. Nur wenn jeder sich auf die Suche nach<br />
seiner persönlichen Kulturhauptstadt begibt, wird das<br />
funktionieren.<br />
Das offizielle Programm, all die Kunstkanäle, Ruhr-<br />
Atolle, Museen, Schauspiel-Reihen und Landmarken<br />
sind dabei nur Leitfäden. Der Vorteil am Ruhrgebiet:<br />
Die Angebote müssen gar nicht teuer sein, um zu begeistern.<br />
Sie sollten nur etwas mit den Leuten zu tun<br />
haben.<br />
nr. 6 | heimatkultur
heimatkleid | nr. 6
Multiple Persönlichkeitsmode<br />
Wunschgestöber, Tolllkirsche, Pimpshrimp. Drei Label, drei Geschäftsideen,<br />
drei Identitäten. Dahinter jedoch nur zwei Designerinnen. Julia<br />
Weinstock und Michaela Glasstetter leiden nicht an multipler Persönlichkeitsstörung,<br />
sondern arbeiten einfach auf drei Baustellen.<br />
text Tom Thelen | fotografie <strong>Bande</strong><br />
Fett gebaut wurde jahrelang vor dem Fenster des Ateliers<br />
von Julia Weinstock und Michaela Glasstetter<br />
im Essener Kreativtempel Unperfekthaus. Jetzt ist das<br />
gigantische Ufo am Limbecker Platz fast fertig, wo viele<br />
dem Konsum von der Stange frönen. Ganz andere<br />
Kundenkreise betreuen die beiden Diplomdesignerinnen,<br />
die sich beim Studium in Trier kennen gelernt<br />
haben. Seit 2004 machen sie besondere Kleidung für<br />
besondere Anlässe. Angefangen hat es mit den beiden<br />
Labels Wunschgestöber und Tolllkirsche. Ersteres wird<br />
vorrangig von Weinstock betrieben und ist auf professionelle<br />
Kostüme fokussiert. Für Auftritte und Promotion<br />
entstehen futuristische, zuweilen durchgeknallte<br />
Outfits. Riesige Insekten, Aliens, Medusen, auf Stelzen<br />
oder mit Nebeleinsatz etwa; aber auch das wechselfarbige<br />
Bühnen-Outfit des Elektroacts Näd Mika entstammt<br />
dieser Linie.<br />
Parallel dazu entstand Tolllkirsche unter der Federführung<br />
von Glasstetter. Begonnen haben sie mit szenigen<br />
Entwürfen zwischen Goa-Techno, Rock’n’Roll und Gothic<br />
nach asiatischem Streetfashion-Vorbild, doch bald<br />
merkten die beiden, dass dieses Geschäftsmodell nicht<br />
richtig funktionierte. Um billige Artikel für junge Szene-<br />
Einsteiger zu produzieren, hätte man zu Massenproduktion<br />
übergehen müssen; das ist nicht das Ding der<br />
beiden. Sie legen viel Wert auf Handarbeit und halten<br />
die Maßanfertigung immer noch für die Königsdisziplin.<br />
So konzentriert sich Tolllkirsche letztlich auf elegante<br />
Teile für den liquiden und engagierten Fetisch-Markt<br />
und die Gothic-Szene. Lack und Plastik, Korsetts und<br />
Uniform-Teile, von der wuchtigen Abendrobe bis zu<br />
Dessous. 300-400 Euro dürfen aufwändige Outfits schon<br />
mal kosten, allerdings werden einfache Teile durchaus<br />
günstig und auch online verkauft. Die Entwürfe sind<br />
aber nicht nur Partykostüme: Die beiden Designerinnen<br />
legen auch Wert darauf, dass ihre Klamotten durchaus<br />
mal alltagstauglich sein dürfen. Vertrieben werden die<br />
Teile vorrangig auf Messen wie der „Fetish-Evolution“,<br />
daneben aber auch in entsprechenden anspruchsvollen<br />
Shops in ganz Deutschland und Europa. Im Ruhrgebiet<br />
haben die beiden etwa seit Oktober 2008 eine eigene Abteilung<br />
bei Demask in Dortmund.<br />
Warum sind die beiden überhaupt im Ruhrgebiet? Das<br />
gehöre einfach zum Businessplan, erzählen Glasstetter<br />
und Weinstock. Man habe sich nach dem Studium zusammengesetzt,<br />
wollte unbedingt in die Selbstständigkeit<br />
und habe ganz konkret geschaut, wo die Infrastruktur<br />
gut ist. Heraus kam bei der Markt- und Kundenanalyse<br />
das Ruhrgebiet <strong>als</strong> Ballungsraum mit vielfältigen, ausdifferenzierten<br />
Szenen.<br />
Und weil die beiden offenbar mit einer großen Kollektion<br />
mit über 30 Teilen pro Jahr noch nicht ausgelastet<br />
waren, kam 2008 auch noch das Label Pimpshrimp ins<br />
Boot. Wenn es nicht klappt mit dem wilden Mix unter<br />
Tolllkirsche, dann müssen die sprudelnden Ideen halt<br />
anders kanalisiert werden. Den ungewöhnlichen Namen<br />
„Pimpshrimp“ testeten sie unter anderem persönlich<br />
per Passantenbefragung in der Essener Fußgängerzone –<br />
diese Designerinnen überlassen geschäftlich offenbar<br />
nichts dem Zufall.<br />
Unter Pimpshrimp sind manchmal maritime, meistens<br />
von der Fauna assoziierte Accessoires zusammengefasst.<br />
Beliebt sind Anhänger wie die Kuschelhummel,<br />
diverse hypnotische Quallen, Fliegenpilze, Schlüsselmiezen<br />
oder die echt komisch guckende Albinomieze.<br />
Niedliche bunte Viecher eben aus Leder, Fleece, Jersey,<br />
Plüsch, Lackstoffen und Folien, Tüll und Spitze und<br />
zu erschwinglichen Preisen. Zu haben sind sie etwa bei<br />
Ideenreich, Wohngemeinschaft in Essen, im <strong>Heimatdesign</strong>-Shop<br />
in Dortmund oder im Bochumer Stückgut.<br />
Natürlich auch in Berlin oder online. Wie es weitergehen<br />
wird mit den beiden hyperaktiven Damen, die sich<br />
offenbar glänzend ergänzen, ist noch nicht spruchreif.<br />
Basics wären noch so eine Baustelle, die interessant<br />
wäre, sagen sie. Dann wäre wohl noch ein weiteres Label<br />
fällig.<br />
w w w . w u n s c h g e s t o e b e r . d e<br />
w w w . t o l l l k i r s c h e . d e<br />
w w w . p i m p s h r i m p . d e<br />
nr. 6 | heimatkleid
Farben, Dreck und Leidenschaft<br />
„Unsere Heimat, unsere Liebe, in den Farben Blau und Weiß,<br />
18hundert48, nur damit es jeder weiß.“ Eine Zeile aus einem<br />
Fangesang vom VfL Bochum 1848 e.V. sagt viel über ästhetische<br />
Aspekte des aktuellen Fandesigns.<br />
text Ivonne Woltersdorf | fotografie <strong>Bande</strong><br />
Was wäre ein Fußballspiel ohne eine lautstarke Fankulisse?<br />
Im Ruhrgebiet reihen sich erst-, zweit- und<br />
drittklassige Fußballvereine wie an einer Perlenkette.<br />
Fanschaftsbekundung sind hier nicht stadtgebunden,<br />
sondern grenzüberschreitend. So sind Bochumer Autos<br />
mit einem Aufkleber des FC Schalke 04 an der Kofferklappe<br />
keine Seltenheit. Nun ja. Aber egal für wen das<br />
Herz wo schlägt, was einen Großteil der Fans eint, ist ihr<br />
modisches Auftreten an Spieltagen.<br />
Gekleidet mit Fan-Shirt, Vereinstrikot, Mütze oder –<br />
die häufigste Insignie – einem Schal, heben sich Fans,<br />
junge wie alte, Männer wie Frauen, Stunden vor einer<br />
anstehenden Fußballbegegnung vom Rest der Stadtbummler<br />
ab. Die Farben der Fantextilien zeigen ihnen<br />
auch, wer auf dem Weg ins Stadion finstere Blicke verdient<br />
hat – und wer hoffnungsvolle. Im Stadion findet<br />
sich ein Großteil der Schal-, Trikot- und Mützenträger<br />
auf den Stehplätzen hinter einem der Tore zusammen<br />
und formiert sich zur singenden, rhythmisch klatschenden<br />
Fankulisse, die <strong>als</strong> Ganzes betrachtet den jeweiligen<br />
blauen, blau-weißen, gelb-schwarzen, roten oder grünen<br />
Vereinsfarben entspricht.<br />
Seit der Saison 08/09 rüstet der Hamburger Ausstatter<br />
Do You Football die Mannschaft des VfL Bochum aus<br />
und trägt maßgeblich zur <strong>Gestaltung</strong> der Fantextilien<br />
bei. Mit der Verpflichtung des 2004 in Hamburg gegründeten<br />
Underdogs unter den Ausstattern erhielt die<br />
Kluft der Spieler ebenso wie die Fankleidung ein neues<br />
Image: Markantestes <strong>Gestaltung</strong>smerkmal ist seitdem<br />
die Einbindung des Claims „Wir sind unbeugsam“, ein<br />
heimatkleid | nr. 6
MÖLLERSTRASSE<br />
Wert, der dem Leitbild des Vereins entnommen ist. Die<br />
derzeitige Elf der Bochumer hat die Message zwar anscheinend<br />
nicht verinnerlicht, aber deren Motivierung<br />
bleibt ohnehin dem Trainer vorbehalten.<br />
Im Mittelpunkt der Firmenphilosophie von Do You<br />
Football steht hingegen die Leidenschaft der Fans und<br />
deren Verbundenheit zum Verein. Kamen die Trikots<br />
der vergangenen Saison noch im Retrolook daher, mit<br />
angedeuteten Nadelstreifen, geformt aus den fortlaufenden<br />
Worten „Wir sind unbeugsam“, V-Ausschnitt und<br />
weißen Bündchen, gibt sich die Ästhetik der aktuellen<br />
Kollektion abgewetzt, unangepasst und grobgestaltet.<br />
Sie greift die Emotionen auf, die ein gutes Derby ausmachen<br />
und nach denen eingefleischte Fußballfans süchtig<br />
sind: voller Körpereinsatz, Kampfgeist, Blut, Schweiß<br />
und echte Tränen.<br />
Do You Football stattet ausgesuchte Vereine wie z. B.<br />
auch den 1. FC St. Pauli mit einer individuellen Kollektion<br />
aus. Getreu dem Motto „Wir wollen nicht all euer<br />
Geld“, sind die Fanartikel denn auch günstiger <strong>als</strong> die<br />
der Nachbarvereine BVB 09 oder FC Schalke 04, die von<br />
den namhaften Herstellern Adidas und Kappa beliefert<br />
werden. Hier bezahlen die Fans auch die Marke. Und<br />
sie müssen in Kauf nehmen, dass die Linienführung<br />
der Trikots weltweit verbreitet ist. Preisfragen spielen<br />
bei den Fans mancher anderer Sportarten eine geringe-<br />
re Rolle. Beim Pferderennen etwa geht es weniger um<br />
die Liebe zum Rennstall <strong>als</strong> ums Sehen und Gesehen<br />
werden. Farben aber sind etwa beim Tennis ein Thema;<br />
Ende der 80er Jahre verursachte Andre Agassi einen Eklat,<br />
<strong>als</strong> er in buntem Ensemble auf dem Platz erschien;<br />
der Paradiesvogel boykottierte Wimbledon einige Jahre,<br />
weil dort nur weiß zugelassen ist. Auch das Publikum<br />
erscheint uniformiert: Adrette Polohemden und gebügelte<br />
Hosen sollen die Zugehörigkeit zum Sport ebenso<br />
wie zur sozialen Klasse signalisieren – auch wenn Tennis<br />
den Glanz des „weißen Sports“ eingebüßt hat, seit Boris<br />
Becker es so populär machte. Dennoch ist es undenkbar,<br />
dass ein Fan im weißen Röckchen auf der Tribüne Platz<br />
nimmt.<br />
Ist beim Tennis die Kleiderordnung bis auf die Einführung<br />
farblicher Akzente über Jahrzehnte hinweg konstant<br />
geblieben, lässt sich beim Fußball beobachten,<br />
dass der Anteil der Trikotträger unter den Fans wächst.<br />
Trotzdem gibt es hier noch Anhänger, die sich vom Merchandising<br />
eines Vereins gänzlich unbeeindruckt zeigen<br />
und grundsätzlich unmarkiert, meist schwarz gekleidet,<br />
ins Stadion gehen. Gerade bei diesen Gruppen bricht<br />
die Bedeutung des Wortes „Fan“, der englischen Kurzform<br />
von „fanatic“, hin und wieder hart auf. In solchen<br />
Momenten scheinen sie zu vergessen, dass Fußball trotz<br />
aller Leidenschaft sportlich zu sehen ist.<br />
HBF. DORTMUND<br />
UNIONSTRASSE<br />
ÜBELGÖNNE<br />
RITTERSTRASSE<br />
RHEINISCHE STRASSE<br />
LANGE STRASSE<br />
DO<br />
HOHE STRASSE<br />
RUHRALLEE<br />
MÄRKISCHE STRASSE<br />
24.09.2009 WHO MADE WHO >> 02.10.2009 PERE UBU >> 06.10.2009 HJALTAIN & IKARIA >> 07.10.2009 POMPEII &<br />
VOLCANO THE BEAR >> 09.10.2009 ANTIDISCO: DANIEL HAAKSMAN >> 10.10.2009 FUNNY VAN DANNEN >> 21.10.2009<br />
LAUSCHER: JENS RASCHKE >> 24.10.2009 THE DECLINING WINTER, THE PATTERN THEORY, JEAN MICHEL >><br />
29.10 – 01.11.2009 20TH ANNIVERSARY OF VISIONS >> 03.11.2009 LAUSCHER: LINUS VOLKMANN & DOMINGO >><br />
04.11.2009 SUPER 700 >> 05.11.2009 JOCHEN DISTELMEYER >> 13.11.2009 ANTIDISCO: BUGATI FORCE >><br />
15.11.2009 MAX HERRE >> 19.11.2009 10 JAHRE ELDORADIO*: PHOENIX, RISKA VILJOR & VIDEOCLUB >> 10.12.2009<br />
THE NOTWIST & ANDROMEDA MEGA EXPRESS ORCHESTRA >> 12.12.2009 ANTIDISCO: RADIOCLIT >> 19.12.2009 BOHREN<br />
UND DER CLUB OF GORE >> 17.12.2009 FRANK DELLÉ<br />
RITTERSTRASSE 20 // DORTMUND-CITY >><br />
TICKETS AN ALLEN BEKANNTEN VORVERKAUFSTELLEN >><br />
WWW.FZW.DE<br />
nr. 6 | heimatkleid
„Wir schauen,<br />
wie Statements<br />
gestrickt sind.“<br />
Mit seinem Projekt schalalala.de stellt<br />
der Kommunikationsdesigner Rüdiger<br />
Schlömer (*1978) ein Web-Interface zur<br />
Verfügung, das es kinderleicht macht, aus<br />
vorhandenen Fansch<strong>als</strong> neue Botschaften<br />
zu kombinieren und <strong>als</strong> Strickmuster<br />
herunterzuladen. Was steckt dahinter?<br />
interview Ivonne Woltersdorf<br />
fotografie Christoph Balzar/Rüdiger Schlömer<br />
Ins Leben gerufen wurde Schalalala 2006, <strong>als</strong> die Fußball-WM<br />
in Deutschland stattfand. Hast du auf diesen<br />
Augenblick gewartet?<br />
Schalalala ist im Vorfeld der WM 2006 entstanden,<br />
angestoßen durch die aufgeladene Stimmung, die sich<br />
in ganz Deutschland beobachten ließ. Da schien es<br />
gar nicht mehr um Fußball zu gehen, sondern um die<br />
Verhandlung von Nationalidentität, so etwas wie die<br />
Hoffnung auf ein zweites Wunder von Bern und seine<br />
gesellschaftlichen Folgen. Den Gastgebern wurde die<br />
Hurra-Kampagne „Du bist Deutschland“ aufs Auge gedrückt,<br />
um sie aus ihrer Selbstkritik herauszulocken –<br />
sicherlich in guter Absicht, aber größtenteils mit gegenteiligem<br />
Effekt. Auch die FIFA-Lizenzauflagen nahmen<br />
groteske Züge an, man wollte etwa den Bäckern das<br />
Wort „WM-Brötchen“ verbieten. Da war es verlockend,<br />
spielerisch mit dieser Situation umzugehen. Und da der<br />
Fanschal so etwas wie das Wort des Zuschauers ist, bot<br />
er sich <strong>als</strong> Medium an.<br />
Welche Botschaften werden über die Schalalala-Sch<strong>als</strong><br />
transportiert?<br />
Das ist dem User überlassen. Schalalala ist ein offenes<br />
Format, das nur gewisse strukturelle Regeln definiert.<br />
Wie ein Kochrezept mit variablen Zutaten.<br />
Welche Gründe sprechen für einen ureigenen Schal?<br />
Dieselben Gründe wie für einen ureigenen Bildschirmschoner,<br />
Klingelton, Schrebergarten oder Facebook-<br />
Account. Das alles sind Kommunikations- und Individualisierungsformate,<br />
mit denen man sich äußern<br />
kann. Es muss aber gar nicht um die vorrangige Aussage<br />
gehen. Zum Beispiel sagt so ein Schal auch aus: „Ich<br />
kann Stricken!“ Das Selbermachen selbst ist interessant.<br />
Entweder, weil man selber stricken lernt, oder weil man<br />
mit seiner Oma, die es dann doch machen muss, ins<br />
Gespräch kommt.<br />
Gibt es unter jungen Leuten die typische Strickerin, den<br />
typischen Stricker?<br />
Eher umgekehrt, die Strickerinnen und Stricker wirken<br />
alle irgendwie jung.<br />
Melden sich bei euch mehr Leute, die einen Schal selber<br />
stricken wollen oder mehr, die stricken lassen?<br />
Das hält sich bisher die Waage. Das Projekt wird weder<br />
<strong>als</strong> reines Selbermach- noch <strong>als</strong> Kaufprojekt vermittelt,<br />
sondern <strong>als</strong> konzeptionelles Format. Ob die Fanschal-<br />
Remixe selbst- oder fremd-, hand- oder maschinell gestrickt<br />
werden, macht nur für den persönlichen Bezug<br />
des Schalträgers etwas aus. Für die praktisch Veranlagten<br />
ist aber übrigens auch ein Strickbuch in Planung.<br />
Soll man „Schalalala“ auch <strong>als</strong> Statement gegen Massenproduktion<br />
verstehen?<br />
Falls Schalalala überhaupt ein Statement ist, dann eines<br />
über Statements an sich. Eher aber ist es der Versuch,<br />
diese strukturell zu reflektieren. Zu schauen, wie diese<br />
„gestrickt“ sind. Ein Hauptaspekt des Projekts ist der<br />
konstruktive Umgang mit Referenzen. Durch die Verwendung<br />
von existierenden Fansch<strong>als</strong> <strong>als</strong> Rohmaterial<br />
gibt es gleich von Anfang an einen Bezug zu Vereinen,<br />
Orten, Ländern. Jeder Buchstabe hat eine Vorgeschichte,<br />
einen Kontext, noch bevor das Wort überhaupt entsteht.<br />
Woher bekommt ihr diese Vorlagen?<br />
Wir arbeiten hauptsächlich mit Schalbildern aus dem<br />
Internet, die jemand abfotografiert, digitalisiert, und<br />
meist in schlechter Qualität auf irgendeiner Seite gepostet<br />
hat. Beim Prozess des Samplings, Remixens,<br />
Strickmuster-Reinzeichnens und Strickens fließen noch<br />
viele weitere Faktoren in das Ergebnis ein. Letztendlich<br />
ist die Reproduktion durch seine Entstehungsgeschichte<br />
fast mehr Original <strong>als</strong> ihre Vorlagen.<br />
Bist du Fußballfan? Und wenn ja, von welchem Verein?<br />
Tückische Frage. Wenn ich das hier erzähle, wäre das<br />
Zerschnipseln aller anderen Mannschaftssch<strong>als</strong> doch<br />
ganz klar <strong>als</strong> Sabotage entlarvt, oder? Da bleibe ich lieber<br />
neutral.<br />
w w w . s c h a l a l a l a . d e<br />
heimatkleid | nr. 6
vida.<br />
Möbel der eigenen Art<br />
3form GmbH Tischlerei, Raum-/ Objektdesign. Auf dem Hövellande 5, 44269 Dortmund, Tel. 0231/700 555 0, info@3form.de, www.3form.de
Ludvík<br />
Der Tauben nicht müde<br />
Was nicht tragbar ist bringt nichts, findet Fenja Ludwig.<br />
Mode ist für die in Köln ansässige Designerin ganz klar eine angewandte Kunst.<br />
text Alexandra Brandt<br />
Wie weit man Mode ins Urban-Sportive dehnen kann,<br />
ohne dabei die klassische Note der Pariser Couture<br />
aus den Augen zu verlieren, beweist Fenja Ludwig seit<br />
2003. In diesem Jahr machte die Rheinländerin sich<br />
selbstständig – weil sie es ohnehin schon seit geraumer<br />
Zeit wollte und ihr streng genommen auch kaum eine<br />
andere Wahl blieb. Nach Schneiderlehre, Modedesign-<br />
Studium, Kostümbild-Volontariat und Meisterprüfung<br />
war sie „so überqualifiziert, dass ich eigentlich nur noch<br />
ein eigenes Label gründen konnte.“<br />
Das Credo der Modeschulen, dass man nie für sich<br />
selbst schneidern dürfe, hat sie längst hinter sich gelassen.<br />
„Eigentlich ist es doch ein schöner Ansatz, Sachen<br />
zu entwerfen, die man selber tragen möchte“, meint<br />
Fenja Ludwig. An Motivation fehlt es ihr jedenfalls<br />
nicht: Zweimal pro Jahr werden neue Kollektionen prêt<br />
à porter entworfen und <strong>als</strong> Atelierserien angeboten. Bestimmte<br />
Themen liegen nicht zugrunde, trotzdem verfolgt<br />
die Designerin eine Linie: Die Liebe zur Eleganz<br />
der traditionellen Schneiderkunst der 70er Jahre – im<br />
Besonderen zu Yves Saint Laurent – schlägt sich in ihrer<br />
Mode ebenso nieder wie sportliche, popkulturelle<br />
Elemente. Klassische Silhouetten in Kombination mit<br />
prägnanten Volants, Faltenwürfen und Applikationen<br />
ergeben den Ludvík-Stil.<br />
Der wirkt mal streng und androgyn wie bei den geradlinigen<br />
Hosen mit weitem Bein und passenden Westen,<br />
mal feminin-weich bei Kleidern aus fließendem Jersey<br />
und zuweilen dank verspielter Details geradezu niedlich.<br />
So finden zum Beispiel immer wieder aufgenähte<br />
Tauben ihren Weg in die Kollektionen. Als die Federviecher<br />
im Zuge des beginnenden Irak-Kriegs eine Renaissance<br />
erlebten, fing auch Fenja Ludwig an, das Motiv<br />
auf Pullis zu applizieren. Das funktionierte – wobei<br />
sich die Designerin bis heute nicht sicher ist, ob die Vögel<br />
<strong>als</strong> politische Botschaft aufgefasst oder einfach nur<br />
süß gefunden wurden. Wie auch immer: Hier und da<br />
tauchen die Tauben weiterhin auf und werden manchmal<br />
sogar für das Logo des Labels gehalten – fälschlicherweise.<br />
In ihrem Showroom mit angeschlossenem Atelier<br />
empfängt Fenja Ludwig viele Kundinnen, die selber in<br />
kreativen Berufen tätig sind und eine Offenheit für das<br />
Besondere mitbringen – denn eine kleine Extravaganz<br />
oder Raffinesse steckt nahezu in jedem Stück. Bei aller<br />
Tragbarkeit.<br />
Fenja Ludwig wurde in Siegburg geboren und betreibt seit<br />
2003 das Label Ludvík mit Showroom und Atelier in Köln.<br />
Zweimal jährlich präsentiert sie neue Kollektionen, außerdem<br />
entwirft sie Auftragsarbeiten wie Abend- und Red<br />
Carpet-Kleider, außergewöhnliche Brautmode und Damen-Anzüge.<br />
w w w . l u d v i k - c o l o g n e . d e<br />
Fotografie Vanessa Leissring<br />
Assistenz Katja Burlyga Styling Fenja Ludwig<br />
Make Up Natalia Lipert (Artistry) Model Viktoria 3 (fashion4art)<br />
heimatkleid | nr. 6
Frisur Clothing<br />
Too Cool For School<br />
Blauäugig beginnen zwei Landeier, Mode zu machen.<br />
Und finden dabei einen Dreh, den sie den Großstädtern voraus haben.<br />
text Petra Engelke<br />
Happy End ist toll. Zu einer Erfolgsgeschichte will man<br />
aber auch einen grandiosen Anfang hören. So erzählen<br />
große Designer dann davon, wie sie auf einer Motorradreise<br />
um die Welt die Idee bekamen, mit Farben zu<br />
arbeiten. Oder so. Hinter dem Label Frisur Clothing<br />
steckt eine weniger großspurige Geschichte. Stephan<br />
Sunder-Plassmann und Thies Meyer sitzen im Erdkundeunterricht<br />
und langweilen sich. Aus einer Kritzelei<br />
wird ein gesichtsloser Kopf mit Zöpfen, sie nennen ihn<br />
„Frisur“ und experimentieren mit diesem Logo. Kurz<br />
darauf machen sie erste Shirts, zunächst für Freunde.<br />
Da sind sie gerade einmal in der neunten Klasse. „Wir<br />
begannen, die Grafiken, die sonst nur irgendwie auf Textil<br />
gebracht wurden, mit der Form des Kleidungsstückes<br />
zu verbinden“, so Thies. Dieser Ansatz unterscheidet sie<br />
von etablierten Labels; er findet sich auch heute noch<br />
in originellen Details. Etwa die Schlaufe, durch die Kapuzenbänder<br />
zur Seite und damit aus dem Weg gezogen<br />
werden. Asymmetrie ist ein wiederkehrendes Element<br />
ihrer Linie: Hier verschmelzen Grafik und Schnitt. Das<br />
Logo etwa soll niem<strong>als</strong> mittig platziert sein. Zu langweilig.<br />
Am Anfang entwerfen Stephan und Thies nicht alles<br />
selbst. Die ersten Teile folgen vorgegebenen Schnitten,<br />
die beiden bedrucken sie in Handarbeit zu Hause,<br />
versuchen sich eine Weile lang in Siebdruck mit<br />
handgeschnittenen Schablonen und selbstgebastelten<br />
Sieben. Im Rückblick war es nach Thies’ Ansicht gar<br />
nicht einmal schlecht, so jung begonnen zu haben: „Für<br />
die Durchführung braucht man dicke Eier und einen<br />
Schuss Blauäugigkeit“, sagt er. „Und für die <strong>Gestaltung</strong><br />
zählt Liebe zum Detail und der Wille, die Welt mit<br />
schönen Klamotten zu bereichern.“ Kurz vor dem Abitur<br />
2007 präsentieren sie ihre erste „echte“ Kollektion:<br />
Schnitt, Grafik und Details sind von den beiden entworfen,<br />
die ollen Siebe aber lassen sie jetzt links liegen. Statt<br />
selbst Hand anzulegen, lassen sie ihre Kleider in Portugal<br />
produzieren. „Shapes“ nennen sie das Bündel voller<br />
Basisteile: Streetwear mit jeweils drei Styles für Männer<br />
und Frauen. „Am Anfang war es nicht sinnvoll, saisonbezogen<br />
zu arbeiten, da wir schnell mit einer zeitlosen<br />
Basislinie Fuß fassen wollten“, sagt Thies. Das klingt abgeklärt<br />
und geschäftstüchtig. Und ehrlich: „Außerdem<br />
hatten wir keine Ahnung, wie das eigentlich alles funktioniert.“<br />
Inzwischen haben sie die Bandbreite erweitert:<br />
Sakko, Kleid, Schal, alles dabei. Mehrere Läden planen<br />
Frisur Clothing fest ein, wollen Jahreszeitenrhythmen.<br />
Von diesem Herbst an werden deshalb zweimal jährlich<br />
neue Kollektionen erscheinen – die Basislinie führen<br />
Stephan und Thies trotzdem weiter. Und noch etwas<br />
bleibt: Die Zeit zwischen Semestern und Kollektionen<br />
verbringen beide im sonnigen Süden – auf dem Surfbrett.<br />
Klingt nach Happy End.<br />
In Kappeln an der Schlei wuchsen Thies Meyer (1988) und<br />
Stephan Sunder-Plassmann (1987) auf. 2007 gingen sie gemeinsam<br />
zum Zivildienst nach Hamburg, inzwischen studiert<br />
Stephan an der Bauhaus Universität Weimar Visuelle<br />
Kommunikation, während Thies in Berlin Mode- und Produktdesign<br />
an der UdK paukt.<br />
w w w . f r i s u r l o u n g e . c o m<br />
Fotografie Marzena Skubatz<br />
Assistenz Matthias Wolf, Martin Lange<br />
Models Desiree, Martin, Simon<br />
heimatkleid | nr. 6
www.kreativwirtschaft-dortmund.de<br />
DORTMUND. KREATIVITÄT FINDET STADT.<br />
Dortmund ist gut sortiert. Gehen Sie online:<br />
Informieren Sie sich über aktuelle News und Termine<br />
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SiSie<br />
Blumenkind<br />
Simone Schäfer liebt die 60er und 70er Jahre. Das sieht man.<br />
text Petra Engelke<br />
Der Dackel. Vergessenes Relikt des Ruhrgebiets, zum<br />
belächelten Accessoire von „Hausmeister Krause“ im<br />
Fernsehen verkommen – und jetzt aus 70er-Jahre-Stoffen<br />
gefertigt eine prima Nacken- und Gedächtnisstütze.<br />
Er ist ein Ausgangspunkt für die neue Kollektion von<br />
SiSie. Hell- und dunkelgrüne Äpfel reihen sich tapetenartig<br />
auf weißer Baumwolle, Blumen übersäen einen<br />
Rock, der zudem mit Lochstickerei verziert ist. Keine<br />
Frage: Simone Schäfer arbeitet mit dem Design der 60er<br />
und 70er Jahre. „Erstens bin ich in dieser Zeit großgeworden“,<br />
sagt die 44-Jährige. „Außerdem stammen die<br />
besten Designer aus dieser Zeit.“ So bewundert sie etwa<br />
die Stoffe und Möbel von Werner Panton. Drittens ist<br />
dieser Zeitraum mit all seinen Umbrüchen für sie inhaltlich<br />
wie formal spannend: Revolutionär und unkonventionell<br />
stellt sie sich vor, wie es war, <strong>als</strong> Audrey<br />
Hepburn plötzlich in Hosen über das Filmset huschte,<br />
die Ausstatter des Music<strong>als</strong> „Hair“ Kleidung wild kombinierten<br />
und mit Ethno-Details experimentierten.<br />
Ständig stöbert Schäfer auf Flohmärkten und auf Reisen<br />
nach Originalen: Stoffe, Knöpfe, Bordüren, Stickereien,<br />
all das schleift sie in ihr Atelier, um die Fundstücke<br />
mit neuen Stoffen zu kombinieren. Bei ihr kommt der<br />
Stoff zuerst; erst wenn sie ihn in der Hand hält, überlegt<br />
sie, welche Idee, welcher Schnitt am besten dazu passen<br />
würde.<br />
„Genäht habe ich schon mit zwölf“, sagt Simone Schäfer.<br />
Ihre Oma war Schneiderin und brachte es ihr bei.<br />
Die Familie hatte nicht viel Geld, und so ging Schäfer<br />
<strong>als</strong> 16-Jährige auf besondere Art einkaufen: In Designerläden<br />
nahm sie, was ihr gefiel, verschwand damit<br />
in der Umkleidekabine, schaute genau, wie die Sachen<br />
gearbeitet waren. Sie zeichnete Gedankenstützen<br />
auf ihren Notizblock, um sie zu Hause nachzunähen.<br />
Schäfer wuchs in Essen-Bergerhausen auf, ging später<br />
nach Berlin, wollte dort aber nicht bleiben. „Ich mag<br />
das Ruhrgebiet mit seinen Zechenstädten sehr, <strong>als</strong>o bin<br />
ich zurückgekehrt, zumal die Berliner Modeszene sehr<br />
arrogant und mit wenig Herz agiert. Dort findet man<br />
eher Konkurrenten <strong>als</strong> Freunde.“ Manche finden die<br />
bunten Entwürfe von Simone Schäfer kindisch, aber darüber<br />
schüttelt sie nur wie ein Wackeldackel den Kopf.<br />
Sie findet, gerade in Krisenzeiten wie im Moment brauche<br />
man nicht auch noch Schwarz und Grau zu tragen.<br />
„Im Gegensatz zum derzeitigen Trend liebe ich Farben,<br />
Muster und verspielte Details. Und man kann nicht alt<br />
genug sein, um meine ‚Kindermode’ für Erwachsene zu<br />
tragen“, sagt sie. Immerhin ist ihr Label gerade 18 geworden.<br />
Simone Schäfer (44) wuchs in Essen auf. Sie studierte<br />
Modetheorie, Kunstgeschichte und Geschichte in Dortmund,<br />
danach Modedesign an der Berliner Hochschule der<br />
Künste. Für SiSie näht sie selbst, manchmal hilft ihre Mutter<br />
aus. Ihre Kollektion gibt es u.a. bei Soma (Berlin), Damenwahl<br />
(Düsseldorf) und Jungle (Bochum) sowie online.<br />
Hausmesse:<br />
01. bis 04.10., Dinnendahlstr. 8, 45136 Essen<br />
w w w . s i s i e . d e<br />
Fotografie & Illustration Annika Janssen und Sandra Greiling<br />
heimatkleid | nr. 6
2010<br />
EINE VERANSTALTUNG IM RAHMEN DER PASSAGEN<br />
MESSE FÜR JUNGES<br />
MÖBEL‐ UND INTERIORDESIGN<br />
18. ‐ 24. JANUAR 2010 // KÖLN<br />
JETZT<br />
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JotJot<br />
Mehr <strong>als</strong> Jeans und T-Shirt<br />
Streetwear. Das kann Jeans und T-Shirt bedeuten. Todlangweilig. JotJot ist Streetwear.<br />
So bequem wie Jeans und T-Shirt. Aber alles andere <strong>als</strong> langweilig.<br />
text Sascha Abel<br />
Morgens zum Meeting mit dem Chef, mittags mit der<br />
Freundin ins Cafe und abends auf ein paar Cocktails<br />
in die Lieblingsbar: besonders für Frauen eine modische<br />
Herausforderung. Verschiedene Anlässe erfordern<br />
schließlich ein jeweils passendes Outfit. Für all diejenigen,<br />
die in jeder Lebenslage gut aussehen, sich aber nicht<br />
ständig umziehen wollen, hat sich Jana Januschewski<br />
etwas einfallen lassen. „Die meisten meiner Kollektionsstücke<br />
sind variabel und lassen sich auf unterschiedliche<br />
Art und Weise tragen“, sagt sie. So zum Beispiel<br />
eine petrolfarbene Jacke mit Puffärmeln. Für gediegene<br />
Anlässe lässt sich deren Schalkragen elegant hochklappen.<br />
Abends in lockerer Runde legt man ihn um und<br />
präsentiert das knallige Innenfutter mit Erdbeermuster.<br />
Und wer es besonders bunt mag, trägt die Jacke auf links<br />
und macht sein Outfit damit zum Hingucker auf jeder<br />
Party.<br />
JotJot, das ist der lautsprachliche Name für Janas Initialen.<br />
Das Kürzel steht zudem für avantgardistische<br />
Streetwear: farbenfrohe Styles in knallrot, butterblumengelb<br />
oder kräftigem Cyan. Ausgefallene Schnitte<br />
und Detaillösungen. Und dabei immer bequem und<br />
tragbar. Schlichte Bolerojäckchen oder Slimfit-Jeans mit<br />
langem Bein sind ebenso Teil von Janas Kollektionen<br />
wie Erdbeermuster und bunte Karos. „Einige meiner<br />
Kollektionsteile sind von Afrika inspiriert. Ich mag die<br />
Farbenfrohheit und die Lebensart der Menschen dort“,<br />
erklärt Jana.<br />
Ihre Ideen setzt sie zum Beispiel in einer Bluse mit übergroßem,<br />
exotischem Blumenmuster um. Dabei handelt<br />
es sich nicht um eine gewöhnliche Bluse – sondern um<br />
ein Designstück mit extravagantem Stehkragen. Zart<br />
gekräuselte Rüschen verdecken den H<strong>als</strong> bis zum Kinn<br />
und sind dem goldenen H<strong>als</strong>schmuck der asiatischen<br />
Padaung (Giraffenh<strong>als</strong>frauen) nachempfunden. Ein Detail,<br />
das hier in Europa auf raffinierte Weise hochgeschlossene<br />
Extravaganz mit mädchenhafter Verspieltheit<br />
verbindet.<br />
Bis heute hat Jana um die 600 Einzelstücke gefertigt:<br />
vom Schlüpfer über den Badeanzug bis hin zum Cocktailkleid<br />
ist ihr keine Herausforderung zu groß. Mäntel,<br />
die Taille und Busen betonen und ab der Hüfte a-förmig<br />
aufspringen, übergroße Kapuzen und Puffärmel – JotJot<br />
ist Streetwear mit dem gewissen Twist. Viele Teile entstehen<br />
aus einer Mischung aus Schnitt und Drapage.<br />
Sich an immer gleichen Schnittmustern zu bedienen, ist<br />
Jana zu langweilig. Stattdessen wandelt sie geometrische<br />
Grundformen ab. Macht aus einem Dreieck ein Trapez,<br />
baut in geradlinige Verläufe einen Bogen ein und verleiht<br />
ihrer Kleidung so eine einzigartige Note. All das<br />
setzt sie mit Naturfasern wie Baumwolle und Seide zu<br />
hautschmeichelnden Jerseys um. Gut so. Mit Polyester<br />
am Leib würde frau ganz schön ins Schwitzen kommen,<br />
wenn sie vom Meeting mit dem Chef erst zur Freundin<br />
und dann zum Cocktailabend hetzt.<br />
Jana Januschewski, 29, kommt in Moldawien zur Welt und<br />
wächst in Frankfurt a.d. Oder und in Mülheim a.d. Ruhr<br />
auf. Nach dem Fachabitur studiert sie zunächst in Arnheim,<br />
später in Düsseldorf Modedesign. 2004 gründet sie in<br />
Essen ihr eigenes Label. Jana wohnt in Moers und teilt sich<br />
ihr Atelier in der Essener Südstadt mit einer Schmuckdesignerin<br />
und einer Stylistin.<br />
w w w . j o t j o t - m o d e . d e<br />
Fotografie Jana Gerberding Assistenz Olga Kessler<br />
Styling Bernadette Burow Make Up/Haare alcox makeup art<br />
Model Maria Rauch von Model Pool<br />
heimatkleid | nr. 6
26. SEPTEMBER 2009<br />
FESTIVAL DER KREATIVEN IN<br />
DER METROPOLE RUHR<br />
Architekten, Werbeagenturen,<br />
Designer, Künstler, Musiker,<br />
Gamer, Filmer, Fotografen und<br />
viele Kreative mehr laden ein.<br />
Spannende Veranstaltungen,<br />
außergewöhnliche Kreativ.Quartiere<br />
hautnah erleben.<br />
Programm unter:<br />
WWW.KREATIVEKLASSERUHR.DE<br />
gefördert von:
Für eine Handvoll Cent<br />
Budenzauber: Der Kiosk ist nicht nur im Ruhrgebiet allgegenwärtig. Als sozialer Kitt und ästhetisches Ereignis<br />
ist er unverzichtbar und hat sich, langsam aber sicher, zum Kulturphänomen entwickelt. Sein Bier kriegt man dort<br />
aber trotzdem noch.<br />
text Volker K. Belghaus | illustration <strong>Bande</strong><br />
Ach ja, die Bude. Das Thema sollte<br />
durch<br />
sein. In unzähligen Publikationen<br />
ü b e r<br />
das Ruhrgebiet eingereiht in die<br />
Lieblingsklischees<br />
zwischen Currywurst und<br />
Taubenvatters<br />
Jupp, in durchschnittlichen Co-<br />
medynummern<br />
zu Tode gelacht – aber dennoch lebt der Mythos Bude;<br />
da, wo Vorurteil und Realität zusammentreffen: im Alltag der Menschen.<br />
Ohne Bude geht gar nicht, die kurzen Wege zur Flasche Bier und<br />
zur Schachtel Zigaretten haben sich bewährt, und auch optisch würde<br />
etwas fehlen in den Straßen des Ruhrpotts. Die sympathische Unaufgeräumtheit,<br />
das grelle Nebeneinander von Eis-, Kippen- und Zeitungswerbung<br />
und die Schaufenster, in denen alles präsentiert wird, was<br />
der Laden hergibt – ohne die Bude wären manche Ecken noch trister.<br />
Überhaupt die „Schaufenster“ – wen es einmal gepackt hat, der kann sich<br />
gar nicht sattsehen an den Etiketten der Flachmänner (die neben einer ausgeblichenen<br />
Schachtel Tampons aufgereiht sind) oder an den Plastikboxen<br />
mit dem Süßkram. Was dort für ein paar Cent für die „Gemischte Tüte“ angeboten<br />
wird, kann man durchaus <strong>als</strong> ungewollte Kunst durchgehen lassen.<br />
A u c h<br />
wenn die Lebensmittelfarben in den letzten<br />
J a h r e n<br />
anscheinend immer schriller geworden<br />
sind; hier findet man noch die Klassiker der Kindheit:<br />
Colakra-<br />
cher, Saure Pommes und Leckmuscheln<br />
(wobei man auch<br />
gern mal wüsste, wer sich solche Namen<br />
ausdenkt) und na- türlich die schlichte Lakritzschnecke.<br />
Letztere ist das Erkennungszeichen des 1. Kioskclub aus Dortmund, der<br />
sich „die Erforschung und Pflege der Kioskkultur weltweit“ zur Aufgabe<br />
gemacht hat. Die Mitglieder tragen die Schnecke stolz in gestickter Form<br />
<strong>als</strong> Aufnäher und Bekenntnis zur Bude nebenan. Gegründet hat sich der<br />
Verein von Künstlern und Privatleuten im Fußball-WM-Jahr 2006 in<br />
Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Museum am Ostwall im Rahmen<br />
der Ausstellung „Erfrischungspavillon – zu Gast bei Freunden“.<br />
Von außen sah es so aus, <strong>als</strong> wäre in der Studio-Galerie des Museums ein<br />
Kiosk eröffnet worden, samt Verkaufsfenster, Zeitungsständer und Langnese-Fähnchen.<br />
Im Inneren wurde das Kulturphänomen Kiosk musealisiert<br />
und diente <strong>als</strong> Kulisse für Veranstaltungen und Symposien zum selben<br />
Thema. Auch wenn sich die Erforschung der Büdchenhistorie ein wenig<br />
nr. 6 | heimatlust
sperrig anhört,<br />
und die Vereins-Schatzmeisterin<br />
Ruth<br />
Langen von Hause aus Kunsthistorikerin<br />
ist – der KCMO (1. Kioskclub<br />
Museum am Ostwall 06) sucht<br />
die Öffentlichkeit. So bietet er Kiosk-Ralleys<br />
an; Stadtführungen per Fahrrad, auf denen<br />
Maler und Vereinsmitglied Willi Otremba dem<br />
Thema zugewandte Zeitgenossen die wichtigsten<br />
und interessantesten Buden im Stadtgebiet zeigt.<br />
Der Kiosk scheint die Kreativität zu fördern, auch wenn<br />
sie zuweilen künstlich von außen aufgedrückt wirkt. Auch<br />
die Kulturhauptstadt RUHR.2010 will um das Thema nicht<br />
herumkommen und plant gemeinsam mit den Ausstellungsmachern<br />
vom Verein BochumDesign e.V. ein Projekt<br />
mit dem Titel „DESIGNKIOSK RUHR.2010 – Arts and Crafts<br />
im Ruhrgebiet“. Kunst und Handwerk klingt ja auch weniger<br />
cool, denn schließlich sollen das die umgestalteten Kioske<br />
dann ja auch sein. Schaufenster für die junge, kreative Szene<br />
des Ruhrpotts, verbunden mit einer Route von Duisburg bis<br />
Dortmund. 30 Teilnehmer wählt eine Jury des Bochumer Designpreises<br />
aus; sie können sich und ihre Arbeiten im nostalgischen<br />
und heimeligen Büdchenambiente präsentieren.<br />
Eine stillere Perspektive auf die Kioskkultur hat indes<br />
die Herner Fotografin Brigitte Kraemer mit ihrem Bildband<br />
„Die Bude“ gewählt. In klassischem Schwarz-<br />
Weiß dokumentiert sie das ganz normale Leben an<br />
der Bude, zeigt freistehende, pavillonartige Kioske<br />
und solche, die in Baulücken gequetscht wurden;<br />
Kunden aller Generationen und die Inhaber,<br />
die, auf ihre Ellenbogen gestützt,<br />
auf die nächste Bestellung warten.<br />
Auch leere, aufgegebene Buden haben<br />
ihren Platz und Kurioses, wie eine<br />
Trinkhalle für Mensch und<br />
Hund in Duisburg-<br />
Wedau, samt<br />
der kreidigen<br />
Angebotstafel für „Leuchties“,<br />
mit denen man seinen<br />
Hund im Dunkeln finden könne.<br />
Oder jenen Kiosk, an dessen Eistruhe ein<br />
Aushang Infos über „Beerdigungen zu Hartz<br />
IV-Preisen“ anbietet, illustriert mit christlichem<br />
Kreuz und türkischem Halbmond. Teilweise muss<br />
man schon sehr genau hinschauen und auf kleine Details<br />
wie aktuelle Logos achten, um zu erkennen, dass<br />
hier nicht die 70er Jahre abgebildet werden. Dieser Umstand<br />
beweist einmal mehr die Zeitlosigkeit und Beständigkeit<br />
der Kioske.<br />
Auch weiter östlich forscht man den Buden unter sozialen<br />
und ästhetischen Gesichtspunkten hinterher. Die Architekten<br />
vom Raumlabor Berlin beschäftigen sich auf ihrer<br />
Internetseite mit dem Phänomen der „Kioskisierung“<br />
Osteuropas und untersuchen die Veränderungen des Straßenhandels<br />
durch die Ansiedlung von Kiosken in den ehem<strong>als</strong><br />
sozialistischen Städten Halle, Lódz, Moskau und Bratislava.<br />
Seit der Wende hat sich in den Plattenbausiedlungen eine Budenkultur<br />
entwickelt, die ganze Supermärkte ersetzt. Neben den<br />
Forschungsergebnissen, die <strong>als</strong> Film und Buch vorliegen, bietet<br />
das Team, zu dem auch ein Stadtsoziologe zählt, auch die kleine<br />
„My Kiosk Einkaufstasche“ von Designerin Charlotte Erkrath<br />
an, in die ein kompletter Kioskeinkauf passt: ein Bier,<br />
eine Zeitung, ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten.<br />
Das reicht zum Glücklichsein. Ob in Bratislava oder Wattenscheid.<br />
„Die Bude“, Fotografien von Brigitte Kraemer,<br />
Klartext-Verlag<br />
w w w . k c m o . d e<br />
w w w . k i o s k i s i e r u n g . n e t<br />
heimatlust | nr. 6
nr. 6 | heimatlust
3<br />
Gallery Hopping<br />
Von Ausstellung zu Ausstellung im Ruhrgebiet?<br />
Hier geht’s lang.<br />
7<br />
10<br />
6<br />
5<br />
1 BOCHUM: galerie januar – Verein zur Förderung junger Kunst e.V.,<br />
Eislebener Str. 9, 44892 Bochum, 0234-3600578, www.galerie-januar-ev.<br />
gmxhome.de, do 17-19 Uhr • Galerie m Bochum, Schlossstr. 1a, 44795 Bochum,<br />
0234-43997, www.m-bochum.de, mi & fr 14-18, sa 12-18 Uhr • Situation<br />
Kunst - für Max Imdahl, Nevelstr. 29c (im Parkgelände von Haus<br />
Weitmar), 44795 Bochum, 0234-2988901, www.situation-kunst.de, mi & fr<br />
14-18, sa & so 12-18 Uhr • Kunstverein Bochum Haus Kemnade, An der<br />
Kemnade 10, 45527 Hattingen, 02324-30268, www.kunstverein-bochum.de,<br />
di-so 11-17 (1. November – 30. April), di-so 12-18 (1. Mai – 31. Oktober) •<br />
Bochumer Kulturrat e.V., Lothringer Str. 36 c, 44805 Bochum, 0234-86<br />
2012, www.kulturrat-bochum.de, do & fr 18-20, so 15-17 Uhr • Rottstr.<br />
5, Rottstr. 5, 44793 Bochum, 0234-9128121, www.rottstr5.de, di-fr 16-20, sa<br />
11-16 Uhr<br />
2 CASTROP-RAUXEL: Galerie Schwenk, Dortmunder Str. 436, 44577<br />
Castrop-Rauxel, 02305-580672, www.galerie-schwenk.de, di-fr 15-20, Sa 10-<br />
14 Uhr<br />
3 DORSTEN: Virtuell-Visuell e.V., Wiesenstr. 4, 46282 Dorsten, 02362-<br />
3343, www.virtuellvisuell.de, mi & do 15-18, sa 10-15 Uhr<br />
4 DORTMUND: da entlang – Galerie für aktuelle Kunst, Kaiserstr.<br />
69, 44135 Dortmund, 0231-5860536, mi 16-20, do & fr 16-19, sa 11-14, so 11-13<br />
Uhr • Künstlerhaus Dortmund, Sunderweg 1, 44147 Dortmund, 0231-<br />
820304, www.kuenstlerhaus-dortmund.de, do-so 16-19 Uhr • Hartware<br />
MedienKunstVerein (HMKV), Phoenix Halle, Hochofenstr., Ecke Rombergstr.,<br />
44263 Dortmund, 0231-4080279, www.hmkv.de, do & fr 16-20,<br />
sa & so 11-20 Uhr • Dortmunder Kunstverein e.V., Hansastr. 2-4, 44137<br />
Dortmund, 0231-578736, www.dortmunder-kunstverein.de, di-fr 15-18, so<br />
11-16 Uhr, an Feiertagen geschlossen • ART-isotope (Galerie Schöber),<br />
Basisstation: Arneckestr. 42, 44139 Dortmund, www.art-isotope.de, so,<br />
mo, di, fr 14.30-19.30 Uhr • Andrea Schmidt – Galerie für zeitgenössischen<br />
Schmuck, Kleppingstr. 28, 44135 Dortmund, 0231-4776363, www.<br />
gold-schmidt.de, di-fr 11-18.30, sa 11-16 Uhr • Galerie Utermann, Silberstr.<br />
22, 44137 Dortmund, 0231-47643737, www.galerieutermann.de, di-fr 10-13<br />
& 14-18, sa 10-14 Uhr • Galerie Anne Voss, Gerberstr., 44125 Dortmund,<br />
www.galerie-annevoss.de, fr & sa 15-18 Uhr • Galerie PR, Schillingstr. 21,<br />
44139 Dotmund, www. galerie-pr.de<br />
5 DUISBURG: Kunstverein Duisburg e.V., Weidenweg 10, 47059 Duisburg,<br />
0203-7187841, www.kunstverein-duisburg.de, do, fr, sa 17.30-20 Uhr<br />
• Stiftung DKM – Museum DKM, Güntherstr. 13–15, 47051 Duisburg-<br />
heimatlust | nr. 6
11<br />
2<br />
13<br />
9<br />
4<br />
1<br />
12<br />
8<br />
Dellviertel, 0203-93555470, www.stiftung-dkm.de, mo, fr, sa, so 12-18 Uhr •<br />
cubus kunsthalle e.V., Friedrich-Wilhelm-Str. 64, 47051 Duisburg, 0203-<br />
26236, www.cubus-kunsthalle.de, mi-so 14-18 Uhr<br />
6 ESSEN: kunstwerden e.V., Ruhrt<strong>als</strong>tr. 19a, 45239 Essen-Werden, 0201-<br />
3203205, www.kunstwerden.de, fr 19-24 Uhr • Baustelle Schaustelle,<br />
Brigittastr. 9, 45130 Essen, www.baustelle-schaustelle.de, fr 16-18 Uhr •<br />
Galerie Schütte, Hauptstr. 4, 45219 Essen, 02054-871753, www.galerieschuette.de,<br />
di-fr 14-19, sa 11-14 Uhr • Kunsthaus Essen e.V., Rübezahlstr.<br />
33, 45134 Essen, 0201-443313, www.kunsthaus-essen.de, do-so 15-18 Uhr •<br />
Best Kunstraum, Ruhrt<strong>als</strong>tr. 415, 45219 Essen, 02054-86428, www.bestkunstraum.de,<br />
mi & do 16-19 Uhr • Kunstverein Ruhr e.V., Kopstadtplatz<br />
12, 45127 Essen, 0201-226538, www.kunstvereinruhr.de, di-fr 10-19, sa & so<br />
12-17 Uhr<br />
7 GELSENKIRCHEN: Künstlersiedlung Halfmannshof Gelsenkirchen,<br />
Halfmannsweg 50, 45886 Gelsenkirchen, 0209-28742, www.kuenstlersiedlung.de,<br />
mo-so 10-18 Uhr • Galerie Kabuth, Wanner Str. 4, 45879<br />
Gelsenkirchen, 0209-1487461, www.galerie-kabuth.de, di-fr 9-12 & 13-15<br />
Uhr • Kunstverein Gelsenkirchen, www.kunstverein-gelsenkirchen.de,<br />
di-so 11-18 Uhr<br />
8 HATTINGEN: Kunstverein Hattingen, Meisenweg 4, 45527 Hattingen,<br />
02324-84021, www.kunstverein-hattingen.de, do & fr 15-18, sa & so<br />
13-18 Uhr<br />
9 HERNE: Künstlerzeche Unser Fritz 2-3, Alleestr. 50, 44653 Herne,<br />
02325-3934, www.kuenstlerzeche.de, mi & sa 15-18, so 14-17 Uhr<br />
10 OBERHAUSEN: Verein für aktuelle Kunst, Ruhrgebiet e.V., Zentrum<br />
Altenberg, Hansastr. 20, 46049 Oberhausen, 02381-3053879, www.<br />
vfak-ruhrgebiet.de, fr & sa 16-18, so 11-13 Uhr • Kunstverein Oberhausen<br />
e.V., Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46, 46049 Oberhausen<br />
und Galerie Tedden – Garage, Mühlenstr. 125, 46047 Oberhausen-Dümpten,<br />
0208-208410, www.kunstverein-oberhausen.de<br />
11 RECKLINGHAUSEN: Kunstverein Recklinghausen – Kunst im<br />
Kutscherhaus, Willy-Brandt-Park 5, 45657 Recklinghausen, 02361-15436,<br />
www.kunstverein-recklinghausen.de, do & fr 15-18, sa & so 13-17 Uhr<br />
12 SCHWERTE: Kunstverein Schwerte, Im Wuckenhof – Kötterbachstr.<br />
2, 58239 Schwerte, 02304-22175, www.kunstverein-schwerte.de, mi-fr<br />
16-19, so 15-18 Uhr<br />
13 UNNA: Kunstverein Unna e.V, Mühlenstr. 4c, 59423 Unna, 02303-<br />
21828, www.kunstverein-unna.de, fr 17-19, sa & so 11-13 Uhr<br />
nr. 6 | heimatlust
Ortsbegehung:<br />
La Gondola<br />
Wozu in die Ferne<br />
schweifen? Von außen<br />
unscheinbar, führt die<br />
italienische Gelateria<br />
„La Gondola“ in<br />
Bochum in eine Hinterhofoase<br />
der sommerlichen<br />
Leichtigkeit.<br />
Ist das Wetter auch<br />
noch so mies.<br />
text und bild<br />
Ivonne Woltersdorf<br />
Mein Lieblingsort in Bochum ist die Gelateria „La<br />
Gondola“ an der unteren Kortumstraße unweit des<br />
Museums. Eisdielen gibt es viele in Bochum, aber die<br />
Gelateria Gondola, wie ich sie einfach nenne, habe<br />
ich ins Herz geschlossen. Dort hinzugehen ist für<br />
mich wie ein kleiner Urlaub.<br />
Am liebsten sitze ich mit einem Freund oder einer<br />
Freundin auf der kleinen Terrasse, die sich – von all jenen<br />
unbemerkt, die sich jahrelang vorne ein Eis auf die<br />
Hand bestellen – an der Rückseite der Eisdiele befindet.<br />
Im Hochsommer ist sie von dichtem Weinlaub überdacht,<br />
das Schatten spendet und den Blick auf eine graue<br />
Häuserrückfront verhängt. Aber die ist auch egal. In der<br />
Gelateria Gondola lasse ich die Welt sowieso immer ein<br />
Stück hinter mir; meine Aufmerksamkeit gehört meinem<br />
Gegenüber, dem Eis und dem Gondola-Publikum.<br />
Zu den Gästen gehören Familien mit Kind und Kegel,<br />
junge Paare und Freunde jeden Alters, und jeder von<br />
ihnen trägt für gewöhnlich ein Lächeln im Gesicht. Aus<br />
dem Radio ertönt Schlagermusik. Man fällt aus der Zeit.<br />
Obwohl ich mittlerweile seit 10 Jahren mein Eis in Bochum<br />
am liebsten hier esse, brauche ich immer etwas<br />
Zeit, um mir neben meinem Standardgetränk Cappuccino<br />
einen Eisbecher aus der umfangreichen Karte<br />
auszusuchen. Schließlich ist es langweilig, immer meinen<br />
Liebling zu vernaschen. Schokoeisbecher heißt<br />
der Süße. Das Angebot der Gelateria Gondola ist nicht<br />
extravagant, der Geschmack des Eises unterscheidet<br />
sie aber dafür um so mehr von anderen Eiscafés. Hier<br />
schmeckt man das Wesen jeder Sorte, cremig und nicht<br />
zu süß entfaltet sich Schokolade, Vanille, Nuss und<br />
Erdbeere im Mund. Obendrauf kommt die Dekoration,<br />
für mich die liebevollste. Sie lässt jeden Eisbecher<br />
wie einen gut gebundenen Blumenstrauß erscheinen:<br />
Sie schmeichelt dem Hauptakteur, ohne dessen Eigenheit<br />
zu übertünchen.<br />
Diese Eisbecher zu zaubern liegt in den Händen der<br />
Familie De Filippo, die ursprünglich aus Norditalien<br />
kommt und mit der Gelateria Gondola nicht nur ein<br />
Stück italienische Eiskunst in Bochum etabliert hat,<br />
sondern auch einen Ort der Gelassenheit. Und das<br />
ist er nicht nur, wenn man bei Sonnenschein unter<br />
Weinlaub auf der Terrasse sitzen kann, sondern auch –<br />
und vielleicht gerade dann – vor dem grauen, kalten<br />
Wetter im Innenraum des Eiscafés Schutz sucht.<br />
Zu jeder Jahreszeit, außer in der kurzen Winterpause,<br />
wird man vom Gelatiere Gino De Filippo freundlich und<br />
unaufdringlich, ja fast schon zurückhaltend umsorgt.<br />
Er hat mir erzählt, dass er in den Wintermonaten nie<br />
richtig Pause macht, sondern sich oft fortbildet. Denn<br />
auch im hohen Alter (er ist jetzt 64) könne man noch<br />
viel lernen, etwa wie sich die Verarbeitung von Obst verbessern<br />
lässt. Bei meinem nächsten Besuch dort werde<br />
ich trotzdem kein Fruchteis, sondern mal ein Gläschen<br />
Prosecco bestellen, das hier wie in Italien nicht viel kostet<br />
(1,80 Euro), und mit meiner Begleitung auf das Leben<br />
und die Gelateria Gondola anstoßen. Auf dass sie mich<br />
und ihre anderen Gäste noch lange glücklich macht.<br />
heimatlust | nr. 6
CREATIVE STAGE<br />
...........................................................................................<br />
Ein Format der Wirtschaftsförderung Bochum und der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Duisburg mbH<br />
...........................................................................................<br />
www.creativestageruhr.de
NASHVILLE DORTMUND BANGKOK<br />
Wahrscheinlich ist Hartmuth Malorny der einzige Dichter im<br />
Ruhrgebiet, dem Johnny Cashs Ehefrau mal einen Tee<br />
gebraut hat. Dabei ist Tee gewiss nicht das Lieblingsgetränk<br />
des Dortmunder „U-Bahn-Bukowski“ (ZDF).<br />
U-Bahn fährt er zwar nicht mehr. Doch im Untergrund<br />
tummelt er sich immer noch.<br />
text Grobilyn Marlowe | bildvorlage Rae Grimm<br />
Lakonisch ist der Begriff, der immer wieder auftaucht, wenn es um Texte<br />
Malornys geht. Dabei bedeutet lakonisch wortkarg, und Wortkargheit<br />
kann man einem Mann, der drei Gedichtbände, vier Romane sowie unzählige<br />
Kolumnen und Kurzgeschichten in diversen Zeitschriften veröffentlicht<br />
hat, bestimmt nicht vorwerfen. Es ist vielmehr Malornys eigener<br />
Lebensstil, den man lakonisch nennen könnte. Schon die Titel seiner<br />
Gedichtbände „Kronkorken für den Nachlass“ (1994), „Bewegungen im<br />
Untergrund“ (1996) und „Was übrig bleibt“ (2001) zeugen von einem gewissen<br />
Außenseitertum und unverschnörkelter Wortwahl. Die Gedichte<br />
selbst sind meist ungereimte Ich-Erzählungen, die sich <strong>als</strong> messerscharf<br />
pointierte Beobachtungen zwischenmenschlicher Natur entpuppen.<br />
Der 50-Jährige mit den melancholischen, blassblauen Augen ist keiner,<br />
der viel redet, geschweige denn ein Grillfest mit seinen Nachbarn<br />
starten würde. Er mag den Alkohol, die Frauen und die gestrandeten,<br />
skurrilen Typen, die er bei seinen Streifzügen durch Absteigen<br />
und Kaschemmen trifft – aber eine typische Ruhrgebiets-Stammkneipe<br />
hat er nicht, obwohl zwei davon direkt vor seiner Tür liegen.<br />
„Saufen kann ich auch zu Hause“, sagt er, und der alte Kneipen-Spielautomat<br />
an seiner Küchenwand scheint das zu bestätigen. Schreiben sei<br />
für Malorny Medizin, „um nicht 24 Stunden vor der Glotze zu versumpfen“.<br />
Die „Recherche“ in den Pinten sei wie Urlaub von seinem Job <strong>als</strong><br />
Sonderreiniger bei den Stadtwerken, seit der ehemalige Straßenbahnfahrer<br />
wegen „Fahruntauglichkeit“ zum Graffitientfernen abkommandiert<br />
wurde. Der Wegfall des zermürbenden Schichtdienstes kommt ihm da<br />
zupass. Aber <strong>als</strong> disziplinierten Schreiber sieht sich der Dortmunder<br />
nicht: „Es ist eigentlich egal, wann ich schreibe. Nach der Arbeit, am Wo-<br />
chenende, im Urlaub. Im Anfangen bin ich zumindest sehr gut.“ Seinen<br />
ersten Roman „Die schwarze Ledertasche“ (2003), der autobiografisch von<br />
seinem Leben <strong>als</strong> Straßenbahner berichtet, hat er in fünf Wochen rausgehauen.<br />
Die Fortsetzung „Noch ein Bier, Harry?“ im Folgejahr nachgelegt.<br />
Und auch seinen Sex-Roman „Wendekreis der U-Bahn“ (2006) hat er „einfach<br />
so drauflos geschrieben“. Dessen Titel erinnert nicht zufällig an Henry<br />
Miller, den er genauso wie Charles Bukowski, Ernest Hemingway, Jack London<br />
oder den Countrysänger Johnny Cash verehrt. Letzterer ist in der Altbauwohnung<br />
allgegenwärtig: Cash <strong>als</strong> Postergalerie im Flur, <strong>als</strong> Porträt<br />
auf dem Klo oder in dreifacher Ausführung handsigniert neben dem<br />
Spielautomaten in der Küche. „Ich habe über 50 Livekonzerte in ganz<br />
Europa gesehen und Cash sogar einmal auf seiner Heimatranch in Nashville<br />
besucht.“ Dort stellte sich der Sänger allerdings <strong>als</strong> ebenso lakonisch<br />
wie der Autor selbst dar. „Er sagte nur kurz Hello und verschwand wieder.<br />
Dafür hat mir die nette June Carter eigenhändig einen Tee gemacht.“<br />
Malornys Traum ist es, seine Zeit besser heute <strong>als</strong> morgen irgendwo in Laos,<br />
Kambodscha oder Thailand zu verbringen. Orte, die er in den Jahren 2006<br />
bis 2008 erkundet und bereits literarisch verarbeitet hat. Sein aktueller Krimi<br />
„Tod in Thailand“ spielt zur einen Hälfte eben dort, zur anderen in der<br />
Dortmunder Unterwelt. Und vielleicht ist es fast wieder autobiografisch,<br />
wenn die Hauptfigur, ein Rum süffelnder Privatschnüffler der untersten<br />
Klasse, am Ende zurück in Dortmund zu sich selber sagt: „Erstaunlich,<br />
dich hier zu sehen.“ Wird er das Schreiben irgendwann an den südostasischen<br />
Nagel hängen? „Nur wenn mein Arzt meint: Schreib keinen Fortsetzungsroman<br />
mehr. Doch wie gesagt, ich bin sehr gut im Anfangen – aber<br />
sehr schlecht im Beenden.“<br />
heimatlust | nr. 6
Er sah sie an der Bar wieder.<br />
Der Lichterglanz der schäbigen<br />
Beleuchtung spiegelte sich in<br />
ihrem langen braunen Haar so,<br />
<strong>als</strong> hätte sie kleine Streifen von<br />
Lametta eingeflochten. Sie lächelte<br />
ihm zu. Zuerst wusste er<br />
nicht, ob sie ihn oder die warme<br />
Luft meinte. Diese Bar war<br />
eigentlich nur eine Strandhütte,<br />
wo ein paar Typen den Abend<br />
ausklingen ließen, weil es sonst<br />
nichts zu tun gab, man genoss<br />
Ruhe und Beschaulichkeit und<br />
stieg zu Mittag aus den Betten,<br />
und kroch Mitternacht wieder<br />
rein. Wenige Meter vom Tresen<br />
entfernt kräuselten sich die Wellen<br />
des Meeres, überschlugen sich und wischten über den Strand<br />
und glätteten den weißen Sand, bevor sie wieder abflossen. Die<br />
Natur war sich dank der Kontinuität im Reinen. Der Drink half<br />
ihm, für einen Augenblick mit sich selbst im Reinen zu sein.<br />
Der Mann hatte einen guten Grund, auf dieser Insel der Kontemplation<br />
zu stranden. Zuerst wollte er das Lächeln der Frau<br />
nicht erwidern, wie oft hatte ihn ein Lächeln in die Bredouille<br />
gebracht, nur halbherzig nickte er ihr zu. Ein kühlender Wind<br />
strich durch die Bar, wurde heftiger und blies die Aschenbecher<br />
leer und fuhr dann übers Dach, zupfte an der Plane und<br />
verschwand. Der hochgewachsene, muskulöse Barkeeper entblößte<br />
sein Gebiss und lächelte: „Heute Nacht gibt‘s Regen.”<br />
Reggae-Musik mischte sich unter das Plätschern der Wellen und<br />
des aufziehenden Windes, nicht weit entfernt kläfften zwei spielende<br />
Hunde, man konnte ihre Silhouetten im Mondlicht erkennen<br />
und ihre Schatten schienen zu tanzen. Der Keeper hatte den<br />
Drink „Dirty Love“ getauft, an dem sie nippte. Sie registrierte<br />
sein halbherziges Kopfnicken und lächelte ihm weiter zu, man<br />
kannte sich sozusagen und war sich mehrm<strong>als</strong> über den Weg gelaufen,<br />
was hier auch unumgänglich war. Jedenfalls nippten sie<br />
beide an ihrem „Dirty-Love-Drink“, mit einem lustigen Schirmchen<br />
obendrauf, ihr Lächeln gegen seins, unterbrochen von den<br />
prüfenden Blicken zum Himmel.<br />
Der Barkeeper polierte gewissenhaft die gespülten Gläser und<br />
summte im Takt zur Musik. Langsam zogen dunklere Wolken heran<br />
und deckten sich wie ein Vorhang über die Sterne. Sie schlenderte<br />
lächelnd zu ihm rüber und hielt das Glas in beiden Händen,<br />
stellte es so nahe neben sein Glas, dass sich die Schirmchen berührten,<br />
und sagte: „Kennen Sie den? Kommt ein Patient zum Arzt...“<br />
Er musste lachen. Und weil es das erste Mal seit langer Zeit gewesen<br />
war, lachte er wie eine Ziege, die unterm Bett meckert. Seine eigene<br />
Stimme erschreckte ihn, aber der Keeper mixte Drinks, die es in<br />
sich hatten, bald redete er flüssig, witzig, und antwortete souverän.<br />
Sie erzählte noch gut ein Dutzend Witze und Anekdoten, sie<br />
lachte und nippte am „Dirty-Love-Drink”, er lachte einfach<br />
mit, dann wurde der Wind stärker, weiter draußen wuchsen die<br />
Wellen, gewannen an Kraft, man konnte den Sturm bereits hören,<br />
und der freundliche Barkeeper zog eine Augenbraue hoch<br />
und räumte die Flaschen und Gläser weg, schloss sorgfältig alle<br />
Eine Bar<br />
Hartmuth Malorny<br />
Schränke und Schubladen ab,<br />
nahm das Trinkgeld in Empfang<br />
und wünschte den beiden<br />
letzten Gästen eine gute Nacht.<br />
Sie schaute kurz zum dunklen<br />
Himmel, hielt inne und drehte<br />
sich abrupt um. „Morgen wird es<br />
sicherlich wieder den ganzen Tag<br />
regnen”, sagte sie leise. „Sicherlich”,<br />
antwortete er. „Was kann<br />
man schon alleine im Zimmer<br />
machen?” Statt etwas zu sagen,<br />
schwieg er. Sie gingen gemeinsam<br />
die Stufen zum Hotel hoch. Das<br />
hölzerne Reklameschild schaukelte<br />
und machte ein knarrendes<br />
Geräusch. Dann kam der Regen,<br />
dicke Tropfen klatschten in den<br />
Sand und schäumten das Meer, sie fegten schräg über die Bar und<br />
durchnässten die beiden so schnell, dass es längst unnötig war, <strong>als</strong><br />
er ihre Hand nahm und sie zum Laufen aufforderte. Unter dem<br />
Vordach ließ er die Hand wieder los. Sie schauten sich atemlos<br />
an. Der Regen schmeckte salzig. Die Frau strich sich eine lange<br />
Strähne aus dem Gesicht.<br />
„Gute Nacht”, sagte er.<br />
„Gute Nacht.” Sie drehte sich eilig um und ging.<br />
Am nächsten Morgen war der Himmel klar, das Meer lag ruhig<br />
und die Blätter der Palmen bewegten sich nicht. Er schaute lange<br />
aus dem Fenster, und plötzlich sah er sie unten am Strand.<br />
Sie trug einen knappen Bikini und hielt ihre Hand schützend<br />
gegen die blendende Sonne und spähte zum Meer hinaus. Er<br />
stand nackt vor dem Fenster und überlegte, was sie wohl dort<br />
draußen suchte. Alles war wie immer, nur mit dem Unterschied,<br />
dass es mal nicht regnete. Je nach Wetter begegnete man sich am<br />
Strand oder im Hotel, niemand schien interessiert, jeder hatte<br />
seine eigene Geschichte, keiner wollte jemand kennenlernen und<br />
das fand er wirklich O.K., und weil alle so dachten, war es ziemlich<br />
ruhig. Bis diese Frau mit dem letzten Schiff gekommen war.<br />
Man ging rüber zum Anlegeplatz und nahm seine Post entgegen,<br />
in der Regel alle zwei Wochen, manchmal fuhr einer ab,<br />
selten kam jemand an. Ein paar einheimische Familien versorgten<br />
die wenige Touristen, die eigentlich keine waren. Wegen<br />
der ungünstigen geographischen Lage war das Wetter so<br />
unbeständig, dass man es selten für den nächsten Tag vorhersagen<br />
konnte. Die meisten lebten seit Monaten hier, das Hotel<br />
ersetzte das Zuhause. Nun wohnte eine Frau unter ihnen. Sie<br />
lachte und scherzte mit dem Hotelbesitzer, Punkt sieben Uhr<br />
erschien sie an der Bar und bestellte einen “Dirty-Love-Drink”,<br />
und bereits zum Sonnenaufgang sah man sie am Strand, wie sie<br />
das Meer beobachtete. Das ging jetzt schon seit drei Tagen so.<br />
„Die hat mir gerade noch gefehlt”, dachte er.<br />
Es gab keine Möglichkeit das Hotel zu wechseln, es gab kein anderes.<br />
Man würde sich allabendlich an der Bar treffen, und über<br />
kurz oder lang unweigerlich näher kommen.<br />
Er schaute ihr weiter nach, da drehte sie sich schlagartig um und<br />
blickte zu ihm hoch. Er ging langsam vom Fenster weg, mixte<br />
Rum und Ananassaft und trank.<br />
nr. 6 | heimatlust
Uni fertig, Praktika gemacht, kein passender Job in Aussicht – schon<br />
kommt das schlechte Gewissen, dass der eigene Lebensweg doch nicht gerade verläuft.<br />
Und plötzlich sind die Worte „eigentlich“ und „irgendwie“ allgegenwärtig.<br />
text Volker K. Belghaus<br />
Veras Bier wird warm. Ein Teil des Etiketts klebt klamm<br />
an ihrem Handrücken. Ein Geburtstag anderer Leute,<br />
ein paar kleine Gespräche. Mit Nils beispielsweise, bevor<br />
er in Richtung Küche verschwunden, und wie die<br />
meisten anderen, direkt dageblieben ist. Der auf die<br />
Gesprächsverlängerungsfrage „Und was machst du so?“<br />
eine Pause gemacht und durchgeatmet hat. Diese Reaktion<br />
kennt sie, diesen Moment inneren Sammelns, wenn<br />
man immer die gleichen Fragen immer gleich beantworten<br />
muss.<br />
sei er ja Architekt, war an der<br />
Uni einer der Besten, mit Auslandsaufenthalten und so.<br />
Und jetzt? Momentan arbeite er <strong>als</strong> Bauzeichner in einem<br />
kleinen Büro, so „projektmäßig“. Fiese Wörter hat<br />
er <strong>als</strong>o auch drauf. Und abends kellnert er in einer Kneipe.<br />
Aber wie sie denn<br />
die aktuelle CD von<br />
„Coldplay“ finden würde, lenkt er ab; da sei ja dieses<br />
berühmte Gemälde der französischen Revolution vorne<br />
drauf. Irgendwie nervt der dann doch, und Vera fragt<br />
zurück, warum denn ausgerechnet auf einem Coldplay-<br />
Cover von Revolution die Rede sei. Und in Gedanken<br />
empfiehlt sie ihm, mal wieder „Gehen“ von Thomas<br />
Bernhard zu lesen.<br />
Ist man vielleicht von manchen Menschen deshalb<br />
genervt, weil sie einem selbst zu nahe sind mit ihren<br />
Lebensgeschichten? Und man sich erschrocken selber<br />
sieht? Shakespeare: „Und gäbe es euch zweimal, es wäre<br />
nicht von langer Dauer, denn ihr brächtet euch gegenseitig<br />
um“? Unscharf, aber sinngemäß zitiert? Zwei<br />
Leute weiter verschluckt sich gerade ein Mädchen vor<br />
Lachen an ihrer Bionade. Sabine, die hat doch früher<br />
Design studiert, dann ein, zwei Praktika in<br />
fragwürdigen Agenturen gemacht, in die sie eh nicht<br />
reinpasste, und studiert jetzt Kunst auf Lehramt. Wirkt<br />
seitdem aber fröhlicher und hat seltener diese steile<br />
Falte zwischen den Augen. Sabine guckt kurz rüber, sie<br />
hat Tränen in den Augen, aber ein Lächeln im Gesicht.<br />
Vera lächelt zurück und denkt, dass das die<br />
passende Gefühlslage für eine Generation wie die ihrige<br />
ist. Diese Generation, die keine ist, aber<br />
in zweifelhaften Büchern wechselweise <strong>als</strong> Generation<br />
„Golf“, „Umhängetasche“ oder „Doof“ betitelt wird. Dabei<br />
ist das, was diese Menschen, <strong>als</strong>o uns, verbindet, die<br />
unterschiedliche Art der Biografien; der gewollten oder<br />
ungewollten Brüche in der Lebensplanung.<br />
in einer Hamburger Agentur, und seitdem ist es vorbei<br />
mit Mädelsabend. Stattdessen Karriere und Kinder, aufgeteilt<br />
auf zwei Personen. Es ist ja nicht so, dass sie Mascha<br />
ihr Glück nicht gönne, denkt Vera und angelt sich<br />
ein Stück Baguette vom Büffet, aber irgendwie stimmt<br />
da was nicht. Das ist nicht mehr die Mascha, die sie im<br />
Studium kennengelernt hat – sie hat sich verändert.<br />
Wir, deren Leben aus ständigen Veränderungen<br />
besteht, fürchten uns vor diesen Veränderungen.<br />
Warum kriegt man so ein blödes Gefühl in<br />
der Magengegend, wenn andere Menschen sich und ihr<br />
Leben verändern und man denkt, man bleibt irgendwie<br />
übrig?<br />
Später am Abend steht Vera an der Straßenbahnhaltestelle,<br />
den Kopf voller Stimmen, denkt an Mascha und<br />
all die anderen, erinnert sich beim Anblick der Gegen-<br />
Straßenbahn an den schönen Satz von Reich-Ranicki,<br />
den sie kürzlich irgendwo gelesen hatte; demzufolge<br />
Geld nicht alles ist, aber es schöner sei, im Taxi zu weinen<br />
<strong>als</strong> in der Straßenbahn. Ist es denn wirklich so, dass<br />
nur unsere Generation diese Erfahrungen macht? War<br />
es nicht auch schon zu anderen Zeiten so, dass Lebenswege<br />
anders verliefen <strong>als</strong> vorher gedacht? Ist das überhaupt<br />
ein Problem oder eher eine Chance, Normalität,<br />
etwas, womit man sich abzufinden hat, Scheitern inbegriffen?<br />
Aus den sich öffnenden Türen der Straßenbahn<br />
entweicht warme, verbrauchte Luft. Die Bahn ist fast<br />
leer, eine Maschinenstimme sagt die Stationen an. Vera<br />
fällt Erika ein, Fotolaborantin, dunkler Typ, Mandoline<br />
konnte sie spielen. Berlin in den 30er Jahren, ihre große<br />
Zeit, immer rein ins Gewühl. Am Wochenende Potsdamer<br />
Platz, Haus Vaterland, bis sie eines Tages einen<br />
jungen Soldaten und Stuckateur aus dem Ruhrgebiet<br />
kennenlernt. Nach Krieg und Flucht war sie Hausfrau<br />
und Mutter in Essen, am Ende lange krank, doch wenn<br />
man sie auf Berlin ansprach, begannen ihre Augen zu<br />
leuchten. Und mit 90 Jahren konnte sie immer noch die<br />
alten Schlager singen. Auswendig. Vera lächelt ihr Spiegelbild<br />
in der Scheibe an. sollte sie sich nicht<br />
so viele Gedanken machen.<br />
Die Neige in ihrer Bierflasche ist jetzt endgültig schal,<br />
die Nudelsalatreste trocknen auf dem Buffet vor sich<br />
hin, ein bisschen Small Talk hier und da, nichts tieferes,<br />
aber man ist in Gesellschaft, immerhin. Wenn Mascha<br />
hier wäre, könnten sie sich über den Typen in dem<br />
rosafarbenen Polohemd lustig machen, aber Mascha<br />
ist ja in Hamburg.<br />
sollte sie hier sein, und<br />
sollte sie eine halbwegs erfolgreiche Fotografin<br />
sein, wenn da nicht vor zwei Jahren Axel vor ihr auf<br />
der Straße gestanden hätte. Ein gutes Jahr später war sie<br />
schwanger, seit ein paar Monaten hat Axel eine Stelle<br />
heimatgedanke | nr. 6
nr. 6 | heimatgedanke
Carbonlenker „Next SL“ von Raceface, www.bikeaction.de | Sattel „SLR XP“ von selle Italia, www.paul-lange.de<br />
Kunst vs Design<br />
Die Grenze zwischen Kunst und Design scheint immer mehr zu verschwimmen.<br />
Wir haben Experten gebeten, über den Zaun zu schauen, den man heute so gern übersehen<br />
will. Die Blickwinkel variieren.<br />
<br />
heimatgedanke | nr. 6
„Das Kommunikationsdesign, von Natur aus extrovertiert und zur Geselligkeit<br />
neigend, kann durch den zur Einmaligkeit bestimmten Eigensinn<br />
der künstlerischen Form- und Inhaltsfindung sich selbst befragen und in<br />
Frage stellen, und umgekehrt kann das Design der Kunst den Weg in den<br />
gesellschaftlichen Gebrauch öffnen.“ *5<br />
„Design hat eher eine dienende Funktion. Es geht darum,<br />
den Dingen, mit denen wir umgehen, eine angemessene<br />
Form zu verleihen. Kunst ist Grundlagenforschung. Es geht<br />
um allgemeinen Erkenntnisgewinn. Aber es gibt natürlich<br />
auch ein Niemandsland zwischen den beiden Bereichen.<br />
Und nur Krämerseelen verschwenden zuviel Energie darauf,<br />
die Grenzpolizei zu spielen. Wichtig für meine Entwicklung<br />
war z. B. das von Christian Borngräber herausgegebene<br />
Berliner Design-Handbuch, das im Sinne eines erweiterten<br />
Design-Begriffs solche Bastard-Fälle versammelt.“ *1<br />
fotografie <strong>Bande</strong><br />
„Die Grenze zwischen Kunst und Design ist<br />
heute sicherlich fließender geworden, aber die Überschneidungen<br />
an den Randzonen sind es auch,<br />
an denen die interessanten Fragen entstehen. Wir haben in<br />
diesem Jahr im MARTa Herford erst wieder erlebt, wie viele Funken sich daraus schlagen lassen, Design unter<br />
künstlerischer Perspektive in einen argumentativen Ausstellungszusammenhang zu bringen. Dennoch ist es für<br />
die Diskussion über Kunst und Design immens wichtig, sich über den entsprechenden Kontext im Klaren zu sein, in<br />
dem sich eine Arbeit jeweils bewegt.“ *2<br />
„Design ist Form und Funktion – ästhetisch und smart. Kunst ist individueller<br />
Ausdruck – schön und hässlich. Mehrdeutig und verstörend. Politisch<br />
und unpolitisch. Kunst erfüllt keine funktionale Aufgabe. Beides ist forschend<br />
und lebt vom Neuen, der Idee und der Umsetzung.“ *3<br />
„Kunst ist das Medium für Museen und Sammler geworden, <strong>Gestaltung</strong><br />
ist das Medium für Jedermann. Doch gute <strong>Gestaltung</strong> hat eine<br />
künstlerische Haltung nötig, Gestalter wie auch Künstler müssen<br />
besonders kritisch sein und an das glauben, was sie tun.“ *6<br />
„Was Kunst ist oder was Design ist,<br />
bestimmen die Macher, die Betrachter und<br />
der Markt. Es gibt natürlich Unterschiede,<br />
es sollte aber keine Grenzen geben. Das<br />
Entscheidende ist und bleibt für<br />
mich deshalb die<br />
Inspiration.“ *4<br />
*1 Matthias Schamp, Konzeptkünstler und Ampelperformer, Bochum<br />
*2 Roland Nachtigäller, Künstlerischer Direktor des MARTa Herford<br />
*3 Felix Dobbert, Fotograf und Dozent an der TU Dortmund<br />
*4 Guido Röcken, Veranstalter (u. a. Bochumer Designpreis und FormArt), Herten<br />
*5 Jörg Eberhard, Professor für Experimentelle <strong>Gestaltung</strong>, Folkwang Hochschule Essen<br />
* 6 Anke Bernotat, Professorin für Industriedesign, Folkwang Hochschule Essen<br />
nr. 6 | heimatgedanke
Alle wollen<br />
Bottrop-Urlaub<br />
(aber keiner kann’s sich leisten)<br />
text Grobilyn Marlowe<br />
illustration Thomas Armborst<br />
Aus pekuniären Gründen mache ich Heimaturlaub und<br />
liege rauchend im sommerlichen Westpark auf einer<br />
Decke. Meine Lektüre verrät mir, dass ernsthafte Wissenschaftler<br />
dem gemeinen Grünzeug ein erstaunliches<br />
Ausmaß an Intelligenz und Problemlösungsfähigkeit<br />
zusprechen. Was ich sehr interessant finde, da in diesem<br />
Moment der „Blumenmann“ an mir vorbeisaust. Dieses<br />
wundersame Wesen ist ein stadtbekannter Hybrid<br />
aus bärtigem Mensch, altem Rennrad und unzähligen<br />
Plastikblumengirlanden, mit denen er sich und seinen<br />
fahrbaren Untersatz dekoriert hat. Wie ein auf Trash gebürsteter<br />
antiker Fruchtbarkeitsgott braust er im Fahrtwind<br />
knatternd dahin und eröffnet damit für heute und<br />
mich einen fantastischen Reigen exzentrischer, einheimischer<br />
Folkloredarbietungen. Denn während im Hintergrund<br />
erster Grilldunst aufzieht und studentische<br />
Aufständische die Bongotrommeln rühren, nähert sich<br />
jetzt der „Scheich“.<br />
Lila Kaftan, rot blinkende Stirnlampe, Spiegelsonnenbrille<br />
sowie ein paar klobige Gothic-Rock-Stiefel sind<br />
sein Outfit für den gepflegten Soloumtrunk auf der<br />
Parkbank nebenan. Vor die hat jemand rätselhafterweise<br />
einen Zebrastreifen auf den Weg gepinselt. Nachdem<br />
ich den lila Scheich dabei beobacht habe, wie er<br />
eine Batterie Fusel in Nullkommanix weg lunkt, weiß<br />
ich auch warum. Der Zebrastreifen dient dem leicht<br />
desorientiert wirkenden Lila-Laune-Mann offensichtlich<br />
<strong>als</strong> Wegweiser zu dem Gebüsch gegenüber. Und <strong>als</strong><br />
ich mich noch frage, ob so ein Kaftan eher nützlich oder<br />
hinderlich beim öffentlichen Urinieren ist, passiert es:<br />
Ein kurzer Aufschrei, es kracht und knackt, hier ein wedelnder<br />
Arm, dort ein bestiefeltes Bein und schon ist<br />
der Scheich von dem Gebüsch verschlungen. Für einen<br />
Augenblick meine ich noch das hektische rote Blinken<br />
seiner Stirnlampe aus den Blättertiefen wahrzunehmen,<br />
doch auch das erstirbt, so dass ich nach einer Minute beschließe,<br />
besser einen Platzwechsel vorzunehmen. Immerhin<br />
sind die öffentlichen Toiletten hier anscheinend<br />
total verwohnt.<br />
Am Biergarten bei den Boulespielern steht ein anderer<br />
Freak, nämlich der Verkünder, und verkündet jedem,<br />
der es nicht hören will, mit mahnender Stimme seine<br />
persönliche Apokalypse. Phil Collins sei besser <strong>als</strong> Peter<br />
Gabriel, denn der habe heute Morgen eine Kloschüssel<br />
umarmt und überhaupt, er selbst liebe alle hier Anwesenden.<br />
Ja, LIEBE, L-I-E-B-E! „Ich liebe euch alle!“<br />
ruft er. Doch niemand erwidert seine Liebe. Die Boulespieler<br />
auf beiden Plätzen, durch Wind, Wetter und<br />
Hansapils gestählt, ignorieren ihn. Die Biergartengäste<br />
sind beschäftigt mit ihren Dates und den Milchkaffees,<br />
oder, wenn es letztes Jahr schon mit den Dates geklappt<br />
hat, ihren auslaufenden Kindern und den einlaufenden<br />
Weizen.<br />
So setzt der einsame Verkünder zu einem seiner großen<br />
Isolationsmonologe an: „Ich zieh mir gleich meine Unterhose<br />
über den Kopf!“ warnt er mehrfach, und dann,<br />
schon ein wenig hysterischer: „Ich hasse Tangas! Tangas<br />
sind ekelhaft! Ja, sogar menetekelhaft!“ Unglücklicherweise<br />
kommt jetzt eine sehr alte Dame des Weges,<br />
die einfach nur ihre Einkäufe nach Hause schaukeln<br />
möchte. „Du“, deutet der Verkünder auf das Ömchen,<br />
„du trägst bestimmt Tanga, oder? Ich hasse Tangas! Und<br />
Phil Collins hasst auch Tangas! PHIL COLLINS!!!“<br />
Die Oma sieht nicht aus, <strong>als</strong> hätte sie jem<strong>als</strong> von Phil<br />
Collins gehört, geschweige denn von menetekelhaften<br />
Tangas. Anscheinend hat sie aber auch ihr CS-Gas zu<br />
Hause vergessen und gibt deshalb Gummi über die Wiese.<br />
„Ha“, triumphiert da der Verkünder, „alle wollen<br />
Bottrop-Urlaub machen! Alle! Aber keiner kann’s sich<br />
leisten.“<br />
Was mich dann doch ernsthaft zum Grübeln bringt.<br />
Um Viertel nach zehn kommt die Polizei und erteilt<br />
dem Krakeeler ein 60-Meter-Biergarten-Umkreis-Aufenthaltsverbot.<br />
Da geht er in den Park hinein und<br />
schreit für den Rest der Nacht einen Baum an. Wenn es<br />
stimmt, dass Pflanzen intelligente Lebewesen sind, befürchte<br />
ich für die kommende Saison das Schlimmste.<br />
heimgeleuchtet | nr. 6
eine Veranstaltung für die KreatiVwirt schaft mit freundlicher unterstützung durch:<br />
gefördert durch:
I m p r e s s u m<br />
<strong>Heimatdesign</strong> Nr. 6 – Winter 2009/2010<br />
Verlag<br />
<strong>Heimatdesign</strong>, Hoher Wall 15, 44137 Dortmund<br />
Fon: 0231 - 950 03 28<br />
Fax: 0231 - 950 03 58<br />
i n f o @ h e i m a t d e s i g n . d e<br />
w w w . h e i m a t d e s i g n . d e<br />
Herausgeberin Reinhild Kuhn<br />
Chefredaktion Petra Engelke (V.i.S.d.P.)<br />
Assistenz Stephanie Julia Wagner<br />
Konzept, Marketing, Anzeigen, Vertrieb Marc Röbbecke<br />
Schlussredaktion Svenja Brüggemann, Anna-Ruth Fakner<br />
Art Direktion <strong>Bande</strong> – Für <strong>Gestaltung</strong>!<br />
(bandefuergestaltung.de)<br />
gesetzt aus „Girando“ von Guido Schneider (brass-fonts.de)<br />
sowie auf Seite 08 „Cinga“ von Daniel Angermann<br />
(daniel-angermann.de)<br />
Titelbild Marzena Skubatz<br />
Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe<br />
Sascha Abel, Volker K. Belghaus, Alexandra Brandt, Petra<br />
Engelke (p-eng.de), Wolfgang Kienast (Martini), Matylda<br />
Krzykowski (matandme.net), Hartmuth Malorny, Grobilyn<br />
Marlowe, Tom Thelen, Jan Wilms, Tanja Wißing, Ivonne<br />
Woltersdorf<br />
Fotografinnen und Fotografen dieser Ausgabe<br />
<strong>Bande</strong> – Für <strong>Gestaltung</strong>! (bandefuergestaltung.de), Katrin<br />
Füser, Jana Gerberding (janagerberding.de), Vanessa<br />
Leissring (vanessaleissring.com), Marzena Skubatz<br />
(marzenamika.com), Michael Thieme, Philipp Wente<br />
(wenteindustries.com), Hannes Woidich (hanneswoidich.de)<br />
Illustratorinnen und Illustratoren dieser Ausgabe<br />
Thomas Armborst (thomasarmborst.com), <strong>Bande</strong> – Für<br />
<strong>Gestaltung</strong>! (bandefuergestaltung.de), Annika Janssen &<br />
Sandra Greiling (weareyawn.com), Michael Lippoldt<br />
Mood Swing Management Armand Albaret<br />
Druck Druckverlag Kettler, Bönen<br />
gedruckt auf Tauro Offset 120g/m2 im FM-Raster<br />
Auflage 15.000, Erscheinungsweise halbjährlich<br />
Ein Nachdruck der Texte oder Fotos in <strong>Heimatdesign</strong> – auch<br />
im Internet – ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages<br />
gestattet. Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial<br />
wird keine Haftung übernommen.
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