Reihe SozNat*: Mythos Wissenschaft

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und, was vielleicht noch viel wichtiger ist, dem direkten Klassenbwußtsein und Verständnis derer in der Werkhalle" [12]. 35 Konsequenzen für den Naturunterricht Für die Gestaltung des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist nun entscheidend, daß das spezifische Arbeiterwissen einen gänzlich anderen Charakter als das wissenschaftlich-technische Wissen hat - genau deshalb ist es für die Intelligenz ja auch so unzugänglich. Es kann nur im unmittelbaren Arbeitsprozeß erworben werden, ist situationsbezogen, komplex und ganzheitlich. Es ist darüberhinaus weder verallgemeiner- noch systematisierbar und von daher das genaue (und notwendige) Gegenstück zum wissenschaftlichen Wissen. Lebten wir nicht in einer ausgesprochenen Intelligenzkultur, so würde man beide Wissensarten zweifellos für gleichwertig halten. Für die naturwissenschaftliche Fachdidaktik stellt dieses Arbeiterwissen indes ein kaum zu bewältigendes Problem dar. Denn ebenso wenig wie und weil es dem wissenschaftlichen Zugriff nicht zugänglich ist, ist es auch nicht didaktisierbar. Für Einsichten und Erfahrungen, die man nur in der Praxis erwerben kann, ist in einem Unterricht, der sich bereits in seinem Namen als "wissenschaftlich" deklariert, kein Raum. Denn was wäre der naturwissenschaftliche Unterricht ohne die sich ständig erweiternden Wissensbestände der professionellen Naturwissenschaft? Was bliebe von der so auffällig in den Vordergrund gerückten Fachkompetenz der Naturwissenschaftslehrer, wenn diese sich auf den unsicheren Boden eines Wissens begäben, das man nur vor Ort erwerben kann? Nun könnte man hier natürlich die Frage stellen, ob man sich in der Schule denn nicht zwangsläufig auf die wissenschaftliche Betrachtungsweise der Dinge beschränken müsse, sei es doch gerade das Charakteristikum des Arbeiterwissens, daß es nur in der Praxis erlernbar ist. Dieser Einwand ist insoweit richtig, wie die Schule ausschließlich im Dienste "systematischer" Wissensvermittlung nach Maßgabe der herrschenden Kultur steht. Wer die Schule nur als Sozialisations- bzw. "Enkulturations"­ Instanz der Intelligenz betrachtet, der sollte sich allerdings auch klar darüber sein, was das flir diejenigen Schüler bedeutet, die später nicht der Intelligenz, sondern der Produktionsarbeiterschaft angehören werden. So ist nach dem Vorhergehenden klar, daß die Wissenschaft in der sozialen Realität der Produktion wie der Gesellschaft bis auf wenige Ausnahmen (Lucas) nicht als produktive Ergänzung, sondern als destruktive Bedrohung des Wissens und der Existenz der Arbeiter in Erscheinung tritt. Wissenschaftler und Techniker stehen im Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Kapital in der Regel auf der Kapitalseite, machen doch die dem Primat ökonomischer Effektivität unterworfenen Ergebnisse ihrer Arbeit die Tätigkeit der (12) Cooley 1979, S. 14, hier in einer wörtlicheren Übersetzung des Originals.

36 unmittelbaren Produzenten zumeist nur anstrengender, inhaltsärmer oder gar überflüssig. Ein Unterricht, der die zukünftigen Arbeiter nur mit der "rationalen" Sichtweise ihrer potentiellen Gegenspieler bekannt macht, orientiert daher im Grunde genommen auf die prophylaktische Entwaffnung der unmittelbaren Produzenten, in dem er sie auf die Hinnahme des jeweils wissenschaftlich Vorgegebenen vorbereitet. Wenn die Arbeiter dennoch hier und da gegen ihre wissenschaftlich-technische Vereinnahmung zu Felde ziehen, so machen sie das aller Erfahrung nach primär auf der Grundlage ihres eigenen Wissens von den Dingen. Und das ist auch ihre einzige Chance: Lassen sie sich nämlich auf die Betrachtungsweise der Wissenschaftler und Ingenieure ein, dann impliziert das bereits im Vorab die Annerkennungjener wie auch immer gearteten "Rationalität", die ja gerade zu dem jeweils umstrittenen Mißstand geführt hat. Die pädagogische Utopie vom Arbeiteringenieur, der wissenschaftliches Wissen und Arbeiterwissen in sich vereint, muß daher so lange Utopie bleiben, wie die Ingenieure und die Arbeiter im konkreten Arbeitsprozeß prinzipiell auf zwei verschiedenen Seiten stehen. Wenn es aber nur ihr eigenes Wissen ist, auf das sich die Arbeiter bei der Wahrung ihrer Interessen stützen können, dann ist die vollständige Verdrängung ihres Wissens aus der Schule, ja seine beständige Denunzierung als irrelevant und unwissenschaftlich, ein ausgesprochenes Politikum. Dies um so mehr, als es etwa in der alltäglichen Umwelterfahrung der Schüler durchaus geeignete Ansatzpunkte für einen anders gearteten Naturunterricht gibt. Zwar könnte auch ein solcher Unterricht kein regelrechtes Arbeiterwissen vorwegnehmen. Doch wie man ein solches Wissen erwirbt und anwendet und wie wichtig und bedeutungsvoll es ist, das läßt sich ohne Schwierigkeiten bere~ts an praxisnahen Beispielen in der Schule vermitteln. Freilich gehört dazu die Bereitschaft der Lehrer, nicht alles schon vorher und besser zu wissen, sondern gelegentlich auch selbst etwas zu lernen. Denn ein auf den Erwerb von Praxiswissen zielender Unterricht muß den Schülern tatsächlich auch eine Praxis bieten, in denen sie ihr Wissen zumindest teilweise selbst erwerben und nutzen können. Bestimmte Richtungen der Reformpädagogik haben schon vor einem halben Jahrhundert Vorschläge für einen solchen Unterricht vorgelegt [13], und auch in der Gegenwart finden sich wieder erste Ansätze in dieser Richtung [14]. Doch bleiben sie nach wie vor die Ausnahme, obwohl die dabei gewonnen Erfahrungen ausnehmend positiv sind: Der Unterricht macht den Schülern nicht nur mehr Spaß (und ist damit automatisch lernwirksamer), sondern hinterläßt auch erkennbar weniger Selbstbewußtseinsdefizite, insbesondere bei den nach herkömmlichem Maßstab "schwachen" Schülern. Ein solcher Unterricht setzt allerdings bei den betreffenden Naturlehrern eine fortgeschrittene Emanzipation vom naturwissenschaftlichen Über-Ich (13) Vergleiche hierzu Schitzel 1978. (14) Z.B. Bielefelder Lehrergruppe 1979,Naumann 1981,StäudeljGeorge 1981;vgl. hierzu auch Hahne u. a. in diesem Band.

und, was vielleicht noch viel wichtiger ist, dem direkten Klassenbwußtsein<br />

und Verständnis derer in der Werkhalle" [12].<br />

35<br />

Konsequenzen für den Naturunterricht<br />

Für die Gestaltung des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist nun entscheidend,<br />

daß das spezifische Arbeiterwissen einen gänzlich anderen Charakter<br />

als das wissenschaftlich-technische Wissen hat - genau deshalb ist es für die<br />

Intelligenz ja auch so unzugänglich. Es kann nur im unmittelbaren Arbeitsprozeß<br />

erworben werden, ist situationsbezogen, komplex und ganzheitlich.<br />

Es ist darüberhinaus weder verallgemeiner- noch systematisierbar und von<br />

daher das genaue (und notwendige) Gegenstück zum wissenschaftlichen<br />

Wissen. Lebten wir nicht in einer ausgesprochenen Intelligenzkultur, so<br />

würde man beide Wissensarten zweifellos für gleichwertig halten.<br />

Für die naturwissenschaftliche Fachdidaktik stellt dieses Arbeiterwissen<br />

indes ein kaum zu bewältigendes Problem dar. Denn ebenso wenig wie und<br />

weil es dem wissenschaftlichen Zugriff nicht zugänglich ist, ist es auch nicht<br />

didaktisierbar. Für Einsichten und Erfahrungen, die man nur in der Praxis<br />

erwerben kann, ist in einem Unterricht, der sich bereits in seinem Namen<br />

als "wissenschaftlich" deklariert, kein Raum. Denn was wäre der naturwissenschaftliche<br />

Unterricht ohne die sich ständig erweiternden Wissensbestände<br />

der professionellen Naturwissenschaft? Was bliebe von der so auffällig<br />

in den Vordergrund gerückten Fachkompetenz der Naturwissenschaftslehrer,<br />

wenn diese sich auf den unsicheren Boden eines Wissens begäben,<br />

das man nur vor Ort erwerben kann?<br />

Nun könnte man hier natürlich die Frage stellen, ob man sich in der<br />

Schule denn nicht zwangsläufig auf die wissenschaftliche Betrachtungsweise<br />

der Dinge beschränken müsse, sei es doch gerade das Charakteristikum<br />

des Arbeiterwissens, daß es nur in der Praxis erlernbar ist. Dieser<br />

Einwand ist insoweit richtig, wie die Schule ausschließlich im Dienste<br />

"systematischer" Wissensvermittlung nach Maßgabe der herrschenden<br />

Kultur steht. Wer die Schule nur als Sozialisations- bzw. "Enkulturations"­<br />

Instanz der Intelligenz betrachtet, der sollte sich allerdings auch klar darüber<br />

sein, was das flir diejenigen Schüler bedeutet, die später nicht der Intelligenz,<br />

sondern der Produktionsarbeiterschaft angehören werden.<br />

So ist nach dem Vorhergehenden klar, daß die <strong>Wissenschaft</strong> in der sozialen<br />

Realität der Produktion wie der Gesellschaft bis auf wenige Ausnahmen<br />

(Lucas) nicht als produktive Ergänzung, sondern als destruktive Bedrohung<br />

des Wissens und der Existenz der Arbeiter in Erscheinung tritt. <strong>Wissenschaft</strong>ler<br />

und Techniker stehen im Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Kapital<br />

in der Regel auf der Kapitalseite, machen doch die dem Primat ökonomischer<br />

Effektivität unterworfenen Ergebnisse ihrer Arbeit die Tätigkeit der<br />

(12) Cooley 1979, S. 14, hier in einer wörtlicheren Übersetzung des Originals.

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