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Download - Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt

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In Würde arbeiten?!<br />

Ergebnisse des Wettbewerbs „In Würde arbeiten?!“<br />

Herausgeber: Haus kirchlicher <strong>Dienst</strong>e <strong>der</strong><br />

Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers<br />

Verantwortlich: Gerda Egbers, <strong>Kirchlicher</strong> <strong>Dienst</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitswelt</strong> (V.i.S.d.P.)<br />

Hausanschrift: Archivstraße 3, 30169 Hannover<br />

Postanschrift: Postfach 2 65, 30002 Hannover<br />

Fon: 0511 1241-672 Fax: 0511 1241-900<br />

E-Mail: egbers@kirchliche-dienste.de<br />

Internet: www.kirche-arbeitswelt.de<br />

Titelbild: Anette Gilke<br />

Satz und Layout: Christiane Rettig<br />

Druck: Haus kirchlicher <strong>Dienst</strong>e, gedruckt auf Recycl<strong>in</strong>gpapier aus 100% Altpapier<br />

2. Auflage: 250 Ausgabe: Januar 2011<br />

Artikelnummer: 565480


Grußwort<br />

Oberbürgermeister Stephan Weil<br />

Die Würde des Menschen<br />

ist unantastbar.<br />

So heißt es klipp und klar<br />

im Grundgesetz.<br />

Aber wie sieht es mit <strong>der</strong> Würde<br />

im Alltag und im Berufsleben<br />

tatsächlich aus?<br />

Noch immer gibt es Niedriglöhne,<br />

die nicht zum Lebensunterhalt<br />

reichen. Noch immer<br />

gibt es prekäre Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen.<br />

Kostendruck wird an<br />

Mitarbeiter „weitergegeben“. M<strong>in</strong>ijobs,<br />

Leiharbeit und befristete Verträge sorgen<br />

für soziale Unsicherheit bei den Beschäftigten.<br />

Oft hat das nicht nur f<strong>in</strong>anzielle,<br />

son<strong>der</strong>n auch fatale seelischen Folgen.<br />

Die Würde wird doch angetastet.<br />

Das können wir nicht h<strong>in</strong>nehmen. Und dazu<br />

dürfen wir nicht schweigen. Der Wettbewerb<br />

„In Würde arbeiten?!“ und se<strong>in</strong>e Ergebnisse<br />

haben e<strong>in</strong> deutliches Zeichen dagegen gesetzt.<br />

Mit me<strong>in</strong>er Schirmherrschaft für diese Aktion<br />

habe ich deutlich zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen<br />

wollen, wie wichtig mir die Anliegen <strong>der</strong><br />

Betroffenen s<strong>in</strong>d.<br />

Es s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>drucksvolle Arbeiten e<strong>in</strong>gereicht<br />

worden, die sich auf fantasievolle und sehr<br />

unterschiedliche Weise mit dem Thema ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen.<br />

E<strong>in</strong>ige davon s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser<br />

Broschüre zusammengefasst. Sie sollen zum<br />

Nachdenken anregen, aber auch zum Handeln.<br />

Das Wort Würde leitet sich sprachlich von<br />

Wert ab.<br />

Unsere Würde hat e<strong>in</strong>en unschätzbaren<br />

Wert.<br />

Stephan Weil<br />

Oberbürgermeister<br />

<strong>der</strong> Landeshauptstadt Hannover<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

Grußwort des Oberbürgermeisters <strong>der</strong> Landeshauptstadt Hannover Stephan Weil .............. 1<br />

In Würde arbeiten?!<br />

E<strong>in</strong>führung von Gerda Egbers und Sebastian Wertmüller ....................................................... 3<br />

I. In Würde arbeiten?! Die Sicht <strong>der</strong> prekär Beschäftigten<br />

Berufskrankheit, Christ<strong>in</strong>e Zureich ............................................................................................. 4<br />

Zeitarbeit, Birgit ben Rabah ....................................................................................................... 6<br />

Motivation, Sascha W<strong>in</strong>dolph .................................................................................................... 7<br />

Klamotten für den Zeitgeist, Pandora ....................................................................................... 8<br />

Zeit ist Geld, Sandra Köhler ...................................................................................................... 10<br />

Trotzdem, Sonja di Montesal<strong>in</strong>as ............................................................................................. 11<br />

Fast da, Cor<strong>in</strong>na Gerhards ........................................................................................................ 12<br />

Der arme Musiker, Raul David Obregon Ponte ....................................................................... 13<br />

Selbstwert, Unverständnis und Relativitätstheorie, Gunnar Werner ..................................... 13<br />

In Würde arbeiten?!, Erw<strong>in</strong> Stefaniuk ..................................................................................... 15<br />

„Mehr - wert“, Julia Hoenen ..................................................................................................... 16<br />

Collage, Benjam<strong>in</strong> Senst ........................................................................................................... 18<br />

Mobb<strong>in</strong>g – Des Teufels General, Anna-Tiqvah Nym-Haad ...................................................... 19<br />

Ich wache immer noch manchmal morgens auf und denke, ich träume das alles<br />

Wilfried Vorzelter ..................................................................................................................... 20<br />

50 plus – In Würde arbeiten?!, Erw<strong>in</strong> Stefaniuk ..................................................................... 23<br />

Humor befreit, Hans Mühsal ................................................................................................... 23<br />

In Würde arbeiten?!, Peter Rosacker ....................................................................................... 24<br />

Zahl Du mal von Sechs-Fünfzig die Stunde 300,- für’s Wohnen, Klaus-Dieter Gleitze ......... 25<br />

Tagesmutter, Angelika A. ......................................................................................................... 26<br />

Asbestfaserjahre, Anonym ........................................................................................................ 26<br />

Grundgesetz Art. 1 und 3, Tanja Zimmer-Hei<strong>der</strong> .................................................................... 27<br />

II<br />

Daten und Fakten zu prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen<br />

Mehr Beschäftigung – aber was für welche? .......................................................................... 28<br />

Zahl <strong>der</strong> Niedriglohnbeschäftigten .......................................................................................... 29<br />

Niedriglohnschwellen und -anteile .......................................................................................... 29<br />

Beschäftigte nach Stundenlöhnen ........................................................................................... 30<br />

Branchen mit hohen Niedriglohnanteilen ............................................................................... 30<br />

Geschlecht .................................................................................................................................. 31<br />

Beschäftigtengruppen mit beson<strong>der</strong>s hohem Niedriglohnrisiko ........................................... 31<br />

Niedrige Tariflöhne <strong>in</strong> Euro/Stunde ......................................................................................... 32<br />

Qualifikation ............................................................................................................................. 32<br />

Wenig Geld für viel Arbeit ....................................................................................................... 33<br />

Niedriglohnanteile im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich ................................................................... 33<br />

Wenn <strong>der</strong> Lohn nicht reicht…Subentionen für Billiglohnbranchen ...................................... 34<br />

Leiharbeit ................................................................................................................................... 34<br />

E<strong>in</strong>-Euro-Jobs ............................................................................................................................. 34<br />

Kapitale<strong>in</strong>kommen hängen Löhne ab ..................................................................................... 35<br />

Rente unter Sozialhilfeniveau .................................................................................................. 35<br />

Gesetzliche M<strong>in</strong>destlöhne <strong>in</strong>mternational .............................................................................. 36<br />

Trotz alledem – Arbeiten? Ja, bitte! ........................................................................................ 36<br />

IIIA/B Ermutigende Urteile und Erfahrungen ......................................................................... 37<br />

2<br />

IV In Würde arbeiten – dafür treten wir e<strong>in</strong> ...................................................................... 39


In Würde arbeiten?!<br />

E<strong>in</strong>führung<br />

„Seit zwei Jahren verschiebe ich die Zahnbehandlung,<br />

die Löcher werden immer größer“<br />

…„es darf nichts kaputt gehen“ …„bei den<br />

explodierenden Energiekosten können wir<br />

nicht mehr heizen“…„man kann sich gar<br />

nicht mehr über die Arbeit freuen, man kann<br />

nicht mehr fröhlich se<strong>in</strong>“…„ich b<strong>in</strong> 50 und<br />

habe ke<strong>in</strong>e Lust mehr am Leben“.<br />

Immer mehr Menschen arbeiten zu Bed<strong>in</strong>gungen,<br />

die ihre Würde verletzen: Der Lohn<br />

reicht nicht zum Leben, die Arbeit ist befristet,<br />

es wird nur ger<strong>in</strong>gfügige Beschäftigung<br />

(„M<strong>in</strong>ijobs“) o<strong>der</strong> Leiharbeit angeboten. Die<br />

prekären Formen <strong>der</strong> Beschäftigung haben<br />

die Gefahr <strong>der</strong> Verarmung trotz Arbeit entscheidend<br />

verschärft. Nicht nur Armut im<br />

reichen Deutschland ist e<strong>in</strong> Skandal, mehr<br />

noch Armut trotz Arbeit.<br />

Motivation für die Kooperation von KDA und<br />

DGB <strong>in</strong> diesem Projekt ist die geme<strong>in</strong>same<br />

Überzeugung, dass je<strong>der</strong> Mensch das Recht<br />

auf e<strong>in</strong> auskömmliches E<strong>in</strong>kommen und auf<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Planungssicherheit für se<strong>in</strong> Leben<br />

hat. Biblisch-sozialethisch wird dies u.a.<br />

im Gleichnis von den Arbeitern im We<strong>in</strong>berg<br />

untermauert.<br />

Über prekäre, also unsichere Arbeit wird <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit viel geschrieben und diskutiert.<br />

Die Betroffenen selbst kommen dagegen<br />

selten zu Wort. Die meisten scheuen die<br />

Öffentlichkeit – nicht nur wegen drohen<strong>der</strong><br />

Repressalien am Arbeitsplatz, son<strong>der</strong>n auch<br />

wegen <strong>der</strong> Stigmatisierung und <strong>der</strong> damit<br />

verbundenen Abwertung. Viele glauben<br />

fest daran, dass dies e<strong>in</strong> vorübergehen<strong>der</strong><br />

Zustand ist, dass ihnen bald e<strong>in</strong> attraktiverer<br />

Job w<strong>in</strong>kt. E<strong>in</strong> Job, den man gerne ausübt,<br />

zum Herzeigen, auf den man stolz se<strong>in</strong> kann,<br />

mit dem man sich e<strong>in</strong>en angemessenen Lebensstandard<br />

leisten kann.<br />

Der Wettbewerb „In Würde arbeiten?!“<br />

macht Betroffene zu mutigen Akteuren. Wir<br />

danken allen Teilnehmenden für die Erlaubnis<br />

<strong>der</strong> Veröffentlichung ihrer Beiträge.<br />

E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> <strong>in</strong> dieser Broschüre abgedruckten<br />

Geschichten, Gedichte, Sachtexte und Bil<strong>der</strong><br />

haben wir prämiert. Aber alle Beiträge s<strong>in</strong>d<br />

es wert, von <strong>der</strong> <strong>in</strong>teressierten Öffentlichkeit<br />

wahrgenommen zu werden, weil sie die<br />

Arbeits-Welt „von unten“ zeigen. Möge es<br />

all jene nachdenklich stimmen, die so vehement<br />

den Niedriglohnsektor verteidigen, gar<br />

se<strong>in</strong>en Ausbau for<strong>der</strong>n und die weitere Deregulierung<br />

des Arbeitsmarktes betreiben.<br />

Im „Europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung“<br />

s<strong>in</strong>d nicht zuletzt die nationalen<br />

und europäischen Gesetzgeber gefragt:<br />

Schutzrechte von ArbeitnehmerInnen dürfen<br />

nicht weiter abgebaut werden. Im Gegenteil<br />

gilt es, sie als Schutz gegen Armut und Ausgrenzung<br />

auszubauen!<br />

Hannover, im September 2010<br />

Gerda Egbers, KDA<br />

Sebastian Wertmüller, DGB<br />

Kooperationspartner und Sponsoren des Wettbewerbs<br />

DGB Nie<strong>der</strong>sachsen-Mitte<br />

<strong>Kirchlicher</strong> <strong>Dienst</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitswelt</strong> (KDA)<br />

Ev.-luth. Stadtkirchenverband<br />

IG Metall<br />

Ver.di<br />

Asphalt Magaz<strong>in</strong> gGmbH<br />

DGB Bezirk Nie<strong>der</strong>sachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt<br />

Bildungsvere<strong>in</strong>igung Arbeit und Leben<br />

3


I. In Würde arbeiten?!<br />

Die Sicht <strong>der</strong> prekär Beschäftigten<br />

Berufskrankheit<br />

E<strong>in</strong>e Kurzgeschichte von Christ<strong>in</strong>e Zureich<br />

„Und dann sagte <strong>der</strong> Arzt, er hätte so was<br />

noch nie gesehen und wüsste auch nicht<br />

weiter,“ sagte Schrö<strong>der</strong> und schob se<strong>in</strong> leeres<br />

Glas dem Barkeeper entgegen. Er reckte<br />

se<strong>in</strong>en Zeigef<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> die Höhe und nickte,<br />

um noch e<strong>in</strong>s zu bestellen. Der Barkeeper<br />

lächelte zurück.<br />

„Er wollte mich sogar mit auf e<strong>in</strong>en Kongress<br />

nehmen, <strong>in</strong> die USA, als <strong>in</strong>teressanten Fall.<br />

Den Flug hätte ich aber selbst zahlen müssen<br />

und woher hätte ich das Geld nehmen<br />

sollen? Also bleibe ich zu Hause. Und dann<br />

wollte ich auch nicht me<strong>in</strong>e Situation so<br />

öffentlich schil<strong>der</strong>n müssen. Am Ende hätte<br />

ich mich vielleicht noch ausziehen sollen vor<br />

den Top-Neurologen <strong>der</strong> Welt, ne<strong>in</strong>, so viel<br />

Schamgefühl leiste ich mir noch!<br />

Vielleicht, wenn es e<strong>in</strong> Honorar gegeben<br />

hätte, hätte ich mir das noch e<strong>in</strong>mal überlegt,<br />

aber nur für e<strong>in</strong> bisschen Berühmtheit strippe<br />

ich nicht, ne<strong>in</strong> Danke. Ich würde ja auch<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Talkshow gehen, obwohl es schon<br />

Anfragen gab. Und was hätte ich schon zu<br />

erzählen gehabt? Ich weiß doch selbst nicht<br />

mehr so genau, wie und wann das angefangen<br />

hat.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich vor knapp zwei Jahren, e<strong>in</strong><br />

paar Monate, nachdem ich me<strong>in</strong> Studium zu<br />

Ende gebracht hatte, als ich dann noch e<strong>in</strong>en<br />

schlecht bezahlten Call Center-Job annahm,<br />

weil ich nichts Qualifiziertes fand. Es sollte ja<br />

nur kurzfristig se<strong>in</strong>. Jedenfalls hieß es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Anzeige: ,Wenn Sie mit Ihrer Stimme lächeln<br />

können, s<strong>in</strong>d Sie bei uns goldrichtig´. Mir war<br />

zwar nicht so recht nach Lächeln, ich me<strong>in</strong>e<br />

, wer will schon den ganzen Tag, die ganze<br />

Woche lang Menschen anrufen, die e<strong>in</strong>en so<br />

schnell wie möglich wie<strong>der</strong> los werden wollen,<br />

aber ich schluckte die Bedenken runter<br />

und dachte daran, dass ich endlich auf eigenen<br />

Be<strong>in</strong>en stehen würde. Mit Ende zwanzig<br />

immer noch von den Eltern Geld nehmen,<br />

das ist doch scheiße, irgendwie unwürdig.<br />

Ich wollte endlich Kontrolle über me<strong>in</strong> Leben,<br />

also stellte ich mich vor den Spiegel und f<strong>in</strong>g<br />

erst mal bei me<strong>in</strong>em Gesicht an. Ich übte mit<br />

hochgezogenen Mundw<strong>in</strong>keln zu sprechen.<br />

Nach anfänglichen Schwierigkeiten klappte<br />

es ganz gut, me<strong>in</strong>e Muskulatur stellte sich<br />

wie<strong>der</strong> auf den ungewohnten Ausdruck e<strong>in</strong>,<br />

und aus dem Spiegel sprach mich e<strong>in</strong> freundliches<br />

Gesicht an. Früher war ich dar<strong>in</strong> richtig<br />

gut gewesen, im Lächeln, me<strong>in</strong>e ich, ich war<br />

bekannt dafür. Man hatte mich sogar zum<br />

,Sonny - Boy´ <strong>der</strong> Abschlussklasse gewählt.<br />

Tja, damals kam es noch von <strong>in</strong>nen heraus,<br />

an<strong>der</strong>s als heute. Aber die vom Call Center<br />

ließen sich täuschen, o<strong>der</strong> es war ihnen e<strong>in</strong>fach<br />

scheißegal, ob das Lächeln echt war o<strong>der</strong><br />

nicht, jedenfalls bekam ich den Job.<br />

Es muss wohl kurz danach angefangen haben,<br />

denn <strong>der</strong> erste Zwischenfall ereignete<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kneipe neben dem Office, da<br />

g<strong>in</strong>g ich dann immer nach <strong>Dienst</strong>schluss<br />

h<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong> bisschen runterzukommen von<br />

dem ganzen Gequatsche. Am liebsten saß<br />

ich alle<strong>in</strong>e da und wartete, bis das Rauschen<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf aufhörte. Sie können sich<br />

nicht vorstellen, was das für e<strong>in</strong> Lärmpegel<br />

ist, <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em Großraumbüro, <strong>in</strong> dem alle<br />

die ganze Zeit nur telefonieren. Da wollte<br />

ich abends e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>en mehr sehen, nicht<br />

mehr reden müssen. Ich saß also und starrte<br />

vor mich h<strong>in</strong>, bewegungslos, d.h. ich muss<br />

mit me<strong>in</strong>en Händen me<strong>in</strong>e Ohren gerieben<br />

haben, die vom Headset anfangs abends ganz<br />

schön weh taten, denn plötzlich stand <strong>der</strong> Typ<br />

vom Tisch gegenüber, e<strong>in</strong> Schrank von e<strong>in</strong>em<br />

Mann, e<strong>in</strong> Riesenkerl, auf und kam zu mir. Er<br />

packte mich an <strong>der</strong> Schulter und schüttelte<br />

mich heftig: ,Was gibt´s da zu gr<strong>in</strong>sen, du<br />

Wichser? Is´ was mit me<strong>in</strong>en Ohren, hä?´.<br />

Ich hatte es vorher nicht bemerkt, aber <strong>der</strong><br />

Kerl hatte Ohren wie Blumenkohl, völlig zertrümmert.<br />

Hatte bestimmt mal geboxt, denn<br />

auch se<strong>in</strong>e Nase sah so aus, als wäre sie mal<br />

gebrochen gewesen. Offensichtlich hatte er<br />

me<strong>in</strong>e Handbewegung missdeutet, aber wie<br />

kam er darauf, dass ich ihn ausgelacht hatte?<br />

Noch bevor ich weiter überlegen konnte,<br />

landete e<strong>in</strong> Schlag <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Gesicht. Seither<br />

sieht auch me<strong>in</strong>e Nase aus, als gehörte sie<br />

e<strong>in</strong>em Boxer.<br />

Die nächsten Prügel kassierte ich dann von<br />

e<strong>in</strong>em Typen, <strong>der</strong> glaubte, ich baggere se<strong>in</strong>e<br />

Frau an, die 30 Jahre älter und 50 Kilo<br />

schwerer war als ich.<br />

Eigentlich hätte mir nach solchen Erlebnissen<br />

ja das Lächeln vergehen müssen, aber irgendwie<br />

blieb es. Sogar als sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Notaufnahme<br />

die Platzwunde über´ m Auge nähten. ,So<br />

schlimm kann´ s ja nicht se<strong>in</strong>, Sie lächeln noch<br />

ganz vergnügt ,´sagte die Assistenzärzt<strong>in</strong> und<br />

4


ich glaube, das verleitete sie dazu, absichtlich<br />

etwas stärker zu pieksen als nötig, aber ich<br />

konnte mir trotzdem nicht helfen, es ließ<br />

sich nicht stoppen, das Lächeln lächelte und<br />

gehörte längst nicht mehr zu mir.<br />

Immerh<strong>in</strong> brachte mir damals nach <strong>der</strong> gebrochenen<br />

Nase <strong>der</strong> große Verband das Mitleid<br />

e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> aus dem Call Center e<strong>in</strong>.<br />

Promovierte Kunstgeschichtler<strong>in</strong>, ziemlich<br />

gutaussehend. Ich hatte sie schon länger im<br />

Blick. Wir g<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong> paar Mal aus und ich<br />

hatte so viel Spaß, wie lange nicht mehr. Man<br />

konnte mit ihr über alles reden. Nur, dass sie<br />

dann plötzlich gar nicht mehr mit mir reden<br />

wollte. Sie fühlte sich nicht ernst genommen.<br />

,De<strong>in</strong> Dauergr<strong>in</strong>sen raubt mir echt den Nerv,´<br />

sagte sie und bat mich, sie <strong>in</strong> Ruhe zu lassen<br />

und auch im Büro nicht mehr anzusprechen.<br />

Ich fühlte mich jetzt auf <strong>der</strong> Arbeit noch<br />

weniger wohl als vorher, zumal alle Bescheid<br />

wussten über unsere Affäre und mich herzlos<br />

fanden, weil ich jeden Tag so provozierend<br />

gut gelaunt ankäme, während Ina noch unserer<br />

verpassten Beziehung nachtrauerte, wie<br />

sie me<strong>in</strong>ten. Okay, dachte ich, das ist vielleicht<br />

e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>k des Schicksals, du willst doch eh<br />

nicht im Call Center alt werden, geh mal wie<strong>der</strong><br />

zur Agentur und schau, was die für dich<br />

tun können, vielleicht e<strong>in</strong>e Weiterbildung<br />

zum Informatiker o<strong>der</strong> so was. Obwohl, für<br />

Zahlen habe ich nicht so das Köpfchen. Na ja,<br />

me<strong>in</strong> Fallmanager zog mir schnell den Zahn:<br />

„Solange Sie noch so fröhlich dre<strong>in</strong>schauen,<br />

kann ich Sie <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Weiterbildung stecken,<br />

das s<strong>in</strong>d ja Steuergel<strong>der</strong>, die gibt´ s erst, wenn<br />

Sie gar nichts mehr kriegen, weil Sie zu fertig<br />

s<strong>in</strong>d. Versuchen Sie es doch mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />

Branche, die nicht <strong>in</strong> Ihrem Kerngebiet<br />

liegt, Herr Schrö<strong>der</strong>. Hier“, er klickte mit se<strong>in</strong>er<br />

Maus und se<strong>in</strong> Drucker spuckte e<strong>in</strong> Blatt<br />

Papier aus. „Hier ist etwas, da haben Sie gute<br />

Chancen, die Konkurrenz ist nicht groß.“ Ich<br />

nahm den Zettel an mich und schluckte. „Sehen<br />

Sie“, sagte <strong>der</strong> Fallmanager, „Sie freuen<br />

sich ja, strahlen von e<strong>in</strong>em Ohr zum an<strong>der</strong>en,<br />

ich wusste doch, das ist etwas für Sie. Wer<br />

weiß, vielleicht haben Sie ja sogar Ihre Berufung<br />

gefunden?“ Nachdem <strong>der</strong> erste Schock<br />

über den Vermittlungsvorschlag vorüber war,<br />

dachte ich: warum nicht? Warum sollte ich<br />

nicht zum Vorstellungsgespräch? Nur weil<br />

sonst ke<strong>in</strong>er den Job machen will? Dabei ist<br />

es e<strong>in</strong>e feste Stelle, absolut krisensicher und<br />

gut bezahlt, relativ geregelte Arbeitszeiten,<br />

wenn auch mit Nachtdiensten, aber immerh<strong>in</strong><br />

voller Freizeitausgleich. Ich g<strong>in</strong>g also<br />

h<strong>in</strong>, guter D<strong>in</strong>ge, dass es klappen würde.<br />

Doch nichts klappte. Wie<strong>der</strong> war es dieses<br />

Lächeln. „Sie vermitteln als Person nicht die<br />

für unser Berufsbild erfor<strong>der</strong>liche Würde“,<br />

sagte <strong>der</strong> Leiter des Bestattungs<strong>in</strong>stituts,<br />

ohne e<strong>in</strong>e Regung se<strong>in</strong>es ernsten, traurigen<br />

Gesichts. Er reichte mir se<strong>in</strong>e schwere Hand<br />

und sagte: „Me<strong>in</strong> Beileid“. Auch e<strong>in</strong>e Art<br />

Berufskrankheit, schätzte ich, aber irgendwie<br />

war die Verabschiedung passend, denn tatsächlich<br />

- mit me<strong>in</strong>em zur Fratze erstarrten<br />

Gesicht fühlte ich mich wie tot. Noch dazu<br />

war es November und draußen peitschte mir<br />

kalter Schneeregen entgegen. „He, du, stehst<br />

wohl auf so schlechtem Wetter, o<strong>der</strong> warum<br />

freust du dich so?“ rief mir dann auch noch<br />

e<strong>in</strong> Obdachloser entgegen. Da reichte es mir!<br />

Ich fasste den Entschluss, endlich etwas zu tun<br />

und b<strong>in</strong> zum Arzt. Na ja, auch wenn <strong>der</strong> mir<br />

nicht wirklich hilft, weil er so was auch noch<br />

nie gesehen hat, versucht er jetzt wenigstens,<br />

mir was zu schreiben, e<strong>in</strong> Attest o<strong>der</strong> so, dass<br />

ich nichts kann für me<strong>in</strong>en Gesichtsausdruck.<br />

Damit ist vielleicht e<strong>in</strong> bisschen mehr Geld<br />

dr<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Steuerbefreiung o<strong>der</strong> vielleicht<br />

sogar Schadenersatz. Er sei mir was schuldig,<br />

sagt er, wegen des Karrieresprungs.<br />

Se<strong>in</strong> Aufsatz „Lächeln als ernste berufliche<br />

Deformation“ hat <strong>in</strong> Fachkreisen weltweit<br />

Furore gemacht. „Auf den Doc also, Prost!“<br />

sagte Schrö<strong>der</strong> und lächelte.<br />

Christ<strong>in</strong>e Zureich<br />

geb. 1972, lebt mit Mann und K<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

Frankfurt/M. Nach dem Soziologie-Studium<br />

diverse Praktika, bis sie schließlich<br />

als Übersetzer<strong>in</strong> und Museumspädagog<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> die Selbständigkeit geht. E<strong>in</strong><br />

Honorarvertrag von e<strong>in</strong>em öffentlichen<br />

Auftraggeber wurde nicht verlängert,<br />

weil sich deutlich sichtbar <strong>der</strong> Nachwuchs<br />

ankündigte.<br />

5


Zeitarbeit<br />

E<strong>in</strong>e Gedicht von Birgit ben Rabah<br />

Arbeitslos, das schon seit Jahren<br />

Ich hätt’ fast nicht mehr dran geglaubt<br />

Habe ich dann doch erfahren<br />

Ich werd’ <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Beruf gebraucht<br />

`ne Sekretär<strong>in</strong> musste her<br />

Blitzschnell – genau das ist prekär<br />

Denn <strong>der</strong> Vertrag, das war das D<strong>in</strong>g<br />

Erstmal nur zwölf Wochen g<strong>in</strong>g<br />

Mich abzumelden war me<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n<br />

So g<strong>in</strong>g ich schnell zur Arge h<strong>in</strong><br />

Doch dort erfuhr ich, welch e<strong>in</strong> Graus<br />

Aus dem Behördendschungel<br />

komm` ich nicht raus<br />

Jedesmal zur Ablauffrist<br />

E<strong>in</strong> neuer (Hartz IV-) Antrag zu stellen ist<br />

Und melden muss man sich persönlich<br />

Sonst wird die Arge unversöhnlich<br />

Sie wartet nur, dass man was falsch macht<br />

Und sich dann <strong>in</strong>s Fäustchen lacht<br />

Will streichen unser Grundbegehren<br />

Dagegen kann man sich kaum wehren<br />

Und auch die Arbeitslosenstatistik<br />

Lügt – ist fast nur Belletristik<br />

Die vielen, guten, neuen Jobs<br />

S<strong>in</strong>d lei<strong>der</strong> oft nur Riesenflops<br />

„Prekär“ macht Zeitarbeiten reich<br />

Doch gleich und gleich ist gar nicht gleich<br />

Zu merken monatlich am Lohn<br />

Weniger Geld für gleiche Arbeit ist <strong>der</strong> Hohn<br />

So wüßt` ich gerne ganz genau<br />

B<strong>in</strong> ich nun arbeitslos o<strong>der</strong> Arbeitsfrau?<br />

Birgit ben Rabah<br />

geb. 1963, ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Ausbildung zur<br />

Angestellten <strong>in</strong> <strong>der</strong> hessischen Justiz.<br />

Fremdsprachensekretär<strong>in</strong> und Stadtführer<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Hannover. 23 Jahre Berufserfahrung.<br />

Trotzdem 6 Jahre arbeitslos<br />

bis 2008. In dieser Zeit Pressesprecher<strong>in</strong><br />

beim Arbeitslosenkreis L<strong>in</strong>den. Seit zwei<br />

Jahren über Zeitarbeit (meistens 12-Wochen-Verträge)<br />

bei Kunden e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Ke<strong>in</strong> gleich hoher Urlaubsanspruch, ke<strong>in</strong><br />

gleicher Lohn, Kant<strong>in</strong>e als Externe doppelt<br />

so teuer, ke<strong>in</strong>e Aussicht auf Übernahme.<br />

Die kurzen Verträge zw<strong>in</strong>gen<br />

sie dazu, im 12-Wochen-Rhythmus bei<br />

<strong>der</strong> Agentur für Arbeit e<strong>in</strong>en „eventuell<br />

– b<strong>in</strong> – ich – wie<strong>der</strong> – arbeitslos – Antrag“<br />

zu stellen.<br />

6


Motivation<br />

von Sascha W<strong>in</strong>dolph<br />

Sascha W<strong>in</strong>dolph<br />

Arbeitete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Versandwarenlager<br />

von Quelle <strong>in</strong> Leipzig als „Schlichter“:<br />

Kartons von Rutschen nehmen und den<br />

Inhalt <strong>in</strong> Regale schlichten.<br />

Das, was er dort tat, sah und fühlte, ist<br />

<strong>in</strong> 64 Zeichnungen zur <strong>Arbeitswelt</strong> festgehalten.<br />

Leitfrage:<br />

Unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen kann <strong>der</strong><br />

Mensch bestehen und gedeihen?<br />

Was ist notwendig, damit <strong>der</strong> Mensch<br />

motiviert ist und Arbeit gerne macht?<br />

7


Klamotten für den Zeitgeist<br />

von Pandora (Pseudonym)<br />

„Das ist <strong>der</strong> Zeitgeist, da kann man nichts<br />

gegen tun, die Geister dieser Zeit s<strong>in</strong>d gegen<br />

alles immun!“ Dies Liedchen auf den Lippen,<br />

wuchte ich. Früh, spät, nachts, 5000 Kilo wuchte<br />

ich wie alle an<strong>der</strong>en am Tag im Akkord, l<strong>in</strong>ks<br />

Pakete vom Rollband auf den Tisch, Packzettel<br />

abscannen, Ware auskippen, abscannen aller<br />

Artikel, Abgleich ob identisch im Bildschirm,<br />

Fehler aussortieren, ausverkaufte Ware kennzeichnen<br />

und e<strong>in</strong>tragen, Pakete rechts auf das<br />

nächste Band. Von Packen kann nicht die Rede<br />

se<strong>in</strong>, wir werfen im Affentempo die Ware <strong>in</strong><br />

die Kartons zurück. Schneller, schneller, schneller,<br />

denn 4000 Artikel müssen am Tag gepackt<br />

se<strong>in</strong>, dies steht <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Dienst</strong>anweisung, die wir<br />

unterschreiben mussten, lei<strong>der</strong> erst nachdem<br />

wir schon angeheuert wurden. 4000 Stück, dies<br />

schaffen nur muskelbepackte junge Kerle, ich<br />

schaffe gerade mal die Hälfte.<br />

Me<strong>in</strong>e Bandscheibe schmerzt. Fast sechs Stunden<br />

stehe ich schon und packe im Akkord ohne<br />

Akkordlohn. 7,21 Euro brutto erhalten wir, und<br />

dies ist noch gut, weil als Zulage def<strong>in</strong>iert, eigentlich<br />

gibt es nur etwas über 6 Euro. Die agile<br />

Teamleiter<strong>in</strong> geht durch: „Achtung, gleich<br />

kommt <strong>der</strong> Doktor, wenn er meckert, e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>in</strong> Eurem Tempo weitermachen!“, warnt sie.<br />

Und bald danach kommt er, <strong>der</strong> P<strong>in</strong>gu<strong>in</strong>. „Na,<br />

alles klar?“, blufft er mich, die Neue, an. „Gar<br />

nichts ist klar! Die EDV sp<strong>in</strong>nt heute ständig!“,<br />

erwi<strong>der</strong>e ich. Regelmäßig hakt heute das System,<br />

die Kollegen brüllen dann: „Ausfall!“,<br />

es kann nicht weitergescannt werden, und<br />

die Pakete stapeln sich. Wie kommen wir da<br />

auf unsere Sollzahl? Er geht weg, und als er<br />

wie<strong>der</strong>kommt, ist mir klar, ich habe ihn zum<br />

Zweikampf herausgefor<strong>der</strong>t. „Nicht nachlassen!“<br />

brüllt er, um dann zu mir zu kommen:<br />

„Na, schaffst du das?“ Schon bei <strong>der</strong> Führung<br />

durch die Werkshalle am ersten Tag hatte ich<br />

se<strong>in</strong> Aufsehen erregt, da ich ihn als Führungskraft<br />

identifizierte und mit kurzem Nicken<br />

begrüßt hatte, was ke<strong>in</strong>er hier tut. Alle duzen<br />

sich, dies gehört zum Teamgeist bei „Zeitgeist“.<br />

Doch er schwebt über dem Ganzen, wie<br />

kann e<strong>in</strong>e Helfer<strong>in</strong> ihn ansprechen. „Hier hast<br />

du!“, er schiebt mir Pakete auf den Packtisch,<br />

streift mich dabei mit se<strong>in</strong>em Körper. „Besetz<br />

die L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>s, die Frau mag ke<strong>in</strong>e vollen Bän<strong>der</strong>!“,<br />

herrscht er den Schichtleiter an. Kurze<br />

Zeit später rennt er, e<strong>in</strong>en Apfel essend, durch<br />

die Halle, <strong>in</strong> <strong>der</strong> alle geduckt weiterarbeiten.<br />

„Obst ist gesund!“ brüllt er, und ich frage mich,<br />

ob er den kle<strong>in</strong>en Diktator mimt, denn Essen<br />

und Tr<strong>in</strong>ken s<strong>in</strong>d hier verboten.<br />

„Sch…kerl“, raunze ich nach Feierabend me<strong>in</strong>er<br />

Kolleg<strong>in</strong> zu, nicht bevor wir das Werkstor<br />

verlassen haben. „Was <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>bildet!“<br />

„Mir hat er die Stempelkarte aus <strong>der</strong> Hand gerissen<br />

und mich abgestempelt!“ sagt sie leise.<br />

„Was hat er?“ „War nix mehr zu tun, ich habe<br />

eher am Stempler gestanden und gewartet, da<br />

hat er mich ausgestempelt, jetzt ziehen sie die<br />

Viertelstunde ab!“ Sie will sich nicht beschweren.<br />

4000 Stück lautet die Sollzahl, da kommen<br />

sie und ich nicht h<strong>in</strong>terher, dies obgleich sie<br />

erfahrene Helfer<strong>in</strong> ist, fast zwanzig Jahre hat<br />

sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lebensmittelproduktion am Band<br />

gestanden. Walkman und Duzen war hier<br />

nicht erlaubt, es war heiß, stickig und roch,<br />

und sie mussten Kittel tragen. Doch bekam<br />

sie dort über 9 Euro. Die letzte Entlassungswelle<br />

traf jedoch trotz sehr gutem Zeugnis<br />

auch sie, alle<strong>in</strong>stehend, befristet beschäftigt,<br />

ungelernt. Sie musste zur Arbeitsagentur, und<br />

die Hartz-IV-Behörde zwang sie wie mich, diese<br />

Zeitarbeit anzunehmen.<br />

„Überstunden, jemand Lust auf Überstunden?“<br />

<strong>der</strong> Schichtleiter geht herum, als verkaufe er<br />

Eis o<strong>der</strong> Frischobst. „Ja gerne, morgen zwei,<br />

me<strong>in</strong>e Frau auch!“, meldet sich e<strong>in</strong> polnischer<br />

Kollege. Er ist e<strong>in</strong> netter ruhiger, se<strong>in</strong>e Frau<br />

und er s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> verschiedenen Bereichen e<strong>in</strong>gesetzt,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Pause essen sie geme<strong>in</strong>sam auf<br />

e<strong>in</strong>er Palette sitzend ihre Brote und genießen<br />

die Zweisamkeit. Sie brauchen jeden Cent, vielleicht<br />

planen sie, e<strong>in</strong>e Familie zu gründen, und<br />

<strong>in</strong> Polen ist die Jobsituation noch schlechter.<br />

Auch ich melde mich, denn als Alle<strong>in</strong>erziehende<br />

Mutter mit zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und e<strong>in</strong>em<br />

arbeitslosen Freund stehe ich nicht besser da.<br />

Zwei Stunden s<strong>in</strong>d o.k., dann koche ich eben<br />

abends vor. Wenn bloß die Sonnabendschicht<br />

nicht wäre.<br />

„Samstag ist Pflicht!“, hat <strong>der</strong> Schichtleiter bei<br />

Arbeitsbeg<strong>in</strong>n konstatiert. Darauf hatte uns<br />

die Personalvermittlung nicht h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

doch bei „Zeitgeist“ werden Auftragsspitzen<br />

gerne über längere Zeiträume so bewältigt.<br />

Wer nicht ja sagt, fliegt. Denn er schafft ja die<br />

Stückzahl nicht. Sechs Wochen lang schaffe ich<br />

me<strong>in</strong> Pensum selbstgesetzter Steigerung. „Du<br />

musst Dir jeden Tag mehr vornehmen, irgendwann<br />

bist Du bei 3300 und dann bei 3500“, rät<br />

mir <strong>der</strong> Kollege, <strong>der</strong> mich e<strong>in</strong>gearbeitet hat. Er<br />

schafft se<strong>in</strong> Pensum, feiert nachts, schläft als<br />

Junggeselle aus, um se<strong>in</strong>e ganze Arbeitskraft<br />

wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Firma zu widmen. Der Umgang mit<br />

<strong>der</strong> EDV ist se<strong>in</strong> Steckenpferd, so haben sie ihn<br />

behalten, er ist nach längerer Arbeitslosigkeit<br />

froh über den sozialen Kontakt.<br />

Ich steigere mich auf 3100, dann ist Schluss, und<br />

irgendwann kommt die Quittung. „Konstanze<br />

Sab<strong>in</strong>e Wehrmann bitte <strong>in</strong>s Büro“, ruft <strong>der</strong><br />

stellvertretende Schichtleiter. Wie bitte? Ich<br />

8


soll doch mit „Du“ und „Conny“ angesprochen<br />

werden. Zum<strong>in</strong>dest hat uns dies <strong>der</strong> Security-<br />

Chef erklärt, <strong>der</strong> die Werkse<strong>in</strong>weisung leitete.<br />

Wir sollten uns hüten zu klauen, Alkohol zu<br />

tr<strong>in</strong>ken o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Halle zu rauchen, dafür<br />

herrsche bei „Zeitgeist“ e<strong>in</strong> liberaler Teamgeist,<br />

man duze sich und arbeite <strong>in</strong> Erfolgteams.<br />

Habe ich was verbrochen? Nichts Gutes<br />

ahnend trabe ich zum Büro, vor dem schon<br />

e<strong>in</strong> Kollege wartet. „Abmahnung“, flüstert er.<br />

Als er mit bleichem Gesicht das Büro verlässt,<br />

b<strong>in</strong> ich dran, Teamleiter<strong>in</strong> und Schichtleiter<br />

warten schon auf mich. „Konstanze, schön<br />

dass Du hier bist! Rate mal, um was es geht.“<br />

„Um me<strong>in</strong>e Arbeitsleistung“, erwi<strong>der</strong>e ich mit<br />

fester Stimme. „Genau. Erzähl mal mit eigenen<br />

Worten, wie schätzt Du De<strong>in</strong>e Arbeitsleistung<br />

e<strong>in</strong>?“ „Ich bemühe mich, pünktlich, fleißig und<br />

korrekt zu arbeiten“, sage ich. „Ich gebe me<strong>in</strong><br />

Bestes. Wenn sich e<strong>in</strong>e Pause ergibt, putze ich<br />

freiwillig und räume auf. Ich passe auch auf,<br />

dass die an<strong>der</strong>en Kollegen nicht herumhängen.<br />

Am Band packe ich so schnell und korrekt<br />

es geht. Ab und zu“, ich zw<strong>in</strong>kere, „mache<br />

ich kle<strong>in</strong>e Fehler, aber ke<strong>in</strong>e schlimmen. Aber<br />

das Soll erreiche ich e<strong>in</strong>fach nicht, ich glaube,<br />

ich b<strong>in</strong> nicht schnell genug.“ „Ganz genau,<br />

Du hast es erfasst. Du bist bemüht, aber zu<br />

langsam. Du bist jetzt sechs Wochen hier, ich<br />

muss dich lei<strong>der</strong> abmahnen. Morgen wird<br />

dir Michael (<strong>der</strong> Vorarbeiter) zeigen, wie du<br />

effektiver packst.“<br />

Darauf hatte ich gewartet. Nach zweimaliger<br />

Abmahnung kam e<strong>in</strong>e letzte Belehrung, dann<br />

kam die Kündigung. Wie viele gute, nette und<br />

motivierte KollegInnen hatte ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

kurzen Zeit kommen und gehen sehen, während<br />

die Sprüchemacher blieben, die, mit Red<br />

Bull abgefüllt, ihr Wahns<strong>in</strong>nstempo hielten.<br />

Gott sei Dank hatte ich vorgebaut. „Bevor du<br />

weiterredest, muss ich Dir etwas mitteilen“,<br />

sagte ich zur Teamchef<strong>in</strong>, die schon das Abmahnschreiben<br />

ausfüllte. „Ich habe letzten<br />

Freitag zum Monatsende gekündigt.“ „Wie<br />

bitte? Oh, das ist schade! Warum? Oh, e<strong>in</strong><br />

neuer Job <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em gelernten Bereich? Gut<br />

dass du uns dies sagst!“ wun<strong>der</strong>te sie sich. „Na,<br />

dann können wir das Schreiben ja noch mal<br />

vergessen.“ Sie zerreißt den Abmahnzettel.<br />

„Wenn Du e<strong>in</strong>en sauberen Abgang machst und<br />

nicht krank wirst, kannst du je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong><br />

bei uns anfangen.“ „Da würde ich mich sehr<br />

freuen! Mir gefällt es außerordentlich bei<br />

Euch, vor allem das Betriebsklima!“, schmeichele<br />

ich. Man kann ja nie wissen, ob man sie<br />

wie<strong>der</strong> braucht, und da ich bei <strong>der</strong> Arbeitsagentur<br />

eh nur Ärger und ke<strong>in</strong> Geld kriege,<br />

werde ich mich wie<strong>der</strong> über Gelegenheitsjobs<br />

f<strong>in</strong>anzieren. Das müssen die ja nicht wissen.<br />

Damit b<strong>in</strong> ich privilegiert. Die meisten müssen<br />

krank machen, um <strong>der</strong> Mühle „Zeitgeist“ zu<br />

entkommen, und dann wartet die Job-Center-<br />

Schleife auf sie.<br />

Das mit dem Betriebsklima war nicht ganz<br />

erlogen. Jemand muss sich über den P<strong>in</strong>gu<strong>in</strong><br />

beschwert haben, o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>e heimlichen<br />

Verwünschungen haben funktioniert. E<strong>in</strong>e<br />

Woche nach se<strong>in</strong>em Auftritt standen über<br />

Nacht Obstpaletten vom Großmarkt neben<br />

den Gar<strong>der</strong>obenschränken, von denen ich<br />

bis zum Schluss ke<strong>in</strong>en erhalten habe. Fast<br />

drei Wochen lang konnten wir <strong>in</strong> den Pausen<br />

nach Herzenslust Äpfel, Birnen, Bananen und<br />

We<strong>in</strong>trauben naschen. E<strong>in</strong>mal erhielt je<strong>der</strong> von<br />

uns 20 Euro auf die Hand - als Stillhalteprämie?<br />

Und wenn wir am Freitag müde waren, warf<br />

uns <strong>der</strong> P<strong>in</strong>gu<strong>in</strong> fortan am Packtisch Red Bull<br />

zu, offenbar hatte er e<strong>in</strong>e Lektion <strong>in</strong> Sachen<br />

Mitarbeitermotivation erhalten.<br />

Zu guter Letzt wurden Erfolgsteams verfe<strong>in</strong>ert.<br />

Jede Produktionsl<strong>in</strong>ie wurde e<strong>in</strong>es, damit je<strong>der</strong><br />

auf jeden aufpasste. Wie demokratisch. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht ganz basisdemokratisch: „Wer sich<br />

anstrengt, den stellen wir fest e<strong>in</strong>“, erklärte<br />

die Teamchef<strong>in</strong>. „Wer schlurt und rumhängt,<br />

fliegt.“<br />

Dies habe ich nicht mehr abgewartet. Genauso<br />

wie den angekündigten Pflichtsonntag, den<br />

Wi<strong>der</strong>spruch aus <strong>der</strong> Belegschaft verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te.<br />

Denn me<strong>in</strong> erster voller Lohn ergab, e<strong>in</strong>schließlich<br />

<strong>der</strong> opulenten Zeitarbeiter-Zuschläge von<br />

25 Prozent für den Spät- und Sonnabenddienst,<br />

1100 Euro netto. Dies bei guter Steuerklasse<br />

und vollen K<strong>in</strong><strong>der</strong>freibeträgen. E<strong>in</strong>mal habe<br />

ich den Rest vom Sparbuch ausgeglichen. E<strong>in</strong><br />

zweites Mal konnte ich dies nicht. Ich hätte<br />

auch ergänzend Sozialleistungen beantragen<br />

können. Dies habe ich nicht gemacht, ich f<strong>in</strong>anziere<br />

nicht Hungerlöhne aus <strong>der</strong> Steuerkasse.<br />

Und wer weiß, was die Behörden mich dann<br />

noch künftig zw<strong>in</strong>gen werden anzunehmen.<br />

So habe ich den ersten Arbeitsmarkt wie<strong>der</strong><br />

verlassen und b<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Grauzone verschwunden,<br />

bevor ich me<strong>in</strong>e Gesundheit und me<strong>in</strong>en<br />

Stolz verliere.<br />

Pandora (Pseudonym)<br />

geb. 1962. Hotellehre, diverse Jobs. Arbeit<br />

<strong>in</strong> Clubs und Bordellen, Mitarbeit<br />

bei <strong>der</strong> Kampagne zur Anerkennung des<br />

Berufs Hure. Schreibt Reportagen und<br />

Kurzgeschichten. Autobiographischer<br />

Zyklus „Estella“ (unveröffentlicht). Lebt<br />

mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Lebensgefährten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Region Hannover.<br />

9


Zeit ist Geld<br />

von Sandra Köhler<br />

Sandra Köhler<br />

geb. 1975, verheiratet, zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

Theologiestudium, seit 2009 freie Journalist<strong>in</strong>.<br />

Hobbys: Musik, Kunst, Kultur, Schreiben,<br />

Bücher<br />

10


Trotzdem<br />

von Sonja di Montesal<strong>in</strong>as (Pseudonym)<br />

Paguera, im Dezember 2008<br />

Im Moment geht es mir gut. Ich sitze <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

warmen Sonne und bestaune, wie schön <strong>der</strong><br />

HERR die Welt erschaffen hat. Morgen ist<br />

Weihnachten und ich b<strong>in</strong> mit me<strong>in</strong>er Familie –<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em Teil davon – <strong>der</strong> Nässe, Kälte<br />

und Dunkelheit entflohen.<br />

Um mich ist Licht. Das Meer ganz klar von hier<br />

oben und blau. Die Farben s<strong>in</strong>d an<strong>der</strong>s. Die<br />

Luft sowieso. Wenn ich tief durchatme, dass<br />

sie me<strong>in</strong>e Lungen bis <strong>in</strong> den letzten W<strong>in</strong>kel<br />

durchströmt, prickelt und berauscht sie wie e<strong>in</strong><br />

Schluck Champagner. Genau richtig gekühlt.<br />

Dazu <strong>der</strong> P<strong>in</strong>ienduft und noch etwas, was ich<br />

nicht bestimmen kann. Ich stehe auf e<strong>in</strong>er Klippe,<br />

vielleicht 60 o<strong>der</strong> 70 Meter hoch. O<strong>der</strong> nur 40<br />

Meter, ich weiß es nicht. Hoch genug jedenfalls,<br />

um e<strong>in</strong>en Sturz nicht zu überleben. Drei P<strong>in</strong>ien<br />

wachsen hier, angeduckt und fest e<strong>in</strong>gewurzelt.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Spatz lässt sich mit e<strong>in</strong>em eleganten<br />

Schwung darauf nie<strong>der</strong> und wippt keck mit<br />

se<strong>in</strong>em Schwanz. Auf dem gelben, zerklüfteten<br />

Sandste<strong>in</strong> liegen Geröll und Kiesel unter me<strong>in</strong>en<br />

Füßen und ich muss aufpassen, dass ich nicht <strong>in</strong>s<br />

Rutschen komme. Aber <strong>der</strong> Fels ist ungefähr 5<br />

Meter breit und ich vermeide es, <strong>in</strong> den Abgrund<br />

zu blicken. Die dicke Weste, die ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> milden<br />

Sonne nicht mehr brauche, rolle ich zu e<strong>in</strong>em<br />

weichen Kissen und lasse mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mulde<br />

nie<strong>der</strong>. Hier kann nichts passieren. Ich weiß um<br />

das Stück festen Boden unter me<strong>in</strong>en Füßen und<br />

ignoriere die Abgründe. E<strong>in</strong> Gedanke verirrt sich<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Kopf: Wenn ich falle, dann falle ich<br />

nie tiefer als <strong>in</strong> Gottes Hand. Hierher zu kommen<br />

war e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Anweisung. Seit dem<br />

Spätsommer spürte ich schon die Vorboten des<br />

Burn-out-Syndroms. Müdigkeit, ne<strong>in</strong> Mattigkeit;<br />

morgens die Qual, aufzustehen; jedes Wochenende<br />

e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Infekt – im Darm, im Hals, entzündetes<br />

Zahnfleisch. In den Herbstferien e<strong>in</strong>e<br />

Blasenentzündung. Ich b<strong>in</strong> angreifbar, gehe <strong>in</strong><br />

die Knie, me<strong>in</strong> Imunssystem ist am Ende.<br />

Also alles absagen. Um 9 Uhr abends <strong>in</strong>s Bett.<br />

Ke<strong>in</strong>en Stress, Familie auf Sparflamme, ke<strong>in</strong><br />

Koffe<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong>e Körpergifte – nur, um die Arbeit<br />

zu schaffen. Die Kolleg<strong>in</strong> staunte mich mit<br />

großen Augen an, als ich ihr erklärte, dass ich<br />

schon am Donnerstag frei genommen hätte.<br />

„Am Freitag fliegen wir, am Sonntag hat me<strong>in</strong><br />

Jüngster Geburtstag, am Mittwoch ist Weihnachten<br />

und ich habe noch nicht gepackt und<br />

noch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Geschenk gekauft.“ Sie muss<br />

nicken, obwohl sie es nicht will. Me<strong>in</strong>e beiden<br />

Kolleg<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d nur für e<strong>in</strong> Jahr hier. Sie vertreten.<br />

Für Erziehungsurlaube. Sie müssen sich<br />

profilieren. Sie peitschen ihre Projekte durch. Ich<br />

b<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kitt. Ich muss zusammenhalten. Sie s<strong>in</strong>d<br />

eifersüchtig, wenn ich für e<strong>in</strong>e etwas mache. Ich<br />

muss es genau dosieren. Sie beobachten sich. Da<br />

ist auch Angst. Sie bekämpfen sich gegenseitig<br />

und ich muss trösten. Mal hier, mal da. Lieber<br />

würde ich me<strong>in</strong>e Türe zumachen. Me<strong>in</strong>e Arbeitszeit<br />

ist kostbar, nur 19,25 Stunden habe ich<br />

zur Verfügung, nicht e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute länger wird<br />

darüber h<strong>in</strong>aus bezahlt. Wenn ich nicht fertig<br />

werde, ist es me<strong>in</strong> Problem. Dazu die H<strong>in</strong>- und<br />

Rückfahrt – macht m<strong>in</strong>destens 30 Stunden die<br />

Woche für 521,30 Euro im Monat, die dann am<br />

Ende auf me<strong>in</strong>em Konto landen. Und weiß ich<br />

denn, ob ich noch länger als bis zum Juni hier arbeite?<br />

Dann läuft me<strong>in</strong> eigener Zeitvertrag aus,<br />

zum zweiten Mal – und Verlängerungen s<strong>in</strong>d<br />

nicht endlos möglich. Manchmal weiß ich noch<br />

nicht e<strong>in</strong>mal genau, ob ich noch weiter bleiben<br />

will. Ich kenne <strong>in</strong>zwischen den Bereich sehr<br />

gut. Welch e<strong>in</strong>e Verschwendung, wenn ich all<br />

dieses Wissen nur für diese zwei Jahre erworben<br />

habe. Aber das ist nicht me<strong>in</strong>e Verantwortung.<br />

Ich muss schauen, dass ich <strong>in</strong> diesem Tollhaus<br />

gesund bleibe. Und alles nur h<strong>in</strong>schmeißen? Ich<br />

kämpfe darum, mich nicht <strong>in</strong> diesen kollektiven<br />

Egoismus h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziehen zu lassen. Loyalität,<br />

Durchhaltevermögen, Verlässlichkeit – habe ich<br />

das nicht auch bei <strong>der</strong> Erziehung me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

bewiesen? Weil ich wollte, dass sie e<strong>in</strong>e gute<br />

Erziehung erhielten – etwas, was sie erfolgreich<br />

durch’s Leben führen würde? Manchmal zweifle<br />

ich, ob ich ihnen nicht eher hätte zeigen sollen,<br />

wie man Menschen für sich benutzt. Wie man<br />

freundlich ist, aber nicht gut zu den Menschen.<br />

Wie man Erfolge für sich alle<strong>in</strong>e erwirbt. Wie<br />

man sich im Zentrum <strong>der</strong> Macht bewegt und<br />

nicht da, wo man s<strong>in</strong>nvolle Arbeit leistet.<br />

Ne<strong>in</strong>, ich werde zurückkehren. Ich werde weiterarbeiten.<br />

Ich werde me<strong>in</strong>en Kolleg<strong>in</strong>nen helfen.<br />

Aber me<strong>in</strong>e Würde werde ich nicht bei dieser<br />

Arbeit f<strong>in</strong>den. Ich werde sie aus dem „trotzdem“<br />

bekommen.<br />

Sonja di Montesal<strong>in</strong>as (Pseudonym)<br />

geb. 1954, Studium ostasiatischer Sprachen,<br />

Heirat, zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Scheidung ohne<br />

Unterhaltsanspruch wegen Suchtabhängigkeit<br />

des Partners, VHS-Ausbildung zur<br />

staatlich geprüften Sekretär<strong>in</strong>, Teilzeit<br />

<strong>in</strong> Zeitarbeitsfirma, Fernstudium zur<br />

Englisch-Übersetzer<strong>in</strong>, zweite Heirat<br />

und 6 weitere K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Hostess bei <strong>der</strong><br />

Expo Hannover, Weiterbildung zur Mo<strong>der</strong>ator<strong>in</strong>,<br />

Teilzeitstelle beim Rundfunk,<br />

Weiterbildung zur Ch<strong>in</strong>a-Manager<strong>in</strong>,<br />

Weiterbildung zur Kulturmanager<strong>in</strong>.<br />

Diverse Ehrenämter.<br />

11


Fast da<br />

von Cor<strong>in</strong>na Gerhards<br />

Ne<strong>in</strong> me<strong>in</strong> Schatz<br />

nicht heut<br />

vielleicht morgen<br />

o<strong>der</strong> nächste Woche<br />

o<strong>der</strong> nie.<br />

Ich b<strong>in</strong> müde<br />

me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

doch vielleicht<br />

macht es S<strong>in</strong>n<br />

irgendwie.<br />

Ne<strong>in</strong> du brauchst nicht zu we<strong>in</strong>en<br />

und die Hose ist schön<br />

wenn wir sie <strong>in</strong> die Stiefel stecken<br />

passt sie sogar noch fast.<br />

Natürlich kommt <strong>der</strong> Weihnachtsmann.<br />

Aber auch er ist müde<br />

kann nur noch kle<strong>in</strong>e Sachen tragen<br />

und am nächsten Ersten<br />

gibt’s e<strong>in</strong> Überraschungsei.<br />

Ne<strong>in</strong> nicht zwei<br />

tut mir leid.<br />

Zieh die Wollsachen an<br />

Gas ist teuer geworden<br />

lass die Heizung auf kle<strong>in</strong><br />

stell dir vor<br />

früher gab es gar ke<strong>in</strong>e!<br />

Aber nicht doch<br />

warum denn Angst!<br />

Alles ist gut<br />

wenn die Miete bezahlt ist<br />

wer braucht Telefon<br />

komm kuscheln me<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>g<br />

wir schaffen das schon.<br />

Irgendwann wird es an<strong>der</strong>s<br />

das verspreche ich dir<br />

Cor<strong>in</strong>na Gerhards<br />

geb. 1977 <strong>in</strong> Bremen. Nach drei verschiedenen<br />

Ausbildungen im Tischlerei-,<br />

Gastronomie- und Hotelgewerbe, langem<br />

Reisen und Arbeiten <strong>in</strong> Europa und<br />

Amerika und e<strong>in</strong>er dreijährigen Laufbahn<br />

als K<strong>in</strong><strong>der</strong>-Boutique-Besitzer<strong>in</strong> lebt sie<br />

nun mit ihrem 8-jährigen Sohn von Hartz<br />

IV und den Erträgen e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>-Euro-Jobs<br />

an <strong>der</strong> Universität Bremen, wo sie für<br />

das „Bremer Institut für Bil<strong>der</strong>buch- und<br />

Erzählforschung“ e<strong>in</strong>e Ausstellung zum<br />

Thema DDR-K<strong>in</strong><strong>der</strong>literatur vorbereitet.<br />

12


Der arme Musiker<br />

Bild von Raul David Obregon Ponte<br />

Raul David Obregon Ponte<br />

geb. 1968, 1 K<strong>in</strong>d, gelernter Zimmermann,<br />

zzt. arbeitslos<br />

Selbstwert, Unverständnis,<br />

Relativitätstheorie<br />

von Gunnar Werner<br />

„Selbstwert“<br />

„Wer erstmals arbeitslos wird und wer vor <strong>der</strong><br />

Arbeitslosigkeit lange Zeit berufstätig war, ist<br />

ungeübt im Umgang mit <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

und hat sich gezwungenermaßen beson<strong>der</strong>s<br />

<strong>in</strong>tensiv mit sich selbst und Äußerungen aus<br />

se<strong>in</strong>em persönlichen Umfeld zu befassen.<br />

Als Arbeitsloser beg<strong>in</strong>nt man meistens um<br />

so mehr an sich selbst, se<strong>in</strong>en Fähigkeiten<br />

und se<strong>in</strong>em Wert auf dem Arbeitsmarkt zu<br />

zweifeln, je länger man arbeitslos ist und je<br />

mehr Absagen man auf se<strong>in</strong>e Bewerbungen<br />

erhält.<br />

Die zunehmenden Zweifel können sich auch<br />

dann e<strong>in</strong>stellen, wenn man über Jahre h<strong>in</strong>weg<br />

immer wie<strong>der</strong> nur relativ kurz befristete<br />

Arbeitsverhältnisse f<strong>in</strong>det, während an<strong>der</strong>e<br />

Mitarbeiter, die weniger belastbar s<strong>in</strong>d, die<br />

weniger Kompetenz bewiesen haben, über<br />

Jahre h<strong>in</strong>weg ihren Job behalten.<br />

Das Selbstwertgefühl kann sehr darunter leiden.<br />

Man reagiert u.a. gereizt und empf<strong>in</strong>dlich<br />

auf Äußerungen an<strong>der</strong>er Mitmenschen,<br />

weil man sie an<strong>der</strong>s auffasst als sie geme<strong>in</strong>t<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Dann wird schon e<strong>in</strong>mal Mitgefühl, das sich<br />

<strong>in</strong> hilfreich geme<strong>in</strong>ten Vorschlägen und Nachfragen<br />

ausdrückt, dah<strong>in</strong> gehend missverstanden,<br />

dass e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>direkt unterstellt werde,<br />

man selbst sei nicht ausreichend bemüht o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, Arbeit zu f<strong>in</strong>den.<br />

Aus: Gunnar Werner,<br />

Jobnomade. Das Arbeitslos<br />

und die Bewerbungslotterie.<br />

Hannover 2006,<br />

ISBN 978-3-939200-02-4,<br />

W. Verlag; E-Book<br />

ISBN 978-3-939200-03-1<br />

13


Da es allerd<strong>in</strong>gs diese Unterstellungen häufig<br />

auch tatsächlich gibt und nicht nur das<br />

Mitgefühl, s<strong>in</strong>d Zeiten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>in</strong><br />

vielerlei H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

die es zu bewältigen gilt – sowohl im<br />

H<strong>in</strong>blick auf sich selbst und die Jobsuche als<br />

auch im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong>e Mitmenschen.“<br />

„Unverständnis“<br />

„Wer arbeitslos ist, trifft allenthalben auf<br />

Unverständnis. Meist kommt es von Mitmenschen,<br />

die ke<strong>in</strong>e eigene Erfahrung mit<br />

Arbeitslosigkeit haben.“ … „Als Arbeitsloser<br />

entwickelt man dann auch e<strong>in</strong> gewisses<br />

Unverständnis, wenn man ausgerechnet von<br />

diesen nicht mit <strong>der</strong> Situation vertrauten<br />

Personen zwischen den Zeilen Vorwürfe<br />

und verme<strong>in</strong>tlich gute Ratschläge erhält“.<br />

„…e<strong>in</strong>e typische Äußerung lautet z.B., dass<br />

man doch viel Zeit habe. Man hat aber nicht<br />

unbed<strong>in</strong>gt viel Zeit.“ … „Wie viel Zeit man<br />

als Arbeitsloser tatsächlich hat, kann wohl<br />

am besten ermessen, wer<br />

• sich schon e<strong>in</strong>mal mit Behörden zur Sicherung<br />

des Lebensunterhalts ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen<br />

musste<br />

• sich permanent um e<strong>in</strong>en Job bemüht und<br />

den Bewerbungsaufwand kennt<br />

• sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Freizeit statt im Job beruflich<br />

auf dem Laufenden hält o<strong>der</strong> fortbildet<br />

• se<strong>in</strong>en Haushalt selbst bewältigt und nicht<br />

vom Partner, von e<strong>in</strong>em Elternteil o<strong>der</strong> gegen<br />

Bezahlung von an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> Ordnung<br />

halten lässt<br />

• situationsbed<strong>in</strong>gt wenig Geld zur Verfügung<br />

hat und mehr Zeit für Preisvergleiche<br />

erübrigen muss als f<strong>in</strong>anziell besser<br />

gestellte Personen<br />

Ebenso unzutreffend ist die Vermutung,<br />

dass e<strong>in</strong> Arbeitsloser mal eben für e<strong>in</strong> paar<br />

Tage irgendwo h<strong>in</strong> fahren könne. Ohne<br />

aufwändige Anträge geht gar nichts, wenn<br />

man ke<strong>in</strong>e Sperre se<strong>in</strong>er Bezüge riskieren<br />

möchte. Als Arbeitsloser muss man nämlich<br />

ständig vermittelbar und täglich erreichbar<br />

se<strong>in</strong>, was bedeutet, dass man e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong><br />

bei <strong>der</strong> Arbeitsagentur vere<strong>in</strong>baren, e<strong>in</strong>e<br />

Ortsabwesenheit beantragen und diese genehmigen<br />

lassen muss. Zudem hat man <strong>der</strong><br />

Arbeitsagentur mitzuteilen, wie und wo man<br />

erreichbar ist. Je nach E<strong>in</strong>schätzung des Sachbearbeiters,<br />

wie die Vermittlungschancen des<br />

Arbeitslosen für den Zeitraum <strong>der</strong> geplanten<br />

Abwesenheit s<strong>in</strong>d, kann die Ortsabwesenheit<br />

– aber muss sie nicht – genehmigt werden.<br />

Verstanden?“<br />

„Relativitätstheorie“<br />

„Wer arbeitslos ist, wird von Außenstehenden<br />

mit e<strong>in</strong>er ganz speziellen Relativitätstheorie,<br />

nämlich den Vergleichen zu an<strong>der</strong>en,<br />

verme<strong>in</strong>tlich erfolgreicheren Personen,<br />

konfrontiert, obwohl die Situation <strong>der</strong> Vergleichspersonen<br />

mit <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong> arbeitslosen<br />

Person nicht vergleichbar ist, weil sich<br />

Lebenslauf, Lebensverhältnisse, Qualifizierungsgrad,<br />

Tätigkeitsbereiche o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Voraussetzungen für die Chancen auf dem<br />

Arbeitsmarkt unterscheiden. Bei diesen h<strong>in</strong>kenden<br />

Vergleichen schw<strong>in</strong>gt unterschwellig<br />

<strong>der</strong> Vorwurf mit, dass man sich nicht richtig<br />

o<strong>der</strong> nicht ernsthaft um Arbeit bemühe, da<br />

man sonst doch den gleichen Erfolg wie die<br />

Vergleichspersonen aufweisen könnte.“<br />

Gunnar Werner<br />

geb. 1964; Schule, arbeitslos, Gelegenheitsjobs,<br />

arbeitslos, Ausbildung zum<br />

Druckvorlagenhersteller, Gelegenheitsjobs,<br />

arbeitslos, Zivildienst, Abitur auf<br />

dem 2. Bildungsweg, arbeitslos, Studium<br />

Architektur, arbeitslos, Tätigkeiten als<br />

Architekt bei verschiedenen Arbeitgebern,<br />

arbeitslos, Zusatzqualifikation<br />

Sicherheits- und Gesundheitsschutz-Koord<strong>in</strong>ator,<br />

arbeitslos, IHK-Zertifizierung<br />

Informatikspezialist, Angestelltentätigkeit<br />

als Informatikspezialist, arbeitslos,<br />

freiberufliche Tätigkeit als Informatikspezialist,<br />

arbeitslos, Verlagsgründung<br />

und Verlegertätigkeit. 2007: 4 befristete<br />

Arbeitsverträge <strong>in</strong> 7 Monaten. 2008: 3 befristete<br />

Arbeitsverträge. 2010: befristet<br />

beschäftigt und weiterh<strong>in</strong> selbständige<br />

Tätigkeiten.<br />

14


In Würde arbeiten ?!<br />

von Erw<strong>in</strong> Stefaniuk<br />

Erw<strong>in</strong> Stefaniuk<br />

geb. 1952, verheiratet, 3 K<strong>in</strong><strong>der</strong>, 2 Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Gelernter Schriftsetzer, 30 Berufsjahre <strong>in</strong><br />

drei Druckereien. Nach Firmen<strong>in</strong>solvenz<br />

mehrere Bildungsmaßnahmen zum PC-<br />

Grafiker / Mediengestalter. 10 Jahre langzeiterwerbslos<br />

– aber nicht arbeitslos.<br />

Aktiv <strong>in</strong> gewerkschaftlicher verdi-Ortserwerbslosenarbeit.<br />

Seit über 5 Jahren<br />

Mitherausgeber des @lptraum – kostenlose<br />

Hannoversche Zeitung gegen<br />

Sozialabbau.<br />

15


„Mehr - wert“<br />

von Julia Hoenen<br />

Die Überlegungen nach dem „Wie“ werden<br />

ganz schnell zu <strong>der</strong> Frage nach dem „Was“.<br />

–<br />

Was will ich, was kann ich ausdrücken, habe<br />

ich denn e<strong>in</strong>e Chance? Me<strong>in</strong>e Gedanken<br />

s<strong>in</strong>d wie me<strong>in</strong>e Schrift mal gleichgültig,<br />

gleichmäßig, zügig, positiv. Ohne Wirrwar,<br />

gut lesbar…<br />

Dann wie<strong>der</strong> krakeliger kippen sie um, h<strong>in</strong><br />

zur an<strong>der</strong>en, Negativ-Seite.<br />

Ich buchstabiere: „E x “. Weiter, weiter!<br />

„E x i s t e n z “. „M i n i m u m “.<br />

Traurigkeiten, „Was“ mache ich nicht, „was“<br />

macht mich. Mal so, mal so.<br />

Me<strong>in</strong>e Tage s<strong>in</strong>d wie me<strong>in</strong>e Buchstaben,<br />

mal schwungvoll, aufgepuschter kräftiger<br />

Strich,<br />

kle<strong>in</strong>e Unterbrechung hoffnungsvollen<br />

Aufschwungs. Abstriche s<strong>in</strong>d Selbstverständliches.<br />

Ich buchstabiere: „V e r z i c h t “. Ja. Ne<strong>in</strong>.<br />

Manchmal s<strong>in</strong>d Buchstaben Tänzer<strong>in</strong>nen.<br />

Kraftvolle Akrobatik <strong>der</strong> unmöglichen Möglichkeiten<br />

überschlagen sich nach vorn. Ergeben<br />

ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gereiht e<strong>in</strong>e Ereigniskette,<br />

sie kriechen und hüpfen aus ihrer E<strong>in</strong>zelbedeutungslosigkeit<br />

heraus. Sie schließen sich<br />

zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Tu-Satz“.<br />

Handeln, Lieben, Mutig se<strong>in</strong>, Wüten, Freuen,<br />

Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Da und dort schleichen sich Umkipp-Krakel<br />

e<strong>in</strong>, dann buchstabiere ich „S t e i n e i m<br />

B a u c h “ und „L u f t i m K o p f “. – „L e e -<br />

r e “ Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, ich will jetzt nicht dieses „<br />

A N G S T “ buchstabieren, es wird sowieso<br />

wie von selbst e<strong>in</strong> Riese.<br />

Fest im Griff will ich me<strong>in</strong>en Schreibstift<br />

haben, <strong>der</strong> Worte formt. Stark…stabil…<br />

bemüht…se<strong>in</strong>...<br />

Kann denn Liebe hier etwas erreichen?<br />

Wie unser deutscher Schreibfürst me<strong>in</strong>t: „In<br />

e<strong>in</strong>em Augenblick erreicht die Liebe, was<br />

Mühe kaum <strong>in</strong> langer Zeit schafft…“ – Ich<br />

schreibe wie ich b<strong>in</strong> und ich b<strong>in</strong> wie ich<br />

schreibe.<br />

Me<strong>in</strong> Lohn ist nicht <strong>der</strong> Mühe Arbeit. Kann<br />

unsere Zweisamkeit alles tragen?<br />

Was denke ich? Was schreibt me<strong>in</strong> Stift?<br />

´L´ wie Liebeslohn. Lieben lohnt sich, das E<strong>in</strong>zige<br />

was mehr wird, wenn man es verschenkt,<br />

sagt man. Das an<strong>der</strong>e ´L´ wie Liebeslohn,<br />

denke ich daran, dass ich mehr wert b<strong>in</strong> als<br />

1 €uro o<strong>der</strong> 3,50 €uro?<br />

Die Buchstaben, deutlich, gleichmäßig<br />

langweilig. Na, na! `S´ wie stillhalten, wirst<br />

Du wohl nicht aus <strong>der</strong> Reihe tanzen! Ganz<br />

öffentlich geme<strong>in</strong>t und nur klammheimlich<br />

gewe<strong>in</strong>t, ergibt sich die Tageslosung von A-Z:<br />

Arbeit = Zukunft? Nimm dich zusammen!<br />

Äußerste Ruhe. Fallen…<br />

Dich zusammennehmenundnichtause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen.<br />

Stau. Der Griffel bremst, die Seele<br />

quietscht.<br />

Gedankenauffahrunfall und Handlungslähmung.<br />

Wie darf ich leben? Gehartznischtes Vorschreiben.<br />

1 €uro und du bist dabei.<br />

Die Raubritter auf an<strong>der</strong>en Burgen geben dir<br />

3,50 o<strong>der</strong> sogar 5,00 €uro! Für acht Wochen.<br />

Blute…<br />

Lohn <strong>der</strong> Arbeit wie ´A´ = Armut. E<strong>in</strong> Lohn wie<br />

e<strong>in</strong>e Ohrfeige, die wie rote T<strong>in</strong>te aus e<strong>in</strong>em<br />

kaputten Stift fließt. Rote Zahlen, rotes Blut.<br />

„Spen<strong>der</strong><strong>in</strong>“ schreibt me<strong>in</strong>e Hand. Herz rast.<br />

Hand schmiert, stockt, wird kraftlos. Laute<br />

Auffor<strong>der</strong>ung: „Man nehme den Stift nur<br />

fest <strong>in</strong> die Hand. Hier bei uns ist nicht je<strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong>es Glückes Schmied!“<br />

Ke<strong>in</strong>e Trägheit mit Aufschwung bitte! Ke<strong>in</strong>e<br />

nebensächlichen Schnörkelausfälle, immer<br />

auf <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie bleiben! Eigendynamik ist e<strong>in</strong>e<br />

Krähe, die nur Vogelscheuchen und ke<strong>in</strong>e<br />

Saat mehr f<strong>in</strong>det.<br />

Na siehst Du, es geht doch, auch wenn die<br />

Schrift blasser wird, nichts mehr aus <strong>der</strong> M<strong>in</strong>e<br />

fließen will. Ich will nicht mehr dieses „Ohne<br />

Macht- gute M<strong>in</strong>e zum bösen Spiel“ machen.<br />

Aber Du hast Schuld, wenn Du nichts mehr<br />

zum Schreiben hast o<strong>der</strong> zum Beißen und<br />

alles „l e e r “ wird.<br />

Wer Buchstaben sucht, <strong>der</strong> f<strong>in</strong>det auch<br />

welche! – Wir wollen doch nicht über Moral<br />

diskutieren! Die Schmiedehammer <strong>der</strong><br />

Glücksschmiede schmieden ihr Eisen solange<br />

es heiss ist und sie haben ihre Eisen sowieso<br />

im Feuer…<br />

Die Schönschreibf<strong>in</strong>gerlähmung löst sich und<br />

nach dem Motto „För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n“.<br />

Pardon, För<strong>der</strong>n, kann ich es wie<strong>der</strong>: Mich<br />

zusammennehmen und nicht ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen,<br />

ich werde mich zusammennehmenichwerdemichzusammennehmenundzufriedengeben.<br />

Harthartzliche Notdurftgrüsse. – Werde ich<br />

se<strong>in</strong>, was ich schreibe?<br />

16


Se<strong>in</strong> bestimmt das Bewusstse<strong>in</strong>, Bewusstse<strong>in</strong><br />

das Se<strong>in</strong>. Ich wehre mich. Ich will ke<strong>in</strong>en<br />

sturen Alphabetismus. Will buchstabieren<br />

mit flatternden Worten, ke<strong>in</strong>en Gedanken<br />

verschwenden an die Neue Rechtschreibung,<br />

ich will Bewegung br<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gedankenmonotonie.<br />

Produktives Alphabet, ich probiers, alles hört<br />

auf ´W´! Würde we<strong>in</strong>t, Wirtschafts-Würger<br />

würgen Würde, was wäre wenn Wut wagt,<br />

wildes Wollen, was wird wohl? Me<strong>in</strong>e Gedanken<br />

s<strong>in</strong>d wie me<strong>in</strong> Schreiben.<br />

Mal so, mal so. Zügig, krakelig, schwungvoll,<br />

traurig, for<strong>der</strong>nd, gleichgültig. Sie laufen oft<br />

müde nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> her, schlurfen träge<br />

und stolpern über sich selbst. Dann, plötzlich,<br />

macht das Stolpern S<strong>in</strong>n. Durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>rütteln<br />

und Wachschütteln.<br />

Der vergiftete Apfel wird ausgespuckt. Ich<br />

mache die Augen auf. Ich stehe auf. Sehe<br />

Zusammenhänge, die Sätze ergeben. ´S´ wie<br />

Sorge, ´W´ wie Wut, ´T` wie Tränen, ´R´ wie<br />

Resignation e<strong>in</strong>sperren!<br />

Me<strong>in</strong>e Seele braucht endlich Luft zum atmen!<br />

Die Würde des Menschen ist unantastbar…<br />

Ne<strong>in</strong>! Ich lasse mich nicht ausbluten, schrei(b)t<br />

<strong>der</strong> Stift. Leben ist mehr als kämpfen!<br />

Überlegungen nach dem „Was“ werden<br />

schnell zum „Wie“ und schließen sich zusammen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Du-Satz“: „Du lass dich<br />

nicht verbittern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bittren Zeit, die<br />

Herrschenden erzittern, doch nicht vor De<strong>in</strong>em<br />

Leid…“ – Kennst du noch jemand, Wolf<br />

Biermann?<br />

Lösungen, gibt es Lösungen, die nicht wehtun?<br />

Überlegungen nach dem „Was“ werden zum<br />

„Wir“ und schließen zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

„Tu-Satz“.<br />

Hannover, den 07. Oktober 2008 –<br />

Globaler Aktionstag gegen prekäre Arbeit<br />

Für heute heißt die Tageslosung: „Brot und<br />

Rosen!!!“ Ganz leise fange ich an zu summen:<br />

„Du lass Dich nicht verbrauchen, gebrauche<br />

De<strong>in</strong>e Zeit, Du kannst nicht untertauchen…<br />

Wir brauchen uns und auch die Heiterkeit!“<br />

Ach ja, diese Worte. Sie kommen aus mir<br />

selbst und gehen mich an. Ich höre sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Lied von gestern. Egal, woher Mut-<br />

Brocken antanzen. – Ich brauche diese Aufrüttelschütteltöne,<br />

sie spornen mich an.<br />

Ich habe etwas zu sagen!<br />

Julia Hoenen<br />

geb. 1947, verheiratet. Beruflich ständig<br />

weiterentwickelt: Hauswirtschaft,<br />

Krankenschwester, Studium Lehramt (2.<br />

Bildungsweg), Ergotherapieausbildung<br />

und gestalttherapeutische Fortbildung.<br />

Fast 20 Jahre als Gestalttherapeut<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er psychotherapeutischen Tageskl<strong>in</strong>ik<br />

tätig. Seit September 2009 „Leben und<br />

Genießen“ <strong>der</strong> passiven Altersteilzeit,<br />

weiterh<strong>in</strong> mit eigenen Kursangeboten.<br />

Zu den Hobbys zählen u.a. malen, lesen,<br />

schreiben, wan<strong>der</strong>n, Natur. Teilnahme an<br />

Buchveröffentlichungen und Lesungen.<br />

17


Collage<br />

von Benjam<strong>in</strong> Senst<br />

Benjam<strong>in</strong> Senst<br />

geb. 1988, Abitur, nebenbei tätig als Kellner<br />

im Hotel, Freiwilliges Soziales Jahr als<br />

Erste-Hilfe-Ausbil<strong>der</strong>, nebenbei ehrenamtliche<br />

Sanitätsdienste und Kellner, danach<br />

Krankentransport, Ausbildung zum<br />

Rettungsassistenten, arbeitssuchend,<br />

aktuell Studium.<br />

18


Mobb<strong>in</strong>g – Des Teufels General<br />

von Anna-Tiqvah Nym-Haad (Pseudonym)<br />

Anna-Tiqvah Nym-Haad (Pseudonym)<br />

geb. 1954, 4 K<strong>in</strong><strong>der</strong>, mehrere Lebens-<br />

Grund-E<strong>in</strong>brüche über-lebt<br />

10 Jahre Alle<strong>in</strong>erziehungszeit<br />

Nach über 30 Jahren engagiertem Arbeits-Er-leben<br />

(mit mehrfacher Qualifizierung und Weiterbildung)<br />

heute bloß nur noch arbeitslos<br />

19


Ich wache immer noch manchmal<br />

morgens auf und denke,<br />

ich träume das alles<br />

von Wilfried Vorzelter<br />

25% aller Beschäftigungsverhältnisse waren im<br />

Jahre 2008 nicht normal, atypisch, prekär. Das<br />

entspricht ca. 8 Millionen Jobs, e<strong>in</strong>e Steigerung<br />

<strong>in</strong> den letzten 10 Jahren um 3 Millionen.<br />

Egal, welche Bezeichnung man wählt, allen<br />

ist gleich, sie weichen m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Kriterium vom klassischen Normalarbeitsverhältnis<br />

ab: <strong>der</strong> Unbefristung, <strong>der</strong> Sozialversicherungspflicht,<br />

<strong>der</strong> Existenzsicherung o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Vollzeit. Schlimmstenfalls weichen sie <strong>in</strong><br />

allen vieren davon ab. Der Fall <strong>in</strong> die Prekarität<br />

ist e<strong>in</strong> tiefer. Erwerbsarbeit ist und bleibt die<br />

zentrale Anerkennungsmasch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> unserer<br />

warenproduzierenden Gesellschaft und wer<br />

<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form nachhaltig aus dem Takt<br />

dieser Anerkennungsmasch<strong>in</strong>e gerät, wird<br />

nicht selten an Leib und Seele geschädigt.<br />

Ich wache immer noch manchmal morgens<br />

auf und denke, ich träume das alles. Jetzt<br />

noch, nach über vier Jahren. Es dauert immer<br />

e<strong>in</strong> paar quälend lange Sekunden, bis die Erkenntnis<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> gerutscht ist: das ist<br />

ke<strong>in</strong> Traum, das ist Realität. Wenn ich dann<br />

Zeit habe – und das habe ich meistens; wenn<br />

ich von allem soviel hätte wie von Zeit, g<strong>in</strong>ge<br />

es mir besser – und nicht auf Verdrängung<br />

gepolt b<strong>in</strong>, rufe ich Bil<strong>der</strong> ab von jenem Tag<br />

im September 2004, <strong>der</strong> me<strong>in</strong> Leben verän<strong>der</strong>t<br />

hat wie ke<strong>in</strong> zweiter.<br />

Kurz vor <strong>der</strong> Mittagspause rief unser Abteilungsleiter<br />

<strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en Konferenzraum me<strong>in</strong>er<br />

Firma. Wir, ich sage heute noch „wir“ und<br />

„me<strong>in</strong>e alte Firma“, saßen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Filiale e<strong>in</strong>es<br />

großen deutschen Reiseunternehmens und<br />

waren als <strong>in</strong>nerbetriebliche <strong>Dienst</strong>leistungs-<br />

Abteilung zuständig für alles mögliche – von<br />

Öffentlichkeitsarbeit über Inhouse Weiterbildung<br />

bis h<strong>in</strong> zur örtlichen Kundenkontaktpflege.<br />

Nichts Sensationelles, aber ich hatte Spaß<br />

an me<strong>in</strong>er Arbeit und mir <strong>in</strong> über 15 Jahren<br />

Tätigkeit im Unternehmen e<strong>in</strong> gutes Stand<strong>in</strong>g<br />

verschafft. Dachte ich.<br />

Da saßen wir nun, knapp 20 Leute, und warteten.<br />

Und dann war die Tür aufgegangen<br />

und unser Abteilungsleiter, <strong>der</strong> hiesige Personalchef<br />

und e<strong>in</strong> fremdes Gesicht kamen<br />

here<strong>in</strong> und <strong>in</strong> dem Moment wusste ich, dass<br />

da etwas ganz Unangenehmes auf uns zu<br />

kommen würde.<br />

In Teilzeit arbeiteten <strong>in</strong> Deutschland 2008 ca. 5<br />

Millionen Menschen, 50% mehr als zehn Jahre<br />

zuvor. Es gibt über e<strong>in</strong>e Million Sche<strong>in</strong>selbstständige,<br />

7 Millionen M<strong>in</strong>ijobs und 700.000<br />

Beschäftigte <strong>in</strong> Zeitarbeit und, übers Jahr<br />

gesehen, fast ebenso viele E<strong>in</strong> Euro Jobs, die<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal vom re<strong>in</strong>en Status her e<strong>in</strong><br />

Arbeitsverhältnis begründen. 4 Millionen Vollzeit<br />

Beschäftigte erhalten e<strong>in</strong>en Niedriglohn,<br />

<strong>der</strong> weniger als zwei Drittel des vergleichbaren<br />

Durchschnittslohns beträgt.<br />

Wie viele Menschen illegal <strong>in</strong> Deutschland<br />

leben und arbeiten und wie viele <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

Arbeitsmarktstatistik (mehr) auftauchen, kann<br />

seriös niemand sagen.<br />

Welche Gefühle ich damals hatte, weiß ich<br />

nicht mehr o<strong>der</strong> genauer, ich hatte kaum welche.<br />

Ich hörte zwar die Botschaft, aber ihr Inhalt<br />

erreichte mich nicht, berührte mich nicht.<br />

Die Botschaft war nicht schwer verständlich:<br />

aus Kostengründen sollte die Arbeit unserer<br />

Abteilung outgesourct werden. Wir würden<br />

im Rahmen e<strong>in</strong>es Sozialplanes sozialverträglich<br />

„abgewickelt“ werden. Das „fremde<br />

Gesicht“ war e<strong>in</strong> externer Personalberater,<br />

<strong>der</strong> mit jedem E<strong>in</strong>zelnen von uns <strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiven<br />

Gesprächen e<strong>in</strong>e „passgenaue“ Berufsperspektive<br />

entwickeln würde.<br />

Das Schlimmste war das Schweigen <strong>der</strong> Kollegen<br />

bei <strong>der</strong> Verkündigung dieser Botschaft.<br />

Niemand sagte etwas, selbst Mareike nicht,<br />

die sich sonst von niemandem die Butter vom<br />

Brot nehmen ließ, sogar im Betriebsrat saß.<br />

In <strong>der</strong> Mittagspause saßen wir <strong>in</strong> mehreren<br />

Gruppen zusammen, <strong>in</strong> den sonst üblichen<br />

Konstellationen. Ich saß mit Bernd, Wolfgang<br />

und Vanessa draußen <strong>in</strong> <strong>der</strong> warmen Spätsommersonne<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ruhezone im kle<strong>in</strong>en Park<br />

auf <strong>der</strong> Rückseite unseres Firmengebäudes.<br />

Unsere Firma hatte immer Wert auf soziale<br />

Leistungen gelegt und die E<strong>in</strong>richtung von<br />

Mitarbeiter-orientierten Ruhezonen im Gelände<br />

war nur e<strong>in</strong>e davon.<br />

Unsere Diskussionen verliefen von Empörung<br />

und Wut über Fatalismus ziemlich schnell zu<br />

möglicher Gegenwehr und an<strong>der</strong>en Perspektiven.<br />

Was tun?<br />

Ich hatte mich mit <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er Entlassung<br />

nie ernsthaft ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gesetzt. Sicher,<br />

ich malte gerne, hatte auch schon kle<strong>in</strong>ere<br />

Ausstellungen und hätte das gerne ausgebaut,<br />

aber mir wäre etwas Derartiges nie <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n<br />

als Jobalternative gekommen. Geschweige<br />

denn e<strong>in</strong> Branchen- o<strong>der</strong> Jobwechsel. Und<br />

mitten <strong>in</strong> unserer Diskussion fiel mir plötzlich<br />

e<strong>in</strong>, dass wir vier, die wir auch privat viel mit<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> unternahmen, uns absehbar nicht<br />

mehr tagtäglich, 9 Stunden und mehr, jeden<br />

Arbeitstag, sehen würden.<br />

20


Der nachhaltige Verlust e<strong>in</strong>es Normalarbeitsplatzes<br />

ist <strong>der</strong> erste Schritt auf dem Weg <strong>in</strong><br />

soziale Isolation, Frustration, Resignation und<br />

– <strong>in</strong> letzter Konsequenz als Verb<strong>in</strong>dung mit Armutsrisiken<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong> erhöhtes Gesundheits- und<br />

Sterberisiko. Langzeitarbeitslosigkeit und/o<strong>der</strong><br />

Prekäre Beschäftigung för<strong>der</strong>n das Armutsrisiko.<br />

E<strong>in</strong> Alle<strong>in</strong>stehen<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> niedrigsten<br />

Zeitarbeits-Lohngruppe liegt – bei Vollzeit<br />

Arbeit – netto nur um wenige Euro über <strong>der</strong><br />

EU-Def<strong>in</strong>itionsschwelle von Armut. Viele Niedrigtariflöhne<br />

liegen unter <strong>der</strong> Armutsschwelle.<br />

Wer arm ist, stirbt schneller. Herz<strong>in</strong>farkt ist<br />

ke<strong>in</strong>e Managerkrankheit, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Armutsrisiko,<br />

zwei – dreifach höher als normal. Das<br />

Risiko e<strong>in</strong>er körperlichen Krankheit generell<br />

liegt um 30 - 80 % höher, das e<strong>in</strong>er psychischen<br />

Erkrankung um 100 %.<br />

Die Wochen danach habe ich als e<strong>in</strong> Wechselbad<br />

<strong>der</strong> Gefühle <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung. Nachdem<br />

diese merkwürdige Gefühls-Taubheit verschwunden<br />

war, wechselten sich Ängste und<br />

Euphorien ab. Das g<strong>in</strong>g manchmal zu wie an<br />

e<strong>in</strong>em stürmischen Wolkenhimmel, wo sich<br />

<strong>in</strong>nerhalb kürzester Zeit Sonne und dunkle<br />

Wolken gegenseitig zu jagen sche<strong>in</strong>en. Die<br />

Aussicht auf e<strong>in</strong>e relativ hohe Abf<strong>in</strong>dung liess<br />

mich Reisepläne schmieden, ich wollte schon<br />

immer mal längere Zeit nach Neuseeland.<br />

Dann wie<strong>der</strong> hatte ich massive Schlafstörungen,<br />

weil mich Zukunftsängste drückten.<br />

Über die Arbeitsmarkt Situation – und damit<br />

me<strong>in</strong>e eigene - machte ich mir ke<strong>in</strong>e Illusionen<br />

und das Gespräch mit dem externen Personalberater<br />

war dementsprechend auch eher e<strong>in</strong><br />

Witz: ausser wolkigen Floskeln, dynamischem<br />

Pseudomotivationsblabla und <strong>in</strong>haltsleerem,<br />

rotgrün angehauchtem Arbeitsmarkt -Aktivierungshokuspokus<br />

nicht das Schwarze unterm<br />

F<strong>in</strong>gernagel an konkreter Perspektive.<br />

Außer, dass ich mich als Selbstständiger<br />

zukünftig um Aufträge me<strong>in</strong>er demnächst<br />

ehemaligen Firma aus dem Bereich me<strong>in</strong>er<br />

demnächst ehemaligen Abteilung bewerben<br />

würde können. „Natürlich haben Sie mit Ihrem<br />

Namen bei solchen Ausschreibungen immer<br />

e<strong>in</strong>e Kurvenvorgabe“.<br />

E<strong>in</strong>e merkwürdige Erfahrung aus den letzten<br />

Tagen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em alten Laden:<br />

e<strong>in</strong>ige Kollegen mieden uns Entlassene, als<br />

ob wir nicht Opfer, son<strong>der</strong>n eher Schuldige<br />

an und <strong>in</strong> dieser Misere wären o<strong>der</strong> etwas<br />

Ansteckendes besässen. Es gab auch an<strong>der</strong>es,<br />

Normales, Solidarisches, aber das war auffällig.<br />

Und bleibt haften.<br />

Nach ungefähr drei Monaten <strong>in</strong>tensiver Bewerbungen<br />

und Versuchen, Beziehungen<br />

spielen zu lassen, musste ich mich langsam<br />

daran gewöhnen: auf mich wartete da draussen<br />

auf dem Arbeitsmarkt niemand. Und mit<br />

zunehmendem Alter würde das nicht besser<br />

werden.<br />

In den letzten zwanzig Jahren hat sich <strong>der</strong><br />

Sockel an struktureller Massen-arbeitslosigkeit<br />

verfestigt und nach je<strong>der</strong> zyklischen Krise erhöht,<br />

haben sich prekäre Arbeitsverhältnisse<br />

vervielfacht und ist die Armut kont<strong>in</strong>uierlich<br />

gestiegen, während auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die<br />

Zahl <strong>der</strong> Millionäre im Lande jährlich um fast<br />

drei Prozent steigt. Über die Ursachen dieses<br />

Paradigmenwechsels unserer Gesellschaft vom<br />

paternalistisch -sozialstaatlich orientierten<br />

rhe<strong>in</strong>ischen Kapitalismus h<strong>in</strong> zum Sharehol<strong>der</strong><br />

Value Kapitalismus angelsächsischer Provenienz<br />

s<strong>in</strong>d ganze Büchereien geschrieben und<br />

liegen jede Menge Alternativvorschläge auf<br />

verschiedenen Tischen: Schaffung e<strong>in</strong>es öffentlichen<br />

Beschäftigungssektors, Reduzierung<br />

<strong>der</strong> tariflichen Wochenarbeitszeit, Abbau von<br />

Überstunden, E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es gesetzlichen<br />

M<strong>in</strong>destlohnes, E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er armutsfesten<br />

Grundsicherung, von steuerlichen Umverteilungsmodellen<br />

ganz zu schweigen, schon gar<br />

von den <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Krise aufkommenden<br />

Enteignungsphantasien.<br />

Als ob Verstaatlichung etwas än<strong>der</strong>n würde;<br />

e<strong>in</strong> paar Köpfe werden ausgetauscht, die<br />

Strukturen, Verhaltensweisen und gesellschaftlichen<br />

Leitbil<strong>der</strong> bleiben, <strong>der</strong> Sozialabbau<br />

geht weiter. Resultat: Sozialismus ohne<br />

Sozialstaat.<br />

Ich machte mich also selbstständig. Im Angebot:<br />

Homepage Development, Werbeauftritt<br />

Solutions, Public Relations Design.<br />

Nicht, dass ich mit diesem Angebot alle<strong>in</strong>e auf<br />

dem Markt gewesen wäre. Aber tatsächlich liefen<br />

die ersten Monate nicht schlecht. Ich hatte<br />

natürlich e<strong>in</strong> radikales Kostensenkungsprogramm<br />

im privaten Ausgabenbereich e<strong>in</strong>geführt:<br />

ke<strong>in</strong> Fitnessstudio mehr, „Men’s Health“<br />

und „Capital“ Zeitschriften Abo gekündigt,<br />

ke<strong>in</strong>e Sushi Abende beim Japaner mehr und<br />

zwei Wochen Malediven Urlaub <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Woche<br />

Lanzarote Neckermann umgewandelt. Bei<br />

me<strong>in</strong>er alten Firma bekam ich anfangs gute<br />

Aufträge, es lief da <strong>in</strong> <strong>der</strong> Umstellungsphase<br />

nicht rund <strong>in</strong> unserem ehemaligen Abteilungsbereich.<br />

So kam ich über die Runden. Doch es<br />

wurde langsam weniger.<br />

Und an<strong>der</strong>e Auftraggeber konnte ich nur<br />

spärlich akquirieren.<br />

Und nach etwas mehr als e<strong>in</strong>em Jahr deckten<br />

me<strong>in</strong>e monatliche E<strong>in</strong>nahmen knapp die Fixkosten.<br />

Und von da an konnte ich nicht mehr<br />

verdrängen.<br />

Er<strong>in</strong>nerungssplitter:<br />

E<strong>in</strong>mal bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit. Nie wie<strong>der</strong>.<br />

Grausam, dieses Volk, was da teilweise rum<br />

läuft, diese trostlosen Gänge und Wartezonen<br />

und diese des<strong>in</strong>teressierten Sachbearbeiter, die<br />

21


würden <strong>in</strong> unserer Branche ke<strong>in</strong>e drei Wochen<br />

Probezeit überstehen. Ich habe beim Rausgehen<br />

nur gebetet, dass mich im Umkreis von<br />

zwei Kilometer ke<strong>in</strong> bekanntes Gesicht trifft.<br />

Apropos beten: ich mache wann immer es geht<br />

Radtouren, um mich fit zu halten. Es gibt da<br />

e<strong>in</strong>e schmucklose Kirche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>e Dorf<br />

ungefähr auf dem Scheitelpunkt me<strong>in</strong>er Tour.<br />

Das ist mittlerweile e<strong>in</strong> Ritual, ich mache davor<br />

auf e<strong>in</strong>er Ruhebank Pause, esse e<strong>in</strong>en Müsliriegel,<br />

tr<strong>in</strong>ke e<strong>in</strong>en Schluck und setzte mich<br />

dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche <strong>in</strong> die letzte Reihe. Und dort<br />

f<strong>in</strong>de ich Ruhe, kann ausnahmsweise mal an<br />

nichts denken. Sonst kreisen me<strong>in</strong>e Gedanken<br />

andauernd um den nächsten Tag, den nächsten<br />

Monat, das nächste Jahr, unruhig, bedrückend.<br />

Ich wache oft nachts auf und morgens rotiert<br />

manchmal m<strong>in</strong>utenlang e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Gedanke<br />

immer wie<strong>der</strong> durch me<strong>in</strong> halbwaches Hirn,<br />

zum verrückt werden.<br />

In dieser schmucklosen Kirche f<strong>in</strong>de ich Ruhe.<br />

Ich bete nicht, ich glaube, ich b<strong>in</strong> noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal richtig gläubig. E<strong>in</strong>fach nur <strong>in</strong>nehalten.<br />

Früher hat mich ke<strong>in</strong>e Arztpraxis von <strong>in</strong>nen<br />

gesehen, höchstens mal e<strong>in</strong> Zahnarzt.<br />

Und jetzt: was ich alle<strong>in</strong> bei Ärzten und Reha-<br />

Maßnahmen war wegen me<strong>in</strong>es Bandscheibenvorfalls<br />

vor zwei Jahren.<br />

Gott sei Dank hatte ich mich weiter krankenversichert,<br />

wollte ich eigentlich damals<br />

auch e<strong>in</strong>sparen. Der Vorfall war so schon e<strong>in</strong>e<br />

mittlere Katastrophe für mich. Ich fahre <strong>in</strong>zwischen<br />

für e<strong>in</strong>en Bekannten als Kurierfahrer,<br />

schwarz, nebenbei, um überhaupt über die<br />

Runden zu kommen. Das konnte ich dann für<br />

e<strong>in</strong> paar Wochen vergessen. Und musste an<br />

me<strong>in</strong>e Rücklagen.<br />

Mit Wolfgang telefoniere ich ab und zu noch<br />

mal. Der Kontakt zu den an<strong>der</strong>en ist irgendwann<br />

abgerissen, die Geschichten wurden zu<br />

unterschiedlich. Wolfgang geht es ähnlich wie<br />

mir, er hat sich dann irgendwann arbeitslos<br />

gemeldet.<br />

Ich kann mir Arbeitslosigkeit nicht leisten.<br />

Mal abgesehen davon, dass ich auf ke<strong>in</strong>en Fall<br />

auch nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Statistik mit diesen Hartz IV<br />

Leuten geführt werden will – ich stelle mir<br />

gerade vor, auf e<strong>in</strong>er Party fragt mich e<strong>in</strong>e<br />

Frau im Stadium des Kennenlernens, was ich<br />

so mache und ich antworte, ich b<strong>in</strong> Hartz IV.<br />

Da kann ich genauso gut sagen, ich hätte Aids.<br />

Ich kann es mir schlicht und ergreifend auch<br />

f<strong>in</strong>anziell nicht leisten. Ich habe e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Eigentumswohnung vermietet, natürlich e<strong>in</strong>e<br />

Lebensversicherung und immer noch, wenn<br />

auch abgeschmolzen, e<strong>in</strong>ige Rücklagen. Das<br />

kann ich doch dann alles vergessen!<br />

Die aktuelle F<strong>in</strong>anz -und Verwertungskrise<br />

wird also wahrsche<strong>in</strong>lich eher <strong>in</strong> noch mehr<br />

prekäre Lebensverhältnisse, lokale Armut und<br />

globale Barbarei ausarten, als dass sich auch<br />

nur e<strong>in</strong> Jota zum Besseren wendet.<br />

Dabei ist e<strong>in</strong>es bemerkenswert:<br />

Wieso s<strong>in</strong>d die Menschen, die Betroffenen<br />

<strong>in</strong> unserem Lande so schafsgeduldig, so<br />

lammfromm, wieso werden die öffentlichen<br />

Diskussionen, auch von Gewerkschaften,<br />

Kirchen, Verbänden, NGOs überwiegend so<br />

leidenschaftslos und mobilisierungsscheu geführt,<br />

wo bleibt die nachhaltige parteiische<br />

und öffentliche Intervention von Intellektuellen<br />

und Künstlern, die vermutlich diejenigen<br />

Berufsgruppen s<strong>in</strong>d, die am meisten von Prekarität<br />

und Armut betroffen s<strong>in</strong>d?<br />

Ist dieses System so fundamental unverrückbar,<br />

dass schon das öffentliche Nachdenken darüber<br />

zu e<strong>in</strong>em kollektiven Erschöpfungszustand<br />

führt? Immerh<strong>in</strong> ist hier die Rede von über<br />

zwanzig Millionen akut betroffenen E<strong>in</strong>zelschicksalen<br />

und e<strong>in</strong>er erheblichen Menge<br />

vom Abstieg bedrohter, ehemals saturierter<br />

Mittelschichtangehöriger.<br />

E<strong>in</strong> merkwürdiges Gespenst geht zur Zeit um,<br />

<strong>in</strong> Deutschland ...<br />

Ich schreibe diese Zeilen Anfang 2009. Wir<br />

haben gerade die schwerste globale Wirtschaftskrise<br />

nach dem zweiten Weltkrieg und<br />

ich glaube, dass sich absehbar viele<br />

Noch -Jobbesitzer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen Situation<br />

wie ich bef<strong>in</strong>den werden, e<strong>in</strong>e vergleichbare<br />

„Karriere“ e<strong>in</strong>schlagen, zwangsläufig.<br />

Im TV überbieten sich Features, Talkshows und<br />

Fachleute aller Richtungen mit Analysen und<br />

Lösungsvorschlägen. Neulich las e<strong>in</strong> Schauspieler<br />

auf e<strong>in</strong>em TV-Exotenkanal aus e<strong>in</strong>em<br />

alten kommunistischen Manifest vor: „E<strong>in</strong> Gespenst<br />

geht um <strong>in</strong> Europa – das Gespenst des<br />

Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa<br />

haben sich zu e<strong>in</strong>er heiligen Hetzjagd gegen<br />

dies Gespenst verbündet ...“<br />

Da musste ich lachen.<br />

Im Moment haben sich ja zum<strong>in</strong>dest bei uns<br />

im Lande alle Mächte eher verbündet, das<br />

Gespenst des Kapitalismus zu vertreiben.<br />

Wilfried Vorzelter<br />

geb. 1951 <strong>in</strong> Buxtehude, verheiratet, vier<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Studium von Kunstgeschichte,<br />

Theologie und Biologie. Berufstätigkeit<br />

u.a. als Lehrer an e<strong>in</strong>em Bildungszentrum<br />

für Taubbl<strong>in</strong>de, als Entwicklungshelfer<br />

<strong>in</strong> Burk<strong>in</strong>a Faso und im Masch<strong>in</strong>enbau.<br />

Er war Kurator diverser Kunstausstellungen.<br />

Er arbeitet zzt. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unternehmensberatung.<br />

22


50 plus – In Würde arbeiten?!<br />

von Erw<strong>in</strong> Stefaniuk<br />

Humor befreit<br />

von Hans Mühsal (Pseudonym)<br />

Würde gerne e<strong>in</strong>mal<br />

Frühstückspause machen,<br />

die Mittagspause mit Kollegen verbr<strong>in</strong>gen,<br />

mich auf den Feierabend freuen,<br />

das freie Wochenende geniessen,<br />

<strong>in</strong> Urlaub fahren.<br />

In Würde arbeiten ?! Alles nur e<strong>in</strong> Traum ?!<br />

(Ach, fast hätte ich es vergessen:<br />

B<strong>in</strong> über 50 Jahre alt und arbeitslos...)<br />

In hoffnungslosen Situationen versuche ich<br />

mir immer e<strong>in</strong> Bild vorzustellen, <strong>in</strong> dem ich<br />

h<strong>in</strong>gerichtet werde.<br />

Der Alltag liegt mir wie e<strong>in</strong>e Schl<strong>in</strong>ge zugezogen<br />

um den Hals und die Lebenssituation<br />

fragt mich als Scharfrichter, ob ich noch<br />

e<strong>in</strong>en letzten Wunsch habe. Ich sage ja, ich<br />

will noch e<strong>in</strong>en Witz erzählen. Der Wunsch<br />

ist mir gewährt.<br />

Ich erzähle den Witz, worauf sich vor Lachen<br />

me<strong>in</strong> Hals und damit die zugezogene<br />

Schl<strong>in</strong>ge weitet, ich wie<strong>der</strong> Luft zum Atmen<br />

bekomme. Der Scharfrichter klopft sich vor<br />

Lachen auf die Schenkel und das Publikum<br />

wälzt sich auf dem Boden. Ich nutze die<br />

Situation allgeme<strong>in</strong>en Gelächters über<br />

me<strong>in</strong>e nie<strong>der</strong>schlagende Lebenssituation,<br />

ziehe flugs den Hals aus <strong>der</strong> Schl<strong>in</strong>ge me<strong>in</strong>es<br />

Schicksals und bevor die Gesellschaft und<br />

<strong>der</strong> Scharfrichter wie<strong>der</strong> zu sich gekommen<br />

s<strong>in</strong>d, b<strong>in</strong> ich lachend weggerannt und kann<br />

weiter machen.<br />

Erw<strong>in</strong> Stefaniuk<br />

geb. 1952, verheiratet, 3 K<strong>in</strong><strong>der</strong>, 2 Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Gelernter Schriftsetzer, 30 Berufsjahre <strong>in</strong><br />

drei Druckereien. Nach Firmen<strong>in</strong>solvenz<br />

mehrere Bildungsmaßnahmen zum PC-<br />

Grafiker / Mediengestalter. 10 Jahre langzeiterwerbslos<br />

– aber nicht arbeitslos.<br />

Aktiv <strong>in</strong> gewerkschaftlicher verdi-Ortserwerbslosenarbeit.<br />

Seit über 5 Jahren<br />

Mitherausgeber des @lptraum – kostenlose<br />

Hannoversche Zeitung gegen<br />

Sozialabbau.<br />

Hans Mühsal (Pseudonym)<br />

geb. 1966 <strong>in</strong> Hannover, fühlt sich als<br />

Weltenbürger: Hat viel gesehen, ist viel<br />

herumgekommen, hat viel gemacht,<br />

viel zugehört und Vertrauen geschenkt<br />

bekommen und eigentlich nur wenig<br />

gesagt, meist nur Fragen gestellt.<br />

23


„In Würde arbeiten?!“<br />

von Peter Rosacker<br />

Peter Rosacker<br />

geb. 1946, Ingenieur für Nachrichtentechnik,<br />

zuletzt tätig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Medienwerkstatt,<br />

dort gekündigt und seit 1999<br />

arbeitslos.<br />

Gestorben zwei Monate nach <strong>der</strong> Preisverleihung<br />

zum Wettbewerb „In Würde<br />

arbeiten“.<br />

24


Zahl du mal von Sechs-Fünfzig<br />

die Stunde 300,- fürs Wohnen<br />

von Klaus-Dieter Gleitze<br />

Zahl Du mal von Sechs-Fünfzig die Stunde 300,- fürs Wohnen<br />

Lass Du Dich vom Chef behandeln wie Dreck.<br />

Belügen, das Warten auf die Festanstellung würde sich lohnen,<br />

und nach vier Wochen ist selbst dieser Schwe<strong>in</strong>ejob weg.<br />

Dann erzählt Dir <strong>der</strong> Disponent vom Sklavenverleiher,<br />

er hat ke<strong>in</strong>e Arbeit mehr, deshalb schmeisst er Dich raus.<br />

Es ist seit Jahren die gleiche Leiharbeits-Leier,<br />

das halt‘ ich bis 67 bestimmt nicht mehr aus.<br />

Bei Kollegen im Betrieb läufst ständig Du gegen ´ne Mauer.<br />

Die denken, Du kriegst ihren Job, weil Du billiger bist.<br />

Du willst nur e<strong>in</strong>s: Arbeit! Arbeit auf Dauer,<br />

alles andre ist Dir egal, weil je<strong>der</strong> sich selbst <strong>der</strong> Nächste ist.<br />

Du willst Lohn nach Tarif? Da wirst Du nicht warten müssen.<br />

De<strong>in</strong> Leiher ist nicht lange ohne Vertrag geblieben.<br />

Mit dem wirst du völlig legal beschissen,<br />

die Christengewerkschaft hat den Vertrag unterschrieben.<br />

Me<strong>in</strong>e Ehe, me<strong>in</strong> Auto, me<strong>in</strong> Kreuz: alles h<strong>in</strong>über, kaputt;<br />

Abends, da tröstet mich immer öfter mal billiger We<strong>in</strong>.<br />

Und manchmal komm ich mir vor wie menschlicher Schutt.<br />

Wo steht noch mal, die Würde des Menschen soll unantastbar se<strong>in</strong>?<br />

Klaus-Dieter Gleitze<br />

Autor, Satiriker, Performance- und Installationskünstler.<br />

U.a. 1991 mit „SCHUPPEN<br />

68“ als erste Satirepartei bundesweit real<br />

zu e<strong>in</strong>er Wahl angetreten – mit <strong>der</strong> Parole<br />

„Freibier und Erbsensuppe“. Näheres<br />

unter www.schuppen68.de<br />

25


Tagesmutter<br />

von Angelika A.<br />

Asbestfaserjahre<br />

von Anonym<br />

Zur Tagesmutter-Qualifikation entschloss ich<br />

mich, als die Freund<strong>in</strong> me<strong>in</strong>es Sohnes nach<br />

<strong>der</strong> Geburt me<strong>in</strong>es Enkels die Krebsdiagnose<br />

bekam.<br />

Das Jobcenter übernahm die Kosten für die<br />

Qualifizierung.<br />

Seit dem Tod <strong>der</strong> jungen Mutter hole ich das<br />

K<strong>in</strong>d täglich von <strong>der</strong> Krabbelgruppe ab und<br />

betreue es m<strong>in</strong>destens 3 Stunden.<br />

Nach Abschluss <strong>der</strong> Qualifizierung suchte<br />

e<strong>in</strong>e geschiedene, neu nach Hannover gezogene<br />

Mutter für ihre beiden Schulk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

(8 und 10 J.) e<strong>in</strong>e Betreuung morgens von<br />

6.00 bis 8.00 Uhr, weil sie als Altenpfleger<strong>in</strong><br />

entsprechende Arbeitszeiten hat.<br />

Das frühe Aufstehen b<strong>in</strong> ich gewohnt und<br />

die Mutter hat es gefreut, weil sie sonst ihre<br />

Arbeit verloren hätte.<br />

Für die Betreuung <strong>der</strong> zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong> erhielt ich<br />

monatlich 214,- Euro, seit Januar 2009 s<strong>in</strong>d<br />

es 230,10 Euro.<br />

Ebenfalls e<strong>in</strong>e geschiedene Mutter suchte für<br />

ihren vierjährigen Sohn nur für zwei Wochen<br />

jeweils für 5 Stunden täglich am Nachmittag<br />

e<strong>in</strong>e Betreuung, weil sie im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

Fortbildung e<strong>in</strong> Praktikum ableisten musste.<br />

Die Maßnahme wurde vom Jobcenter bezahlt,<br />

e<strong>in</strong>e Übernahme <strong>der</strong> Betreuungskosten<br />

wurde <strong>in</strong> Aussicht gestellt. Nach <strong>der</strong> ersten<br />

Woche kam <strong>der</strong> Bescheid vom Jobcenter:<br />

Für die geleisteten 25 Betreuungsstunden<br />

wurden 21,65 Euro gezahlt. Das ergibt e<strong>in</strong>en<br />

Stundenlohn von weniger als e<strong>in</strong>em Euro.<br />

Ich habe mich entschieden, ausschließlich<br />

„Randzeitenbetreuung“ zu übernehmen,<br />

weil ich die Unterstützung berufstätiger Eltern<br />

für beson<strong>der</strong>s notwendig erachte.<br />

Laut Versicherungsverlauf me<strong>in</strong>er Rentenversicherung<br />

verdiente ich seit 1974 jedes<br />

Jahr weniger!<br />

Der Grund s<strong>in</strong>d die tariflichen Lohnerhöhungen,<br />

die immer unter <strong>der</strong> Inflationsrate<br />

lagen!<br />

In Hannover gehören auch Meister, Facharbeiter<br />

und Akkordarbeiter im Metall-<br />

Handwerk zu den Niedriglöhnern und / o<strong>der</strong><br />

prekär Beschäftigten!<br />

Zum Dank für die schlechte Bezahlung<br />

besitze ich jetzt Asbestfaserjahre von all<br />

me<strong>in</strong>en Arbeitsplätzen! Festgestellt durch<br />

Gerichtsgutachten! (Da freut sich die Rentenversicherung,<br />

weil Asbest unheilbaren<br />

Krebs garantiert).<br />

An diese Arbeitsplätze wurde ich von <strong>der</strong><br />

Agentur für Arbeit vermittelt. Nach e<strong>in</strong>er<br />

Umschulung vom Meister zum Hilfsarbeiter<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Metallunternehmen.<br />

Die Staatsanwaltschaft blieb untätig bei Klage<br />

gegen die entsprechenden Arbeitgeber.<br />

Der Metallarbeitsmarkt hat nichts mit Würde<br />

zu tun!<br />

Nach 50 Jahren E<strong>in</strong>zahlen <strong>in</strong> die Rentenkasse<br />

bleiben im Pflegeheim 100 Euro Bargeld<br />

übrig!<br />

Mör<strong>der</strong> im Knast haben mehr.<br />

Weswegen flüchten Russen aus Deutschland<br />

wie<strong>der</strong> nach Russland? Weil sie nicht soviel<br />

tr<strong>in</strong>ken können, um das auszuhalten.<br />

Angelika A.<br />

geb. 1947 könnte ich eigentlich bald<br />

me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e hochlegen. Aber als leitende<br />

Pflegefachkraft verlor ich me<strong>in</strong>e Arbeit.<br />

Nach ALG I folgte ALG II.<br />

Anonym<br />

geb. 1957, ledig, ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Schlossermeister,<br />

Schweißer, arbeitssuchend,<br />

krank, jetzt Rentner.<br />

26


Grundgesetz Art. 1 und 3<br />

von Tanja Zimmer-Hei<strong>der</strong><br />

Tanja Zimmer-Hei<strong>der</strong><br />

geb. 1976, Hobby: Malerei<br />

27


II. Daten und Fakten zu prekärer<br />

Beschäftigung und Niedriglöhnen<br />

Mehr Beschäftigung – aber was für welche?<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erwerbstätigenzahlen von 2001 bis 2008<br />

-600 000<br />

registrierte Arbeitslose<br />

+1 000 000<br />

+500 000<br />

+300 000<br />

Erwerbstätige<br />

Selbstständige<br />

E<strong>in</strong>-Euro-Jobs<br />

Teilzeit<br />

+2 200 000<br />

+800 000 ausschließlich M<strong>in</strong>i-Jobs<br />

+1400 000 sonstige Teilzeit<br />

-1600 000<br />

-2 000 000<br />

Vollzeit<br />

+400 000<br />

Leiharbeit<br />

Vollzeit ohne Leiharbeit<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Institut für Arbeitsmarkt<br />

und Berufsforschung, eigene Berechnungen u. Schätzungen.<br />

© ARBEITSGRUPPE<br />

ALTERNATIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK<br />

MEMORANDUM 2009<br />

28


Zahl <strong>der</strong> Niedriglohnbeschäftigten<br />

Zahl <strong>der</strong> Niedriglohnbeschäftigten, 1995 – 2008<br />

(Ost-West-differenzierte Niedriglohnschwellen, <strong>in</strong> Millionen)<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP 2008<br />

Niedriglohnschwellen und -anteile<br />

Niedriglohnschwellen und -anteile<br />

(abhängig Beschäftigte, 2008)<br />

Niedriglohnschwelle<br />

(brutto pro Stunde)<br />

Westdeutschland<br />

Niedriglohnanteil<br />

Zahl <strong>der</strong><br />

Betroffenen<br />

E<strong>in</strong>heitliche<br />

Niedriglohnschwelle<br />

Getrennte<br />

Niedriglohnschwellen<br />

für Ost<br />

und West<br />

9,50 € (West)<br />

6,87 € (Ost)<br />

9,06 €<br />

20,8% 17,9%<br />

Ostdeutschland 20,1% 39,3%<br />

Deutschland 20,7% 21,5%<br />

Deutschland 6,55 Millionen 6,81 Millionen<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP 2008<br />

29


Beschäftigte nach Stundenlöhnen<br />

Beschäftigte nach Stundenlöhnen (brutto, 2008)<br />

Stundenlohn<br />

Hauptbeschäftigte<br />

Haupt- und<br />

Nebenbeschäftigte*<br />

Absolut Anteil Absolut Anteil<br />

unter 5 € 1.149.077 3,6% 1.817.227 5,3%<br />

unter 6 € 2.113.036 6,7% 3.312.401 9,7%<br />

unter 7 € 3.400.090 10,7% 4.859.434 14,2%<br />

unter 8 € 4.970.999 15,7% 6.714.846 19,6%<br />

Gesamt 30.254.218 100,0% 32.812.896 100,0%<br />

* E<strong>in</strong>schließlich Schüler/<strong>in</strong>nen, Studierende, Rentner/<strong>in</strong>nen<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP 2008<br />

Branchen mit hohen Niedriglohnanteilen<br />

Branchen mit hohen Niedriglohnanteilen (2008)<br />

• Gastgewerbe: 61%<br />

• E<strong>in</strong>zelhandel: 34%<br />

• Ernährungsgewerbe: 33%<br />

• Unternehmensbezogene <strong>Dienst</strong>leistungen: 32%<br />

• Gesundheits- und Sozialwesen: 23%<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP<br />

30


Geschlecht<br />

Geschlecht<br />

• Frauen haben e<strong>in</strong> hohes Niedriglohn-Risiko und<br />

stellen auch die große Mehrheit <strong>der</strong> Niedriglohnbeschäftigten<br />

(fast 70 %)<br />

• Sie s<strong>in</strong>d auch von beson<strong>der</strong>s niedrigen Löhnen weit<br />

überproportional betroffen<br />

Aber:<br />

• Die Männer „holen auf“: Ihr Niedriglohnrisiko ist von<br />

8,0% (1995) auf 12,2% (2008) gestiegen<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP<br />

Beschäftigtengruppen mit beson<strong>der</strong>s hohem Niedriglohnrisiko<br />

Beschäftigtengruppen mit beson<strong>der</strong>s hohem<br />

Niedriglohnrisiko (2008)<br />

• M<strong>in</strong>ijobber/<strong>in</strong>nen: 86,2%<br />

• Jüngere (unter 25 Jahre): 54,5%<br />

• Befristet Beschäftigte: 38,9%<br />

• Ger<strong>in</strong>g Qualifizierte: 37,9%<br />

• Auslän<strong>der</strong>/<strong>in</strong>nen: 33,7%<br />

• Frauen: 29,9%<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP 2008<br />

31


Niedrige Tariflöhne <strong>in</strong> Euro/Stunde<br />

Qualifikation<br />

Qualifikation<br />

• Ger<strong>in</strong>g Qualifizierte s<strong>in</strong>d überdurchschnittlich häufig<br />

von Niedriglöhnen betroffen (2008: 37,9%)<br />

Aber:<br />

• Unter allen Niedriglohnbeschäftigten ist nur jede/r<br />

Fünfte ger<strong>in</strong>g qualifiziert (20,4%)<br />

• Die große Mehrheit (79,6%) hat e<strong>in</strong>e abgeschlossene<br />

Berufsausbildung o<strong>der</strong> sogar e<strong>in</strong>en akademischen<br />

Abschluss<br />

Ähnliche Verteilung auch bei<br />

Vollzeitbeschäftigten mit Niedriglohn<br />

Quelle: IAQ-Berechnungen auf <strong>der</strong> Basis des SOEP 2008<br />

32


Wenig Geld für viel Arbeit<br />

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<br />

Niedriglohnanteile im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />

Niedriglohnanteile im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />

(2005, <strong>in</strong> %)<br />

Quelle: Mason/Salverda 2008<br />

33


Wenn <strong>der</strong> Lohn nicht reicht…Subventionen für Billiglohnbranchen<br />

Immer mehr Beschäftigte verdienen so wenig,<br />

dass sie ihren Lohn mit ergänzenden<br />

Leistungen <strong>der</strong> Jobcenter aufstocken müssen;<br />

bundesweit betrifft das gegenwärtig rund<br />

1,38 Mio Menschen.<br />

Laut DGB 1 bezogen im Mai 2008 <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

130.200 ArbeitnehmerInnen aufstockende<br />

Hartz IV-Leistungen. Davon g<strong>in</strong>gen<br />

rund 33.600 Arbeitskräfte e<strong>in</strong>er Vollzeitbeschäftigung<br />

nach. Außerdem benötigten<br />

etwa 24.300 Teilzeitkräfte und rund 72.300<br />

M<strong>in</strong>ijobberInnen staatliche Unterstützung.<br />

Nach Berechnungen des DGB muss <strong>der</strong><br />

Armutslohn von Vollzeitbeschäftigten im<br />

Schnitt um gut 500 Euro im Monat aufgestockt<br />

werden, damit das Existenzm<strong>in</strong>imum<br />

gesichert ist. Das s<strong>in</strong>d rund 17 Millionen<br />

Euro, die <strong>der</strong> Staat alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

monatlich zuschießt. Auf diese Art und Weise<br />

werden nie<strong>der</strong>sächsische Niedriglohnbranchen<br />

pro Jahr mit über 200 Millionen Euro<br />

subventioniert.<br />

1 DGB Bezirk Nie<strong>der</strong>sachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt ((Hrsg.): Studie<br />

„Für´n Appel und`n Ei?! Niedriglöhne <strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>sachsen. Branchenanalysen.<br />

Juni 2009<br />

Leiharbeit<br />

Die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen von Leiharbeitenden<br />

s<strong>in</strong>d im doppelten S<strong>in</strong>ne prekär: Sie<br />

genießen wenig Arbeitsplatzsicherheit (so<br />

waren sie die ersten, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise entlassen<br />

wurden) und arbeiten i.d.R. zu e<strong>in</strong>em weitaus<br />

schlechteren Lohn als ihre fest angestellten<br />

Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen. Knapp e<strong>in</strong> Fünftel<br />

<strong>der</strong> Leiharbeitenden arbeitet gar zu e<strong>in</strong>em<br />

Niedriglohn.<br />

Leiharbeit wird immer öfter dazu genutzt,<br />

Personalkosten auf Dauer zu senken o<strong>der</strong><br />

reguläre Arbeit zu verdrängen. Das führt <strong>in</strong><br />

den Betrieben zu e<strong>in</strong>er Zwei- bzw. Dreiklassengesellschaft:<br />

Stammbelegschaft, befristet<br />

Beschäftigte und Leiharbeitende, die gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

ausgespielt werden.<br />

Laut Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl<br />

<strong>der</strong> LeiharbeitnehmerInnen <strong>in</strong> Deutschland<br />

<strong>in</strong> den vergangenen fünf Jahren um 69 %<br />

auf 823.000 Beschäftigte gestiegen. Ab Juli<br />

2008 folgte <strong>der</strong> Absturz: Fast e<strong>in</strong>e Viertel<br />

Million Leiharbeitende verloren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise<br />

bis April 2009 ihren Job. Seitdem ziehen die<br />

Zahlen wie<strong>der</strong> an. Im Herbst 2010 waren es<br />

ca. 900.000 Beschäftigte. Tendenz: weiter<br />

steigend.<br />

E<strong>in</strong>-Euro-Jobs<br />

„Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung<br />

s<strong>in</strong>d geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> bekannt als<br />

„E<strong>in</strong>-Euro-Jobs“. Voraussetzung für diese Art<br />

von Arbeit ist, dass sie zusätzlich, im öffentlichen<br />

Interesse und wettbewerbsneutral ist.<br />

Ziel ist die E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt.<br />

Für die Arbeit gibt es e<strong>in</strong>e Aufwandsentschädigung<br />

<strong>in</strong> Höhe von 1,- Euro bis max.<br />

2,50 Euro pro Stunde. Die Beschäftigungszeit<br />

beträgt pro Woche 20 bis 30 Stunden.<br />

Die Maßnahmen dauern zwischen 3 und 12<br />

Monaten. Im Jahr 2009 begannen mehr als<br />

700.000 Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>-Euro-Job. Sie werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitslosenstatistik<br />

nicht geführt, „schönen“ also<br />

die Statistik.<br />

Durch die Arbeit entsteht ke<strong>in</strong> reguläres<br />

Arbeitsverhältnis, es gibt also ke<strong>in</strong>en Anspruch<br />

auf Lohnfortzahlung bei Krankheit<br />

o<strong>der</strong> Urlaub, ke<strong>in</strong> Streikrecht und ke<strong>in</strong>en<br />

Kündigungsschutz. Nach Angaben <strong>der</strong><br />

Bundesagentur für Arbeit haben diese Maßnahmen<br />

nur e<strong>in</strong>en sehr ger<strong>in</strong>gen positiven<br />

Nutzen bzgl. <strong>der</strong> Beschäftigungschancen<br />

von Langzeitarbeitslosen. Laut Institut für<br />

Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)<br />

wird aber reguläre Beschäftigung <strong>in</strong> nicht zu<br />

vernachlässigendem Umfang verdrängt.<br />

Trotzdem s<strong>in</strong>d manche Arbeitssuchende froh,<br />

wenn sie e<strong>in</strong>e solche „Arbeitsgelegenheit“<br />

bekommen. Sie fühlen sich – vorübergehend<br />

– mit ihren Kompetenzen gebraucht und wertvoll,<br />

können neue soziale Kontakte knüpfen<br />

und haben bzw. tra<strong>in</strong>ieren wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en geregelten<br />

Tagesablauf. Sie hätten aber lieber e<strong>in</strong>e<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.<br />

34


Niedriglohnanteile Kapitale<strong>in</strong>kommen im <strong>in</strong>ternationalen hängen Löhne Vergleich ab<br />

Rente unter E<strong>in</strong>-Euro-Jobs Sozialhilfeniveau<br />

35


Gesetzliche M<strong>in</strong>destlöhne <strong>in</strong>ternational<br />

Gesetzliche M<strong>in</strong>destlöhne<br />

(pro Stunde, <strong>in</strong> EUR) im Januar 2010<br />

Luxemburg<br />

9,73<br />

Frankreich<br />

8,86<br />

Irland<br />

8,65<br />

Nie<strong>der</strong>lande<br />

8,64<br />

Belgien<br />

8,41<br />

Großbritannien<br />

6,51<br />

Griechenland<br />

4,28<br />

Spanien<br />

3,84<br />

Malta<br />

3,81<br />

Slowenien<br />

3,45<br />

Portugal<br />

2,86<br />

Tschechien<br />

1,82<br />

Slowakei<br />

1,77<br />

Polen<br />

1,76<br />

Estland<br />

1,73<br />

Ungarn<br />

1,52<br />

Lettland<br />

1,47<br />

Litauen<br />

1,40<br />

Rumänien<br />

0,83<br />

Bulgarien<br />

0,71<br />

Australien<br />

8,07<br />

Kanada<br />

5,69<br />

Neuseeland<br />

5,65<br />

Japan<br />

5,47<br />

USA<br />

5,20<br />

Korea<br />

2,32<br />

Türkei<br />

Brasilien<br />

0,97<br />

1,73<br />

Quelle: WSI-M<strong>in</strong>destlohndatenbank<br />

0,0 2,0 4,0 6,0 8,0 10,0 12,0<br />

Trotz alledem – Arbeiten? Ja, bitte!<br />

Die EmpfängerInnen von Hartz IV haben<br />

e<strong>in</strong>e hohe Arbeitsmoral. Fast alle bemühen<br />

sich ernsthaft um Arbeit. Zu diesem Ergebnis<br />

kommt e<strong>in</strong>e aktuelle Studie des Deutschen<br />

Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).<br />

Von den Langzeitarbeitslosen unter 56 Jahren<br />

stehen 90 % für e<strong>in</strong>e Beschäftigung zur<br />

Verfügung.<br />

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />

(IAB) hat die Arbeitsmotivation und<br />

Konzessionsbereitschaft näher untersucht.<br />

Ergebnis: Die Analysen belegen <strong>in</strong>sgesamt<br />

e<strong>in</strong>e – nach den Selbstauskünften – vergleichsweise<br />

hohe Arbeitsmotivation und<br />

Konzessionsbereitschaft <strong>der</strong> SGB II-EmpfängerInnen:<br />

Sie weisen <strong>der</strong> Arbeit e<strong>in</strong>en hohen<br />

Stellenwert zu und s<strong>in</strong>d eher als an<strong>der</strong>e<br />

Arbeitssuchende bereit, Konzessionen e<strong>in</strong>zugehen,<br />

um wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Arbeit zu f<strong>in</strong>den<br />

(= Arbeit unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus,<br />

Akzeptanz langer Arbeitswege<br />

und ungünstiger Arbeitszeiten, aber auch<br />

Akzeptanz e<strong>in</strong>es ger<strong>in</strong>gen E<strong>in</strong>kommens).<br />

Dem steht allerd<strong>in</strong>gs oft ke<strong>in</strong>e erfolgreiche<br />

Arbeitssuche gegenüber, was <strong>in</strong> den vorliegenden<br />

Daten durch die wenigen Bewerbungsgespräche<br />

dokumentiert wird.<br />

36


IIIa. Ermutigende Urteile<br />

1. Verkäufer<strong>in</strong>:<br />

6 € Stundenlohn s<strong>in</strong>d sittenwidrig<br />

Das Arbeitsgericht Leipzig gab e<strong>in</strong>er gelernten<br />

Fachverkäufer<strong>in</strong> Recht: Sechs Euro<br />

brutto <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stunde s<strong>in</strong>d sittenwidrig, zumal<br />

wenn die Kläger<strong>in</strong> den Laden fast alle<strong>in</strong> führt.<br />

Im konkreten Fall hatte e<strong>in</strong>e Frau geklagt,<br />

die auf e<strong>in</strong>em Wäschemarkt arbeitet. Dafür<br />

erhielt sie e<strong>in</strong>en sehr ger<strong>in</strong>gen Lohn: Für 30<br />

Wochenarbeitsstunden im Monat genau 780<br />

Euro brutto. Die Kläger<strong>in</strong> ist mit zahlreichen<br />

Aufgaben beschäftigt: So ist sie für die Warenannahme,<br />

Kundenbetreuung und sogar<br />

für die Abrechnung zuständig. In dem Urteil<br />

(Arbeitsgericht Leipzig, Az: 2 Ca 2788/09)<br />

heißt es: Der Lohn sei sittenwidrig, da dieser<br />

„<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em erheblichen Missverhältnis zu <strong>der</strong><br />

geleisteten Arbeit steht“.<br />

(Gegen dieses Urteil wurde beim sächsischen<br />

Landesarbeitsgericht Berufung e<strong>in</strong>gelegt)<br />

2. Angestellte Textildiscounter: Nachzahlung<br />

E<strong>in</strong>e Angestellte e<strong>in</strong>es Textildiscounters<br />

erstritt sich <strong>in</strong> 2009 e<strong>in</strong>e Nachzahlung von<br />

10.000 Euro vor Gericht. Das Unternehmen<br />

hatte <strong>der</strong> Packer<strong>in</strong> jahrelang nur 5,20Euro<br />

brutto die Stunde gezahlt. Es begründete<br />

den Stundenlohn damit, dass die bundesweit<br />

übliche Vergütung für ger<strong>in</strong>gfügig Beschäftigte<br />

im Discount-E<strong>in</strong>zelhandel zwischen<br />

vier und sieben Euro pro Stunde liege. Das<br />

Arbeitsgericht Dortmund hielt diesen Maßstab<br />

für falsch: Man müsse den Tarifvertrag<br />

für den E<strong>in</strong>zelhandel <strong>in</strong> NRW mit e<strong>in</strong>em<br />

Stundenlohn von 9,82 Euro für Packtätigkeiten<br />

heranziehen – e<strong>in</strong>e eigene Branche<br />

Discount-E<strong>in</strong>zelhandel gebe es nicht<br />

(Az. 4 Ca 274/98).<br />

3. KFZ-Mechaniker:<br />

Sittenwidrigkeit <strong>der</strong> Vergütung<br />

Das Arbeitsgericht Wuppertal bejahte die<br />

Sittenwidrigkeit <strong>der</strong> Vergütung e<strong>in</strong>es KFZ-<br />

Mechanikers, <strong>der</strong> nach se<strong>in</strong>er Ausbildung<br />

übernommen worden war und netto 800<br />

Euro monatlich für 38,5 Stunden erhielt –<br />

gerade e<strong>in</strong>mal 55% <strong>der</strong> Vergütung, die <strong>der</strong><br />

Entgeltrahmentarifvertrag für das Kraftfahrzeuggewerbe<br />

<strong>in</strong> NRW vorschrieb<br />

(Az. 7 Ca 1177/08).<br />

4. Dipl-Ingenieur<strong>in</strong> für Innenarchitektur<br />

als „Praktikant<strong>in</strong>“ beschäftigt<br />

Das LAG Baden-Württemberg verurteilte<br />

e<strong>in</strong>en Fachverlag für Architektur zur Nachzahlung<br />

von knapp 7000 Euro an e<strong>in</strong>e junge<br />

Diplom<strong>in</strong>genieur<strong>in</strong> für Innenarchitektur.<br />

Sie war sechs Monate als Praktikant<strong>in</strong> für<br />

375 Euro brutto monatlich beschäftigt und<br />

organisierte <strong>in</strong> dieser Zeit hauptsächlich Veranstaltungen<br />

wie die Verleihung von Architekturpreisen<br />

und Konferenzen. Das Gericht<br />

entschied, damit habe sie überwiegend für<br />

den Betrieb notwendige Arbeit geleistet und<br />

e<strong>in</strong>e sonst erfor<strong>der</strong>liche Arbeitskraft ersetzt;<br />

das ihr fachfremde Verlagswesen sollte ihr<br />

dagegen gar nicht nähergebracht werden.<br />

Für e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Arbeitnehmer<strong>in</strong> sei e<strong>in</strong><br />

Stundensatz von m<strong>in</strong>destens 10 Euro üblich<br />

(Az. 5 Sa 45/07).<br />

5. Arbeitgeber muss BA Leistungen erstatten<br />

wegen sittenwidriger Löhne<br />

Wenn aufgrund sittenwidriger Löhne die<br />

Bundesagentur für Arbeit (BA) an ArbeitnehmerInnen<br />

ergänzende SGB II-Leistungen<br />

zahlen muss, muss <strong>der</strong> Arbeitgeber <strong>der</strong> BA<br />

die Leistungen erstatten. Das geht aus e<strong>in</strong>er<br />

Entscheidung des Arbeitsgerichts Stralsund<br />

hervor.<br />

Die BA for<strong>der</strong>t die Träger <strong>der</strong> Grundsicherung,<br />

die ARGEN bzw. die Jobcenter auf,<br />

<strong>in</strong> solchen Fällen die Erstattungsansprüche<br />

gegen die Arbeitgeber gerichtlich geltend zu<br />

machen. E<strong>in</strong>e Sittenwidrigkeit liegt vor, wenn<br />

die Arbeitsvergütung weniger als zwei Drittel<br />

des <strong>in</strong> <strong>der</strong> Branche und Wirtschaftsregion<br />

üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht.<br />

37


IIIb. Ermutigende Erfahrungen<br />

1. Studie: Ke<strong>in</strong>e Jobverluste durch britischen<br />

M<strong>in</strong>destlohn<br />

Großbritannien hat 1999 e<strong>in</strong>en gesetzlichen<br />

M<strong>in</strong>destlohn e<strong>in</strong>geführt und ihn seitdem<br />

mehrfach angehoben. Arbeitsplätze hat das<br />

nicht gekostet, zeigt e<strong>in</strong>e Studie <strong>der</strong> London<br />

School of Economics. Die Beschäftigung <strong>in</strong> typischen<br />

Niedriglohnbranchen (E<strong>in</strong>zelhandel,<br />

Gastronomie, Pflege, Re<strong>in</strong>igungsgewerbe<br />

etc.) hat sogar zugenommen.<br />

Der M<strong>in</strong>destlohn hat zudem den Lohnabstand<br />

von Ger<strong>in</strong>gverdienern zu den übrigen<br />

Beschäftigten sowie zwischen Männern und<br />

Frauen verr<strong>in</strong>gert.<br />

2. Die Macht <strong>der</strong> Konsumenten<br />

Laut e<strong>in</strong>er Studie <strong>der</strong> Gesellschaft für Konsumforschung<br />

(GfK) schlagen die Lohndump<strong>in</strong>g-Vorwürfe<br />

gegen Schlecker auf den<br />

Umsatz <strong>der</strong> Drogeriemarktkette durch.<br />

Laut Wirtschaftswoche vom 5. Juni 2010 seien<br />

die Erlöse <strong>in</strong> den ersten vier Monaten des Jahres<br />

2010 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum<br />

um 16 Prozent e<strong>in</strong>gebrochen, das entspreche<br />

knapp 200 Millionen Euro.<br />

1,7 Millionen Käuferhaushalte seien zur<br />

Konkurrenz abgewan<strong>der</strong>t, das sei mehr als<br />

je<strong>der</strong> zehnte bisherige Käufer von Schlecker.<br />

Hauptursache für den Kundenschwund ist<br />

laut GfK-Studie die umstrittene Personalpolitik<br />

von Schlecker.<br />

38


IV. In Würde arbeiten –<br />

dafür treten wir e<strong>in</strong><br />

• Für die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es flächendeckenden gesetzlichen M<strong>in</strong>destlohnes<br />

von 8,50 Euro!<br />

• Für die Bezahlung von Leiharbeitenden nach dem Grundsatz „Gleicher Lohn für<br />

gleiche Arbeit“ ab dem ersten Arbeitstag!<br />

• Für die Begrenzung des Anteils von Leiharbeitenden an <strong>der</strong> Belegschaft auf<br />

maximal 5%.<br />

• Für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>dämmung <strong>der</strong> M<strong>in</strong>ijobs durch Versicherungspflicht ab dem ersten<br />

Euro Arbeitsentgelt für ger<strong>in</strong>gfügige Beschäftigungsverhältnisse<br />

• Für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im zweiten Arbeitsmarkt als<br />

Alternative zu den Arbeitsgelegenheiten.<br />

• Für bessere Qualifizierungsmaßnahmen im zweiten Arbeitsmarkt, um die Chancen<br />

auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen.<br />

• Für e<strong>in</strong>e Weiterentwicklung des Allgeme<strong>in</strong>en Gleichbehandlungsgesetzes mit<br />

dem Ziel, das Verbandsklagerecht (u.a. bei Lohndiskrim<strong>in</strong>ierungen) zu verankern.<br />

Begründung<br />

1. Als sittenwidrig gelten Löhne, die e<strong>in</strong> Drittel<br />

unter den Tariflöhnen e<strong>in</strong>er Branche<br />

liegen. Im sächsischen Friseurhandwerk<br />

beträgt <strong>der</strong> unterste Tariflohn 2,04 Euro,<br />

im privaten Transport und Verkehr <strong>in</strong><br />

Sachsen-Anhalt beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> Tariflohn mit<br />

3,64 Euro, <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelhandel <strong>in</strong> NRW zahlt<br />

5,15 Euro. Deshalb schützt e<strong>in</strong> Gesetz,<br />

das sittenwidrige Löhne verbietet, die<br />

Beschäftigten im Niedriglohnsektor nur<br />

<strong>in</strong> wenigen Fällen.<br />

2. Fast alle alten EU-Län<strong>der</strong> haben e<strong>in</strong>en<br />

gesetzlichen M<strong>in</strong>destlohn (Grafik WSI, S.<br />

36).<br />

3. Bei e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>destlohn von 7,50 Euro<br />

hätte <strong>in</strong> 2009 fast jede fünfte Frau (19,8%)<br />

Anspruch auf e<strong>in</strong>e Lohnerhöhung gehabt<br />

(Männer: 11,3%) (IAQ)<br />

4. Nach e<strong>in</strong>er IG-Metall-Umfrage <strong>in</strong> 2009<br />

wollen 78,1% <strong>der</strong> Deutschen e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>destlohn,<br />

damit man von se<strong>in</strong>er Arbeit<br />

anständig leben kann. Und 72,1% wollen,<br />

dass bei Leiharbeit gleiche Arbeit auch<br />

gleiches Geld bedeutet (FR, 4.7.2009)<br />

5. Bosch, <strong>der</strong> Direktor des Instituts Arbeit<br />

und Qualifikation (IAQ), hält es für den<br />

falschen Weg, dass <strong>der</strong> Staat M<strong>in</strong>ilöhne<br />

aufstockt. Davon profitieren Unternehmen,<br />

die ihre Leute beson<strong>der</strong>s schlecht<br />

bezahlen (FR, 1.10.2009)<br />

6. Nach e<strong>in</strong>er Studie von Verdi fällt die Beschäftigungsbilanz<br />

bei E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es<br />

gesetzlichen M<strong>in</strong>destlohns positiv aus:<br />

Durch den Anstieg des Konsums wäre<br />

bei e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>destlohn von 7,50 Euro ab<br />

2009 (<strong>der</strong> schrittweise bis 2011 auf 9 Euro<br />

erhöht würde) kurzfristig mit 225.000<br />

zusätzlichen Arbeitsplätzen zu rechnen<br />

(WISO-Info des DGB 2/2009)<br />

39


40<br />

Eigene Notizen


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