Darwin-Jahr 2009: Jim Knopf... - Ploecher.de

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Darwin-Jahr 2009: Jim Knopf rettet die Evolutionstheorie - Wirkung - F... http://www.faz.net/s/Rub71E8665493FD4CB29D4E0759DF21C32C/... 1 von 7 06.01.2009 11:31 Aktuell Feuilleton Darwin Wirkung Darwin-Jahr 2009 Jim Knopf rettet die Evolutionstheorie Von Julia Voss Michael Endes Jim Knopf kann als Gegenschichte zur nationalsozialistischen Pervertierung von Darwins Theorie gelesen werden 16. Dezember 2008 Beginnen wir diese Geschichte aus englischer Sicht: Im Jahr 1963 erschien in England ein Kinderbuch, das aus dem Deutschen übersetzt worden war, auf jedes englische Kind aber wirken musste, als sei es für es selbst geschrieben worden, als ob es von seiner Heimat handelte. Die Erzählung mit dem Titel „Jim Button and Luke the Engine Driver“ nimmt ihren Anfang auf einer Insel, die „so groß wie dein Wohnzimmer ist“, wie es auf der ersten Seite heißt, der Rest klingt nach einem englischen Geschichtsbuch. Auf der Insel gibt es eine Eisenbahnstrecke, die von einer einzelnen Dampflok befahren wird, als ob wir immer noch 1825 schrieben und George Stephenson gerade die Pionierstrecke der Stockton & Darlington Railway Company in Betrieb genommen hätte. Es gibt einen Kaufmannsladen, die Besitzerin heißt Frau Waas, und ihre Waren werden wöchentlich aus der ganzen Welt angeliefert wie im England der Kolonialzeit. Ein Postschiff legt außerdem regelmäßig an, es waren die Engländer, die 1841 die Royal Mail Steam Packet Company gründeten und zuerst einen Liniendienst von London nach Westindien unterhielten. Regiert wird die Insel von einem König, der schottisch karierte Pantoffeln trägt, in der Zeit, die wir das frühe Industriezeitalter nennen, herrschte King William IV über England. Der Staat, dem der König in dem Kinderbuch vorsteht, hat nur drei Untertanen: Lukas, den Lokomotivführer, Frau Waas, die einen Kaufmannsladen betreibt, und Herrn Ärmel, der mit Regenschirm und Melone den prototypischen Engländer vorstellt und noch dazu nach dem Kanal heißt, der England vom Kontinent trennt, dem Ärmelkanal. Die Untertanen von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften sind die Mikrogesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts: Bürger, Kaufleute und Arbeiter. Zum Thema Zum Darwin-Jahr 2009 Evolutionsprinzipien der Gastronomie: Gibt es natürliche Selektion in der Spitzenküche? Der Anfang des Sozialdarwinismus bei dem englischen Journalisten Walter Bagehot Die Evolution muss kein Fortschritt sein: Darwins Wirkung auf die Kunst Video: die Taube als Forschungsobjekt Darwins Mitreisender Die englische Übersetzung hätte zu einem Zusammenprall führen können, einem historischen Datum, an dem Jim Button seinen Namensvetter trifft und damit zwei Erzählungen zusammenfinden, die eigentlich zusammengehören. Die eine kennen wir: Es ist die Geschichte von „Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer“, die der deutsche Schriftsteller Michael Ende in einem der populärsten Kinderbücher der Nachkriegsgeschichte erzählte und die nicht zufällig mit einer Insel namens Lummerland beginnt, das bis in die Details dem historischen England gleicht. Die andere Geschichte aber stammt aus dem industriellen

<strong>Darwin</strong>-<strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong>: <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> rettet die Evolutionstheorie - Wirkung - F...<br />

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1 von 7 06.01.<strong>2009</strong> 11:31<br />

Aktuell Feuilleton <strong>Darwin</strong> Wirkung<br />

<strong>Darwin</strong>-<strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong><br />

<strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> rettet die<br />

Evolutionstheorie<br />

Von Julia Voss<br />

Michael En<strong>de</strong>s <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> kann als<br />

Gegenschichte zur nationalsozialistischen<br />

Pervertierung von <strong>Darwin</strong>s Theorie<br />

gelesen wer<strong>de</strong>n<br />

16. Dezember 2008 Beginnen wir diese Geschichte aus<br />

englischer Sicht: Im <strong>Jahr</strong> 1963 erschien in England ein<br />

Kin<strong>de</strong>rbuch, das aus <strong>de</strong>m Deutschen übersetzt wor<strong>de</strong>n war,<br />

auf je<strong>de</strong>s englische Kind aber wirken musste, als sei es für<br />

es selbst geschrieben wor<strong>de</strong>n, als ob es von seiner Heimat<br />

han<strong>de</strong>lte. Die Erzählung mit <strong>de</strong>m Titel „<strong>Jim</strong> Button and Luke<br />

the Engine Driver“ nimmt ihren Anfang auf einer Insel, die<br />

„so groß wie <strong>de</strong>in Wohnzimmer ist“, wie es auf <strong>de</strong>r ersten<br />

Seite heißt, <strong>de</strong>r Rest klingt nach einem englischen<br />

Geschichtsbuch.<br />

Auf <strong>de</strong>r Insel gibt es eine Eisenbahnstrecke, die von einer<br />

einzelnen Dampflok befahren wird, als ob wir immer noch<br />

1825 schrieben und George Stephenson gera<strong>de</strong> die Pionierstrecke <strong>de</strong>r Stockton &<br />

Darlington Railway Company in Betrieb genommen hätte. Es gibt einen Kaufmannsla<strong>de</strong>n,<br />

die Besitzerin heißt Frau Waas, und ihre Waren wer<strong>de</strong>n wöchentlich aus <strong>de</strong>r ganzen Welt<br />

angeliefert wie im England <strong>de</strong>r Kolonialzeit. Ein Postschiff legt außer<strong>de</strong>m regelmäßig an, es<br />

waren die Englän<strong>de</strong>r, die 1841 die Royal Mail Steam Packet Company grün<strong>de</strong>ten und zuerst<br />

einen Liniendienst von London nach Westindien unterhielten. Regiert wird die Insel von<br />

einem König, <strong>de</strong>r schottisch karierte Pantoffeln trägt, in <strong>de</strong>r Zeit, die wir das frühe<br />

Industriezeitalter nennen, herrschte King William IV über England.<br />

Der Staat, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r König in <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>rbuch vorsteht, hat nur drei Untertanen: Lukas, <strong>de</strong>n<br />

Lokomotivführer, Frau Waas, die einen Kaufmannsla<strong>de</strong>n betreibt, und Herrn Ärmel, <strong>de</strong>r mit<br />

Regenschirm und Melone <strong>de</strong>n prototypischen Englän<strong>de</strong>r vorstellt und noch dazu nach <strong>de</strong>m<br />

Kanal heißt, <strong>de</strong>r England vom Kontinent trennt, <strong>de</strong>m Ärmelkanal. Die Untertanen von König<br />

Alfons <strong>de</strong>m Viertel-vor-Zwölften sind die Mikrogesellschaft <strong>de</strong>s neunzehnten <strong>Jahr</strong>hun<strong>de</strong>rts:<br />

Bürger, Kaufleute und Arbeiter.<br />

Zum Thema<br />

Zum <strong>Darwin</strong>-<strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong><br />

Evolutionsprinzipien <strong>de</strong>r<br />

Gastronomie: Gibt es<br />

natürliche Selektion in <strong>de</strong>r<br />

Spitzenküche?<br />

Der Anfang <strong>de</strong>s<br />

Sozialdarwinismus bei <strong>de</strong>m<br />

englischen Journalisten<br />

Walter Bagehot<br />

Die Evolution muss kein<br />

Fortschritt sein: <strong>Darwin</strong>s<br />

Wirkung auf die Kunst<br />

Vi<strong>de</strong>o: die Taube als<br />

Forschungsobjekt<br />

<strong>Darwin</strong>s Mitreisen<strong>de</strong>r<br />

Die englische Übersetzung hätte zu einem Zusammenprall<br />

führen können, einem historischen Datum, an <strong>de</strong>m <strong>Jim</strong><br />

Button seinen Namensvetter trifft und damit zwei<br />

Erzählungen zusammenfin<strong>de</strong>n, die eigentlich<br />

zusammengehören. Die eine kennen wir: Es ist die<br />

Geschichte von „<strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> und Lukas <strong>de</strong>m<br />

Lokomotivführer“, die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Schriftsteller Michael<br />

En<strong>de</strong> in einem <strong>de</strong>r populärsten Kin<strong>de</strong>rbücher <strong>de</strong>r<br />

Nachkriegsgeschichte erzählte und die nicht zufällig mit<br />

einer Insel namens Lummerland beginnt, das bis in die<br />

Details <strong>de</strong>m historischen England gleicht.<br />

Die an<strong>de</strong>re Geschichte aber stammt aus <strong>de</strong>m industriellen


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England <strong>de</strong>s neunzehnten <strong>Jahr</strong>hun<strong>de</strong>rts, als das Land wirklich von König William IV regiert<br />

wur<strong>de</strong>, und an <strong>de</strong>ssen Küsten eines Tages ein Schiff im Hafen anlegte, zurückgekehrt von<br />

einer weiten Reise und bela<strong>de</strong>n mit Nachrichten von fernen Kontinenten. An Bord befand<br />

sich ein farbiger Junge, <strong>de</strong>r, wie ein Findling ohne Wurzeln und Herkunft, in einer neuen<br />

Welt die Augen aufschlägt. Sein Name: Jemmy Button. Zwei <strong>Jahr</strong>e musste dieses Kind auf<br />

<strong>de</strong>r Insel aushalten. Dann reiste es zurück in das Land seiner Herkunft.<br />

Einem Mitreisen<strong>de</strong>n verdanken wir eine Charakteristik <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s: „Jemmy Button war <strong>de</strong>r Liebling aller, aber<br />

ebenfalls lei<strong>de</strong>nschaftlich; sein Gesichtsausdruck zeigte<br />

sogleich sein freundliches Gemüt. Er war fröhlich, lachte oft<br />

und war bemerkenswert mitfühlend mit allen, die<br />

Schmerzen litten.“ Der Mitreisen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r dies schrieb, war<br />

Charles <strong>Darwin</strong>. Das Schiff, auf <strong>de</strong>m es sich zutrug, war die<br />

HMS Beagle. Das Buch, <strong>de</strong>m wir diese Zeilen entnehmen,<br />

heißt „Die Fahrt <strong>de</strong>r Beagle“, die erste Publikation <strong>de</strong>s<br />

Naturforschers, <strong>de</strong>ssen Theorie eine<br />

Wissenschaftsrevolution auslösen sollte und die wir heute<br />

die Evolutionstheorie nennen.<br />

Eine Mo<strong>de</strong>llinsel wie aus <strong>de</strong>m englischen<br />

Geschichtsbuch<br />

<strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> war Jemmy Button<br />

Wenn wir im bald anbrechen<strong>de</strong>n <strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong> das hun<strong>de</strong>rtfünfzigjährige Jubiläum <strong>de</strong>s<br />

Gründungswerks <strong>de</strong>r Evolutionstheorie, „Über die Entstehung <strong>de</strong>r Arten“, feiern und <strong>de</strong>n<br />

zweihun<strong>de</strong>rtsten Geburtstag <strong>de</strong>s Autors, Charles <strong>Darwin</strong>, dann sollten wir verstehen, wie<br />

aus Jemmy Button <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> wur<strong>de</strong> und warum aus einem englischen Reisebericht ein<br />

<strong>de</strong>utsches Kin<strong>de</strong>rbuch entstand. Niemand aber wird uns diese Geschichte besser erzählen<br />

können als Michael En<strong>de</strong> selbst, <strong>de</strong>r Schriftsteller, <strong>de</strong>m eskapistisches Schreiben unterstellt<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r sich allerdings akribisch genau <strong>de</strong>r historischen Fakten bediente und uns die<br />

unheimlichste Rezeptionsgeschichte <strong>de</strong>r Evolutionstheorie in einem Kin<strong>de</strong>rbuch vermachte.<br />

Das Buch wur<strong>de</strong> En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r fünfziger <strong>Jahr</strong>e geschrieben, auch<br />

damals stand ein <strong>Darwin</strong>-Jubiläum unmittelbar bevor, aber<br />

es war eines, das einen Schatten mit sich trug: <strong>de</strong>r fünfzehn<br />

<strong>Jahr</strong>e zuvor untergegangene Nationalsozialismus hatte <strong>de</strong>n<br />

<strong>Darwin</strong>ismus zur Leiti<strong>de</strong>ologie erhoben. Zwar gab es die<br />

naturgeschichtliche Feier: so wur<strong>de</strong>n die Galápagosinseln,<br />

die <strong>Darwin</strong> auf seiner Weltumseglung besucht hatte, von<br />

<strong>de</strong>r ecuadorianischen Regierung zum Naturpark erklärt. Die<br />

„<strong>Darwin</strong> Research Station“ wur<strong>de</strong> gegrün<strong>de</strong>t; an <strong>de</strong>n<br />

Universitäten war die Evolutionstheorie als<br />

wissenschaftliches Paradigma fest verankert.<br />

Der nationalsozialistische Schatten auf <strong>de</strong>r<br />

Evolutionstheorie<br />

War die Vorlage für En<strong>de</strong>s <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong><br />

jener Jemmy Button, <strong>de</strong>r <strong>Darwin</strong> auf Aber <strong>de</strong>r Name <strong>Darwin</strong> hatte trotz aller Erfolge ein böses<br />

<strong>de</strong>r HMS Beagle begleitete?<br />

Echo erhalten: Der Nationalsozialismus hatte die<br />

Evolutionstheorie zum i<strong>de</strong>ologischen Kern seiner<br />

rassistischen Weltanschauung erklärt, und die Nachwelt konnte sich nicht sicher sein, wen<br />

sie eigentlich in <strong>Darwin</strong> feierte. Zu dieser Zeit schrieb in München <strong>de</strong>r junge Michael En<strong>de</strong><br />

an <strong>de</strong>r Abenteuerfahrt von <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong>: 1956 begann er die Geschichte zu schreiben, zwei<br />

<strong>Jahr</strong>e später war das Manuskript fertig.


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3 von 7 06.01.<strong>2009</strong> 11:31<br />

Vielleicht hat man nicht gut genug zugehört, als Michael<br />

En<strong>de</strong> sagte, dass es nie als Kin<strong>de</strong>rbuch gedacht war. En<strong>de</strong><br />

hat sich stets zu einem assoziativen, fast surrealistischen<br />

Schreiben bekannt, in <strong>de</strong>m er die großen geistigen<br />

Überlieferungen wie einen Steinbruch benutzte. Da er<br />

immer wie<strong>de</strong>r davor warnte, Bücher mit Botschaften zu<br />

versehen, hat manchen dazu verleitet, zu glauben, En<strong>de</strong>s<br />

Werk sei ein Produkt <strong>de</strong>r reinen Phantasie. Es muss einem<br />

zu <strong>de</strong>nken geben, dass dieser Autor, während seines<br />

ganzen Lebens immer vier Namen nannte, an <strong>de</strong>nen er sich<br />

offenbar abarbeitete: Einstein, Marx, Freud und Charles<br />

<strong>Darwin</strong>. Als <strong>de</strong>r Fischer Verlag <strong>Jahr</strong>zehnte später Michael<br />

En<strong>de</strong> bat, ein Lesebuch aus <strong>de</strong>n Texten zusammenzustellen,<br />

die ihn am meisten beeinflusst haben, nannte er an erster<br />

Stelle Rudolf Steiners Essay „<strong>Darwin</strong>ismus und Sittlichkeit“.<br />

Der entfrem<strong>de</strong>te <strong>Darwin</strong><br />

Michael En<strong>de</strong> nannte das Weiter<strong>de</strong>nken<br />

von <strong>Darwin</strong>s T heorien in Richtung<br />

Rassismus die Katastrophe seiner<br />

eigenen Kindheit<br />

Die Verantwortung für das, was er an einer Stelle einmal die Katastrophe seiner eigenen<br />

Kindheit nannte, gab er in einem Radiointerview 1991 diesem einen: „Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />

Rassismus und <strong>de</strong>r Rassendiskriminierung entstand durch Weiter<strong>de</strong>nken von <strong>Darwin</strong>s<br />

Theorien. Die Auslöschung lebensunwerten Lebens und Konzentrationslager.“ Kann man<br />

glauben, dass ein dreißigjähriger Schriftsteller im <strong>Jahr</strong>e 1956 ins Reich <strong>de</strong>r folgenlosen<br />

Phantasie flüchtet - vor allem, wenn er selber sagt, dass <strong>de</strong>r Nationalsozialismus in <strong>de</strong>r<br />

Schule, durch Bücher und Filme, eine ganze Kin<strong>de</strong>rgeneration mit fatalen Phantasien<br />

ausgestattet hat? Kann ein Kin<strong>de</strong>rbuch, das fünfzehn <strong>Jahr</strong>e nach Kriegsen<strong>de</strong> erscheint, das<br />

die Begriffe Rasse und Schan<strong>de</strong> benutzt, ein Märchenbuch sein? O<strong>de</strong>r müssten wir nicht<br />

mehr in die Tiefe gehen und zu <strong>de</strong>n Mythen herabsteigen, wie <strong>Jim</strong> und Lukas auf <strong>de</strong>m<br />

Meeresbo<strong>de</strong>n zur versunkenen Stadt?<br />

„Die Meerleute könnten uns doch vielleicht helfen“, sagt <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> im achtzehnten Kapitel,<br />

als er mit Lukas und <strong>de</strong>m Scheinriesen Turtur in <strong>de</strong>r von Seepferdchen gezogenen<br />

Lokomotive Emma auf <strong>de</strong>m Meeresbo<strong>de</strong>n entlangfährt. Sursulapitschi, die silberhaarige<br />

Meerprinzessin, jagt ihr Kutschgespann durch die fantastische Unterwasserwelt, da geht<br />

<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sauerstoff im Führerhäuschen aus. Kurz vor <strong>de</strong>m Einschlafen, mit einem<br />

letzten Blick, sehen sie eine uralte, versunkene Stadt mit Palästen und wun<strong>de</strong>rbaren<br />

Tempeln, erbaut aus glitzern<strong>de</strong>n E<strong>de</strong>lsteinen. Es droht die letzte Station ihrer Reise zu<br />

wer<strong>de</strong>n; die Wüste, das rotweißgestreifte Gebirge, das Tal <strong>de</strong>r Dämmerung, die<br />

Drachenstadt, <strong>de</strong>n Magnetberg haben sie überstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Tod sind sie nun in <strong>de</strong>r Stadt<br />

am Meeresgrund am nächsten.<br />

Aus Atlantis wird <strong>Jim</strong>balla<br />

Der Ort, an <strong>de</strong>n sie En<strong>de</strong> geschickt hat, ist natürlich Atlantis, <strong>de</strong>r alte Mythos, <strong>de</strong>n die<br />

Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kin<strong>de</strong>rbüchern<br />

zu einer biologischen Rasseparabel umcodiert hatten. Atlantis war zur Urheimat <strong>de</strong>r<br />

arischen Rasse erklärt wor<strong>de</strong>n. „Meine Vorfahren waren Arier“, führt etwa Sun Koh aus,<br />

<strong>de</strong>r Held aus <strong>de</strong>r über die Maßen erfolgreichen Science-Fiction-Serie „Sun Koh. Der Erbe<br />

von Atlantis“: „Eure germanischen Stämme sind ja weiter nichts als <strong>de</strong>r nordische Zweig<br />

<strong>de</strong>r atlantischen Arier“.<br />

Es sei ein Jammer, berichtet Sun Koh im gleichen Heft 1935 seinen jungen Lesern, dass die<br />

Rasse nicht rein gehalten wer<strong>de</strong>, bis auf Deutschland, wo <strong>de</strong>r nordische Stamm mit einer<br />

planmäßigen Rassenpolitik wie<strong>de</strong>r hochgezüchtet wer<strong>de</strong>. „Wenn einmal unser Atlantis<br />

wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Meere aufsteigt, dann holen wir uns von dort die blon<strong>de</strong>n, stahlharten<br />

Menschen mit <strong>de</strong>m reinen Blut und schaffen mit ihnen das Herrenvolk, das endgültig die


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ganze Er<strong>de</strong> beherrschen wird.“ So klingt ein Kin<strong>de</strong>rbuch aus <strong>de</strong>m <strong>Jahr</strong> 1935.<br />

Zwei <strong>Jahr</strong>zehnte darauf lässt Michael En<strong>de</strong> Atlantis auftauchen, als <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> ent<strong>de</strong>ckt, dass<br />

er <strong>de</strong>r letzte Nachfahre aus <strong>de</strong>m Geschlecht <strong>de</strong>s heiligen Dreikönigs Kaspar ist, und sich die<br />

wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>ne Krone „auf seine schwarzen Kraushaare“ setzt. Aus Nebelschleiern erhebt<br />

sich da ein Land, <strong>de</strong>ssen oberste Spitze Lummerland ist, ein Kontinent aus Bergen und<br />

Ebenen, sacht abfallen<strong>de</strong>n Küstenstreifen und steilen Klippen.<br />

Es funkelt in allen Regenbogenfarben, als sei es aus E<strong>de</strong>lsteinen zusammengesetzt. Das<br />

Land wird <strong>de</strong>n Namen <strong>Jim</strong>balla erhalten. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker auf<br />

diesen neuen Kontinent: in die Wäl<strong>de</strong>r und Prärien die Indianer, auf Tulpenfel<strong>de</strong>r und<br />

saftige Wiesen die Hollän<strong>de</strong>r, in die Dschungel farbige Kin<strong>de</strong>r mit Turbanen und in <strong>de</strong>n<br />

nordischen Schnee kleine Eskimos. Weil das Land von <strong>Jim</strong>balla keine Angst kennt, fliegen<br />

auch die Vögel herbei, prächtige und unscheinbare, so zahm und zutraulich, dass sie<br />

sorglos herbeikommen, wenn man sie ruft. „So konnte nichts Böses das Land bedrohen“,<br />

heißt es bei Michael En<strong>de</strong>. Aus Atlantis, <strong>de</strong>r „Urheimat <strong>de</strong>r Arier“, war <strong>Jim</strong>balla, „das Land<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und Vögel“, gewor<strong>de</strong>n.<br />

Die Mythen umcodieren<br />

Von nun an können wir En<strong>de</strong>s Geschichte wie einen Schlüsselroman lesen. Wir<br />

entschlüsseln mit ihm die Enigma-Maschine <strong>de</strong>s Dritten Reichs, mit <strong>de</strong>r die<br />

Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ihre Funksprüche codierten. Es war En<strong>de</strong>, geboren<br />

1929, <strong>de</strong>r früh verstand, dass nicht nur Funksprüche mit kriegsrelevanten Daten<br />

abgefangen wer<strong>de</strong>n mussten, um das Dritte Reich zu been<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn auch die Mythen,<br />

Bil<strong>de</strong>r und Geschichten, die in Schulen und Kin<strong>de</strong>rzimmern in die Köpfe von Kin<strong>de</strong>rn<br />

telegraphiert wur<strong>de</strong>n.<br />

Im Zentrum dieser Geschichten stand eine biologistische I<strong>de</strong>ologie, <strong>de</strong>ren Schlagwörter<br />

Überlebenskampf, Sieg <strong>de</strong>s Stärkeren und Rassereinheit hießen. Mit <strong>de</strong>n<br />

Unterrichtsanweisungen von 1935 war Biologie zum wichtigsten Schulfach erhoben wor<strong>de</strong>n<br />

mit <strong>de</strong>m Lernziel, dass „kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlässt, ohne zur letzten<br />

Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen <strong>de</strong>r Blutreinheit geführt zu sein“. Die<br />

Kenntnis <strong>de</strong>r „biologischen Grundtatsachen“ sei für die „Erneuerung unseres Volkes<br />

unerlässliche Voraussetzung“, das biologische Denken wur<strong>de</strong> zum „Unterrichtsgrundsatz“<br />

erklärt, <strong>de</strong>m sich alle an<strong>de</strong>ren Fächer unterzuordnen hätten, insbeson<strong>de</strong>re „Deutsch,<br />

Geschichte, Erdkun<strong>de</strong>“. Das war im Deutschland <strong>de</strong>s zwanzigsten <strong>Jahr</strong>hun<strong>de</strong>rts aus Charles<br />

<strong>Darwin</strong>s Evolutionstheorie gewor<strong>de</strong>n: Eine Theorie, die von Zufall, Variation und Wan<strong>de</strong>l<br />

han<strong>de</strong>lte, nahm die Gestalt einer I<strong>de</strong>ologie an, die Zucht, Herrschaft und Hierarchie<br />

predigte. Der Ort aber, wo dies gelehrt wur<strong>de</strong>, war die Schule. In En<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rbuch hat die<br />

schwarze Pädagogik ein Zuhause. Ein Buchstabe ist es, <strong>de</strong>r es von Lummerland trennt:<br />

Kummerland.<br />

Lektionen in Rassenhygiene<br />

„Das sieht ja aus wie eine Schule“, flüstert <strong>Jim</strong> Lukas im einundzwanzigsten Kapitel ins Ohr,<br />

als sie in <strong>de</strong>r Drachenstadt Kummerland in das Klassenzimmer spähen, in <strong>de</strong>m Frau<br />

Mahlzahn an Bänke gekettete Kin<strong>de</strong>r unterrichtet. „Rrrrrruhe!“, schreit <strong>de</strong>r Drache und<br />

lässt <strong>de</strong>n Stock durch die Luft pfeifen, „werrrr hat da eben geflüstert?“ Die Kin<strong>de</strong>r<br />

schweigen mit eingezogenen Köpfen. En<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Vater während <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs<br />

in Murnau eine Kaserne mit <strong>de</strong>m Nibelungenlied ausmalte, verleiht <strong>de</strong>m Drachen einen<br />

militärischen Kommandoton. Wie <strong>Jim</strong>, <strong>de</strong>r sich weigert, lesen und schreiben zu lernen,<br />

blickt auch En<strong>de</strong> mit Grauen auf seine Schulzeit zurück: „Ich wollte nicht lernen, je<strong>de</strong>nfalls<br />

nicht, was man uns da beizubringen bemüht war.“ Und wie in En<strong>de</strong>s Schulzeit folgt <strong>de</strong>r<br />

Stoff, <strong>de</strong>r in Kummerland <strong>de</strong>n Besuchern gelehrt wer<strong>de</strong>n soll, <strong>de</strong>n Unterrichtsanweisungen<br />

von 1935. Die Lektionen heißen Rassenhygiene und Blutreinheit.


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5 von 7 06.01.<strong>2009</strong> 11:31<br />

Die Frage <strong>de</strong>r Rasse beginnt Lukas und <strong>Jim</strong> in <strong>de</strong>m Augenblick zu beschäftigen, als sie das<br />

erste Mal von <strong>de</strong>r Drachenstadt hören. Im elften Kapitel entrollt <strong>de</strong>r Kaiserliche<br />

Hofprofessor für Zoologie in Mandala eine Übersichtskarte, abgebil<strong>de</strong>t ist die Gattung <strong>de</strong>r<br />

Drachen wie auf einer Schulbildtafel. Worauf sie <strong>de</strong>r Gelehrte nicht vorbereitet, sind die<br />

Halbdrachen, die in <strong>de</strong>m Vulkangürtel um die Drachenstadt leben und keinen Zutritt zum<br />

Zentrum haben. Die zwei Reisen<strong>de</strong>n treffen zuerst auf <strong>de</strong>n ausgestoßenen Halbdrachen<br />

Nepomuk, geboren aus einem Drachen und einem Nilpferd, ein Mischling, <strong>de</strong>r sein Leben<br />

als „Schan<strong>de</strong>“ beschreibt. Schon wenige Seiten später rollen <strong>Jim</strong> und Lukas auf eine riesige,<br />

rußgeschwärzte Höhlenöffnung zu, aus <strong>de</strong>r es, wie En<strong>de</strong> schreibt, „ein wenig herausrauchte<br />

wie aus einem Ofenloch“. Übergroß hängt darüber ein Schild mit <strong>de</strong>r Warnung: „!Achtung!<br />

Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei To<strong>de</strong>sstrafe verboten.“<br />

Heilung durch Kunst<br />

Inmitten eines Kin<strong>de</strong>rbuchs tauchen plötzlich die Begriffe „Schan<strong>de</strong>“, „To<strong>de</strong>sstrafe“ und<br />

„reinrassig“ auf, das Bühnenbild für dieses Vokabular ist ein in einen rauchen<strong>de</strong>n Ofen<br />

einfahren<strong>de</strong>r Zug. Der Leser befin<strong>de</strong>t sich in diesem Augenblick nicht mehr in einer Fiktion,<br />

son<strong>de</strong>rn in einer Vergangenheit, die für immer die Kunst verän<strong>de</strong>rt hatte, selbst das Hören<br />

einer Matthäuspassion. „Was KZ be<strong>de</strong>utete“, sagt En<strong>de</strong> in einem Interview, „wussten wir<br />

natürlich.“<br />

Mit sechzehn sah er <strong>de</strong>n Film „Bei Nacht und Nebel“ von Alain Resnais, in <strong>de</strong>m<br />

Kameraaufnahmen <strong>de</strong>r Alliierten aus <strong>de</strong>n Konzentrationslagern mit Einspielungen aus <strong>de</strong>r<br />

Wochenschau zusammengeschnitten wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Vorführung in Cannes zum<br />

Protest <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung führt. Mit siebzehn hört er die Matthäus-Passion und fragt<br />

sich, ob Kunst jemals die Bil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Konzentrationslagern bewältigen könne. Die Frage<br />

wird ihn sein Leben lang begleiten, er beantwortet sie später, wenn auch zögerlich,<br />

bejahend. „Wenn Sie aus einem guten Konzert kommen, meine Damen und Herren, dann<br />

sind Sie nicht klüger gewor<strong>de</strong>n“, heißt es in einem in Tokio gehaltenen Vortrag, „aber Sie<br />

haben etwas erlebt, das Ihre Ganzheit wie<strong>de</strong>rhergestellt hat, etwas in Ihnen ist heil<br />

gewor<strong>de</strong>n.“ Wahre Kunst, Literatur wie Musik, mache <strong>de</strong>n Menschen heil, „sie heilen ihn“.<br />

Dem Drachenlehrer ausgeliefert<br />

Zuerst aber müssen <strong>Jim</strong> und Lukas ins Herz <strong>de</strong>r Finsternis vordringen, einer aus<br />

Steinblöcken gebauten Hochhausstadt, mit Straßen, die schwarzen Schluchten gleichen,<br />

gefüllt von „Rauch- und Gasschwa<strong>de</strong>n“. Der Himmel schrumpft zu einem Flecken<br />

zusammen. Frau Mahlzahns Schule weist ein Türschild mit einem Totenkopf als Türklopfer<br />

aus. Dahinter sitzen die gefangenen Kin<strong>de</strong>r, die keine an<strong>de</strong>re Welt mehr haben als die, die<br />

ihnen <strong>de</strong>r Drache gibt.<br />

„Wie viel ist drei und vier?“, fragt <strong>de</strong>r Drache lauernd im einundzwanzigsten Kapitel.<br />

„Sieben“, antwortet Lisi, die entführte Prinzessin aus Mandala. „Und wenn ich dir sage, dass<br />

es achchcht ist?“ faucht <strong>de</strong>r Drache.<br />

Mythischer Gegenzauber<br />

In diesen Moment brechen <strong>Jim</strong> und Lukas als Zeugen ein. Wie in einem Film, <strong>de</strong>r plötzlich<br />

rückwärts abgespult wird, löst sich Kummerland Bild für Bild auf: Die Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<br />

befreit, die Mischwesen siegen, Wasser- und Feuerwesen versöhnen sich, ein schwarzer<br />

Junge erhält die Prinzessin und das Königreich, <strong>Jim</strong>balla steigt aus <strong>de</strong>m Wasser. Dem<br />

feuerspeien<strong>de</strong>n Drachen, <strong>de</strong>r in je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Hel<strong>de</strong>nsage mit <strong>de</strong>m Tod bestraft wor<strong>de</strong>n<br />

wäre, wird das Leben geschenkt. Man bringt ihn nach Mandala, wo En<strong>de</strong> ihn in eine an<strong>de</strong>re<br />

Art verwan<strong>de</strong>lt: <strong>de</strong>r germanische Drache wird zum chinesischen Drachen <strong>de</strong>r Weisheit, <strong>de</strong>r<br />

Drachentöter zum Drachenretter. Ganz in <strong>de</strong>r Logik von Märchen stellt En<strong>de</strong> das mythische<br />

Personal <strong>de</strong>r nationalsozialistischen Kin<strong>de</strong>rbuchliteratur unter Bann, verhängt einen


<strong>Darwin</strong>-<strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong>: <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> rettet die Evolutionstheorie - Wirkung - F...<br />

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Gegenzauber mit seiner Erzählung.<br />

Als Günter Grass und Siegfried Lenz in ihren großen Romanen über die Kriegszeit das Dritte<br />

Reich aus Kin<strong>de</strong>rsicht schil<strong>de</strong>rten, glaubten sie mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn eine Perspektive außerhalb<br />

<strong>de</strong>r Moral eingenommen zu haben und wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb von <strong>de</strong>r schuldbela<strong>de</strong>nen<br />

Generation angenommen. „Die Blechtrommel“ erschien zuerst 1959, „Die Deutschstun<strong>de</strong>“<br />

1968. En<strong>de</strong> dagegen hielt nicht nur die Generation <strong>de</strong>r Erwachsenen im Dritten Reich<br />

verstrickt, son<strong>de</strong>rn auch die nächste Generation, die Heranwachsen<strong>de</strong>n, Kin<strong>de</strong>r, die eine<br />

biologistische Weltanschauung eingepaukt bekommen hatten, die in <strong>de</strong>n Köpfen weiter<br />

schrillte wie das Klingeln in Pawlows Konditionierungsexperiment. Gleich <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn in<br />

Frau Mahlzahns Schule hatte auch ihre Welt bald kein Außen mehr, sie mussten sich an das<br />

halten, was man ihnen gab.<br />

<strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> war kein Zufall<br />

„Dann ist es trotz<strong>de</strong>m sieben“, sagt die kleine Prinzessin im einundzwanzigsten Kapitel zum<br />

Drachen, als er ihr das falsche Rechenergebnis aufzwingen will. Und wie<strong>de</strong>rholt: „Nein,<br />

sieben“, flüstert Lisi. <strong>Jim</strong> wird <strong>de</strong>n Mut <strong>de</strong>s einsamen Mädchens bewun<strong>de</strong>rn, aber mit En<strong>de</strong><br />

wissen wir, dass diese Szene in <strong>de</strong>r Geschichte einen an<strong>de</strong>ren Ausgang hatte. Noch<br />

<strong>Jahr</strong>zehnte nach Kriegsen<strong>de</strong> ging die Saat auf, die von <strong>de</strong>n Nationalsozialisten gepflanzt<br />

wor<strong>de</strong>n war, eine I<strong>de</strong>ologie, die ihre Sporen in je<strong>de</strong>n Winkel <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rzimmer<br />

ausgeschickt hatte, in Mythen, Sagen, Märchen und Geschichten.<br />

„Halten Sie es für Zufall“, fragte Michael En<strong>de</strong>, bevor er 1995 im Alter von fünfundsechzig<br />

<strong>Jahr</strong>en starb, „wenn Sie genau im richtigen Augenblick genau das richtige Buch in die Hand<br />

bekommen, es an genau <strong>de</strong>r richtigen Stelle aufschlagen und genau die richtige Antwort<br />

fin<strong>de</strong>n?“ Die Geschichte von <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> war kein Zufall, nicht <strong>de</strong>r Name, nicht die Stationen,<br />

nicht das En<strong>de</strong>. <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong>s heimliches Abenteuer bestand darin, mit Wissen um eines <strong>de</strong>r<br />

düstersten Kapitel <strong>de</strong>utscher Bildungsgeschichte eine Gegengeschichte zu erzählen, die<br />

Rasseni<strong>de</strong>ologie, die Atlantissage, <strong>de</strong>n Schulunterricht umzuerzählen, ein neues Märchen zu<br />

schaffen für die nächste Generation. Es kam genau im richtigen Augenblick.<br />

Eine neue Chance für die Evolution<br />

Die wirkliche Geschichte von Jemmy Button, <strong>de</strong>m Feuerlän<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r für einen <strong>Knopf</strong> an die<br />

Englän<strong>de</strong>r verkauft wor<strong>de</strong>n war, en<strong>de</strong>te so: „Im November 1859 wur<strong>de</strong>n acht anglikanische<br />

Missionare an Bord <strong>de</strong>s Schoners Allen Gardiner erschlagen. Der Anstifter <strong>de</strong>s Massakers<br />

war Jemmy Button, <strong>de</strong>r inzwischen dreiundvierzig <strong>Jahr</strong>e alt gewor<strong>de</strong>n war.“ Wir lesen diese<br />

Zeilen nicht bei <strong>Darwin</strong>, <strong>de</strong>ssen „Fahrt <strong>de</strong>r Beagle“ nur vom Kind Jemmy Button erzählt,<br />

<strong>de</strong>n Erwachsenen aber nicht weiter erwähnt. Der zum Mör<strong>de</strong>r gewor<strong>de</strong>ne Jemmy Button<br />

steht im letzten Satz Benjamin Subercaseaux' Roman „Jemmy Button“, ein Buch, das 1954<br />

zuerst auf Englisch erschien und, nach<strong>de</strong>m es 1957 ins Deutsche übersetzt wor<strong>de</strong>n war, in<br />

allen großen Zeitungen und Literaturzeitschriften besprochen wur<strong>de</strong>, Als Michael En<strong>de</strong> an<br />

seinem Manuskript schrieb, konnte er <strong>de</strong>m Namen und <strong>de</strong>m Schicksal Jemmy Buttons nicht<br />

entgehen.<br />

Michael En<strong>de</strong> aber nahm das Kind <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> und schickt es noch einmal auf große Fahrt.<br />

Lummerland, das Miniaturengland, ist die Mo<strong>de</strong>llwelt, von <strong>de</strong>r aus er die Geschichte neu<br />

konstruiert. Die Drachen, die Völker, ihre Heimat Atlantis wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Nationalsozialisten<br />

entwen<strong>de</strong>t. Die Mischwesen siegen, und alles darf sich mit allem verbin<strong>de</strong>n. Rasse,<br />

Schan<strong>de</strong> und Tod wer<strong>de</strong>n von Lukas, <strong>Jim</strong>, <strong>de</strong>m Riesen Tur Tur, Prinzessin Lisi o<strong>de</strong>r<br />

Sursulapitschi überwun<strong>de</strong>n; eine neue Evolution wird in Gang gesetzt.<br />

Das ist die Geschichte: <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> bekommt eine zweite Chance. Und mit ihm die<br />

Evolutionstheorie.


<strong>Darwin</strong>-<strong>Jahr</strong> <strong>2009</strong>: <strong>Jim</strong> <strong>Knopf</strong> rettet die Evolutionstheorie - Wirkung - F...<br />

http://www.faz.net/s/Rub71E8665493FD4CB29D4E0759DF21C32C/...<br />

7 von 7 06.01.<strong>2009</strong> 11:31<br />

Text: F.A.Z.<br />

Bildmaterial: picture-alliance / dpa/dpaweb, Thienemann Verlag<br />

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